Über das Buch
Im Appenzellischen aufgewachsen, erweiterte Sophie Taeuber auf immer neuen Feldern ihren Horizont und wurde eine der großen Künstlerinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kunsthandwerkerin und Lehrerin an der Kunstgewerbeschule Zürich, expressionistische Tänzerin, die im Cabaret Voltaire Gedichte von Hugo Ball tanzte, Innenarchitektin, die ein Militärgebäude in Straßburg zu einem Vergnügungszentrum ausbaute, Pionierin der konstruktiven Kunst: Sie wusste Widersprüchliches zu vereinen und produktiv zu machen. Souverän ging sie ihren eigenen Weg, auch in ihrer Ehe mit dem Maler, Bildhauer und Lyriker Hans Arp. Margret Greiner schreibt auf der Grundlage intensiver Recherche, auch bisher unveröffentlichter Briefe, über die Entwicklung Sophie Taeuber-Arps zur kompromisslosen Avantgardistin.
Coverbild: Sophie Taeuber-Arp, Eléments divers en composition verticalehorizontale, Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V. Berlin/Remagen, Foto: Wolfgang Morell
MARGRET GREINER
SOPHIE TAEUBER-ARP
DER UMRISS DER STILLE
Mit freundlicher Unterstützung durch
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
© 2018 Zytglogge Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Angela Fessler
Coverbild: Sophie Taeuber-Arp, Eléments divers en composition verticale-horizontale,
Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V. Berlin/Remagen; Foto: Wolfgang Morell
e-Book: mbassador GmbH, Basel
epub: 978-3-7296-2242-5
mobi: 978-3-7296-2243-2
www.zytglogge.ch
Margret Greiner
SOPHIE
TAEUBER-ARP
DER UMRISS
DER STILLE
Für Philipp Theisohn
«Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst. Während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.»
Paul Klee, während des Ersten Weltkriegs
«Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so dass jede Seite eines Objektes, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt.»
Paul Cézanne, Gespräch mit Joachim Gasquet
Editorische Anmerkung: Alle im Text kursiv gesetzten Passagen sind wörtliche Zitate.
Es will ins Runde
Wie leicht es doch mit Sophie war! Man gab der Sechsjährigen eine Häkelnadel und Wollreste in die Hand, schon saß sie friedlich in einer Ecke, war stundenlang beschäftigt. Da hatte sie es mit ihrer älteren Tochter entschieden schwerer. Erika war immerzu unzufrieden und rastlos. Mal wollte sie ein Buch lesen, dann Klavier spielen, verlor schnell wieder die Geduld, lief ins Dorf, suchte dort nach Anregungen, fand keine, kam missmutig nach Hause. Sophie aber kannte keine schlechte Stimmung. Sie saß auf ihrem Holzschemel hinter dem Küchentisch wie auf einer sonnenbeschienenen Bergwiese.
Die wird einmal ein Heimchen am Herd, dachte die Mutter, nicht ohne Sorge. Sie selbst, Sophie Taeuber-Krüsi, erzog ihre Töchter nicht als künftige Hausfrauen, die sich mit den weiblichen Disziplinen Kochen und Handarbeiten zufriedengaben. Erika, fünf Jahre älter als Sophie, zeigte tatsächlich nicht die geringsten mädchenhaften Interessen. Aber Sophie war auf dem besten Wege, eine genügsame Strickliesel zu werden. Da konnte sie nur hoffen, dass sich das auswuchs.
Alle nannten die jüngste Tochter Söpheli, nur die Mutter nicht. Die vielen Verwandten in Trogen ergingen sich gern in Komplimenten, wenn sie Sophie sahen, ein Mädchen mit strahlenden Augen und dunkelblonden Zöpfen, die in ihrem Puffärmelkleid mit weißer Spitzenschürze und den Knöpfelschuhen allerliebst aussah. «Ach wie niedlich», sagten sie. Aber die Mutter wollte nicht, dass man aus ihrer Tochter ein Püppchen machte. Sophie war mit ihren sechs Jahren eine Persönlichkeit, die es zu respektieren galt, die man ernst nahm.
«Fertig!» Sophie stand so heftig auf, dass der Holzschemel auf den Boden fiel. Sie hob stolz einen gehäkelten Lappen in die Höhe. Rund, aus roter Baumwolle, mit leicht verunglückter Schlaufe.
«Ein Topflappen», verkündete sie stolz.
«Seit wann kannst du denn etwas Rundes häkeln?», fragte ihre Mutter.
«Selbst beigebracht.»
Auf dem Kreis, der leichte Wellen schlug, weil Sophie wohl einige Maschen zu viel aufgenommen hatte, saß ein weiterer runder Deckel, etwas kleiner darauf noch einer. In die Mitte hatte die junge Handarbeiterin einen goldenen Reißnagel gedrückt, so dass die Komposition einer Blüte mit Stempel glich.
«Aber einen heißen Topf kannst du damit nicht vom Herd nehmen, Sophie. Mit den Auflagen ist der Lappen zu dick, er liegt nicht in der Hand, und die Reißzwecke wird Dich zwacken.» Die Mutter befürchtete, dass Sophie tief enttäuscht war.
War sie nicht. Sie drehte mit ihrem Finger die Schlaufe, so dass die gehäkelten Spiralen ins Tanzen kamen: «Es sollte alles rund werden, so ist mein Lappen rund wie die Erde. Oder wie ein Kuhfladen. Oder wie der Mond. Jetzt hänge ich mir die Scheibe einfach übers Bett!»
Am nächsten Tag nahm sie frohgemut ihre Häkelproduktion wieder auf. Diesmal entwarf sie ein Rechteck, teilte es in vier gleichmäßige Quadrate, führte es in den Farben Orange, Rot, Grün und Blau aus: «Das ist jetzt ein Garten mit vier Beeten, eins für Rüebli, eins für Rosen, eins für Spinat und eins für, wie heißt nochmal das blaue Gemüse?»
«Rotkabis?»
«Ja.»
«Und dieser Lappen kommt auch wieder über dein Bett? Aber die beiden Topflappen passen gar nicht zusammen.»
«Gerade recht», sagte Sophie.
Das Mädchen und der liebe Gott
Sophie balancierte auf der Mauer, die die Terrasse vom Hof des Hauses trennte, quietschte auf einer geschnitzten Flöte, erzeugte eine wahre Affenmusik und tänzelte anmutig auf dem schmalen Grat zwischen Himmel und Erde. Je schriller die Töne klangen, umso mehr jubelte sie. Bald wusste sie genau, wie sie die Lippen spitzen und den Atem dosieren musste, um dem Instrument die fiependsten und ziependsten Töne zu entlocken. Die Katzen verzogen sich erschreckt in den Keller. Sie sah, wie ihr Bruder Hans, der schon in die zweite Klasse ging, den Weg zum Haus herunterkam. Hans war im Gegensatz zu seiner Schwester ein ernsthafter Junge, der schon als Siebenjähriger etwas Gravitätisches ausstrahlte, vor allem, wenn er missbilligend die linke Braue hochzog. Gemessenen Schritts bog er in die Biegung zum Haus ‹Solitüde› ein; den Kopf auf den Boden gesenkt, die Schultern nach vorn gebeugt, trug er schwer am Tornister und der Welt. Auf ihrer Höhe angekommen, hob er abrupt den Kopf, stierte sie an und rief: «Söpheli, fürchtest du dich vor Gott?»
Da musste die sechsjährige Sophie ganz gehörig nachdenken. Hans blieb stehen und schaute sie insistierend an. Aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, das war schließlich eine schwierige Frage.
Dann kam sie zu einem Ergebnis, schaute Hans fest in die Augen und sagte: «Nein!»
Danach konnte sie sich vom Nachdenken erholen, indem sie Triolen in verschiedenen Tonarten blies. So heftig, bis ihr der Atem ausging.
Als Hans an ihr vorbeiging, zischte er: «Und für Schmetterlinge interessierst du dich auch nicht.»
Das stimmte und stimmte nicht. Sie konnte die farbenfrohen Falter bewundern, die Hans mit seinem Kescher auf der Wiese vor dem Haus einfing: den Zitronenfalter und den Dukatenfalter, den Pfauenspinner und das Pfauenauge, und ganz besonders schön war der Rote Apollo. Aber als sie sah, wie Hans die Tierchen mit einer Stecknadel auf eine Holzleiste spießte, die Schmetterlinge erst wild flatterten, dann nur noch einmal kurz mit den Flügeln wackelten, schrie sie auf: «Du machst sie ja tot!» Von da an weigerte sie sich, seine Sammlung anzusehen, geschweige mit ihm auf die Jagd zu gehen.
Alle Taueber-Kinder waren in Davos geboren, Paul, der Älteste, 1883, Erika 1884, Ernst, der nur fünf Monate lebte, 1886, Hans kam 1887 und Sophie, das Nesthäkchen, 1889 zur Welt. Der Vater Emil Taeuber stammte aus einer Apothekerfamilie aus Thorn in Westpreußen. In Heiden, im Appenzell, lernte er in der Apotheke von Johann Jakob Krüsi dessen Tochter Sophie kennen, heiratete sie 1882 und richtete sich in Davos eine Apotheke ein. Seit seiner Militärzeit litt er an Tuberkulose, da erschien Davos der richtige Ort, um ihm das Atmen und Leben zu erleichtern. Trotz der zahlreichen Kinder strebte Sophie Taeuber-Krüsi über die häuslichen Aufgaben hinaus nach eigenen Aktivitäten. Sie eröffnete im Anbau neben der Apotheke ein Weißwarengeschäft, bot dort außerdem Kurse in Stickerei an, die eine Verwandte aus dem Appenzell abhielt.
Die Krankheit ihres Mannes verschlimmerte sich, schon nach fünf Jahren musste er 1887 die Apotheke verpachten. Die kleinen Kinder wurden wegen der Ansteckungsgefahr von ihm ferngehalten, das Krankenzimmer war immer verschlossen. Sophie Krüsi zeigte ihrem Mann die einjährige Tochter Sophie einmal durchs geschlossene Fenster.
«Was für ein schönes Mädchen», flüsterte Emil Taeuber.
Er starb am Ostersonntag des Jahres 1891, hinterließ eine 36-jährige Ehefrau und vier unmündige Kinder.
Zwei Brüder Emil Taeubers lebten ebenfalls in Davos, ein Zahnarzt und ein Bankier, sie unterstützten die Familie. Trotzdem entschloss sich Sophie Taeuber-Krüsi drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, ins Appenzell zu ziehen, von wo sie stammte. Dort sah sie bessere Bildungschancen für ihre Kinder. In Trogen bei Sankt Gallen hatte sie prominente Verwandtschaft, die Zellwegers, eine weitverzweigte Familie mit Macht und Einfluss. Johann Caspar Zellweger hatte schon Anfang des 19. Jahrhunderts in Trogen die ‹Lehr- und Erziehungsanstalt für die Söhne der gebildeten Stände› gegründet, aus der die Kantonsschule hervorging, die weit über Trogen hinaus berühmt wurde. Die Zellwegers waren als Unternehmer in der Appenzeller Textilindustrie erfolgreich, die im 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg florierte. Spitzen und Stickereien aus Trogen wurden in die ganze Welt exportiert. Zwei Schwestern von Sophie Krüsi hatten sich mit Zellwegers verheiratet, besonders eng war der Kontakt zu ihrer Schwester Mathilde. Deren Mann Dr. Hans Zellweger betrieb in Trogen ein angesehenes Kindersanatorium, die ‹Kinderkuranstalt für die besseren Stände›. Das Ehepaar lebte mit vier Töchtern auf dem Sonnenhof, einem prächtigen Barock-Doppelhaus, nicht weit vom Dorfmittelpunkt, dem Landsgemeindeplatz mit Rathaus und Kirche und dem Gasthaus Krone. Die Taeubers wohnten zunächst bescheiden in der kleinräumigen ‹Solitüde›, einem Weberhäuschen, das ihnen Schwager Hans zur Verfügung gestellt hatte. Es lag am Ausgang der Straße nach Altstätten, Vordorf 49.
«Du hascht doch selbscht Tächter», sagte die sechsjährige Sophie ihrem Onkel Hans und bohrte ihm keck den Zeigefinger in den Rücken. Der hatte ihr gerade eröffnet, dass er Fotos von ihr machen lassen wolle, um damit kleine Patienten für seine Kuranstalt anzulocken.
«Keine ist so reizend wie unser Söpheli», sagte Dr. Zellweger.
So posierte auf einer Werbemarke und einer Postkarte für die Kinderkuranstalt bald ein hübsch mit Trachtenkleid und Strohhut ausstaffiertes, offensichtlich quietschgesundes, fröhlich lachendes Mädchen und warb für die Segnungen einer Kinderkur.
Abgeschnittene Fäden
Sophie hatte eine lebhafte Phantasie. Leidenschaftlich liebte sie das Verkleiden. In ihrem Onkel Hans, dem ‹Kinderdoktor›, hatte sie einen verständnisvollen Animateur. Er veranstaltete auf dem Sonnenhof Scharadespiele und Kostümfeste, ermunterte seine Töchter, Nichten und Neffen und seine kleinen Patienten dazu, in das Kostüm einer anderen Person zu schlüpfen. Ganze Überseekoffer voller Tücher und Stoffreste, Röcke, Hosen, Hüte, Ketten und Haarschmuck wurden dann im Flur aufgestellt − jeder konnte sich bedienen und seiner Fantasie freien Lauf lassen. Die Mädchen waren mit Feuereifer dabei, die Buben weniger: für sie war das Weiberkram. Bruder Hans interessierte sich dafür, ob sich in den Koffern vielleicht altes mechanisches Spielzeug fand, am liebsten mochte er Affen, die an der Kurbel aufgezogen, die drolligsten Bewegungen machten.
Die Mädchen aber überboten sich mit wagemutigen Kreationen. Manche stülpten einfach alles, was sie fanden, übereinander, kombinierten die schrillsten Farben und Kleidungsstücke, die überhaupt nicht zusammenpassten. Wenn man sich dazu das Gesicht weiß schminkte, konnte man auf die Frage «Wer bist du?, wen stellst du dar?» immer mit «Clown» antworten. Erika und Sophie waren da ehrgeiziger, bei ihnen sollte die ausgedachte Figur stimmen. Jeder, der sie sah, musste sofort ausrufen: «Ah, da kommt eine Sennerin!» Oder: «Eine richtige Nonne! Eine Königin!» Und mit dem Verkleiden war es noch nicht getan. Dann ging es doch erst los mit dem Spiel. Die Nonne sang mit zum Himmel gekehrten Augen Kirchenlieder, die Königin striezte hoheitsvoll ihre Untertanen, Dornröschen schlief und schlief, ließ sich schließlich wachküssen, was ein großes Gaudi war; da es keine Buben gab, die den Prinzen spielen wollten, musste sich ein Mädchen finden. Fand sich auch.
Sophie liebte die Rolle der Prinzessin aus dem Froschkönig, da konnte sie sich in Ausrufen von Ekel und Abscheu ergehen: «Er isch so gruusig! So glesig!», und zum guten Schluss den Frosch in der Form eines ausgestopften Taschentuchs an die Wand donnern.
«Das Meetli wirds de Buebe wyse», lachte Onkel Hans.
Die Mutter Sophie fotografierte ihre Töchter in ihren Rollen und Posen. Sie fand, Fantasie könne im Leben nicht schaden.
In der Grundschule interessierte sich Sophie für Mathematik. «Erstaunlich für ein Mädchen», sagte die Lehrerin. In Handarbeit glänzten alle Schülerinnen, auch einige Schüler. Kein Wunder, waren die Kinder in der Gegend doch schon in die textile Heimarbeit einbezogen, bevor sie in die Schule kamen. Sophie freundete sich mit einem stillen Mädchen an, das außerhalb des Dorfes wohnte, schon auf dem Weg nach Speicher.
«Ich besuch’ dich mal», sagte Sophie.
«Das passt nicht», antwortete Ursula.
Sie folgte auch nicht Sophies Einladung, zu Taeubers nach Hause zum Spielen zu kommen. Sophie fand das merkwürdig. In ihrem Haus waren immerzu andere Kinder. Ihre Mutter hatte nichts dagegen.
Eines Tages fasste sie sich ein Herz, nahm Ursula nach Schulschluss unter den Arm: «Jetzt gehe ich einfach mit dir.»
Ursula nickte.
Es war ein beträchtlicher Weg von der Schule in der Dorfmitte bis zum einsam gelegenen Haus. Niedrig duckte es sich in eine Mulde, umgeben von Wiesen, auf denen zwei Ziegen weideten.
«Habt ihr denn keine Kühe?», fragte Sophie neugierig.
Ursula zuckte nur mit den Schultern.
Sie ging in die Küche, holte aus der Speiskammer ein Glas Milch und stellte es vor Sophie auf den Tisch. Sophie hatte noch nie Ziegenmilch getrunken. Sie schmeckte ihr nicht.
«Wo sind denn die Eltern und die Geschwister?»
«Im Keller unten, arbeiten. Komm mit!»
Sie stiegen steinerne Treppen hinunter in den Keller. Eigentlich war es ein Zwischengeschoss mit schwachem Tageslicht. Kalt war es. Ein großer Webstuhl stand im Raum, den die Mutter bediente. Sie schaute nur kurz auf, nickte Sophie zu, hörte aber nicht auf zu arbeiten, bediente die Schäfte, so dass sich die Kette spreizte, ließ das Schiffchen mit dem Schussfaden hindurchgleiten, drückte mit dem Kamm den Faden ans Gewebe. Im hinteren Teil des Raumes saßen vier Mädchen und ein Junge und stickten. Der Stramin war durch Stickrahmen fest angezogen, auf einem kleinen Ständer lagen Entwürfe, nach denen im Plattstich kunstvolle Muster entstanden.
Sophie traute sich nicht, etwas zu sagen, aber Ursula nahm sie an die Hand und stellte sich mit ihr hinter eine ihrer Schwestern. Das ältere Mädchen ließ sich gleichfalls nicht bei ihrer Arbeit stören, schaute auf das Blatt mit dem Dessin, zog einen Faden aus gerolltem Stickgarn, fädelte ein, stickte, schnitt den Faden ab. Der Boden war bedeckt mit abgeschnittenen Fäden, die sich zu willkürlichen Mustern fügten wie ein zerrupfter Teppich.
«Das hier gibt eine Kissenplatte», erklärte Ursula. «Schweizer Motiv: Edelweiß und Alpenrose. Das geht am besten.»
«Bist du eine Zellwegersche?», fragte plötzlich die Mutter.
«Nein, sie ist zugezogen», beeilte sich Ursula zu sagen. «Sie geht mit mir in die Klasse, Sophie Taeuber.
«Aber verwandt bist du mit den Zellwegers, oder?»
Sophie lief rot an. Die Frage hatte so feindselig geklungen. So sagte sie nichts, und auch Ursulas Mutter verfiel erneut in Schweigen.
Sophie war froh, als Ursula wieder mit ihr zur Küche hochstieg.
«Ich muss jetzt auch sticken, du musst gehen.»
In der Nacht träumte Sophie von farbigen Wollfäden, die um sie herumtanzten, bis sie nichts mehr sah.
Glühwürmchen in der Nacht
Im Jahr 1900 erwarb Sophie Taeuber-Krüsi von ihrem Schwager Hans ein Grundstück im Vordorf 45 b, in Hanglage mit Blick auf Hügel, Wald und Wiesen. Sie ließ sich ein großzügiges Haus erstellen – ganz nach ihren Vorstellungen und selbst angefertigten Bauzeichnungen. Sie wollte im Haus eine kleine Pension für Studenten der Trogener Kantonsschule eröffnen und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Das Haus war dreistöckig, mit Balkonen und Erkern, die Giebel mit filigranen Holzschnitzereien verziert, ganz im Stil der heimischen Chalets.
Sophie Taeuber-Krüsi teilte ihren Kindern im neuen Haus eigene Zimmer zu. Das Haus sollte ja als Pension Gewinn abwerfen, jedes Zimmer, das für Gäste verlorenging, schmälerte die Einnahmen. Nichts hätte nähergelegen, als Erika und Sophie ein gemeinsames Zimmer zu geben, aber die kluge Mutter wusste, dass ein Mensch ein eigenes Zimmer braucht, in dem er wohnen kann wie in seiner Haut, das die Person unverwechselbar aufnimmt und schützt. Sie respektierte das Reich ihrer Kinder, ließ sie darin regieren und herrschen, versagte sich, Ordnung und Sauberkeit zu kontrollieren. Nur wenn sie ausdrücklich dazu eingeladen wurde, besuchte sie ihre beiden Töchter und den Sohn Hans in ihren Refugien und hörte ihnen zu. Pauls Zimmer stand leer, er war mit 16 Jahren von zu Hause weggezogen, ausgerechnet nach Hamburg, ausgerechnet, um eine Ausbildung zum Seemann zu absolvieren.
Seine Mutter hatte große Augen gemacht: «Waren denn die Berge in Davos ein solches Trauma, dass du dich jetzt mit Meerwasser heilen musst?»
Paul zuckte mit den Schultern: «Ich weiß nicht, aber in der Schweiz ist mir alles zu klein. Ich muss andere Länder kennenlernen. Hier ist alles so … putzig.»
Die Mutter ließ den fernwehkranken Sohn ziehen.
Immer wenn Postkarten nach Trogen kamen, liefen alle zusammen, um Pauls Botschaften zu lesen, die von gleichbleibender Einfallslosigkeit waren: «Wir sind gerade in Havanna/in Valparaiso/in Kapstadt/in Timbuktu.» Es ist sehr heiß/warm/feucht/trocken. Die Bilder auf der Vorderseite der Karten glichen sich auch wie ein Ei dem anderen: Hafenansichten mit Schiffen. Nur die Briefmarken boten Abwechslung.
Wenn Paul nach Hause kam, war er braungebrannt und schweigsam. Ja, er sehe etwas von der Welt.
Seine elfjährige Schwester Sophie redete auf ihn ein: «Ja, was siehst du denn, erzähl’ doch! Wilde Tiere, wilde Menschen? Eingeborene, Indianer? So red’ doch, Paul!»
Sie beneidete ihn glühend, suchte auf dem Atlas die Städte und Länder, die Pauls Schiffe angelaufen hatten, bedrängte ihn. Aber Paul wusste höchstens von Stürmen zu berichten, die das Schiff überstanden hatte.
Dann kam keine Karte mehr, nicht einmal zum Weihnachtsfest. Die Geschwister spürten, wie unruhig die Mutter wurde, wie sie sich sorgte. Erst Wochen später brachte der Postbote eine Nachricht, keine Postkarte, einen Brief der Seemannschule in Hamburg. Paul sei am zweiten Februar 1901 in Pará in Brasilien an Gelbfieber gestorben.
Wenig später erreichte die Familie ein Päckchen mit seiner Hinterlassenschaft: einer Taschenuhr, die von seinem Vater stammte, einigen fremdländischen Münzen, einem Schweizer Taschenmesser, Kleidung. Und einem Tagebuch, das genauso karg geführt war wie seine schmucklosen mündlichen Reiseberichte bei seinen früheren Besuchen zu Hause. Die Mutter las den Geschwistern vor, beim Lesen der letzten Seite brach sie in Tränen aus.
«Ich sehe langsam ein, dass mein Wunsch, ein Seemann zu werden, eine Spinnerei ist. In mir steckt kein Matrose. Ich habe genug vom Meer. Wenn wir aus Brasilien zurück sind, werde ich meinen Abschied nehmen und mir eine Ausbildung in der Schweiz suchen. Ich werde schon etwas Rechtes finden.»
Aber hier könnte er doch auch vom Berg stürzen und tot sein!, wollte Sophie ausrufen, um die Mutter zu trösten. Aber sie spürte, dass das jetzt nicht half.
Sophie Taeuber-Krüsi brachte es lange nicht über sich, Pauls Zimmer aufzuräumen und in ein Gästezimmer zu verwandeln, auch wenn es das ganze Jahr über Nachfragen von Schülern gab.
Was Paul ihr nicht hatte geben können, besorgte sich Sophie durch Bücher: In der Sekundarschule gab es eine kleine Bücherei, und ihre Mutter wusste immer, was sie ihr zum Geburtstag und zu Weihnachten schenken konnte. Vor allem interessierte sie sich für Berichte von Völkern, die abgeschieden von der übrigen Welt im Einklang mit der Natur lebten und alles feierten, was sie ihnen schenkte: Himmel, Sonne, Regen, die Tiere und die Früchte der Erde. Vor allem bei den Indianern fand sie dieses Bewusstsein, ein Teil der Schöpfung zu sein.
Ich bin das Land. Meine Augen sind der Himmel. Meine Glieder sind die Bäume. Ich bin der Fels, die Wassertiefe. Ich bin nicht hier, um die Natur zu beherrschen oder sie zu nutzen. Ich bin selbst Natur ... Solche Sätze gefielen ihr.
Sie fing an, die Wand über ihrem Schreibtisch in ihrem Zimmer zu indianisieren. Auf einen geometrisch gemusterten Wandbehang befestigte sie Fotos von Indianerhäuptlingen, dazwischen Tomahawks, Friedenspfeifen, Federschmuck. Dekorierte das Ensemble mit selbst entworfenen und gewebten Halsbändern mit indianischen Motiven. Rechts und links neben diese Collage pinnte sie Zettel mit indianischen Sprüchen und Weisheiten: Was ist das Leben? Es leuchtet auf wie ein Glühwürmchen in der Nacht. Es vergeht wie der Hauch des Büffels im Winter. Es ist wie der kurze Schatten, der über das Gras huscht und sich im Sonnenuntergang verliert.
Ihre Mutter war erstaunt, als sie eines Tages Sophies Komposition entdeckte. Jungen mochten sich für Indianer interessieren, zwar eher für deren kriegerisches Temperament als für deren Friedfertigkeit. Aber ein fünfzehnjähriges Mädchen?
«Darf ich Fotos von dir machen? Vor deiner Apachenwand?»
Sophie nickte gleichmütig, die Mutter drückte den Auslöser.
Das Foto dokumentiert Sophies frühen Drang, unterschiedliche Materialien zu arrangieren und zu komponieren. Sie sitzt auf dem Stuhl vor ihrer Wand, im langen Kleid mit weißem Kragen, die Haare streng aus dem Gesicht gekämmt. Die rechte Hand, auf der Stuhllehne abgestützt, berührt das Kinn, der Ausdruck des Gesichts ist ernst, wirkt gesammelt. So abgeklärt mag eine Dreißigjährige in die Welt schauen, das Temperament eines jungen Mädchens findet man in Sophie nicht. Aber sie muss ja mit den Indianern über die große Kraft im Kosmos nachdenken. Kein Wunder, dass man da vorzeitig altert.
Die Mutter freute sich an den eigenwilligen Interessen ihrer Tochter. Sie selbst galt in der hermetischen Dorfgemeinschaft in Trogen als Außenseiterin. Man munkelte, sie spreche sich für das Frauenwahlrecht aus. Da wunderte einen ja nichts mehr. Sophie Taeuber-Krüsi kümmerte sich nicht um andere Leute und deren Gerede, ging ihren eigenen Weg. War immer rege, arbeitete in Haus und Garten, malte, fotografierte, dekorierte Teller und Tassen, handarbeitete im Winter, sorgte für ihre Pensionsgäste, die jungen Schüler, die Familienanschluss bei ihr fanden. Die kamen nicht nur aus der Schweiz, sondern auch aus Italien und Österreich, und einmal lebte sogar der Neffe eines Persers aus Smyrna im Haus. In die Kirche ging sie nicht. Vielleicht wollte sie nicht neben den Zellwegers wie Patrizier in der ersten Reihe sitzen. Aber auch nicht allein in der letzten Bank.
«Die Fröhlichkeit des Geistes ist ein Zeichen von Stärke», sagte die Mutter jeden Morgen ihren Kindern zum Frühstück. Hans konnte sich darunter nichts vorstellen, die beiden Schwestern Erika und Sophie aber sehr wohl, lebte ihnen die Mutter doch täglich vor, was mit einem fröhlichen Geist zu schaffen war.
Sophie Krüsi sprach mit ihren Kindern Schriftdeutsch, die Ehe mit einem Preußen hatte sie darin bestärkt. Manchmal fanden sich bei ihr feine Anklänge an die Mundart, vor allem, wenn sie von ihrer Kindheit erzählte. Das Appenzell war ihr Heimat geblieben, auch wenn sie durch ihre Heirat Deutsche geworden war. 1906 beantragte sie aber für sich die Rückkehr und für ihre Töchter den Übertritt in die Schweizer Staatsbürgerschaft, die ihr bewilligt wurden.
Kopf und Hand
Kurz vor Ende ihrer Schulzeit an der Sekundarschule in Trogen setzte sich die Mutter mit ihrer sechzehnjährigen Tochter zusammen.
«Sophie, was möchtest du nach der Schule machen?»
«Ich weiß nicht so recht. Ich kann doch sticken.»
«Du kannst sehr gut sticken. Aber das können andere auch. Und leider bringt es nicht sehr viel ein. Du hast eine Begabung, Vorlagen zu entwerfen, das ist deine künstlerische Ader. Wenn du stickst, dann doch immer nach deinen eigenen Ideen. Meinst du nicht, du könntest ein Dessinateur werden?»
Eine weibliche Form von Dessinateur gab es nicht. Die ‹Entwerfer› waren grundsätzlich Männer, sie standen in der Hierarchie der Textilindustrie ganz oben, die Frauen führten aus, was Männer ihnen vorlegten. Von deren Entwürfen hing es ab, ob ein Betrieb gut lief, ob die Produkte bei den Kundinnen ankamen. Sie durften, ja sollten originelle Ideen haben und die Trends beobachten, ein Gespür für wechselnde Moden und für die Capricen der Frauen haben, die sich teure Handarbeiten leisten wollten. Dessinateure gingen auf die großen Modemessen nach London und Paris. Schweizer Handarbeit war ein Gütesiegel in ganz Europa – sogar in den USA.
«Ja, Mama, aber wie wird man Dessinateur, wie kann ich das werden?»
«Da gibt es seit kurzem eine neue Schule in St. Gallen, der Leiter ist ein Johannes Stauffacher. Es ist eine Privatschule für Zeichner und Entwerfer in textilen Berufen. Ich habe mir diese École des arts décoratifs, wie sie heißt, angesehen, mit Herrn Stauffacher gesprochen. Ich glaube, das wäre etwas für dich. Wollen wir zusammen nach St. Gallen fahren und uns die Schule ansehen?
Zwei Jahre zuvor, 1903, war das fast 1000 Meter hoch gelegene Trogen mit der 300 Meter tiefer gelegenen Stadt St. Gallen durch eine Straßenbahn verbunden worden. «Ein Wunderwerk der Technik», schrieben die Zeitungen. Die Bahn schraubte sich von St. Gallen steil den Berg hinauf, eröffnete Blicke auf den in der Ferne liegenden Bodensee, erreichte den Ort Speicher mit seiner stolz auf einem Hügel thronenden Pfarrkirche, wand sich dann in leichten Kehren nach Trogen. Der Bahnhof war eine bescheidene Holzhütte, aber die Genugtuung, mit der großen Welt verbunden zu sein, erfüllte jeden Einheimischen.
Bevor Sophie in die Stauffacher-Schule eintrat, schickte die Mutter sie – wie zuvor schon ihre Schwester Erika – für ein halbes Jahr in ein Internat nach Neuchâtel, damit das junge Mädchen ordentlich Französisch lerne. Die Mutter liebte das Französische. Nicht die Küche, die war ihr viel zu aufwendig. Die Sprache gefiel ihr, die Präzision im Ausdruck, die Anmut im Klang, aber auch, was sich in der Sprache vermittelte: Geist und Lebenssinn.
La chance sourit aux audacieux, konnte schon die fünfjährige Sophie zitieren, so oft hatte sie von ihrer Mutter dieses Sprichwort gehört: «Das Glück lächelt den Unerschrockenen.» Sophie würde es in ihrem Leben oft zitieren – aber niemals auf ein Kopfkissen sticken!
In der ersten Klasse der Stauffacher-Schule gab es elf Jungen und drei Mädchen. Immerhin schon drei Mädchen, Sophie war nicht allein. Der Direktor legte Wert auf die traditionellen Voraussetzungen des Kunsthandwerks. Erst kam das Zeichnen nach der Natur. Die Studenten wurden an die frische Luft gesetzt, sie mussten Gräser, Blätter, Blüten, Obstzweige suchen, auch Käfer und Schmetterlinge («Ich fasse keinen Schmetterling an!», sagte Sophie, und alle wunderten sich, war sie doch sonst nicht zimperlich) und so getreu wie möglich das Objekt abzeichnen. Nur keine Flausen, sich schon als großen Künstler zu sehen, der die Welt nach seinem Bilde schafft.
Dann kam das ‹Studium des historischen Ornaments› − das war ein weites Feld. Vom antiken Säulendekor und marmornen Mäandern war es ein langer Weg bis zur Stickerei an Schweizer Blusen. Der Blick der Schüler sollte sich weiten auf kulturgeschichtliche Entwicklungen, das ‹Ornament im Lebenszusammenhang› primitiver und exotischer Völker erforscht werden: die Verzierung am Faustkeil des Steinzeitmenschen, die Ohrringe bei den Polynesiern, die Tätowierungen der Eingeborenen in Australien. Erst wenn man die Grundlagen kannte, nicht nur aus Büchern und Abbildungen, sondern im praktischen Nacharbeiten in die Finger gezogen hatte, konnte man sich in die luftigen Höhen schwingen, die mit dem Zauberwort ‹Schöpferisches Komponieren› gekrönt wurden.
«Du hast eben dein Handwerk von der Pike auf gelernt», sagte Hans Arp später, wenn er Sophies sicheren Umgang mit Materialien und künstlerischen Techniken bewunderte.
Sophie war erstaunt, dass er eine so militärische Redensart bemühte, um sie zu loben. «Ich glaube, die Pike, also der Spieß, war in allen Armeen absolut ornamentfrei.»
Sophie war 18 Jahre alt, als sie die Stauffacher-Schule beendete. Sie hätte sich um seine Stelle als Dessinateur in Trogen bewerben können. Aber sie hatte Feuer gefangen, wollte dem bisher Gelernten etwas aufsatteln, mehr wissen, mehr können. So bewarb sie sich als Hospitantin bei der Zeichnungsschule des Industrie- und Gewerbemuseums in St. Gallen und setzte dort ihr Studium fort.
«Die Mama wird so dünn. Fällt dir das nicht auf?» Erika saß mit Sophie in der Straßenbahn nach St. Gallen, da konnte ihre Mutter sie nicht hören.
«Sie hat eben mit der Pension sehr viel zu tun, schwirrt immer wie eine Arbeitsbiene durchs Haus. Das hält schlank.»
«Sie ist nicht schlank, sie ist zu dünn. Sie isst zu wenig, mittags fast gar nichts, abends einen Happen, und ich habe das Gefühl, dass sie manchmal ihr Essen wieder ausspuckt. Und sie schwirrt schon lange nicht mehr durchs Haus, sie tappt müden Schritts.»
«Sie muss zum Arzt gehen, nicht nur zu Onkel Hans. Er ist bemüht und kümmert sich rührend um sie, aber im Grunde ist er doch ein Feld-, Wald- und Wiesendoktor. Sie sollte in eine Klinik nach St. Gallen. Da wissen die Ärzte mehr und begnügen sich nicht mit Heublumenbädern und Franzbranntwein.»
«Sie wird sich sträuben. Sie kann sich nicht eingestehen, krank zu sein.»
Da hatten die Töchter Recht.
«Ach, ich habe doch nichts. Es fehlt mir ein bisschen an Appetit. Der stellt sich schon wieder ein», wiegelte die Mutter ab. Aber Erika und Sophie blieben hartnäckig. Unterstützung erhielten sie von Tante Mathilde, Mutters Schwester: «Sophie gefällt mir in letzter Zeit überhaupt nicht. Da muss etwas geschehen.»
Die Diagnose wurde der Patientin verschwiegen, aber den Töchtern übermittelt: Magenkrebs. Man werde operieren, aber die Chancen stünden nicht gut. Sophie hatte das Gefühl, als schnüre ihr ein eiserner Draht die Kehle zu. Ihre Mutter todkrank? Das konnte einfach nicht sein. Sie war doch erst 53 Jahre alt. Frauen starben mit 70 Jahren, einige wurden sogar älter. Und wie konnte jemand, der so gesund lebte, selbst gezogenes Gemüse aß, Magenkrebs haben? Was war das überhaupt, ein Krebs? Eine Geschwulst, die immer grösser wurde, einen von innen auffraß?
Sophie Krüsi wurde operiert.
«Jetzt geht es mir besser, Ihr werdet sehen. Die Sonne wird mich wieder auf die Beine bringen.»
Der Frühling 1907 brachte tatsächlich Entwarnung. Die Mutter lebte auf, versah fast mit alter Energie ihre Arbeit. Nur der Appetit fehlte noch immer.
Die kopernikanische Wende
Sophie Taeuber-Krüsi hatte nach dem Tod ihres Ehemannes den Kontakt zu dessen ostpreußischer Verwandtschaft aufrechterhalten. Vor allem aber zu einem Freund, mit dem Emil Taeuber zur Schule gegangen war. Theodor Koerner lud Sophie Krüsi und ihre Kinder immer wieder ein, den Sommer auf seinem Gut Hofleben zu verbringen. Als Sophie erfolgreich und mit besten Noten die Stauffacher-Schule beendet hatte, fragte ihre Mutter sie: «Hättest du Lust, ein paar Wochen bei einem Freund deines Vaters in Westpreußen zu verbringen? Zusammen mit Erika? Es würde euch bestimmt gefallen.»
Die Zellweger’schen Großtanten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen: zwei junge Mädchen in die weite Welt zu schicken, ohne Schutz und Begleitung?
«Kennst du Emils Freund und seine Familie überhaupt?», fragten sie Sophie Krüsi entgeistert.
«Persönlich habe ich ihn nicht kennengelernt, aber Emil hat immer mit großer Wärme über ihn gesprochen hat. Und ich habe Briefe von ihm gelesen.»
Die Töchter waren Feuer und Flamme. Aber verwarfen sofort den Plan: Konnten sie ihre Mutter allein lassen? Im Augenblick ging es ihr gut, aber der Krebs schwebte wie ein Damoklesschwert über ihnen.
Sophie Krüsi musste ihre Töchter fast aus dem Haus drängen, mit Engelszungen reden. Es werde ihnen guttun, einmal aus dem engen Appenzell ins Offene zu reisen.
«Obwohl», warnte sie: «Ihr kommt aufs Land. Vielleicht ist ein Gut in Westpreußen nichts anderes als ein Bauernhof.»
«Also, Schweine füttere ich nicht!», sagte Erika resolut.
Die Fahrt mit dem Zug im Sommer 1907 führte über tausend Kilometer durch Bayern, Sachsen und das Wartheland nach Westpreußen. Endlos breiteten sich dort Kiefernwälder und weite Ackerflächen aus. An den Bahndämmen leuchtete der Ginster.
«Könntest du ganz ohne Berge leben?», fragte Erika ihre Schwester.
«Stauffacher hat immer gesagt: Man muss die Schönheit da entdecken, wo sie nicht offen zutage tritt.»
Am Bahnhof in Mogilno, einer Kleinstadt auf der Eisenbahnstrecke von Posen nach Thorn, kam ein Mann auf sie zu, fünfzigjährig etwa, schlank, im dunklen Zweireiher, mit einem gepflegten Schnauzbart und freundlichen Augen. Also ein Schweinebauer sieht anders aus, ging es Erika durch den Kopf.
«Ihr müsst die Taeuberlinge sein! Es freut mich so sehr, Emils Töchter kennenzulernen. Willkommen im Weichselland.»
Vor dem Bahnhofsgebäude wartete eine Kutsche auf sie, ein Diener sprang vom Bock und nahm den «gnädigen Fräulein» das Gepäck ab. Sophie und Erika schauten sich verwundert an. In was für eine Welt waren sie hier geraten? Gnädige Fräulein kamen in Romanen vor. Dort lebten sie in Herrenhäusern und warteten auf einen adeligen Bräutigam. Die Kutsche fuhr durch Rübenfelder und lichte Wälder, an üppigen Wiesen vorbei – was fehlte, waren Dörfer, Häuser, Kirchen. Menschen.
«Gleich sind wir da.»
Ihr Gastgeber lächelte ermutigend, als die Kutsche in eine mit Birken bestandene Allee abbog. Nach einer weiteren Biegung öffnete sich der Blick auf ein langgestrecktes Gebäude mit Ziergiebeln, Gauben und einem Turm auf dem Westflügel. Die Taeuber-Mädchen hielten den Atem an: Das war ein Herrenhaus! Eingefasst von einem Garten im französischen Stil mit Zierteichen und Rosenarkaden.
Die Dame des Hauses war keine kühle Gutsbesitzersgattin, sondern eine zum Rundlichen neigende, mütterliche Frau, unprätentiös, herzlich. Sie konnte ein gestochenes Hochdeutsch sprechen und in breitesten preußischen Dialekt verfallen.
«Ob sie ‹Wegen nichts und wieder nichts› sagt, oder: ‹Wejen nuscht un jarnuscht›, zeigt wie auf einem Barometer ihre Stimmung an», klärten ihre Kinder die Taueber-Mädchen auf.
Die dreizehnjährige Tochter besuchte die Schule in Mogilno, der elfjährige Sohn ein Internat in Thorn, in den Ferien waren sie beide zu Hause.
«Ihr müsst reiten lernen», wurden die Fräulein aus den Schweizer Bergen empfangen. «Die einzige Art, sich hier fortzubewegen.»
Man konnte nicht einmal an einem Tage das Rittergut Hofleben zu Fuß umrunden, die Größe eines Anwesens bemaß sich hier ganz anders als im Appenzellerland. Von ihrem Turmzimmer sahen Erika und Sophie Stallungen und Wirtschaftsgebäude, nicht aber das Haus eines Nachbarn. Wie fremd wirkte das im Vergleich zur Gegend um Trogen, wo es zwar auch Streuhöfe gab, sich in den Dörfern aber die Häuser aneinanderduckten. Der Glanz der Einrichtung war für Erika und Sophie einschüchternd. Der Salon, so groß wie alle ihre Zimmer in Trogen zusammen, im Louis-Philippe-Stil eingerichtet, die Wände mit Damast ausgekleidet, die Möbel mit blauem Samt. Von den hohen Decken hingen Kerzenleuchter, die jeden Abend von Dienern angezündet wurden; die gläsernen Pailletten sangen im Luftzug.
Erika ließ sich das Reiten beibringen, Sophie aber streifte am liebsten mit ihrem Zeichenblock durch Garten und Gelände. Abends wollten alle das Ergebnis ihrer Erkundungen sehen, aber sie winkte ab: «Es sind nur ein paar Stricheleien!»
Erhalten ist eine Zeichnung, später als Linolschnitt ausgeführt, vom Park in Hofleben. Von einer Balustrade im Vordergrund geht der Blick auf einen Brunnen, von zarten Wellenlinien umspült. An den vier Ecken des Brunnens sind schemenhaft Skulpturen zu erkennen, vielleicht sind es Pferde, vielleicht dekorative Figuren. In der Mitte auf einer Stele thront eine üppige Schale mit Blumenschmuck.
«Sehr impressionistisch, das Ganze», kommentierte Erika, «auch die blassen Farben. Ich glaube, in Hofleben ist dir romantisch zumute.»
Sophie freute sich, wenn Theodor Koerner von seinem Freund, ihrem Vater, erzählte, ihn als gütigen Menschen pries, der allen und allem mit Respekt begegnet sei. Ach, und seine Liebe zur Natur! Allen Pflänzchen hätte er Aufmerksamkeit geschenkt und ihre Wirkung und Heilkraft untersucht. Er sei der typische Sohn eines Apothekers gewesen, einer, der in Vaters Fußstapfen treten wollte. Hinter vorgehaltener Hand hätten manche Mitschüler vom «Kamillen-Emil» geredet.
«Nur gegen den Tod ist leider kein Kraut gewachsen», sagte Theodor Koerner und fiel in Schweigen.
Er sprach auch von seinem eigenen Vater, Theodor Eduard Koerner, der lange Zeit Oberbürgermeister von Thorn und viele Jahre auch Vorsitzender des Coppernicus-Vereins für Wissenschaft und Kunst zu Thorn gewesen sei.
«Wer Kopernikus war, muss ich den gebildeten Schweizer Fräuleins ja nicht erklären.»
Seine Frau wusste, dass sich ihr Mann nicht würde zurückhalten können, einen Vortrag über Kopernikus zu halten, zu stolz war er auf den berühmtesten Sohn Thorns, der das geozentrische Weltbild umgestürzt und die Sonne ins Zentrum gestellt hatte. Sie lenkte von der Sonne der Wissenschaft auf die Erde des gesellschaftlichen Lebens: «Wir müssen einen Tanzabend für die jungen Leute geben! Sie werden sonst zipfelsinnig, wenn sie Abend für Abend nur in der Bibliothek sitzen und Bücher über die kopernikanische Wende lesen und gelehrten Vorträgen folgen müssen.»
Erika und Sophie sahen sich an. Frau Koerner hatte diesen Blick wohl wahrgenommen, sie beeilte sich hinzuzufügen: «Ich habe schon die Hausschneiderin bestellt, sie wird euch ein nettes Kleidchen für den Anlass nähen.»
Das «nette Kleidchen» entpuppte sich als eine Abendrobe aus Satin und Seide, für Erika in Blau-Tönen, für Sophie in Altrosa, tief dekolletiert mit enger Corsage.
«Nichts steht einem jungen Mädchen so sehr wie eine Wespentaille», versicherte die Schneiderin, es klang wie das elfte Gebot.
Der Rock, mit einer Schärpe gebunden, bauschte sich in üppigen Teller-Volants. Sophie fühlte sich herzlich unwohl in diesem Gewand, sie hatte das Gefühl, die Seitennähte des Oberteils würden platzen, wenn sie tief einatmete, der Ausschnitt war ihr viel zu offenherzig, sie fragte, ob sie vielleicht einen Schal …
«Keinesfalls, Herzchen, da haben Sie so einen reizenden Busen, warum wollen sie ihn verstecken? Sie sind doch nicht etwa prüde?»
Die Schneiderin wusste genau, was comme il faut war. Und wenn die kleinen Landpomeranzen aus der Schweiz keine Ahnung von Königsberger Mode hatten, so konnten sie lernen, sich im Stil des Hauses zu präsentieren.
Am Abend des Balls rollte eine Kutsche nach der anderen in den Hof des Herrenhauses. Es ist wirklich wie in einem Roman, dachte Sophie und zupfte nervös an ihrem Ausschnitt. In kürzester Zeit war der Salon voller elegant gekleideter junger Leute. Theodor Koerner hielt eine kurze Ansprache, stellte Erika und Sophie als Ehrengäste vor, eine Kapelle spielte ein Mozart-Quodlibet, wechselte dann zum Wiener Walzer, der Hausherr verneigte sich vor Erika und eröffnete mit ihr den Tanz. Damit war das Vergnügen freigegeben. Die älteren Herrschaften zogen sich ins Raucherzimmer und in den Damensalon zurück. Erika, die leidenschaftlich gern tanzte, wirbelte in einem fort an Sophie vorbei, diese verzog sich in einen Erker des Saals. Lange war sie nicht allein. Ein dunkelhaariger junger Mann, der sich von den zumeist blonden und rotblonden Preußen nicht nur durch die Haarfarbe, sondern auch durch eine grazile Figur abhob, sprach sie auf Französisch an: «Ich glaube, Sie fühlen sich hier genauso fremd wie ich.»
Sophie erblühte in Schüchternheit, lächelte dann aber erfreut. Wie schön, wieder einmal französisch sprechen zu können.
Jean Luc kam aus Savoyen, aus Annecy (wo es auch Berge gab!) und war der Einladung eines Kommilitonen gefolgt, der mit ihm in Paris Medizin studierte, einige Wochen mit ihm in seinem Elternhaus zu verbringen, einem Gut in der Nähe von Hofleben.
Sophie fragte ihn nach seinem Lieblingsmaler.
Er sagte ohne Zögern: «Leonardo.»
Wobei er mehr von dessen technischen Erfindungen als von der Malerei fasziniert war.
«Wussten Sie, dass er medizinische Apparaturen entwickelt hat, die uns heute noch als Prototypen dienen?»
Sie tanzten miteinander. Sophie hatte das Gefühl, sich in den Armen dieses leichtfüßigen Mannes wie ein Bauerntrampel zu bewegen.
Einer seiner Vorfahren sei als Hugenotte nach dem Edikt von Fontainebleau 1685 nach Ostpreußen ausgewandert, erzählte Jean Luc, aber nach der Französischen Revolution sei die Familie wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Es gebe da einen Brief seines Ururururgroßvaters: An das Essen in Ostpreußen könne er sich nicht gewöhnen, so viel fettes Schweinefleisch, und immerzu Würste. Und von Wein verstehe man auch nichts. «Und jetzt begeht der Nachkomme Landesverrat und kehrt nach Preußen zurück, wenngleich nur für ein paar Wochen.»
Sophie musste über den Landesverrat lachen.
«Mein preußischer Großvater aus Mogilno hieß mit Vornamen Louis, und ein Onkel trägt den gleichen Namen.»
«Ja, dann fließt in uns beiden das gleiche hugenottische Blut», lachte Jean-Luc und drückte sie fester an sich.
Sophie fand den jungen Mann charmant, liebte es, mit ihm zu tanzen, hätte immer weiter so walzern können und war erstaunt, als nachts um eins der Gastgeber auftauchte, sie, Sophie, zum Tanz aufforderte, um damit sehr formell das Fest zu beenden.
«Haben Sie sich amüsiert?», fragte er Sophie. «Sehr, es war einfach wunderbar. Ich danke Ihnen.»
Jean-Luc erbat ihre Adresse, verabschiedete sich mit einem vollendeten Handkuss und einem merkwürdigen Satz: «Dass Sie mir ja nicht in Preußen landen. Sie gehören nach Paris!»
Erika und Sophie schwatzten noch die halbe Nacht. Wer konnte nach einem solchen Abend müde sein!
Als sie zurück nach Trogen kamen, erlitten die Taeuber-Mädchen einen Schock. Ihre Mutter hatte sich während ihrer vierwöchigen Abwesenheit völlig verändert. Die Nase war spitz geworden, die Gesichtshaut gelblich und transparent. Sie hatte weiter an Gewicht verloren. Beim Aufstehen hielt sie sich an Stühlen und Tischen fest, das Gesicht in Schweiß gebadet. Da wussten die Töchter, dass die Genesung, die sie gesehen hatten, nur eine Scheinblüte gewesen war, die Krankheit war zurückgekommen, jetzt unerbittlich.
«Wie war es bei den Koerners?», fragte die Mutter matt.
Erika und Sophie schwärmten der Mutter von der Gastfreundschaft in Hofleben vor, erzählten vom großen Fest, führten ihre Abendroben vor.
«Schad drum!», sagte die Mutter, «das sind wunderbare Kleider, aber in Trogen würde wohl eine Hexenvertreibung einsetzen, wenn ihr euch damit zeigen würdet.»
Die Krankheit zog sich hin, der Winter kam. An Weihnachten war die Mutter nur noch Haut und Knochen, aber der eiserne Wille hielt sie zusammen. Eisern hielten auch die Töchter das Beschwichtigungsspiel aufrecht. «Heute siehst Du schon viel besser aus. Eine ordentliche Rinderbrühe wird Dir guttun.» «Mathilde hat ein geschlachtetes Huhn gebracht. Hühnchen wird Dir bestimmt bekommen. Etwas Rotwein mit geschlagenem Ei hat man früher immer den Wöchnerinnen zur Stärkung gegeben. Das kann nicht schaden.»
Irgendwann brach es aus Sophie heraus: «Erika, ich mache das nicht mehr mit. Mama weiß, dass sie sterben muss. Wir wissen es. Mama weiß, dass wir es wissen. Sie weiß, dass wir wissen, dass sie es weiß. Warum also dieses ganze Verharmlosen und Schönreden?»
Erika wurde wütend. «Onkel Hans sagt, man raubt einem Patienten nicht die Hoffnung. Es gibt immer überraschende Heilungen. Er ist der Arzt, er trifft die Entscheidungen.»
«Aber man nimmt uns die Möglichkeit, Abschied von ihr zu nehmen. Man spricht doch über anderes als über Hühnerbrühe, wenn man weiß, dass man nur noch kurze Zeit miteinander hat.»
«Wenn Mama über ihren Tod sprechen möchte, würde sie das signalisieren, meinst du nicht? Ich glaube, es hilft ihr, Haltung zu bewahren, wenn wir alle so tun, als würde die Krankheit vorübergehen. Weißt du, Ehrlichkeit an sich hat keinen Wert.»