3Hans Blumenberg

Phänomenologische Schriften
1981-1988

Herausgegeben von Nicola Zambon

Suhrkamp

9Erster Teil
Kontingente Rationalität

I

11Das Laboratorium, oder: Was wäre eine Phänomenologie der Geschichte?

Für die Philosophie ist die Geschichte das einzige Laboratorium, in dem sie ihre Versuche machen und deren Ausgang abwarten kann ‒ sogar mit dem schrecklichen Risiko, daß ›Falsifikationen‹ Hekatomben von Opfern […] kosten.1 Der Satz wird diejenigen erschrecken, die an der sofortigen oder jedenfalls kurzfristig diskursiv erreichbaren Sicherung philosophischer Wahrheiten festhalten und dafür die martialisch so benannten ›Strategien‹ anbieten. Aber nichts spricht dafür, daß einer dieser Versuche seit Platos Ideenlehre auch nur ein paar untriviale Schritte vorangekommen wäre. Es ist auch nicht einzusehen, weshalb wir gerade auf dem Gebiet, das uns tiefere Aufschlüsse über die Welt und uns selbst gewähren könnte, in den Besitz ewiger Wahrheiten gelangen sollten, während wir uns sonst mit überholbaren Erkenntnissen begnügen müssen und auch überwiegend nicht unzufrieden zu sein brauchen. Das Bild finsterer Verzweiflung, das die historische Selbstbetrachtung der Wissenschaft für ihre Anfänge gezeichnet hat, trifft nicht zu: Man hat sich immer mit dem arrangiert, was man zu wissen glaubte, und wäre nur daran verzweifelt, den Grad der Unwissenheit zu kennen, den die Späteren jenen Früheren zuzuschreiben instand gesetzt wurden. Nur, nicht wissen zu dürfen, um wissen zu sollen, wo man wissen zu können meinte ‒ das war unerträglich.

Wenn jemand sagt, er halte Kant für die klarste und differenzierteste Realisierung dessen, was Philosophie bisher zu leisten vermochte, so kann und darf dies nicht gleichgesetzt werden mit der Behauptung, dort seien endgültige und fernerhin schulfähige Wahrheiten niedergelegt worden, so daß man als ›Kantianer‹ nur noch dies und jenes am Rande zu ergänzen, durch hermeneutische Anstrengung noch diese und jene Dunkelstelle aufzuhellen hätte. Kants größte Leistung war, uns klarer sehen zu lassen, welches die Probleme sind, die wir uns nicht 12willkürlich stellen oder bei Überdruß an ihrem Lösungsverzug abschalten können. Er hat uns, erstaunlicherweise auch unabhängig von seiner schulmäßigen Terminologie, eine Sprache für diese Problemfassungen zur Verfügung gestellt, mit der sich arbeiten läßt. Er hat uns in Gestalt der transzendentalen Deduktion sehen lassen, wie eine Theorie der Einheit unseres Bewußtseins aussehen müßte, auch wenn diese Theorie bei ihm gänzlich mißlungen wäre und eine solche niemals gelingen sollte. Es ist doch nicht der einzige Fall, daß wir es in unserer theoretischen Mühsal mit Gegenständen zu tun haben, von denen wir zumindest das eine mit Sicherheit voraussagen können, daß eine letzte Theorie von ihnen niemals zu haben sein werde, weil die vorherigen Erkenntnisse störende Fakten niemals ausgeschlossen werden können.

Gerade dieser Offenhaltung der inhaltlichen Seite der Philosophie bedarf es aber ständig. Deshalb muß auch einer, der die philosophische Form der Lehre Kants für maßstäblich hält ‒ was nicht identisch ist mit ihrer literarischen Form ‒, alles tun, um die deskriptiven Grundlagen des philosophischen Denkens als das eigentliche Feld einer ›unendlichen Arbeit‹, die durch das Ideal einer Deduktion nicht abgeschlossen werden kann, in Kultur zu nehmen und zu halten. Deshalb muß der, aus Verlegenheit von ihm geforderter Zuordnung, sich so nennende ›Kantianer‹ nicht nur zusätzlich, sondern in demselben Range seiner Anstrengungen ›Phänomenologe‹ sein.

Phänomenologie ist eine elastische Methode der Beschreibung. Sie hat die Krisen ihrer bald jahrhundertlangen Geschichte besser überstanden als andere philosophische Ansätze, obwohl ihr solche Krisen in den Augen ihres Gründers fast tödlich zugesetzt haben, vor allem die durch Heidegger bewirkte. Allmählich beginnen wir zu sehen, daß diese Krise harmlos war, weil die Hyperbeln des ontologischen Anspruchs von Heidegger uns zunehmend weniger interessieren, dafür um so mehr die überragenden Leistungen, die er deskriptiv erbracht hat.

Zu vermuten ist, daß Heidegger in einer weiteren Zukunft dem Rückblick als der Phänomenologie reintegriert erscheinen wird, also der Freiburger Heidegger hinter dem Marburger verschwinden mag. Dieser Satz wird vielen an der Schulentzweiung noch beteiligten und von ihrer Tiefe durchdrungenen Zeitgenossen ärgerlich sein. Ihn auszusprechen muß dennoch riskiert werden. Nicht zufällig ist der Marburger 13Heidegger auch und immer wieder ein Interpret Kants; vielleicht trotz historischer Unhaltbarkeiten der bedeutendste. Darin hat er das schwerstwiegende Versäumnis Husserls wettgemacht, das die Phänomenologie sonst nicht hätte verwinden können, Kant ‒ trotz der Jubiläumsrede von 1924 ‒ nur sehr ungenau wahrzunehmen.

Die Philosophie hat nicht nur Geschichte, sie ist ihre Geschichte. Anders ausgedrückt: Jede ihrer Realisierungen in der Zeit ist konkurrenzfähig mit jeder anderen, obwohl es keine Renaissancen im strengen Sinne in ihr geben kann, weil zugleich jedes philosophische Wort auch an das Welt- und Selbstverständnis seiner Zeitstelle gebunden bleibt. Es kann nicht nur darum gehen, durch Hermeneutik jene Konkurrenzfähigkeit zu aktualisieren, also gleichsam das Moment der Zeitstelle als kontingentes durch eine Art von ›Übersetzung‹ aufzulösen, jede vergangene Philosophie zur Metapher der gegenwärtig möglichen Aussagen zu machen. Vielmehr wird es eine erst in den Anfängen sichtbar gewordene Aufgabe der Phänomenologie sein, ihre Theorie dieser Geschichte zu entwickeln, was Husserl erst fast im letzten Augenblick seines Lebens als Anspruch an sich erkannt und dann mit zu geringer historischer Einsicht realisiert hat. Seine ›Krisis‹-Abhandlung macht uns schwer, den therapeutischen Ton von der deskriptiven Bestandaufnahme zu trennen. Eine Phänomenologie der Geschichte darf nicht in die deduktiv-spekulative Versuchung zurückfallen, der sich Husserl von seiner Theorie der transzendentalen Intersubjektivität her genähert hat: den Menschen und seine Handlungsgesamtheit in der Welt als bloße Funktion der höheren Bedürfnisse der absoluten Subjektivität bei ihrer Selbstverwirklichung zu sehen. Vielmehr muß eine Phänomenologie der Geschichte darauf aus sein, die Ausbildung von Totalität epochaler Selbst- und Weltverständnisse in ihrem unablässigen Zusammenstoß, Ausgleich und ihrer schließlich destruktiven Unversöhnlichkeit mit konkreten Ereignissen, Ergebnissen, Erzeugnissen wahrzunehmen. Dieses ist, was der Geschichte so etwas wie ein ›Wesen‹ gibt, nicht Restauration des ›Weltgeistes‹, sondern Freilegung des Arsenals an Formen, in denen sich Geschichte vollzieht, das ihre Strukturen unabhängig von der Kontingenz ihrer Fakten, wenn auch nur durch diese, verstehen läßt.

Und diese zu verstehen ist nicht nur Sache einer beliebig absetzbaren 14Disziplin, eines Schulfachs im Wechselspiel der Reformen und Konservationen, sondern etwas, was mit der unabdingbaren Nötigung, um nicht zu sagen: Pflicht, zusammenhängt, uns mit uns selbst ins reine, oder wenigstens: ins klarere, zu bringen. Dies auszusprechen ist das Risiko der Geringschätzung der Fachgenossen allemal wert.