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Freder van Holk

Sun Koh Leihbuchsammlung 2

Cassiopeiapress SF





Vesta
80331 München

Sun Koh – Leihbuchsammlung 2

Phantastisches Abenteuer

von Freder van Holk

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 713 Taschenbuchseiten.

 

Dieses Buch enthält folgende Bände:

Turm der Stürme

Der fressende Kreis

Trommeln der Hölle

4000 Meter unterm Meeresspiegel

 

 

Die Bände der Sun Koh Leihbuch-Sammlung enthalten jeweils 4-5 (von insgesamt 37) Sun Koh Abenteuern in der Version der Leihbuch-Ausgabe aus den 1950er Jahren. Diese unterscheidet sich von der 37bändigen Sun Koh Taschenbuch-Ausgabe (aus den 1970er Jahren) durch einen erheblich höheren Umfang pro Roman. Beide Versionen des Stoffes weisen wiederum inhaltliche Differenzen zu der 150bändigen Heft-Erstausgabe in den 1930er Jahren auf.

 

 

Sun Koh - Er war der Sohn der Sonne, dazu ausersehen, das Erbe eines sagenhaften Kontinents anzutreten. Die berühmte phantastische Abenteuerserie aus den dreißiger Jahren erscheint jetzt wieder neu. SUN KOH hat Millionen begeistert, er wird auch die heutige Generation mit seinen atemberaubenden Abenteuern in seinen Bann schlagen. Denn SUN KOH ist von zeitloser Aktualität - so zeitlos wie die Sonne, aus der er kommt.

 

 

Die phantastische Abenteuer-Serie SUN KOH von Freder van Holk erschien zum ersten Mal in den 1930er Jahren und wurde nach dem zweiten Weltkrieg in jeweils unterschiedlich bearbeiteten Heft- und Buchausgaben neu herausgebracht – zuletzt in einer Taschenbuchausgabe Ende der 1970er Jahre.

Sprachgebrauch und Wertvorstellungen entsprechen der Entstehungszeit der Romane und unterlagen seitdem einem steten Wandel. So ist beispielsweise eine der Hauptpersonen Schwarzafrikaner und wird durchgängig als "Neger" bezeichnet. Heute wird dieser Begriff von vielen als diskriminierend empfunden. Bis in die 1970er Jahre hinein war das jedoch nicht so. Das Wort "Neger" entsprach dem normalen Sprachgebrauch und wurde nicht als herabsetzend angesehen. Selbst der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King sprach in seinen Reden häufig von der "Emanzipation der Neger." Für den deutschen Sprachraum markiert der DUDEN das Wort erstmalig in seiner Ausgabe von 1999 mit der Bemerkung "wird heute meist als abwertend empfunden" und trug damit dem in der Zwischenzeit gewandelten Sprachgebrauch Rechnung.

Da die Romane nur vor dem Hintergrund ihrer Zeit in sich stimmig sind, wurde auf eine sprachliche Glättung ebenso verzichtet wie auf eine Anpassung heute nicht mehr zeitgemäßer Wertvorstellungen oder inzwischen widerlegter wissenschaftlicher Ansichten.

 

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Mit freundlicher Unterstützung des Heinz Mohlberg-Verlages, 2018

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de




Turm der Stürme

Kampf am Toten Meer, eine Urne in der Roten Stadt, eine Zeitung in der Wüste, Wolkenkratzer in Arabien und der lachende Teufel des Wassers. Hal Mervin macht sich bei den Brüdern vom Schwarzen Stein missliebig, Sun Koh verschwindet im unterirdischen Strom und in der endlosen Wüste öffnet sich das geheimnisvolle Tal, in dem die tödliche Seuche lauert, überragt vom Turm der Stürme.



1.

Das Abenteuer ist eine Charakterfrage. Wer das Ungewöhnliche ausschließlich als einen Angriff auf seinen Seelenfrieden wertet, erlebt keine Abenteuer mehr, während sich das Kind durch tausend Abenteuer hindurch seine Welt erobert.

Das Neue, das Außergewöhnliche macht das Abenteuer. Da die Menschen meist jahrzehntelang in gleicher Umgebung und unter gleichen Verhältnissen verharren, beschränken sich ihre Abenteuer auf die kleinen Wechselfälle des täglichen Lebens. Der Alltag ist niemals abenteuerlich.

Und doch scheint der Alltag des Gummisuchers am Amazonas oder des Goldgräbers in Alaska voller Abenteuer zu sein – für den Europäer. Und der Alltag des Europäers ist für den Halbwilden aus der Einsamkeit eine Kette erregender Abenteuer.

Das Abenteuer wächst im Quadrat der Entfernung. Deshalb sind in allen Teilen der Welt die Bücher des Abenteuers stets Bücher der Fremde. Deshalb muss der Mensch verreisen, wenn er das Abenteuer erleben will. Wenn er den richtigen Sinn mitbringt, dann lockt ihn überall das Erregende und Außergewöhnliche, obgleich der Eingeborene nichts davon zu sehen vermag. Und wer das Abenteuer einmal liebt, dem läuft es nach.

Sun Koh liebte das Abenteuer.

Er saß hinter dem Steuer seines Flugzeugs. Das edel geschnittene, bronzefarbige Gesicht unter dem hellen Haar verriet die Abspannung des langen Fluges noch nicht. Nimba jedoch, der riesige Jorube, der hinter ihm saß, sah ziemlich schläfrig aus. Er fand den Flug langweilig, und das konnte man ihm kaum verdenken.

Das Land, das sie überflogen, war von einer entsetzlichen Öde. Totgebrannte Höhenzüge, auf denen die Sonne mit brennenden Strahlen lag, wechselten mit flachen Tälern ohne Baum und ohne Strauch, ohne Tier oder Mensch. Über der Landschaft lag eine beklemmende Leere. Man ahnte die Wüste, die an sie anschloss.

Hal Mervin an der Seite Sun Kohs hielt sich wach und aufmerksam wie immer. Seine Augen gingen hin und her, und sein sommersprossiges Gesicht trug auch jetzt den etwas frechen und etwas verschmitzten Ausdruck, der ältere Leute leicht aufregte.

"Eine schreckliche Gegend!", urteilte er abfällig. "Und so etwas nennt sich auch noch gelobtes Land?"

"Die Geschmäcker sind eben verschieden", brummte Nimba träge von hinten.

"Was du nicht alles weißt."

Sun Koh wies nach vorn.

"Das Tote Meer in Sicht."

Hal beugte sich neugierig vor.

"Das hat gerade noch gefehlt. Ich denke, ich bekomme alle Wunder der Welt zu sehen. Das Tote Meer? Du lieber Himmel, ausgerechnet das Tote Meer."

"Tröste dich", lächelte Sun, "das Tote Meer ist auch ein Weltwunder."

Päng.

Was war das?

"Ich glaube gar, dort unten knallt einer in der Gegend herum", meinte Hal Mervin. "Wenn es der Teufel will, trifft er unsere Maschine."

"Der Teufel hat's gewollt", sagte Sun kurz.

Tatsächlich, die Düsen arbeiteten schon unregelmäßig, setzten aus, fauchten wieder auf, setzten aus und blieben schließlich nach einem abermaligen Anlauf endgültig still.

"Dort unten galoppieren einige Reiter", knurrte Nimba. "Einer der Kerle wird wohl geschossen haben."

"Es sieht böse aus, wir müssen niedergehen."

"Steigen wir den Kerlen aufs Dach", schlug Hal vor.

"Lieber nicht", wehrte Sun ab. "Dort vorn ist der See, dort wollen wir landen."

In lang gestrecktem Gleitflug strich die Maschine über die flachen Höhenzüge noch manchen Kilometer nach Osten und setzte schließlich auf der Wasserfläche in geringer Entfernung vom Ufer auf.

Sie befanden sich am südlichen Ende des lang gestreckten Toten Meeres. Rechts von ihnen ragten die zerrissenen steilen Ufer des Dschebel Usdum auf. Weiter südlich sah man den Ansatz der Senke des Wadi el Arab. Nach Norden dehnte sich die mächtige Wasserfläche. Sie war tiefblau, aber auf ihr schwammen dunkle Flecken und Brocken. Die Sonne sengte hernieder. Weder auf dem See noch an den Ufern war eine Spur von Leben zu entdecken. Nirgends eine Pflanze, ein Tier oder ein Mensch. Kahl und öde alles, soweit das Auge reichte.

"Herr", fragte der Neger, "wie kommt es eigentlich, dass man hier nicht untertauchen kann? Es ist wohl kein Wasser?"

"Das schon", antwortete Sun Koh. "Es liegt daran, dass dies Wasser eine außerordentlich hohe spezifische Schwere hat. Es ist mit rund fünfundzwanzig vom Hundert mit mineralischen Stoffen gesättigt, vor allem mit sehr viel Kochsalz, Chlorkalzium und Chlormagnesium. Daher kommt auch der scheußliche Geschmack dieses Wassers."

"Aha", nickte der Jorube. "Fische gibt's wohl nicht in dem Wasser?"

"Natürlich nicht. Selbst Meeresfische, die doch an das Salzwasser gewöhnt sind, sterben hier. Es gibt überhaupt kein Leben in diesem See. Und nicht bloß im See ist alles tot, sondern auch weithin in der Umgebung. Das Land ist voller Salz, Schwefel und Erdpech. Die dunklen Brocken, die du dort schwimmen siehst, sind Asphaltstücke."

Hal schüttelte sich komisch.

"Eine ungemütliche Gegend. Wenn ich allein wäre, ich glaube, mir könnte hier unheimlich werden. Wie tief ist denn das Tote Meer eigentlich?"

"Vierhundert Meter", erwiderte Sun Koh.

"Donnerwetter", staunte der Junge, "das ist eine ganz hübsche Tiefe."

Sun Koh lächelte.

"Und doch ist es nur ein Teil der früheren Tiefe. Ehemals betrug die Tiefe des Toten Meeres nämlich achthundertzwanzig Meter. Es füllte früher das gesamte Jordantal bis zum Tiberiassee aus. Aber im Laufe der Jahrtausende ist es infolge der Verdunstung mehr und mehr zurückgewichen und immer kleiner geworden."

"Hat es denn keine Zuflüsse?"

"Doch, eine ganze Menge. In das Tote Meer fließen täglich durchschnittlich sechseinhalb Millionen Tonnen Wasser. Sie müssten eigentlich den Wasserspiegel jährlich um sechs Meter heben. Das geschieht aber nicht, im Gegenteil, der See wird immer kleiner. Die Trockenheit und die Sonnenstrahlenglut sind hier eben zu groß."

"Und wie groß ist er jetzt noch?"

"Dreiundsiebzig Kilometer lang und rund achtzehn Kilometer breit."

"Hm, das ist ein ganz hübscher Teich. Und der Name ›Totes Meer‹ kommt wohl daher, weil hier kein Leben mehr gedeiht?"

Sun nickte.

"Allerdings. Den Namen haben ihm freilich Europäer gegeben. Die Griechen und Römer nannten ihn Asphaltsee, in der Bibel heißt er Ostmeer und Salzsee. Und die Araber, die jetzt in diesem Lande wohnen, nennen ihn Bachr Lot, den See des Lot."

Hal wusste Bescheid.

"Ach ja, das stimmt ja, hier spielt doch die Geschichte von dem verdrehten Weib."

"Von dem verdrehten Weib?"

"Nun gewiss doch, die sich da herumgedreht hatte und zur Salzsäule geworden war."

"Ach so."

"Da muss doch Sodom und Gomorra hier liegen, nicht wahr?"

Sun wies lächelnd in die Runde.

"Du wirst die beiden Städte wohl vergeblich suchen. Es ist nicht das Geringste von ihnen übrig geblieben, es sei denn der Name ›Usdum‹, mit dem man jenen lang gestreckten Berg bezeichnet. Der Brand, von dem die Bibel berichtet, hat alles vernichtet."

Hal überlegte einen Augenblick, dann meinte er:

"Eigentlich komisch. Ich habe die Geschichte von Sodom und Gomorra immer für eine Sage gehalten, weil es da heißt, das Feuer wäre vom Himmel heruntergefallen. Aber wenn das schon so lange her ist, kann man auch nicht gut verlangen, dass alles so genau stimmt."

Sun schüttelte leicht den Kopf.

"Das ist eben gerade der Irrtum, Hal, in den die Menschen so leicht verfallen. Eine Geschichte ist noch lange nicht deshalb unwahr, weil sie alt ist und den heutigen Menschen unglaubhaft klingt. Man kann eher im Gegenteil behaupten, dass die Berichterstattung vor Tausenden von Jahren sorgfältiger war als heute. Die Menschen hatten keine Bücher und keine Zeitungen, ihr Gehirn wurde nicht mit einer Überfülle belastet, und ihr Leben war gleichförmig. Aber was sie erlebten, das beobachteten sie genau und sorgfältig und gaben es ebenso an ihre Nachkommen weiter, eben weil sie wussten, dass die mündliche Überlieferung das einzige Mittel war."

Hal kratze sich.

"Hm, aber das mit dem Feuer, das vom Himmel gefallen ist?"

Sun lachte.

"Aber Hal, stell dich nicht so dumm. Du weißt doch ganz genau, dass ein Vulkanausbruch zum Beispiel diese Redewendung völlig erklärt. Das Land hier ist vulkanisch, und Schwefel und Pech gibt es auch genug."

"Aber", verteidigte sich Hal, "dann hätten sie doch ein Wort davon sagen müssen, dass die Erde gebebt hat und so weiter."

"Ganz recht. Der Vulkanausbruch ist ja auch nur eine Möglichkeit. Eine andere wäre die eines Meteoritenhagels. Man könnte auch an die Auswirkungen einer Kometenberührung oder an die vom Sturm herangetriebene Feuergarbe eines brennenden Asphaltsees denken."

Der Jorube, der mittlerweile die Maschine untersucht hatte, meldete sich in diesem Augenblick.

"Herr, es war tatsächlich eine Kugel. Sie ist von unten her eingeschlagen, hat das Zündkabel losgeschlagen und die Hauptölleitung beschädigt. Die Steigschraube wird wohl noch arbeiten, aber das andere müssen wir erst reparieren."

Sun schwang sich in den Pilotenraum hinauf. "Sehen wir gleich mal zu, ob es stimmt. Komm herauf, Hal."

Aus der Ferne hallten Schüsse.

Die Männer sahen flüchtig auf und setzten dann ihre Arbeit fort. Hal, für den ohnehin nichts zu tun war, kletterte auf den Rumpf der Maschine, stellte sich oben hin und hielt Ausschau.

Nach fünf Minuten hatte er die unsinnige Hitze gründlich satt. Er wollte gerade wieder heruntersteigen, als er etwas Besonderes entdeckte.

Einen Mann.

Oder waren es zwei?

Jedenfalls stand am Ufer ein Mensch. Er befand sich dort, wo die annähernd zweihundert Meter hohen Salzklippen in den See abstürzten, und wo sich ein ganzer Hügel von Trümmerstücken angesammelt hatte, über dem man die dunklen Risse von Höhleneingängen sah.

"Herr", schrie Hal aufgeregt, "dort drüben winkt einer wie verrückt. Er will anscheinend etwas von uns."

Sun Koh und Nimba waren im Nu oben und spähten zum Strand.

"Es sind zwei", stellte Sun fest, der über wunderbar scharfe Augen verfügte, "ein Mann und ein Knabe. Und der Knabe ist gefesselt."

Hal blieb vor Staunen der Mund offen stehen.

"Gefesselt? Und was will der Mann, er gibt doch Zeichen?"

"Es sieht aus, als wolle er uns herüberwinken. Ah, siehst du, Nimba?"

Der Neger beschattete seine Augen.

"Von der Seite her kommen Araber oder so etwas. Sie fuchteln mit ihren Gewehren."

"Ich habe den Eindruck, dass sie die beiden fangen wollen. Das Gesicht des Mannes zeigt Verzweiflung und äußerste Entschlossenheit."

"Jetzt ist er weg", rief Hal.

"Er klettert über die Felstrümmer", gab Sun nähere Auskunft.

"Den Jungen trägt er aber immer mit", ergänzte Nimba.

"Jetzt sind sie wieder da, unten am Wasser."

"Er winkt uns um Hilfe."

"Hätten uns die Kerle nicht vorhin die Maschine zerschossen …"

"Die Beduinen sind hinter ihm her – der Mann ist wahnsinnig."

Hal zappelte vor Aufregung.

"Die sind doch ins Wasser gesprungen, Herr."

Sun nickte.

"Der Mann muss sich in äußerster Lebensgefahr befinden. Er scheint den Versuch machen zu wollen, bis hier herüberzuschwimmen."

Hal war bestürzt.

"Ach herrjeh. Bei dem Wasser und mit dem Jungen als Ballast, da kann einem der arme Kerl leid tun."

"Er schafft's nicht, Herr", murmelte der Neger.

Sun Koh entledigte sich bereits seiner Sachen.

"Ich werde ihm zu Hilfe kommen. Holt die Gewehre heraus, man wird uns vermutlich vom Ufer beschießen."

Damit sprang er hinunter. Es war gewiss eine eigene Sache, in diesem Wasser zu schwimmen, das den Körper nicht richtig unter die Oberfläche kommen ließ. Aber Sun Koh legte trotzdem ein Tempo vor, das den derzeitigen Weltmeister vor Neid hätte bersten lassen.

Die Eigentümlichkeit des Wassers schien ihn nicht zu hindern, sondern zu fördern. Man konnte nicht sagen, dass er wie ein Fisch schwamm. Sein Körper glitt vielmehr über das Wasser wie der eines schnellen Wasserkäfers.

Eile tat auch not. Sun musste fast zwei Kilometer schwimmen, bevor er die zwei Menschen erreicht hatte. In normalem Wasser wären sie vermutlich schon längst unter der Oberfläche versunken. Hier lagen sie oben, aber der Mann war zu erschöpft, um sich noch groß fortzubewegen. Seine Kraft hatte gerade dazu gereicht, um ihn einige hundert Meter vom Ufer wegzubringen.

Von dort her knallten jetzt Schüsse. Kugeln klatschten ins Wasser, allerdings an Stellen, an denen sie keinen Schaden anrichten konnten. An den Ufern standen Männer mit dunkelbraunen Gesichtern und weißen Burnussen, die dann und wann ein wildes Geschrei ausstießen. Einige von ihnen machten Anstalten, ins Wasser zu gehen.

Sie schossen wie verrückt. Aber Sun merkte bald, dass sie planvoll schossen. Sie zielten nicht auf die beiden, sondern sie belegten den Zwischenraum zwischen ihm und jenen mit Kugeln. Je mehr er aufrückte, desto dichter schlugen sie neben ihm ein.

Es wurde wahrhaftig Zeit, dass Nimba und Hal eingriffen. Sun hörte von hinten die harten Schläge der zwei Büchsen. Ein Mann am Ufer warf die Arme hoch, kurz darauf folgten zwei andere, dann wieder einer. Und dann verschwanden die Verfolger heulend hinter den Felsen. Ihr Feuer hörte auf.

Jetzt war Sun bei den beiden Schwimmern. Tatsächlich ein Mann und ein Knabe, letzterer auch jetzt noch gefesselt.

"Gott sei Dank", murmelte der Mann heiser auf Englisch. "Helft uns, zu eurem Flugzeug zu kommen, es geht ums Leben. Verstehen Sie mich?"

"Durchaus. Können Sie noch schwimmen?"

Der Fremde verzerrte sein Gesicht.

"Ich – glaube nicht, habe drei Tage nichts gegessen. Ich will Ihnen nachher alles erzählen. Lassen Sie um Gottes willen den Jungen nicht frei."

Er schloss in völliger Erschöpfung die Augen. Sun fragte nicht mehr lange. Er legte sich auf den Rücken, packte mit der rechten Hand den Mann, mit der linken Hand den Jungen und ließ seine Füße arbeiten. Jetzt erwies sich die Tragfähigkeit des Wassers als Segen. Es bereitete kaum Mühe, die beiden bewegungslosen, schlaffen Menschen über Wasser zu halten. Langsamer als vorhin, aber doch immerhin verhältnismäßig schnell legte Sun Koh die Strecke zurück!

Nimba holte sich mit zwei Griffen die Fremden aus dem Wasser. Sie wurden in die Kabine gebettet. Beide sanken sofort in einen bleischweren Schlaf tiefer Erschöpfung.

Sie spürten es wohl kaum, dass ihnen eine schnell zubereitete Brühe eingeflößt wurde.

Vom Ufer her wurde nicht mehr geschossen. Die Verfolger waren jedoch noch da. Ab und zu verriet sich einer von ihnen durch eine Bewegung.

Sun Koh und Nimba setzten ihre Arbeiten fort.


*


Erst am späten Abend regten sich die Fremden. Der Knabe, den Sun selbstverständlich von seinen Fesseln befreit hatte, schlug zuerst die Augen auf. Und als diese auf die Speisen fielen, die ihm Hal unter die Nase hielt, da griff er stumm und heißhungrig zu.

Er war ein Beduine. Das verriet nicht nur seine Kleidung, sondern vor allem auch sein Gesicht. Es war schmal und braun, mit schön geschwungenen energischen Lippen, schmalrückig kühner Nase, verhältnismäßig hoher Stirn, über die dichte schwarze Haare fielen, und braunen Augen, in die das Feuer allmählich zurückkehrte. Ohne Zweifel musste edles Blut in ihm stecken. Dem Alter nach mochte er vielleicht mit Hal gleich stehen.

Kurz nach ihm kehrte der Mann ins Leben zurück. Er war ein Europäer von annähernd dreißig Jahren, ein Engländer, wie man später erfuhr. Seine Kleidung war ebenso mitgenommen wie sein Körper, der neben einigen Wunden die Spuren schwerer Entbehrungen trug. Die Wangen des Mannes waren tief eingefallen und mit wüsten Bartstoppeln bedeckt; Kühnheit, Härte und Zähigkeit sprachen aus dem Gesicht, das trotz seines verwilderten Zustandes insgesamt nicht unangenehm wirkte.

Man ließ ihm Zeit, seinen Hunger zu stillen. Nachdem er den größten Teil der Speisen abgeräumt hatte, begann er selbst zu sprechen. Seine kühlen, blauen Augen hefteten sich dabei auf Sun Koh, der ihn mit ruhiger Anteilnahme betrachtete.

"Ich danke Ihnen, Fremder", hob er auffallend rau an. "Jeff Macrom ist mein Name. Sie haben mir das Leben gerettet …"

Sun Koh wehrte ruhig ab.

"Sie brauchen nicht zu danken. Ich heiße Sun Koh, das sind meine beiden Begleiter Nimba und Hal Mervin. Erzählen Sie uns Ihre Geschichte, wenn Sie wollen, aber wenn es Sie heute zu sehr anstrengt, so warten Sie bis morgen."

Macrom schüttelte den Kopf.

"Es ist besser, Sie erfahren gleich alles. Aber sagen Sie, sind die Beduinen noch drüben am Ufer?"

"Sie lagern drüben."

"Hm, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass es gefährliche Leute sind. Es wird gut sein, sie zu beobachten."

Sun wies lächelnd auf das Fenster.

"Seien Sie unbesorgt, es geschieht unablässig. Sie wurden verfolgt?"

Der Engländer nickte und zeigte auf den Jungen, der scheinbar teilnahmslos vor sich hinstarrte.

"Wegen dem da. Aber ich will Ihnen die Geschichte lieber der Reihe nach erzählen. Sie ist nicht immer ehrenvoll für mich, aber die Dummheit wird nicht besser dadurch, dass man sie versteckt. Also hören Sie."

Er nahm erst noch einen Schluck Tee und begann dann:

"Ich bin Chemiker und wurde als solcher von der Chemical-Cooperation beauftragt, einwandfreie Analysen des Toten Meeres anzufertigen. Wir waren ein ganzer Trupp, vor allem einige Ingenieure noch mit. Unsere Gesellschaft hat die Absicht, die Schätze dieses Wassers industriell auszuwerten, und wir sollten die Vorarbeiten leisten."

"Verspricht sich Ihre Gesellschaft tatsächlich etwas davon?"

Macrom lachte kurz auf.

"Etwas? In diesem Teich stecken nicht weniger als 22 Milliarden Tonnen Magnesiumchlorid, 12 Milliarden Tonnen Natriumchlorid, 1,3 Milliarden Tonnen Kali, 853 Millionen Tonnen Brom und dergleichen mehr. Das gibt trotz aller Schwierigkeiten des Transportes und so weiter ein Riesengeschäft. Man wird sich's kaum entgehen lassen."

"Die Zahlen sind erstaunlich, freilich ist das Tote Meer auch 73 Kilometer lang und 18 Kilometer breit. Aber Sie wollten von Ihren Erlebnissen berichten."

Der andere räusperte sich.

"Hm, also vor vierzehn Tagen waren wir fertig. Der Trupp reiste ab. Nur mein Freund James Withe und ich hatten keine Lust. Sehen Sie, wir hatten uns die Sache ein bisschen abenteuerlicher vorgestellt, als sie dann war. Arbeit und wieder Arbeit, kaum dass man einen Schritt aus dem Lager herauskam." Kurz und gut, wir wollten nicht gleich wieder zurückdampfen, sondern beschlossen, erst noch einige Tage auf Abenteuer zu gehen. Die Erzählungen des alten Arabers hatten unsere Fantasie gehörig gereizt."

"Sie hatten ein bestimmtes Ziel im Auge?"

Macrom nickte lebhaft.

"Freilich, freilich. Wir hatten da so einen alten Kerl im Lager, der als Führer gedient hatte. Ein Original von arabischem Märchenerzähler, wie es im Buche steht. Er sprach englisch wie ein Engländer, aber trotzdem kam er mir immer vor wie eine Figur aus Tausendundeiner Nacht, bis oben ran voller Geheimnisse. Er erzählte uns unter anderem von der sogenannten ›Roten Stadt‹, womit er die Ruinen von Petra meinte, von der geheimnisvollen Stadt, die in die Felsen eingeschnitten ist. Vor allem interessierte uns, was er über den dortigen El-Khasneh-Tempel erzählte, der vom Kaiser Hadrian geschaffen worden sein soll. Diesen Tempel nennen die Beduinen Chasnet Firaun, das heißt Pharaos Schatzkammer. Auf der Spitze des Tempels befindet sich nämlich eine große, steinerne Urne, und dort sollten die Schätze des Pharao verborgen liegen. Sie können sich denken, wie wir da aufgehorcht haben."

"Sie beschlossen, nach Petra zu gehen?"

Das Gesicht des Engländers umschattete sich.

"Wir beschlossen es. Ich sagte Ihnen ja schon, dass meine Geschichte nicht besonders ruhmvoll für mich ist. Wir waren nicht abgeneigt, den alten Pharao ein bisschen zu beerben. Gedanken über etwaige Eigentumsrechte der Beduinen machten wir uns nicht viel, aber immerhin ahnten wir wenigstens, dass unser Unternehmen nicht ungefährlich sein könnte. Allzu viel fürchteten wir aber auch nicht, weil die ›Rote Stadt‹ als unbewohnt gilt. Das war sie denn auch, aber leider nicht unbewacht."

"Sie erreichten die Ruinen?"

"Ohne besondere Schwierigkeiten. Sie wissen vielleicht, dass sie ein ganzes Stück südlich von hier in der Nähe des Wadi el Arab liegt. Wir kamen hin und fanden den Tempel, wie er uns beschrieben worden war. Wir entdeckten auch die Urne, die sich auf der Spitze einer Art Pavillon befand. Es kostete uns viel Mühe hinaufzukommen und noch mehr, sie zu öffnen. Es gelang. Wissen Sie, was wir fanden?"

Sun konnte sich eines leichten Lächelns nicht erwehren.

"Vermutlich nicht die Spur von einem Schatz."

"Erraten. Weder Gold noch Edelsteine. Das Einzige, was darin lag, war eine kleine Pergamentrolle, die mit merkwürdigen Schriftzeichen bedeckt war. Sie liegt wahrscheinlich auch jetzt noch dort. Wir hätten sie vielleicht mitgenommen, um wenigstens ein Andenken zu haben, wenn nicht gerade diese Beduinenteufel gekommen wären. Wir wurden überrascht und konnten nicht viel mehr tun, als uns gefangen nehmen zu lassen. Gar zu tragisch nahmen wir die Sache auch nicht, da wir glaubten, als Engländer von den Kerlen respektiert zu werden. Aber es dämmerte uns bald, dass wir uns in dieser Meinung geirrt hatten."

"Wieso?"

Macrom wies auf seinen Körper.

"Die Beduinen waren Fanatiker, die den Tempel als Heiligtum betrachteten. Sie behandelten uns wenig zartfühlend und ließen es sich deutlich merken, dass wir die Freveltat mit unserem Leben zu büßen hätten. Sie können sich denken, dass ich nicht die geringste Lust hatte, mich abschlachten zu lassen. Mit Withe konnte ich mich leider nicht verständigen, da man uns getrennt hatte. So brach ich denn allein aus."

"Erstaunlich genug, dass es Ihnen gelungen ist."

Der Engländer nickte düster.

"Es war ein bisschen Glück dabei. Man hatte mich in eine der eingehauenen Kammern gesteckt und einen Wachtposten davorgestellt. Es gelang mir, meine Fesseln herunterzustreifen. Ursprünglich wollte ich die Wache überfallen, aber dann entdeckte ich in einer Nische einen schmalen Gang. Ich wagte es, ihn zu durchkriechen. Nach zehn Metern konnte ich gehen, und nach einer knappen Stunde kam ich ins Freie. Ganz in der Nähe befanden sich einige Pferde unter der Obhut dieses Jungen. Ich kannte ihn schon als Isma, den Sohn des Scheiks, der übrigens der finsterste und fanatischste Mensch ist, den ich je kennengelernt habe. Der Junge ist viel sympathischer als der Vater. Ich überfiel ihn von hinten. Er wehrte sich wie eine Wildkatze, aber ich konnte ihn unschädlich machen, ohne dass viel Lärm entstand. Und dann nahm ich ihn mit, einesteils zu meiner eigenen Sicherung, anderenteils als Pfand für das Leben meines Kameraden. Man wird sich hüten, diesem etwas zu tun, solange der Junge in meiner Gewalt ist."

"Ihre Flucht wurde entdeckt?"

"Vermutlich. Die Verfolger bemerkte ich allerdings gestern zum ersten Mal. Sie hatten wohl angenommen, dass ich versuchen würde, direkt auf die Eisenbahnlinie nach Osten zu stoßen. So dumm war ich aber nicht. Ich nahm den Weg nach Norden, am Wadi el Arab entlang. Es war anstrengender, aber nur so konnte ich hoffen, der Verfolgung zu entgehen. Es wäre mir auch gelungen, wenn sich das eine Pferd nicht die Fesseln gebrochen hätte. Wir mussten zu Fuß weiter und uns schließlich drüben in den Höhlen verstecken. Ein Glück, dass der Junge keine Schwierigkeiten weiter machte. Ich hielt ihn natürlich gefesselt, aber er lief im Allgemeinen willig mit."

"Die Gesetze verbieten es, den Tapferen allzu sehr zu hemmen", sagte unvermutet der Junge mit ruhiger, melancholischer Stimme in stockendem Englisch.

Macrom fuhr mit aufgerissenen Augen hoch und fragte ungläubig:

"Du sprichst – englisch?"

Ein kleines, verlegenes Lächeln ging um den Mund des Beduinen, als er antwortete:

"Ja. Ich war vier Jahre auf der Schule und lernte es dort."

Der Engländer starrte noch eine Weile ungläubig, dann schlug er sich mit der Hand auf den Oberschenkel und rief:

"Na, da hört doch die Weltgeschichte auf. Tut der Kerl drei Tage lang den Mund nicht auf und versteht jedes Wort."

"Dem Gefangenen ziemt Schweigen", erwiderte Isma in dem halb feierlichen Ton, der verriet, dass er eine oft gehörte Weisheit wiederholte.

"Du bist der Sohn des Scheiks, der Mr. Macrom gefangen nahm?", erkundigte sich Sun Koh.

Der Junge verneigte sich leicht mit Anstand. Es lag Stolz in dieser Bewegung.

"Ja, Herr. Ich bin Ismael ben Dschiskrah. Ich begleitete meinen Vater in die rosenrote Schlucht, als die Kunde kam, dass Fremde dort eingedrungen seien. Wir fingen sie, und sie sollten nach den Gesetzen unseres Stammes sterben."

"Die Flucht veränderte die Lage?"

"Mein Vater wird mein Leben gegen das des Gefangenen eintauschen."

Sun Koh sah ihn mit seinen leuchtenden Augen durchdringend an.

"Du scheinst die Ansichten deines Stammes nicht ganz zu teilen?"

Der Junge warf mit einer stolzen Bewegung den Kopf zurück.

"Doch, Herr, ich wahre mir nur die Freiheit, mein Volk höher zu stellen als das Gesetz. Der Tod der beiden Engländer könnte uns teuer zu stehen kommen. Aber vor allem ist es Petra nicht wert, dass unser Stamm darunter leidet. Die rote Stadt ist schon lange entweiht worden. Und in einigen Jahren wird sie vielleicht Reiseziel von Tausenden, ohne dass wir es hindern können. Mein Vater will es nicht glauben. Aber wer starrköpfig an einem verlorenen Posten aushält, ist vielleicht tapfer, aber nicht klug. Und mit Tapferkeit allein kann man ein Volk nicht führen."

Isma war förmlich leidenschaftlich geworden. Man spürte seine Wesensart fast körperlich. Dieser Junge würde im Gegensatz zu der fanatischen und zugleich beschränkten Starrheit seines Vaters zu einem Führer aufwachsen, der Kühnheit und Energie mit Klugheit und diplomatischem Geschick in sich vereinigte.

Sun Koh reichte ihm die Hand und sagte warm:

"Ich freue mich, dich bei mir zu sehen, Ismael ben Dschiskrah. Mr. Macrom und sein Freund bereuen sicher ihr Abenteuer und haben dafür gelitten. Gestohlen haben sie nichts. Du hörtest, dass nur eine Pergamentrolle in der Urne lag."

Ismaels Augen hingen mit einem unverkennbar schwärmerischen Ausdruck an dem leuchtenden Bronzegesicht Suns. Der beobachtende Hal zog die Brauen hoch. Er fühlte fast so etwas wie Eifersucht.

"Ich glaubte nie an einen Schatz, Herr", antwortete Isma, "aber mein Vater ist fest davon überzeugt. Für ihn bleibt der Frevel auf jeden Fall groß genug. Aber natürlich bleibt ihm nun keine Wahl."

"Was gedachten Sie zu tun, Mr. Macrom?", wandte sich Sun an den Engländer.

Der hob unschlüssig die Schultern.

"Ich hoffte eigentlich, mich bis Jerusalem durchzuschlagen. Von dort aus wollte ich dann den Austausch vornehmen lassen. Können Sie uns mit Ihrer Maschine dorthin bringen?"

Sun schüttelte den Kopf.

"Das möchte ich nach Möglichkeit vermeiden. Die Maschine ist nur für drei Personen berechnet. Ich halte es auch für erheblich einfacher, wenn der Austausch gleich hier vorgenommen wird."

Macrom zog die Stirn in Falten.

"Hm."

"Das Flugzeug ist so gut wie unangreifbar", ergänzte Sun ruhig. "Mit dem Scheik werde ich mich selbst in Verbindung setzen. Wir bleiben hier, bis ihr Freund zurückkommt, und dann bringe ich Sie nach Jerusalem, falls sich keine andere Gelegenheit findet."

"Und unterwegs fängt er uns wieder ab", knurrte der andere.

"Ich werde mir das Wort des Scheiks geben lassen."

"Na?"

"Mein Vater hält sein Wort", warf Isma zornig ein.

"Schon gut", besänftigte Macrom. "Er hasst uns aber auch wie die Pest. Sie wollen hinüberschwimmen?"

Ja."

"Herr, sagen Sie meinem Vater, dass ich wohlbehalten bin. Aber Sie werden seine Sprache nicht verstehen. Er kann nicht englisch."

Sun Koh lächelte.

"Ich werde mich trotzdem mit ihm unterhalten. Bitte, sprich mit mir in der Sprache deines Stammes."

Isma sah ihn unsicher an, benutzte dann aber seine heimatliche Sprache.

"Grüßen Sie meinen Vater von mir und sagen sie ihm, dass mir nichts geschehen ist."

"Ich werde ihm mitteilen, dass du noch heute zu ihm kommen darfst, wenn er sich mit seinem Wort für die Freilassung des Gefangenen verbürgt", erwiderte Sun Koh ohne zu stocken in der gleichen Sprache.

Nimba wies auf das Fenster, vor dem dunkel und schwarz die Nacht lag. Nur weit in der Ferne, am Ufer, flackerte gelegentlich ein heller Schein.

"Sie haben ein Feuer angezündet, Herr", machte er aufmerksam.

Sun Koh erhob sich.

"Ich werde gleich hinüberschwimmen, damit man nicht unnützerweise einen Angriff versucht."

Hal war voller Bedenken.

"Wenn man Sie nun angreift oder gefangen nimmt, Herr?"

Suns Gestalt straffte sich. Um seine Lippen lag ein Lächeln.


*


Die Araber waren schlechte Wächter. Sun Koh erreichte das Lagerfeuer, das hinter den salzigen Klippen lag, ohne angehalten zu werden. Die Felstrümmer boten gute Verstecke, und er konnte es wagen, bis auf einen Meter heranzugehen.

Am Feuer lagen ungefähr ein Dutzend Männer. Sie boten mit ihren weißen Burnussen und ihren dunklen Gesichtern, über die dann und wann der Flammenschein zuckte, ein abenteuerliches Bild. Neben sich hatten sie ihre Gewehre liegen, Waffen von modernster Bauart. Sie saßen stumm, nur dann und wann fiel ein gemurmeltes Wort.

Sun Koh richtete sich auf und trat in den Schein des Feuers.

"Inschallah!", riefen die Männer erschreckt und sprangen auf, als sie den Fremden plötzlich vor sich sahen.

Aus jahrelanger Gewohnheit griffen sie sofort nach ihren Waffen, aber sie taten es halb geistesabwesend und unter dem überwältigenden Eindruck, den die schlanke Gestalt des Jünglings mit dem kühnen Gesicht auf sie machte.

"Lasst eure Waffen in Ruhe", gebot Sun mit fester Stimme. "Ich bin unbewaffnet. Wo ist euer Anführer?"

Die Hände sanken wieder. Einer der Männer trat auf Sun Koh zu. Sein Gesicht war von einem schwarzen Bart umrahmt. Trotzdem war die Ähnlichkeit mit dem Jungen drüben auf dem Flugzeug unverkennbar. Aber Macrom hatte schon Recht: Dieser Mann sah ganz so aus wie ein finsterer, verbissener Fanatiker. Kühn war er ohne Zweifel, aber seine Lippen waren dicht zusammengepresst, seine Augen zu Schlitzen zusammengezogen und die Stirn in harte Falten gelegt. Er wirkte nicht unedel, aber unheimlich und drohend. Und seine Stimme war glatt und scharf wie ein Dolch.

"Ich bin Scheik ben Dschiskrah. Wie kommst du hierher, Fremder, und was willst du von uns?"

Sun antwortete zunächst nicht. Er fühlte den stechenden Blick des Arabers auf sich und versuchte ihn zu fangen. Das gelang ihm für die Dauer einiger Sekunden. Die harten, dunklen Augen des Scheiks suchten sich in die leuchtenden Sterne des Jünglings hineinzubohren. Aber Suns Blick war stärker. Die Augen des Arabers senkten sich.

"Ich komme vom See", erwiderte Sun mit seiner klangvollen Stimme. "Du hast das Flugzeug draußen gesehen, Scheik ben Dschiskrah. Es gehört mir. Ich heiße Sun Koh."

Die Worte Suns lösten eine allgemeine Bewegung der Überraschung aus. Die Männer griffen ihre Waffen fester, der Scheik lehnte sich vor. In seiner Stimme lag Unglauben.

"Du bist der Mann, der über den See schwamm?"

"Ja", sagte Sun ruhig. "Ich bin gekommen, um mit euch zu unterhandeln. Ich habe die zwei Menschen aus dem Toten Meer gerettet und sie in mein Flugzeug gebracht. Du kennst sie. Der eine ist ein Engländer, der andere dein eigener Sohn Ismael. Ist das richtig?"

"Es ist richtig", kam es dumpf zurück.

Sun hatte nichts anderes erwartet und fuhr in ruhigem Tone fort:

"Du hältst einen zweiten Engländer gefangen, Scheik ben Dschiskrah. Dein Sohn ist entführt worden, um jenem das Leben zu retten. Bist du bereit, deinen Sohn gegen deinen Gefangenen auszutauschen?"

Der Araber zischte förmlich heraus:

"Die ungläubigen Hunde haben Chasnet Firaun entweiht, sie haben den Tod verdient und werden ihn erleiden müssen."

"Sei nicht töricht, Scheik", mahnte Sun. "Was geschehen ist, ist gleichgültig. Die Ansichten über das Vergehen der beiden Engländer sind verschieden. Zur Entscheidung stehen allein die Tatsachen, und die sind so, dass du den einen Engländer in der Gewalt hast, wir dagegen deinen eigenen Sohn. Du hast zu wählen: entweder die Rache oder das Leben deines Kindes."

Das Gesicht des Scheiks war förmlich verkrampft vor verbissener Wut. Mit einem Schrei von Hohn erwiderte er:

"Du irrst dich, Fremder. Wir werden Ismael ben Dschiskrah aus seinem Gefängnis auf dem Bachr Lot befreien. Und ferner habe ich nicht einen Gefangenen, sondern zwei, denn du bist ebenfalls in unserer Gewalt."

"Mach dich nicht lächerlich", sagte Sun sehr scharf. "Du müsstest klug genug sein, um zu wissen, dass deine Leute zusammengeschossen sind, bevor sie auch nur hundert Meter weit in den See gekommen sind. Außerdem weißt du, dass das Flugzeug jeden Augenblick aufsteigen kann, ohne dass ihr etwas dagegen tun könnt. Und der größte Irrtum ist der, dass du annimmst, ich sei in deiner Gewalt."

Dann wechselte er den Ton und fuhr ruhig zuredend fort:

"Sei vernünftig, Scheik ben Dschiskrah. Es hat keinen Zweck, erst lange Reden zu halten. Wenn dir das Leben deines Sohnes lieb ist, so willige ein in den Tausch."

Der Scheik schwieg eine Weile. Er schien nachzudenken. Dann meinte er zögernd:

"Ich habe den Ungläubigen nicht hier. Er befindet sich noch in der ›Roten Stadt‹."

"Wenn du heute deine Leute hinschickst, so kann er in drei Tagen hier sein", wehrte Sun ab.

"Wer bürgt mir dafür, dass mir mein Sohn dann wirklich zurückgegeben wird?"

Sun schüttelte unwillig den Kopf.

"Mein Wort, Scheik ben Dschiskrah."

Ein verächtlicher Zug huschte um die Lippen des anderen.

"Das Wort eines Ungläubigen?"

Auf Suns Stirn bildete sich eine feine Falte. "Hüte deine Zunge. Das Wort eines Mannes ist gut genug, ganz gleich, ob es ein Ungläubiger oder ein Gläubiger gibt. Aber schön, du sollst sehen, dass ich dir mehr vertraue, als du mir. Wenn du, Scheik ben Dschiskrah, mir dein Wort gibst, das du binnen drei Tagen deinen Gefangenen wohlbehalten an uns übergeben wirst, so werde ich dir noch heute deinen Sohn zuführen."

Der Scheik sah ganz so aus, als habe er den Sinn der Worte nicht erfasst. Er fragte ungläubig zurück:

"Du willst Ismael freigeben, wenn ich dir verspreche, den Engländer in drei Tagen lebendig hierher zu bringen?"

Ja."

Da glitt es plötzlich wie ein triumphierendes Lächeln über das dunkle, bärtige Gesicht. Und dann kam mit einer gewissen Hast die Versicherung:

"Du hast mein Wort, Fremder."

Sun nickte.

"In einer Stunde wirst du deinen Sohn umarmen können. Erwarte mich um diese Zeit und verständige für alle Fälle deine Wachtposten."

Damit drehte er sich kurz herum und tauchte in der Dunkelheit unter.

Ismael ben Dschiskrah war gar nicht so übermäßig davon erbaut, das Flugzeug so schnell zu verlassen. Er hatte sich mit Hal bereits leidlich angefreundet und ließ sich wissbegierig die Einrichtungen der Maschine erklären und willig alle die abenteuerlichen Geschichten auf die Nase binden, die ihm Hal mit Begeisterung vorsetzte. Es gefiel ihm wirklich sehr gut hier bei den Weißen, aber er konnte sich freilich auch nicht gut widersetzen, als ihm Sun bedeutete, mit ihm zusammen zu seinen Leuten zurückzukehren.

"Vielleicht erlaubt mir mein Vater, wieder so lange zurückzukehren, bis Mr. Withe hier angelangt ist", meinte er hoffnungsvoll und verabschiedete sich nicht ohne Wärme von den Insassen des Flugzeugs.

Sun Koh und Ismael wurden bereits drüben erwartet. Der Scheik umarmte seinen Sohn mit großer Gebärde, aber ohne übermäßige Herzlichkeit. Durch einige hastige Fragen vergewisserte er sich, dass ihm nichts Kränkendes widerfahren war. Sein Gesicht wurde jedoch außerordentlich finster, als Ismael kurzerhand die Bitte vorbrachte, für die drei Tage wieder zu den Weißen zurückkehren zu dürfen. Er stieß ihn schroff von sich und sagte zornig:

"Du bist ein Tor. Dein Pferd steht mit bereit. Wir reiten sofort ab."

Der Junge sah seinen Vater mit einem merkwürdigen Blick an.

"Wollen wir nicht hier bleiben, bis der Engländer zurückgebracht worden ist?"

"Nein, wir reiten", erwiderte sein Vater ebenso schroff wie vorher.

Ismael wandte sich mit einem unsicheren Ausdruck zu Sun um, doch dieser sagte ruhig:

"Es steht dir frei, Scheik ben Dschiskrah, dieses Lager abzubrechen. Vergiss jedoch nicht, dass ich dich in drei Tagen mit deinem Gefangenen zurückerwarte."

Der Araber verzog höhnisch sein Gesicht.

"Du wirst nicht zu warten brauchen, Fremder."

"Was soll das heißen?", fragte Sun kühl.

"Du wirst mit uns kommen, als unser Gefangener. Du wirst die Strafe auf dich nehmen, der sich der andere ungläubige Hund entzogen hat."

Die Augen die Jungen weiteten sich in tiefem Schreck, seine Arme hoben sich wie abwehrend, und dann schrie er auf:

"Vater!?"

Sun Kohs Gesicht wurde starr und fest wie eine Maske. Er sah die Männer um sich herum, die ihre Waffen schussbereit hielten, und er wusste, dass die Gefahr riesengroß war. Der Scheik war kein Mann, der Späße machte.

"So hält also ein Araber sein Wort?", sagte Sun Koh beherrscht.

Der Scheik machte eine verächtliche Bewegung.

"Das Wort, das einem Ungläubigen gegeben wird, bindet nicht."

Ismael trat in flammender Empörung vor seinen Vater hin.

"Vater, du hast dein Wort als Mann gegeben und nicht als Mohammedaner. Du musst es halten."

Der Scheik sah seinen Sohn stolz verweisend an und entgegnete scharf:

"Willst du deinem Vater Lehren erteilen? Vergisst du den schuldigen Respekt?"

Sun sah, wie sich die Fäuste des Jungen ballten. Er hörte die Enttäuschung, die Scham und die Verzweiflung in der Stimme des Knaben, als er herausschrie:

"Nein, Vater. Aber dieser Mann hat dir vertraut, und du hast ihm dein Wort gegeben. Ich will lieber weiterhin sein Gefangener sein, als die Ursache für deinen …"

"Schweig!", herrschte ihn der Scheik an. "Marsch mit dir zu den Pferden. Wir brechen gleich auf."

Der Junge trat trotzig zurück und stellte sich an die Seite Suns. Dieser legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ruhig und gütig:

"Gehorche deinem Vater, Ismael. Für mich besteht keine Gefahr. Den Engländer werde ich gegen den Willen deines Vaters doch noch befreien."

Ismael reichte ihm impulsiv die Hand und flüsterte leise:

"Ich schäme mich, Herr. Aber Sie haben Recht, ich kann nichts anderes tun. Ich werde versuchen, dem Gefangenen zu helfen. Wenn Sie nun erst in Sicherheit wären. Sie haben keine Waffen bei sich. Geben Sie Acht, ich decke Sie jetzt mit meinem Körper, bis Sie aus dem Bereich des Feuerscheins sind. Ich glaube nicht, dass Ihnen dann die Kugeln unserer Leute noch viel schaden können."

Sun lächelte ihn freundlich an.

"Du bist ein tapferer Kerl, Ismael, aber es ist wirklich nicht nötig, dass du mich mit deinem Leibe deckst. Gehe zu den Pferden. Leb wohl."

"Ismael!", rief scharf der Scheik, der von dem kurzen Zwiegespräch natürlich nichts verstanden hatte.

Zögernd ging der Junge aus dem Bereich des Feuers.

"Bindet ihn!", forderte der Scheik nun seine Leute auf, die mit schussbereiten Waffen im Halbkreis herumstanden.

Sie drangen auf Sun Koh ein. Er ließ sie ruhig an sich herankommen und wartete, bis sie die Hände nach ihm ausstreckten. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich das Bild völlig verändert. Während Sun eben noch im Zielfeuer von einem Dutzend Gewehren gestanden hatte, wurde er jetzt durch die vier Leute gedeckt, die mit waffenlosen Händen seinen Körper festschnüren wollten. Das nützte er aus.

Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er den Vordersten bei der Brust, hob ihn aus und schleuderte ihn gegen die anderen. Und dann tauchte er ins Dunkel hinein.

Es dauerte immerhin einige Sekunden, bevor sich die Araber von ihrer Überraschung erholt hatten. Dann knallten die ersten Gewehre los, und dann folgte man dem Flüchtling.

Aber Sun Koh war schon weit voraus. Mit der Schnelligkeit und der Geschmeidigkeit eines Panthers eilte er die Klippen hinunter und warf sich ins Wasser. Die Kugeln, die man ihm nachsandte, schnitten weit von ihm durch die Luft. Mit starken Stößen schwamm er auf das Flugzeug zu. Als die ersten Beduinen am Strand ankamen, war er schon mindestens hundert Meter weit draußen. Die Nacht war zu dunkel, um ihn noch zu sehen.

Er erreichte ungefährdet das Flugzeug.

Macrom heulte vor Wut auf, als er von dem verräterischen Benehmen des Scheiks erfuhr. Er tröstete sich erst wieder, als ihm Sun hoch und heilig versprach, das Leben des Freundes zu retten.

Die Maschine blieb in der Nacht ruhig auf dem Wasser liegen. Am Morgen schwamm Sun Koh wieder zum Ufer zurück. Er stellte erwartungsgemäß fest, dass die Beduinen fortgeritten waren. Unmittelbar nach seiner Rückkehr stieg die Maschine auf.

Nach Nordwesten ging die Fahrt, bis dicht an die Mauern von El-Chalil heran. Dort landete die Maschine, Macrom stieg aus. Von hier aus konnte er bequem die zivilisierte Welt erreichen.

Er hatte die Stadt noch nicht betreten, als das Flugzeug mit Sun Koh, Nimba und Hal bereits wieder nach Süden flog, nach der Roten Stadt zu, in deren Schluchten James Withe gefangen lag.