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© dieser Auflage: Oktober 2018
Sina Blackwood
Coverbild: Seedrachen © Kay Elzner
Umschlaggestaltung: Sina Blackwood
Layout: Sina Blackwood
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783748154648
Das kleine Volk der Wilson-Rakaa-Nixen konnte gerade noch rechtzeitig in den Ozean entkommen, ehe die entfesselten Supervulkane das Leben auf dem Land völlig vernichteten. Einige tausend Menschen hatten Zuflucht in unterirdischen Bunkern gefunden und hofften, eines Tages auf die Oberfläche zurückkehren zu können.
Nun waren sie schon mehrere Tage vollgepackt mit allem, was sie aus der Villa der Neubergs hatten retten können, auf Tauchkurs und die Frauen brauchten dringend wieder eine Pause. Tiku, der stärkste und gewandteste Krieger des kleinen Volkes, erspähte einen größeren Vorsprung im fast senkrecht abfallenden Gestein, der Platz genug für alle bot.
König Kami ließ rasten. „Die hier lebenden Schnecken und Muscheln sind essbar“, erklärte er.
„Etwas anderes lässt sich ja auch nicht blicken“, seufzte Amar. „Hoffentlich bleibt das Wasser nicht so steril.“
„Keine Sorge, wir finden ein passendes Areal“, tröstete Kami. „In dieser Region gab es vor langer Zeit Grotten. Ich hoffe, da sind auch heute noch welche. Sonst müssen wir eine Stelle finden, an der wir bauen können.“
Während die jungen Krieger die Umgebung beobachteten, sammelten die halbwüchsigen Nixen erstaunlich schnell einen ganzen Sack voll Mollusken ein, den sie gemeinsam zur Gruppe schleppten.
„Da sind noch mehr, falls es nicht reicht“, erklärte Lina, die Tochter von Ilka und Tamik.
Tiku brachte Siria, die mit gesenktem Kopf dahockte, eine besonders große nahrhafte Muschel. „Du musst essen, damit du bei Kräften bleibst!“
Siria nickte mechanisch. Tiku schwamm erst fort, als sie ihr Tauchermesser zog, und die Schalen zu öffnen begann. Ein kurzer Wink zu seinem Sohn Ammon, der sich so niedersetzte, dass er Siria immer im Auge hatte. Die Nixe war dankbar dafür, dass man sie ansonsten in Ruhe ließ. Der Tod ihres Mannes Mario, des letzten menschlichen Mitglieds des Clans, war noch zu frisch.
„Die Dunkelheit ist belastend“, klagte Tessa.
„Wir werden Stellen finden, wo Bioluminiszens die Umgebung erhellt“, versprachen Kami und Tiku. „Es wird erträglicher werden. Wir müssen nur Geduld haben.“
„Da drüben sind Fische!“, raunte Ammon.
„Wo??? Ich kann nichts sehen!“ Kirk spähte vergeblich in die Dunkelheit.
Ammon schüttelte belustigt den Kopf. Die Menschen hätten es sicher Tomaten auf den Augen genannt. Er ließ sich unter den neugierigen Blicken des Clans lautlos von der Felskante sinken und verschwand in der Finsternis. Sekunden später schien das Wasser zu kochen. Dann herrschte plötzlich Ruhe.
Ehe Lynn dazu kam, sich Sorgen um ihren Sohn zu machen, war er wieder zurück, sechs halbmetergroße Fische in seinem Netz hinter sich her zerrend. Tiku schwamm ihm entgegen, um das schwere Netz sicher zum Lagerplatz zu bringen.
„Unser Retter!“, jubelte Ilka. „Endlich etwas anders, als immer nur Muscheln!“
„Wir sollten die drei unverletzten Fische am Leben erhalten“, überlegte Kami.
Ammon nickte. „Ich habe mir gedacht, man könnte sie in einem größeren Netz hältern, das man längs an einen Speer steckt. Dann wäre es oben gleich zu. Nur müsste man es dann eben zu zweit tragen.“
„Perfekt“, lobte Kami und Auan erbot sich, Ammon beim Tragen zu helfen.
Jetzt fassten erst einmal vier Männer mit an, um die begehrten Fische nicht entkommen zu lassen. Die Frauen schnitten die getöteten Tiere in dünne Streifen und teilten sie gerecht an alle aus.
„Deine Augen möchte ich haben!“, staunte Tamik, als Ammon berichtete, wo er die Fische erblickt hatte.
„Es war mehr ein Fühlen, als ein Sehen“, berichtigte Ammon. „Das muss wohl ein Urinstinkt der Meervölker sein, der bei mir zum Vorschein kommt, weil wir in einer lebensbedrohlichen Notsituation sind.“
Kami und Tiku nickten. Ammons Worte trafen genau ins Schwarze. Die drei Nixen aus der Ostsee, die immer in sehr trübem Wasser gelebt hatten, kamen ähnlich gut zurecht, wie Ammon. Und auch Lynn, die Nordseenixe konnte sich auf ihre angeborenen Fähigkeiten verlassen.
Die Hälfte der Krieger bettete sich nach dem Essen zum Schlaf, währen die anderen die Gruppe bewachten. Auf der nächsten Rast werde man wechseln.
„Du wirst jetzt schlafen“, legte Kami fest, als Ammon Wachdienst übernehmen wollte. „Deine scharfen Sinne nutzen uns auf der Wanderung mehr, als mit einem relativ sicheren Felsen im Rücken.“
Das Gleiche bekamen auch Tiku, Amar und Tamik zu hören, während Auan, Kirk und Kami die Gruppe sicherten. Lynn, die einzige Nixe, die perfekt mit dem Speer umgehen konnte, sahen die Männern als willkommene Verstärkung. Für Lynn war es eine Sache der Ehre, denn Gefährte und Sohn schliefen zur gleichen Zeit und wären im Fall eines Angriffs leichte Beute gewesen.
Das kleine Volk konnte sich keine Verluste leisten, wenn es diese harte Zeit überleben wollte. Die Aussichten standen mit gerade mal 17 Personen nicht übermäßig hoch. Ob nach dem letzten Paarungstanz, bevor die Welt ins Chaos stürzte, überhaupt eine der fünf Nixen, die es betraf, schwanger wurde, war unbekannt. Alle wussten, dass sich in Notzeiten die Embryonen auch zurückbilden und vom Körper der Mutter absorbiert werden konnten. Die recht einseitige Ernährung der letzten Tage war der Entwicklung neuen Lebens auch nicht gerade förderlich gewesen. Zumindest bestand eine winzige Chance, solange die Meeresströmungen nicht durch irgendwelche Widrigkeiten der globalen Katastrophe zum Erliegen kamen.
„Wir sollten weiterschwimmen“, hörte Lynn Liana hinter sich zu Kami sagen und drehte sich erstaunt um.
Das ernste Gesicht der Seherin, wie alle Liana nannten, verhieß nichts Gutes. Kami schwamm sogar persönlich zu den schlafenden Wächtern, während Liana die anderen weckte. Tiku schaute sich beunruhigt um und fasste sich in den Nacken, was die ganze Gruppe als deutliches Warnsignal aufschreckte. Wenn Tiku diese Bewegung machte, stand immer handfester Ärger bevor.
„Gib Nicki und mir das Netz mit den Fischen“, schlug Lynn vor, damit die Männer jederzeit kampfbereit waren.
Ammon zögerte auch keinen Augenblick. Er wusste, dass sich seine Mutter das mühsam erjagte Essen von niemandem kampflos abnehmen lassen werde.
Siria schüttelte ihre Lethargie ab, als sie bemerkte, dass Lilly, die Tochter ihrer kleinen Schwester Liana das Tempo nicht mithalten konnte. Liana hatte Lilly eine Hand gereicht, um sie zu ziehen. Siria nahm die andere Hand und gemeinsam schafften sie es, in die Mitte des Schwarms zu schwimmen, wo der Schutz durch die Gruppe am größten war.
„Gibt es Probleme?“, fragte Auan besorgt.
„Im Augenblick nicht“, erwiderte Liana. „Sicher nur ein Durchhänger wegen zu wenig Schlaf.“
Auf der nächsten Rast ließ sich Lilly einfach fallen und schlummerte auf der Stelle ein.
„Jetzt mache ich mir aber ernsthafte Sorgen!“, rief Liana und versuchte herauszufinden, was Lilly so zu schaffen machte. Alle Hautpartien im sichtbaren Bereich wirkten unverdächtig. Kami hob ebenfalls die Schultern. Lilly hatte auch nichts Verdächtiges gegessen. Das konnte Liana ganz sicher sagen, denn beide hatten sich alles geteilt.
Tiku hatte Zeige- und Mittelfinger an beide Schläfen gelegt und schien intensiv nachzudenken. Plötzlich ging ein Ruck durch seine Gestalt, er schwamm langsam näher, ließ sich neben Lilly nieder, um das lange dichte Haar so weit wegzuschieben, dass er bis zum Haaransatz schauen konnte.
„Ich hab´s befürchtet“, brummte er, Liana und Kami einen blauroten Striemen zeigend, der sich über Lillys halben Rücken bis ans Genick schlängelte.
„Ein Quallenmal!“, rief Liana erbleichend. „Und wir haben keine Ahnung, welche Art es gewesen sein könnte!“
„Nein, haben wir nicht“, bestätigte Tiku. „Es muss ein abgerissenes Stück gewesen sein, das irgendwo in der Landschaft herumschwamm. Denn Quallen sind uns heute definitiv nicht begegnet. Wir können nur hoffen, dass sie es übersteht.“ Er streichelte sanft das bleiche Gesicht seiner schlafenden Enkelin.
Jetzt, wo es die menschlichen Zwänge nicht mehr gab, galten die biologischen Familienverhältnisse und nach denen war Liana seine jüngste Tochter, wie Mario herausgefunden hatte. Dass deren Ziehmutter Siria sein Kind war, wusste von Anfang an jeder. Ammon war unglaublich stolz auf seine älteren Schwestern, die so lange unerkannt an Land unter Menschen gelebt hatten. Nun schwebte er mit betretenem Gesicht neben seiner Nichte im Wasser und ballte hilflos die Fäuste.
Tiku legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Diesmal kannst du ihr nicht helfen. Nur Liana und Kami haben die Fähigkeit, ihr jetzt Kraft zu geben.“
Und das versuchten die beiden Heiler, wobei sie sich stündlich abwechselten.
„Wir müssen hierbleiben, bis Lilly gesund ist“, bat Kami die Clanmitglieder.
Niemand hatte Einwände, obwohl man praktisch auf dem Präsentierteller saß, denn es hätte jeden aus der Gemeinschaft treffen können. Nur waren die letzten Fische schnell verspeist und guter Rat teuer, woher man Nahrung für 17 Personen nehmen sollte …
„Ich gehe auf die Pirsch“, erklärte Ammon, als man nicht einmal Schnecken oder Muscheln fand. „Und ich gehe allein!“, fügte er hinzu, als Kirk nach seinen Waffen griff. „Kümmere du dich um den Schutz der Gemeinschaft!“
Tiku und Lynn ließen ihn schweren Herzens ziehen. Er hatte ja recht, jeder gute Krieger wurde am Lagerplatz benötigt.
Pass auf dich auf, bat Lynn und Ammon versuchte, zu lächeln.
Nach drei Stunden tauchte in der Ferne, genau da, wohin Ammon verschwunden war, etwas auf, das alle für den jungen Krieger hielten. In freudiger Erwartung schaute man ihm entgegen, nur Tiku massierte unbewusst seinen Nacken. Kami war das nicht entgangen. Er griff nach seinem Speer. Ein paar Wimpernschläge später tobte ein Kampf, wie ihn die Clanmitglieder schon lange nicht mehr erlebt hatten. Das, was da auf sie zugeschwommen kam, war ein gigantischer Krake, der sicher schon manchen Pottwal das Fürchten gelehrt hatte.
„Frauen in die Mitte!“, schrie Tiku, mit ganzer Kraft auf das gigantische Tier einstechend. Und zu den Männern: „Passt auf, wenn er euch packt, dass ihr nicht in seinen scharfen Schnabel geratet, das wäre euer Tod!“
Lynn erkannte schnell, dass die Krieger auf verlorenem Posten standen. Der Kopffüßler zog ihnen einfach die Waffen aus den Händen und machte sich dann über die schreienden Meermänner her. Die Nixe öffnete mit fliegenden Fingern Tikus Rucksack, riss einen Haischocker hervor und rammte ihn in die elastische Haut des Kraken.
Der Gigant erzitterte, dann wanden sich seine Fangarme völlig unkontrolliert in Krämpfen. Lynn stieß noch einmal zu, bekam einen der Speere zu fassen, drückte ihn Tiku in die Hand und zog ihr Tauchermesser. Gemeinsam erlegten sie den Angreifer.
„Das war knapp“, krächzte Auan, den der Krake am Hals gepackt und ihm die Luft abgedrückt hatte. Er pumpte schwer atmend Wasser durch seine Kiemen. „Hast was gut bei mir“, versprach er Lynn.
„Bist nicht der Einzige“, stöhnte Tamik, sich ebenfalls wie ein Walross schnaufend auf den Boden setzend. Ihm hing die Haut des Rückens in Fetzen herunter, genau wie bei Amar, der unter Schock stand, weil er bereits den Schnabel genau vor Augen gehabt hatte. Kirk und Kami hatten Schuppen lassen müssen. Kami hatten gleich zwei Fangarme gepackt gehabt. Tiku bemerkte erst jetzt, dass ihm ein Streifen Haut in voller Länge seines linken Armes fehlte. Er war noch so voller Adrenalin, dass er nicht einmal den Schmerz spürte.
„Hoffentlich ist ihm Ammon nicht in die Quere gekommen“, flüsterte Lynn mit zitternder Stimme. „Allein hätte er keine Chance.“ Sie begann, sich um Tikus Wunden zu kümmern.
Als alle Männer notdürftig versorgt waren, nahm Lynn ihren Speer, hängte sich den Haischocker um und sagte: „So Mädels, jetzt sind wir die Hoffnung eines ganzen Volkes!“
Die Frauen griffen zu den Waffen.
„Da kommt was!“, meldete Lynn nach einiger Zeit, dahin zeigend, woher auch der Krake erschienen war.
„Lass es bitte Ammon sein!“, rief Ilka ängstlich.
„Es sieht komisch aus“, stellte Nicki schließlich fest, „und scheint auch Fangarme zu haben.“
„Oh nein, bitte nicht!“ Tessa biss sich auf die Unterlippe.
„Aber es hat einen Fischschwanz“, lachte Tiku. „Das ist Ammon mit einem Packen Tang um den Hals, der sich wie Fangarme in der Strömung schlängelt.“
„Ach, du lieber Gott! Was ist denn mit euch passiert?“, staunte der junge Krieger beim Anblick der lädierten Männer.
„Unliebsamer Besuch“, erwiderte Tiku, auf den zerhackten Fleischberg deutend. „Wir hegten schon die Befürchtung, er habe dich als Vorspeise vernascht.“
„Nein, dem bin ich nicht begegnet.“ Ammon lud den Tang und ein Netz voller Muscheln ab.
Amar strahlte über das ganze Gesicht. „Das schmeckt bestimmt besser, als das zähe Krakenvieh.“
Ammon lachte. „Das kannst du annehmen. Ich habe aber noch viel Besseres als nur Essen entdeckt – ein Tal, das mit einem Höhlensystem durchzogen ist, in dem fluoreszierende Mikroorganismen die Wände bedecken. Von da stammen auch Muscheln und Tang. Wir können uns sozusagen vor der Nase Plantagen anlegen.“
Er wandte sich Lilly zu. „Wie geht es ihr?“
„Unverändert“, klagte Liana.
Ammon wechselte einen kurzen Blick mit seinem Vater. „Dann legen wir sie in ein Netz, wie in eine Hängematte und tragen sie. Hier können wir nicht bleiben. Der nächste Krake könnte unser Ende sein!“
„Ammon hat recht“, bestätigte Kami. „Suchen wir Schutz in den Höhlen.“
„Übrigens ist es deiner Mutter zu verdanken, dass dein Vater dem Kraken den Rest geben konnte“, verriet Kirk seinem Freund, während er eifrig dem Tang zusprach, und erzählte, wie Lynn den Elektroschocker gezückt hatte.
„Wir sind eben eine schlagkräftige Truppe“, schmunzelte Ammon. „Unter Menschen wäre meine Mutter garantiert als Amazone geboren.“
Die Worte ihres Bruders zauberten Siria ein winziges Lächeln ins Gesicht. Sie hatte Lynn vom ersten Augenblick an gemocht und war froh gewesen, dass durch sie Tiku endlich den Tod seiner ersten große Liebe Adaia, Sirias leiblicher Mutter, verwinden konnte. Ja, Lynn, die Nordseenixe mit den roten Flossen war ein Glückstreffer für den Clan.
Kami kniete neben Lilly. Er schickte sie kurzerhand in einen Heilschlaf, in der Hoffnung, das Tal erreicht zu haben, wenn die Wirkung nachließ. Auan und Tiku betteten Lilly in ein Fischernetz, das von Siria, Liana, Martina und Petra getragen werden sollte. Ein kurzer Test, dann wurden zu beiden Seite Speere durch die Maschen geschoben, welche sich die Nixen auf die Schultern legen konnten, um es einfacher zu haben. Lynn und Ammon, die einzigen unverletzten Wächter, sicherten die Gruppe als Nachhut, wobei Ammon immer wieder einmal nach vorn schwamm, um die genaue Richtung zu bestimmen, die man einschlagen musste.
Nach fast vier Stunden fiel der Boden steil ab und selbst von hier oben konnte man das wundervolle weite Tal erkennen, von dem Ammon gesprochen hatte. Der Jubel war unbeschreiblich, als sie an der Kante verharrten, um den Anblick wirken zu lassen. Wie durch ein Wunder erwachte Lilly, die zukünftige Heimat mit großen Augen betrachtend.
Tiku hob beide Daumen und Kami nickte Ammon anerkennend zu. Dann führten beide gemeinsam ihr kleines Volk hinunter in ein neues Leben. Es dauerte auch nicht lange, da hatten alle ein passendes Domizil gefunden und begannen, sich häuslich einzurichten.
Dass einige der alten Höhlenbewohner keine Lust hatten, umzuziehen, war zu erwarten gewesen. Sie wurden mit sanfter Gewalt hinaus expediert und suchten sich freiwillig etwas Neues, ehe das Meervolk vielleicht auf die Idee kam, sie auf Essbarkeit zu testen.
Schon am nächsten Morgen trugen die jungen Männer große Felsbrocken mit mindestens einer ebenen Seite zusammen, um auf dem zentralen Platz vor Kamis Grotte einen Steinkreis zu legen, auf den die Clanmitglieder bei den Beratungen sitzen konnten. Der König strich zufrieden seinen langen Bart, denn es war weder darüber gesprochen, noch ein entsprechender Befehl erteilt worden. Alle sehnten sich nach Harmonie und vor allem nach einem normalen Leben. Auan bewachte das Tangfeld, das die Frauen bereits inspizierten.
Und mittags gab es das erste Mal seit langer Zeit einen schmackhaften Salat aus verschiedenen Tangsorten und Muschelstreifen, den alle gemeinsam im Steinkreis sitzend einnahmen. Sogar Lilly aß ein paar Häppchen.
„Da, da, da! Ein Thunfisch! Ein riesiger wundervoller Thunfisch!“ Ammon war wie ein Torpedo davon geschossen, um das Tier betrachten zu können. „Wir brauchen Speere mit größeren Widerhaken!“, rief er. „Der war bestimmt vier Meter lang und, ich schätze, 600 Kilo schwer!“
„Ich glaube, wir werden noch was erleben!“, lachte Kami. „Da hat einen gewaltig das Jagdfieber gepackt! Auf alle Fälle sollten wir seinen nützlichen Rat beherzigen.“
„Und woraus sollen wir das machen?“, fragte Kirk.
„Aus Walknochen oder Vulkanglas, auch Obsidian genannt“, erklärte Ammon amüsiert, sich wieder auf seinem Stein niederlassend. „Viel mehr Möglichkeiten haben wir hier unten nicht.“
„Da hat aber einer gut aufgepasst“, staunte Liana.
„Ich bin eben Vaters Sohn, wie du seine Tochter bist“, schmunzelte Ammon.
Er begann auch am nächsten Tag, alles Mögliche zusammenzutragen, aus dem man eventuell nützliche Dinge fertigen konnte. Und er zog jeden Tag zusammen mit Kirk auf die Jagd, wie zu Zeiten, als die Welt noch fast in Ordnung gewesen war. Hin und wieder gelang es allen Männern gemeinsam, einen der riesigen Thunfische zu überwältigen, der das kleine Volk mehrere Tage ernähren konnte.
Heute war einer jener Tage, an denen ihnen nichts gelingen wollte. Die großen Fische konnten sie zu zweit nicht töten und ein kleineres, nur etwa 100 Kilo schweres Tier, schüttelte den Speer heraus und schwamm davon.
Ammon und Kirk jagten dem flüchtenden Thunfisch hinterher, der eine lange Blutspur im Wasser hinterließ. Trotzdem schafften sie es nicht, das Tier zu stellen. Es war plötzlich zwischen den riesigen Felsbrocken verschwunden. Da half auch kein Suchen. Es war, wie vom Erdboden verschluckt.
„Lass und zurückschwimmen“, rief Kirk. „Wir haben genug Zeit vergeudet.“
Ammon hielt ihm plötzlich mit einer Hand den Mund zu, während er ihn mit der anderen zu Boden riss.
Sag mal, spinnst du, telepathierte Kirk wütend und wunderte sich, als Ammon mit wildem Kopfschütteln absolutes Schweigen andeutete.
Dann winkte er mit dem Finger, ihm zu folgen, zog ihn in eine Felsspalte und zeigte schräg nach unten. Kirk spähte hinunter und zuckte heftig zusammen. Wenige Meter vor ihnen pendelten zwei lange schlanke Gliedmaßen, die in riesigen Flossen endeten. Das Wesen kniete offenbar am Boden und suchte etwas. Denn sie konnten kleine Schlammwölkchen sehen, die sich nicht sofort zerteilten.
„Ein Nuoni“, flüsterte Kirk erbleichend.
„Wahrscheinlich“, raunte Ammon.
„Hauen wir ab!“, riet Kirk.
Ammon schüttelte erneut den Kopf. „Nicht, bevor ich weiß, woher das Vieh kommt und ob es noch mehr davon gibt. Wir sind gut bewaffnet. Machen wir es nieder!“
Einen Wimpernschlag später stürmten beide mit wildem Kriegsgeschrei vor, um den Nuoni zu töten. Doch statt, wie erwartet, anzugreifen, wandte sich der Nuoni zur Flucht und versuchte, zu entkommen. Er blieb aber mit einem seiner Flossenfortsätze hängen und schaffte es nicht, sich zu befreien. Aber auch da ging er nicht zum Angriff über, was Ammon sehr stutzig machte.
Kirk hob den Speer, wollte zustoßen, als sich Ammon mit aller Kraft gegen die Waffe warf, um sie aus der Bahn zu bringen. Er hatte gesehen, was Kirk im Jagdeifer wohl verborgen geblieben war. Das fremdartige Wesen drückte ein Baby an seine Brust, die genau so geformt war, wie bei den Frauen ihres Volkes.
„Nicht!!! Das ist kein Nuoni!“, schrie er, um Kirk davon abzuhalten, noch einmal zuzustechen. Dann schwamm er auf die Fremde zu, die abwehrend eine Hand ausstreckte und sich hilfesuchend umsah. „Ich will dir nichts tun“, sagte er verbal und zugleich telepathisch, wobei er seinen Speer in den Boden rammte und beide Hände offen vorzeigte. Zitternd wartete die Fremde, was nun geschehen werde.
„Bleib, wo du bist!“, befahl Ammon seinem Freund. „Sie hat so schon Todesangst.“ Er wandte sich der Felsspalte zu, in der die Flosse feststeckte. Vorsichtig wälzte er einen Stein beiseite, um die Fremde nicht zu verletzen, die ihn mit großen erstaunten Augen beobachtete. Sie schwamm auch nicht weg, als er sich näherte, drückte nur ihr Baby noch fester an sich.
„Ich bin Ammon vom Volk der Wilson-Rakaa“, sagte er, wobei er auf sich zeigte. „Ammon“, wiederholte er in Worten und telepathisch. „Das ist Kirk.“ Er deutete auf seinen Freund. „Und wie heißt du?“ Er zeigte auf sie.
Kïa vom Volk Enga. Sie schaute Ammon an, dann Kirk und fragte, weil sich beide sehr unterschieden: Ein Volk?
Ammon lächelte. „Ja, wir sind von einem Volk. Aber das ist eine lange Geschichte.“
Kïas Magenknurren ließ Ammon aufhorchen. „Hast du Hunger?“, fragte er, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte.
Kïa nickte und dem jungen Krieger fiel auf, dass die Fremde nicht schlank, sondern geradezu dünn war und die Rippen überdeutlich durch die Haut hervorstachen. Er winkte Kirk heran, der sich das Netz mit den Muscheln um die Hüfte geknotet hatte. Ammon klaubte die größte Molluske heraus und reichte sie ihr.
Vielen, vielen Dank, murmelte Kïa und versuchte, die Schale an einem Felsen aufzuschlagen, was natürlich misslang.
„So wird das nichts“, seufzte Ammon, zog sein Tauchermesser aus der Halterung am Oberarm, öffnete die Schale und schnitt das Fleisch in Streifen. Kïa begann, gierig zu schlingen.
„Mach langsam, sonst bekommst du noch Bauchschmerzen“, mahnte Ammon. „Wir nehmen dir doch nichts weg! Du siehst aber ganz so aus, als bräuchtest du dringend Hilfe, damit du mit deinem Baby überleben kannst. Wo sind die anderen aus deinem Volk?“
Weg, alle sind weg. Sie wissen nicht, dass ich hier bin. Falls sie noch leben, denken sie ganz sicher, dass ich tot bin. Kïa wiegte bekümmert den Kopf.
„Kommen sie denn zurück?“, wollte Ammon wissen.
Nein. Die Nixe drückte wieder ihr Baby an sich.
„Was ist passiert, dass sie dich allein gelassen haben?“, wollte Kirk wissen.
Kïa begann wieder zu zittern, dann flüsterte sie: Wir sind überfallen worden. Es waren etwa 40 Fremde, die auf den ersten Blick ähnlich aussahen, wie wir. Sie stürmten heran und rissen plötzlich riesige Mäuler auf, mit denen sie alles zerfetzten, was nicht schnell genug fliehen konnte. Ihr habt sie sicher auch schon kennengelernt, sonst hättet ihr bestimmt nicht versucht, mich zu töten.
„Ja, unser Volk kennt sie. Sehr gut sogar. Unsere beiden Väter haben Angriffe durch sie knapp überlebt“, erklärte Ammon. „Wie lang ist das schon her, dass du dich allein durchschlägst?“
Ich weiß es nicht. Seit die Welt über Wasser so kalt geworden ist, schwimmt niemand mehr zu Oberfläche und so kann ich den Mond nicht mehr sehen. Es ist aber schon sehr, sehr lange her.
„Hast du Waffen? Kannst du für euch Fische jagen?“, bohrte der junge Mann weiter, weil sie gar so abgehärmt aussah und bekam ein trauriges Kopfschütteln zur Antwort.
„Wovon lebst du, wenn du nicht einmal Muscheln öffnen kannst?“
Von Würmern, flüsterte Kïa verzweifelt.
„Bäh! Das ist doch kein Essen.“ Ammon und Kirk schüttelten sich.
„Ihr kommt mit“, erklärte Ammon nach einem kurzen Blickwechsel mit Kirk. „Unser Volk wird euch sicher freundlich aufnehmen. Ich werde dafür sorgen, dass ihr nicht hungern müsst. Ich verspreche es dir.“ Er hielt Kïa die Hand hin, die diese nach kurzem Zögern ergriff.
Kïa hatte keine Wahl, wenn sie und ihr Baby überleben wollten. Die Krieger des fremden Volkes hätten sie töten können und es nicht getan.
Nach ein paarhundert Metern musste sie völlig entkräftet eine Pause machen, während das Baby vor Hunger weinte.
Ammon zog die Augenbrauen zusammen und wandte sich an Kirk. „Du trägst meinen Speer und ich die beiden. Sie halten die Strecke nicht durch, sie sind doch jetzt schon mehr tot als lebendig. Aber zuerst gebe ich meinem Vater Bescheid, dass wir Gäste mitbringen.“ Er begann telepathisch nach Tiku zu rufen, bekam rasch Kontakt und hielt eine intensive Unterhaltung von mehreren Minuten mit ihm. „Alles klar, wir werden erwartet.“ Er nahm Mutter und Kind einfach auf die Arme und schwamm los. Kirk folgte ihm mit Waffen und Jagdbeute.
Nach einer Stunde erreichten sie den Felshang mit den Grotten. Auf den großen Steinen saßen die Clanmitglieder und warteten auf die jungen Krieger. Neugierig darauf, was für ein Wesen sie mitbringen werden, öffneten sie eine Gasse für Ammon und Kirk.
Ich habe Angst, flüsterte Kïa, sich an Ammon klammernd.
„Die musst du nicht haben“, versprach Ammon, sich direkt zu Kami und seinem Vater begebend.
„Es ist tatsächlich eine Enga!“, staunte Kami. „Herzlich willkommen!“
Da … danke, stotterte Kïa. Du kennst mein Volk?
„Aber ja! Ich habe nur nicht geahnt, dass es überlebt hat. Wir haben immer friedlich miteinander kommuniziert, wenn wir uns irgendwo getroffen haben. Du musst vor uns wirklich keine Furcht haben!“
„Am dringendsten braucht das Baby etwas zu essen“, erklärte Ammon. „Es hat die ganze Zeit vor Hunger geschrien und ist schon völlig apathisch!“
„Darum sollten wir uns gemeinsam kümmern“, sprach Liana zu Kami. „Du gibst der Mutter Kraft und ich bereite einen nahrhaften Brei für das Kleine.“
„Das ist sehr gut!“, freute sich Ammon. „König Kami ist ein Rakaa mit heilenden Kräften und Liana eine Heilerin vom Wilson Clan“, verriet er Kïa. „So kommt es auch, dass wir ein Volk sind, das verschiedene Mitglieder hat, die sich miteinander vermischt haben. Wenn du dich etwas erholt hast, erfährst du sicher die ganze Geschichte.“ Er übergab sie in die Obhut der beiden Heiler. „Sie heißt übrigens Kïa, hatte ich vergessen, zu erwähnen.“
Tiku legte Ammon beide Hände auf die Schultern. „Ich bin verdammt stolz auf dich, mein Sohn!“
Kïa lächelte dankbar. Dann ließ sie sich in Kamis Grotte führen. Sie hatte auch keine Bedenken mehr, als ihr Liana das Baby aus den Armen nahm, um es mit einer Mischung aus zu Brei zerdrücktem Fisch, Tang und Krabbenfleisch zu füttern.
„Hast du noch etwas Tang übrig?“, fragte Kami, als er den ersten Energietransfer abgeschlossen hatte. „Daran kann sich Kïa richtig satt essen, ohne den Magen zu überfordern. Dann werde ich beide in einen kurzen Heilschlaf legen.“
„Übrig zwar nicht, aber ich habe welchen zu Hause. Bin gleich wieder da!“ Liana eilte davon.
„Wie geht es ihnen?“, rief Ammon hinterher.
„Sie werden es überleben, denke ich!“ Da war Liana auch schon einem Bündel Tang zurück und verschwand wieder in Kamis Grotte.
Eine Viertelstunde später kamen beide Heiler heraus und schauten in fragende Gesichter.
Kami lächelte: „Ich habe beide bis morgen schlafen geschickt. Sie sind zwar sehr schwach, werden es aber ganz sicher überleben. Und der hier“, er zog Ammon blinzelnd an seine Seite, „ist ihr Lebensretter. Da ernenne ich ihn doch gleich zu ihrem persönlichen Wächter. Du wolltest dich ja sowieso um die beiden kümmern. Da passt das doch ganz hervorragend. Kirk wird dich dabei tatkräftig unterstützen.“
Ammon nickte erfreut. „Sie sind ja nicht die Einzigen, die hier etwas zu essen brauchen. Ich würde sagen, wir gehen noch einmal auf die Jagd, solange sie schlafen. Vielleicht gelingt es uns, noch etwas aufzutreiben, das ein paar mehr Leute ernähren kann.“
„Ich komme mit!“, bot Amar an.
„Volle Bewaffnung!“, schlug Ammon vor. „Wir haben keine Ahnung, wo die Enga von den Nuoni angegriffen worden sind.“
„Das gilt auch ab sofort für die Wachen!“, befahl Tiku. „Keiner verlässt mehr die Siedlung allein, und ohne zu sagen, wohin er schwimmt!“
Ammon zog mit seinen beiden Begleitern los.
„Da drüben haben wir den Thunfisch verwundet“, erklärte er Amar. „Dann sind wir ihm da vorn, am Gebirgszug entlang, gefolgt. Bestimmt eine Stunde lang.“
„Statt des Fisches hätte ich versehentlich fast die Enga erlegt“, fügte Kirk leise hinzu. „Nur gut, dass Ammon den Unterschied erkannte, bevor ich Schaden anrichten konnte! Ich schäme mich so!“
Ammon erklärte ihm, was ihn mehrfach daran hatte zweifeln lassen, einen Nuoni vor sich zu haben. Es war immer die Rede davon gewesen, dass sich männliche und weibliche Nuoni nur in der Größe unterschieden. Der wichtigste Punkt war aber gewesen, dass diese Kannibalen waren und Neugeborene sofort auffraßen. Wenn also ein eindeutig weiblich geformtes Wesen ein Baby zu beschützen versuchte, dann konnte es kein Nuoni sein.
„Du bist ein genau so guter Beobachter wie dein Vater und ziehst aus allem die richtigen Schlüsse“, lobte Amar. „Wir werden schon einen Weg finden, unser Volk vor den Nuoni zu bewahren, die von allen Raubfischen die Allerschlimmsten sind. Aber jetzt lasst uns flink sein, da vorn sehe ich Beute!“
Der Blitzangriff aller drei Jäger erfolgte völlig synchron, sodass sie, mit zwei kleineren Thunfischen beladen. nach Hause zurückehren konnten.
Kami weckte die beiden Enga erst aus dem Tiefschlaf, als Ammon in die Höhle tauchte. Der war schließlich vorerst der Einzige, dem Kïa volles Vertrauen schenkte. „Versuchst du, ein bisschen mehr über sie herauszufinden“, bat Kami und Ammon versprach es.
„Ich bin doch selber begierig darauf, alles zu erfahren. Jetzt bringe ich die beiden erst einmal zu meiner Grotte und etwas später finden wir uns zum Essen ein.“
Kïa nahm rasch ihr Baby auf den Arm, als Ammon erklärte, sie in seiner Wohnstatt unterbringen zu wollen. Danke für die Hilfe, sagte sie zu Tessa und Kami.
„Lebt ihr auch in Höhlen?“, fragte Ammon.
Ja, in genau solchen wie ihr. Wir essen auch die gleichen Tiere und Pflanzen.
Ehe Ammon dazu kam, zu fragen, was das Kleine für Essen brauche, hatte es mit einem erfreuten Quietschen die Milchquelle entdeckt, die heute endlich wieder sprudelte. Kïa suchte für sich und das Baby einen Schlafplatz aus, der etwas weiter hinten in der Grotte lag. Dann folgte sie Ammon hinaus, wo die Frauen schon das Essen bereitgestellt hatten. Wie wild dabei Kïas Herz klopfte, konnte jeder überdeutlich sehen.
Guten Tag, wünschte sie mit zitternder Stimme und wurde mit den gleichen Worten und strahlenden Augen empfangen.
„Ich bin Lynn, die Mutter von Ammon“, stellte sich ihr die Nixe auf dem Nachbarplatz vor. „Wie geht es dir?“, fragte sie und Kïa staunte über die roten Schuppen, die in dieser Tiefe fast weiß aussahen, und nur ihre Farbe offenbarten, wenn ein leuchtender Organismus ganz in der Nähe war.
Es geht mir gut, sagte Kïa rasch. Jetzt habe ich endlich wieder Milch für Kara.
„Kara, ein schöner Name“, sagte Lynn. „Ich vermute, es ist ein Mädchen.“
Sie bekam er erfreutes Nicken zur Antwort, wobei Kïa kaum die Augen von ihrer großen roten Flosse wenden konnte.
Bei uns sehen alle gleich aus, erklärte Kïa schnell, als sie plötzlich selber bemerkte, dass sie Lynn die ganze Zeit anstarrte.
„Ach, das ist eine lange Geschichte, warum wir unterschiedliche Flossen und Schuppen haben“, schmunzelte Lynn. „Wir stammen nämlich aus unterschiedlichen Meeren. Alle Nixen die helles Haar haben, sind sogar auf der anderen Seite dieser Welt geboren. Ich komme auch von dort, aber aus einem anderen Meer. Die Männer lebten schon immer hier. Nur ist unser König der letzte Überlebende vom uralten Volk der Rakaa. Deshalb sehen er und sein Sohn ganz anders aus, als die übrigen, obwohl seine Tochter wiederum uns nordischen Nixen ähnelt.“
Kïa presste die Fäuste an die Schläfen. Das muss ich erst begreifen.
„Ach, du hast doch Zeit“, lachte Lynn, Kïa ein Messer reichend, damit sie das Muschelfleisch schneiden konnte.
Doch, statt zu essen, untersuchte die Enga das unglaubliche Werkzeug.
„Wir haben mit den Menschen und sogar auf dem Land gelebt“, erklärte Tiku, nachdem er ihr bestätigt hatte, der Vater von Ammon zu sein. „Sie haben dieses Material erschaffen.“
Das ist für mich genau so unvorstellbar, wie vor wenigen Tagen noch, dass es überhaupt andere Meervölker geben könne. Und plötzlich sitze ich mittendrin. Kïa begann andächtig und sehr vorsichtig, ihr Essen kleinzuschneiden.
Im Laufe des Tages wurde klar, dass sie eine besonders junge Nixe war, die mit Kara ihr erstes Kind geboren hatte. Die Erfahrungen der Älteren fehlten ihr völlig, was es ihr unmöglich gemacht hätte, allein zu überleben. Dafür, dass sich Ammon ihrer angenommen hatte, war sie von ganzem Herzen dankbar. Von den anderen Frauen lernte sie rasch, was eine gute Fee in der häuslichen Grotte des Gastgebervolkes wissen musste und so bemühte sie sich, Ammon jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Dabei waren seine Augen sehr viel kleiner, als die des eigenen Volkes.