Über das Buch

Die Zwanziger Jahre, Berlin und Paris: Sonja, die Schauspielerin und Sebastian, der Nachwuchs-Schriftsteller, sind Teil jener Lost Generation, die während und nach dem Ersten Weltkrieg, dem Sündenfall und Trauma aller Intellektuellen, aufwuchs. Alte Werte sind im Kanonendonner zerstoben, neue noch nicht vorhanden. Man experimentiert mit Drogen, Kunst, freier Liebe und Homosexualität; man lässt sich treiben – kein Ziel vor Augen. Nur wenige ahnen: Eine Entscheidung steht bevor. Triumphieren wird eine Ideologie, die auf dem Marktplatz der Möglichkeiten nur eine unter vielen ist: der Nationalsozialismus, die Unkultur in Reinform, das pure Gegenteil der Bohème, der sich die jungen Leute zugehörig fühlen. In diesem Milieu, den ›Wilden Zwanzigern‹, treiben Sonja und Sebastian aufeinander zu wie parallele Linien, die sich erst im Unendlichen treffen. – Ein großartiger Roman, der das Lebensgefühl der damaligen Zeit wie kaum ein anderer trifft.

8

Hotel am Zoo, Berlin W 15, 22.XII. Peti-Zwerg: Es ist eine tolle Entgleisung von mir, dass ich Dir so lange nicht geschrieben habe. Aber andererseits hättest Du ja auch einmal ein Sekündchen erübrigen können, Deiner alten Schwester ein gutes Wort zu geben. Die bunte Ansichtskarte neulich, vom Ammersee, war ja ausnehmend niedlich, und sie steht auch noch getreulich auf meinem Schreibtisch, aber jetzt ist sie doch schon zwei Monate alt; für so eine Karte ein bisschen viel.

Amüsierst Du Dich gut in der Schule? Ich amüsiere mich im Theater gar nicht besonders. Eine Zeitlang war es ganz nett, aber jetzt hängt mir die Dame, die ich spielen muss, schon zum Halse heraus. Sie ist zwar eine Herzogin – das habe ich Dir wohl schon geschrieben – aber sie hat lauter Blödsinn aufzufangen. (Ich lege Dir ein Foto bei, wie ich in meinem schönsten nackten Abendkleid darauf warte, dass mein Freund sich erschießt. Wenn das Professor Schneiderhahn bei Dir findet, wird er sagen, Du seist ein verdorbener Junge, und einen sehr trüben Brief an Onkel schreiben.) Meine nächste Rolle ist eine Königin, ich steige im Rang. Es ist die aus dem Don Carlos, den hast Du doch schon gelesen? Auf die freue ich mich ein bisschen mehr. – Du musst mir Dein ganzes Weihnachtszeugnis abschreiben und es mir schicken, das ist wohl das mindeste, was ich verlangen kann, ich schicke Dir dann auch meine Kritiken über die Königin.

Ja, dass ich Weihnachten nun nicht nach Hause kommen darf! Aber ich muss eben am ersten Feiertag schon wieder meine stumpfsinnige Kröte von Herzogin spielen. Weine nicht, Zwergengesicht, sondern tanze mit Onkelchen recht angeregt um die Krippe, er wird Dir sicher sehr brauchbare kleine Dinge aufbauen, und da Du sie Dir komischerweise gewünscht hast, schicke ich Dir auch Grillparzers sämtliche Werke. In dasselbe Paket lege ich einen stattlichen Osterhasen, denn für den Weihnachtsmann aus Borkenschokolade und für das Christkind aus Rauschegold bist Du doch wirklich zu alt, kannst an beide gar nicht mehr ernstlich glauben.

Vielleicht lasse ich in der Christnacht auch die Drähte spielen und plaudere fernmündlich ein wenig mit Euch. Sei geherzt und gekost von Deiner altertümlichen Radelrutsch.

München, 24.XII. Mein teuerstes Rumpelstilzchen – Dein Herzoginbild finde ich also einfach ganz prachtvoll, und ich probiere schon die ganze Zeit vorm Spiegel, ob ich nicht wenigstens annähernd so aussehen kann. Natürlich habe ich mir gleich einen Rahmen gekauft, das Bild eingerahmt und auf mein Pult gestellt. Jetzt sollen die Leute nur denken, dass ich ein »verdorbener Junge« bin (und vielleicht bin ich es auch …). Auf jeden Fall finde ich das Bild eben wirklich ganz, ganz prachtvoll, und ich beneide Dich wahnsinnig, dass Du jeden Abend so aussehen darfst.

Am ersten Feiertag gehe ich mit Onkel und Fräulein Blei in die Zauberflöte. Es wird natürlich recht prachtvoll werden. Aber Dir muss ich doch gestehen, dass ich heimlich im neuesten Greta-Garbo-Film war (es ist doch ein Wunder, dass ich überhaupt hineingekommen bin) und in einer Nachtvorstellung (!!) der Kammerspiele (man spielte gerade Strindberg). Ich finde natürlich, dass Greta, nach Dir, die weitaus schönste Frau auf der Welt ist; und Strindberg steht uns heute natürlich viel näher als Mozart, mit dem Onkel immer so ein Getu hat.

Meine Noten sind also:

Betragen: 3 (weil ich in der Religionsstunde, in die ich blödsinniger Weise gehen muss, ganz offenermaßen erklärt habe, dass ich eben nicht an den lieben Gott glaube – wir sind uns ja darin ganz einig); Turnen: 3 (na ja); Deutsch: 2 (wahnsinnige Ungerechtigkeit – mein Aufsatz über Julius Cäsar war wirklich ganz prachtvoll und ist auch vorgelesen worden. Aber der Schneiderhahn ist ja so ungerecht, und außerdem mag er mich einfach nicht); Latein: 5; Mathematik: 5; Geographie: 4; Französisch: 4; Geschichte: 4; Religion: 4; Singen: dispensiert.

Manches ist natürlich schreiend ungerecht, aber die Noten vom Elmar sind noch viel ungerechter, was mir eigentlich viel näher geht. Deinen Grillparzer und Deinen Hasen habe ich noch nicht gesehen, weil sie erst auf den Aufbau kommen. Ich freue mich natürlich furchtbar auf Deine Sachen, hoffentlich hast Du in den Grillparzer etwas Komisches hineingeschrieben, oder auch etwas Ernstes. Sonst freue ich mich nicht so sehr auf Weihnachten. Onkel schenkt mir doch sicher wieder lauter so »nützliche« Sachen, die ich ohne Weihnachten schließlich auch bekommen müsste, und außerdem ist es doch überhaupt ein recht bürgerliches Fest. Am ehesten freue ich mich noch auf den guten Braten, den die Anna doch wohl oder übel zu diesem »feierlichen« Anlass kochen muss, denn sonst gibt sie sich wirklich gar keine Mühe mehr mit dem Essen, seit Du weg bist, und Onkel ist ja wie taub und merkt einfach nichts.

Komm doch wirklich bald wieder!!! Ich möchte über so vieles mit Dir schwätzen, zum Beispiel über unser Hausmädchen Resi (sie heißt aber eigentlich ganz anders und ist die Tochter von einem russischen Emigranten) und über Elmar.

Ich lese jetzt den Don Carlos noch mal, eigentlich interessiert mich ja Schiller nicht so besonders, aber Du wirst sicher ganz prachtvoll als die Königin Elisabeth.

Das ist doch ein sehr langer Brief!! Dein Bruder Brüderich.

Peti las den Brief noch einmal, fand ihn ziemlich geglückt, faltete ihn sorgfältig und steckte ihn ins Kuvert.

Von seinem Pult aus hatte er, über einen kleinen Vorgarten hinweg, den Blick auf den Karolinenplatz mit dem Obelisken. Der Platz war verschneit, aber der Schnee hatte eine Beschaffenheit, dass man merkte, wie nah er am Schmelzen war. Er lag zu weiß da, mit starken bläulichen Schatten, und zu fett, beinah talgig. Es war Föhn in der Luft.

Jetzt wäre es herrlich, die Brienner Straße hinunterzulaufen, über den Odeonplatz in den Hofgarten, dann, über die Galeriestraße, in den Englischen Garten. Es muss eine toll aufregende Luft sein, ein warmes Wehen, ganz unnatürlich mitten im Winter, und deshalb noch schöner. – Aber es war schon halb sechs Uhr, und um sechs wurde zum bürgerlichen Fest beschert.

Übrigens liebte Peti die Aussicht von seinem Pult auf den runden Platz mit dem Obelisken. Sie hatte für ihn etwas anziehend Großstädtisches und Elegantes; unklare Vorstellungen von Paris – Place Vendôme, Place de la Concorde – waren aus Büchern in seinem Kopf geblieben; und, im Schnee, ließ sie ihn auch an St. Petersburg denken, an ein verrottetes, vorrevolutionäres St. Petersburg, mit luxuriösen Schlitten, in denen sadistische Großfürsten neben den üppigsten Kurtisanen saßen.

Peti war beinahe vierzehn Jahre alt – Mitte Februar war sein Geburtstag – und seine Phantasie war voll von gefährlichen Bildern. Er hatte viel gelesen, und viel durcheinander. »Das Bildnis des Dorian Gray« hatte ihn ebenso beeindruckt wie der »Zarathustra« (den er nicht ganz kannte, dafür aber einige Abschnitte auswendig). Er selbst arbeitete an einem dithyrambischen Gedichtzyklus, in dem einerseits viel Hyazinthengeruch, anderseits aber viel aufsässiges Blitzgeschleuder und Sturmgebraus vorkam.

Natürlich hasste er die Schule, wo man ihn nicht verstand. Aber in der Schule war Elmar. Elmar, mit dunklen, runden Augen im braunen, schmalen Gesicht; Augen, die manchmal pfiffig, manchmal melancholisch schauten; mit kurzgeschorenem seidigweichen Haar. Elmar, der sich nur für Fußballspielen und Briefmarkensammlungen interessierte, aber einem oft den Arm so um die Schulter legte, dass es wie elektrische Funken durch den Körper ging. Elmars Name, nachts ins Kissen geflüstert; Elmars Name dem Wind mitgegeben, der nachts durch den Englischen Garten kam, in Sommernächten und in Herbstnächten, über die dunkel fließenden Gewässer, durch die Gebüsche. Sein Name, sichtbar oder unsichtbar, als Widmung über allen Gedichten und Romanfragmenten: »Für Elmar – Elmar gewidmet – Im Gedanken an Elmar – Wem sonst als dir?«

Peti, vierzehnjährig, war in seiner kindlichen Verderbtheit viel zu keusch, die große Liebe, die ihn so wunderbar ausfüllte und immer im tiefsten Herzen erschrecken ließ, wenn sie ihm wieder einfiel, mit den Sensationen in Zusammenhang zu bringen, die ihm seit anderthalb Jahren sein Körper bereitete. Diese waren auch wunderbar, aber auf andere Art. Er wusste schon halb, worum es sich bei ihnen handelte, wenn auch ungenau und verschwommen. Das erste Mal war es beim Klavierspielen zu ihm gekommen, er hatte unten, im halbdunklen Salon, phantasiert. Plötzlich hatte sich das verändert. Er war eigentlich nicht sehr erschrocken, er hatte gleich gewusst: Aha, das war also das. Dann war es oft wunderbar gewesen, und er freute sich jede Nacht aufs Schlafengehen. Aber niemals hatte er es sich erlaubt, Elmars Name in die Vorstellungswelt seiner Ekstasen einzulassen. Er blieb außerhalb, unberührbar.

Dann kam die Verwirrung mit dem Mädchen, das man Resi nannte. Sie war schön, mit stahlblauen Augen, die sie zuweilen aufriss, merkwürdig wild; mit einem feuchten Mund und den Brüsten, die Peti sich nur im Dunkeln anzufassen getraute. Was sie an seinem Leibe machte, war unerhört, Peti hätte niemals für möglich gehalten, dass es so viel Schamlosigkeit auf Erden geben könnte. Aber war das nicht eine Untreue gegen ihn, gegen Elmar? War das nicht schon Verrat?

Unruhe in Petis Herzen. Verwirrung, Ratlosigkeit. Wie mache ich es, Elmar gegenüber rein zu bleiben, ohne ihn dabei selbst zu beschmutzen? Ich möchte rein, rein, rein vor Elmar sein, und ich möchte doch jeden Hund an meinen Körper lassen, und Resi, und diesen Schutzmann, und Greta Garbo, und alle Bäume im Englischen Garten.

Sonja sollte da sein, dass man über all das mit ihr sprechen könnte. Angebetete Sonja. Große Schauspielerin in Berlin. Herzogin Amélie, auf den Selbstmord ihres Geliebten wartend. Königin Elisabeth, mit dem Prinzen zu ihren Füßen. Sonja, die alles weiß, alles versteht. Sonja, das Idol über Petis Leben.

Sonja soll wiederkommen.

Das Kind, am Pulte im halbdunklen Zimmer, das keine Mutter gekannt hat, stützt das unschuldige und frühreife Gesicht in die Hände. Er sehnt sich nach seiner Schwester als nach der Mutter.

Sonja soll wiederkommen.

Sonja könnte auch zum Schneiderhahn in die Sprechstunde gehen, damit er nicht immer so ungerecht ist. Onkel geht doch immer nie hin. Und mir wieder Gedichte vorlesen. Ob Fräulein Blei heute ›Stille Nacht‹ singt? Scheußlich. Hoffentlich gibt es Kastanien zur Gans. Ob der Grillparzer Reclamausgabe ist? Dann habe ich knapp hundert Bücher. Eigentlich sechsundneunzig, wenn mir Onkel keins schenkt. Sagen wir hundert. Elmar, Elmar, Elmar. Jetzt kommt es schon wieder – und jetzt habe ich’s doch wirklich nicht gewollt. Aber jetzt nicht mehr an Elmar denken! Elmar, Elmar … Wenn ich mich jetzt allein fertig mache, ist es nachher abends nicht mehr so schön, wenn Resi noch kommt. Aber am Weihnachtsabend wird Resi wohl gar nicht kommen …

Es ist gleich sechs Uhr. Fräulein Blei wird im schwarzen Samtkleid eintreten und ein feierlich erhitztes Gesicht haben. »Zur Bescherung, Peti-Bub! Freust du dich auch?«

Durch die Isaranlagen laufen. Warmer Wind. Schade, dass ich jetzt kurze Haare habe. In die langen Haare fuhr der Wind so schön. Aber dafür sehe ich jetzt viel erwachsener aus. Die Leute glauben alle, ich bin sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Neulich in der Nachtvorstellung bin ich gar nicht aufgefallen. Zum Geburtstag wünsche ich mir Strindbergs Werke. Ich glaube, er hat ziemlich viel geschrieben. Ob das Onkel erlaubt? Ich möchte noch irgendwas Nettes an Sonja dranschreiben. Ist das Kuvert schon zugeklebt? Das ist wirklich ein toller Föhn draußen. Fenster klappert. Wind im Englischen Garten, Wind an der Isar. Schneematsch. So feuchter Tauhimmel, und das Gebirge ganz nah. Das ist gar nicht wie Weihnachten, das ist schon beinah wie März.

·     ·     ·     ·     ·

Sanatorium im Grunewald, Weihnachtsabend, ein Viertel vor neun Uhr.

Froschele, im Bett sitzend, allein.

Nicht allein, denn ihr schöner Hund Leu liegt, mit besorgter Falte zwischen den guten Augen, bei ihr auf der Bettdecke. Christbäumchen auf dem weißen Tisch, Kerzen schon halb heruntergebrannt. Sonja war vor einer halben Stunde da und hat es gebracht.

Sonja, frisch und lustig im schwarzen Pelzmantel mit grauem Kragen; Sonja, die Arme voller Pakete. – Sie hat Handschuhe, Ingwerkonfekt, schwarzes Abendtäschchen, englisches Parfüm unter den Christbaum gelegt. »Hier, altes Froschele, ein paar mittelschöne Kleinigkeiten. Das schwarze Abendausgehtäschchen finde ich, offen gesagt, reizend. Wahrscheinlich nehme ich es dir gelegentlich wieder fort und schenke dir eine Pudelmütze dafür …«

Sonja musste mit dem alten Bayer Christnacht feiern; auch ein Witz. Frau Grete mit ihrem Bruch. Viel Vergnügen.

Ein Paket aus Landshut war auch angekommen, unmögliche Wäsche und ein englischer Kuchen. Hätten sie auch bleibenlassen können. Gut gemeint, gut gemeint.

Es machte Froschele schreckliche Mühe, sich auf irgendeinen Gegenstand zu konzentrieren. Sogar mit den Augen konnte sie nichts festhalten, alles was sie anschauen wollte, schien zurückzuweichen: Uhr auf dem Nachttisch, Nachttischlampe, Bettvorleger, auf dem Bettvorleger Pantoffel; Tisch, Waschtisch, weißer Vorhang am Fenster.

Sie hatte sieben Tage Dämmerschlaf hinter sich; dann drei Tage, in denen sie auch noch beinah ganz benommen war. Wie war es möglich, dass man in diesem benommenen Zustand so viel leiden konnte? Unendliche Traurigkeit, in diesem Halbschlaf. – Schmerzen am ganzen Körper, und die ganze Seele – ein Schmerz. Das Gift fehlte, das den Schmerz gelindert hätte, aufgehoben und in Lust verwandelt. Nicht auszuhalten, die Erde ohne das Gift, wenn man sie erst einmal in seiner Verzauberung kennengelernt hat.

Nicht daran denken.

Elfter Tag der Entwöhnung. Der erste Tag, seit der großen Schlafspritze, dass sie wieder Gedanken fassen konnte, wenn auch mit Mühe; dass sie wieder wusste, wer sie war und wo sie sich aufhielt.

Es war nichts Gutes, was sie da wieder erfuhr. Froschele, aus Landshut, mit der schönen Sonja nach Berlin gekommen; einem Tänzer verfallen, der nichts von ihr wissen wollte; in die Hände von ein paar Menschen geraten, die nichts konnten, als sie zugrunde richten. Sie hatte einen Trost kennengelernt – großer Trost, wundervoller Trost – aber er hatte die kleine Nebeneigenschaft, einen innerhalb einiger Jahre kaputt zu machen.

Schöner, weicher, kluger Hund Leu. Du bist das einzige, was ich habe. Und es ist deinetwegen, dass ich hier alleine liege. Sonst käme vielleicht doch Gregor auf ein paar Minuten. Es geschieht dem Gregor ganz recht, wenn ich hier einsam verrecke. Zwei Gramm Morphium, und Schluss, Schluss, Schluss. Um Gottes willen, nicht an Morphium denken. Bitte, bitte, nicht an Morphium denken. Urvater Opi, Urmutter Mo. Schwesterchen Euka, Brüderchen Panti – meine geliebte Familie. Urmütterchen ruft. Sie hat was vom Meer. Urmütterchen hat was vom Meer. Feine Gedanken für ein Mädchen vom Lande am Weihnachtsabend. Was tun sie jetzt in Landshut? Sitzen am runden Tisch und essen Gansbraten. Roßmanns sind auch da. Bruder August, Diplomingenieur. »Nehmen Sie noch ein bisschen Gurkensalat, Herr Roßmann!« O Gregor, du hast keine Seele. Urmütterchen hat eine Seele, eine tiefe Seele, Mohnseele, wiegende Mohnfelderseele, wie das Meer. Gregor, leider total seelenlos. »Leider total seelenlos« war vollkommen Sonja. Ich denke wie Sonja. Feiner Weihnachtsabend, das kann man wohl flüstern (seit wann berlinere ich denn?). Und wer ist schuld? Sonja. In diese Lage hat mich Sonja gebracht. Die Landshuter haben ganz recht: Hüte dich vor Schauspielerinnen! Nimm dich in acht vor schwarzen Frauen! Blondinen bevorzugt. Werde Diplomingenieur! Früher stand ich doch anders mit Sonja. Sie war doch, war doch meine Freundin. Dass sie jetzt noch so weihnachtlich vorbeigesummt kam, war ja ganz aufmerksam. Christnacht mit dem alten Bayer: ist ja ein Witz. Bayer ist israelitisch. Sonja: schönste Frau dieser Erde. Ich: Zwergin, vergilbt, verhutzelt, verbost. Sei offen, Froschele: du hast immer nur Sonja geliebt. Verkümmerte kleine Lesbierin bist du. Heilige Familie in Landshut, das ist tatsächlich wahr. Quatschliese – und Herr Gregori? Versuch, den Sonjakomplex abzureagieren. Leider, leider seelenlos – total. Gott, wäre das hässlich, wenn Sonja ihn doch noch heiratete. Ärmste Sonja. Er würde sie schinden, schinden. Er ist ja vollkommen unbarmherzig. Unbarmherziger Hysteriker. Mit seiner Hysterie wie von Eis gewappnet. Hysterisch, unbarmherzig wie Eis und Stahl. Barmherzige Mutter Gottes – ich liebe ihn so. Mein Rassehündchen Choo Ky, Kosename Leu, Sohn von Love Lee und Olmors Red Memory: nicht aus übergroßer Liebe zu dir habe ich dich bei mir behalten, sondern um ihn zu kränken und dadurch mich; aus purem Masochismus, Rassehündchen, um recht ausgiebig, schaurig, saftig leiden zu können. Das hat er mir ja besorgt. Heilige Urmutter Mo, ich halt’s nicht aus, ich halt’s, halt’s, halt’s nicht aus. Ich muss aus dem Fenster, es gibt nur noch Schmerz auf der Welt. Nur noch Schmerz, und ich habe keine Waffe, gegen ihn zu kämpfen, kein Pfeilchen, kein Spritzchen. Famose Christnacht. Grete mit ihrem Konsul, ihrem Bruch (Hals und Bein, Leisten, Genick). Grete spritzt noch, um Gottes willen, nicht dran denken. Sonja mit ihrem W. B. Die versteht’s. Sonja hat mich versetzt. Das ist es: Sonja hat mich versetzt. Mich korrumpiert – Mädel vom Lande – Bruder Diplomingenieur – mir einen Knacks verschafft und mich, husch, husch, scharf links liegenlassen. Aber wenn sie mir auch jetzt noch den Gregori wegheiratet: ich kratze – ich kratze …

Froschele griff zum Gabentisch hinüber. Um einen Gegenstand zu erreichen, musste sie sich recken, dass es wehe tat. Erst wollte sie die Parfümflasche zertrümmern, aber dann beschloss sie, das Abendtäschchen zu zerfetzen. Das würde langwieriger sein und deshalb mehr Genuss bringen. Außerdem konnte sie das Parfüm immerhin brauchen, während ihr das Abendtäschchen total überflüssig war – ich habe doch schon eines, das hat sie natürlich gewusst, dieses ist ein Gelegenheitskauf. Aber es war aus gutem Material und leistete Widerstand. Sie zerrte wütend daran herum.

Froschele, im schwarzen Pyjama, mit kleiner, scharfgebügelter weißer Krause; allein im Bett sitzend, bei der sanft flackernden Beleuchtung des Christbäumchens – und erbittert, fanatisch, mit zusammengebissenen Zähnen an der Handtasche zerrend.

›Sonja hat mich verraten. Sie hat mich sitzenlassen. Ich hasse sie. Ich fürchte sie wie die Pest. Sie nimmt mir den Gregor weg. Sie wird ihn heiraten. Gregor, Gregor, Gregor. Und das Handtäschchen gibt nicht nach. Vorzügliche Ware.‹

Froschele, mit einem Gesicht, so böse wie das Kind, das vorhat, den Lehrer zu ermorden, und alle Einzelheiten seines Plans bedenkt. Die kleine, zweimal gebuckelte Stirn, der verkniffene Mund, die fiebrig arbeitenden Hände: alles wie Form gewordener Hass; Materie gewordene Bosheit. – Der Hund Leu, ins Kissen verkrochen, sieht besorgt zu ihr auf. Plötzlich zuckt er zusammen; zittert leicht; wendet den Kopf, spitzt die Ohren.

Es hat geklopft.

Es klopft noch einmal.

Leu zittert stärker.

Das kann doch nicht die Schwester sein, die klopft anders, und dann würde auch Leu nicht so zittern.

Froschele schlägt das Herz bis zum Halse. Beinah tonlos: »Herein.«

Sie kreischt auf, sinkt zurück, Tränen stürzen. Das ist zuviel: wie eine Lichterscheinung steht in der Türe Gregor Gregori.

Sie zergeht nicht, die Lichterscheinung, vielmehr nähert sie sich: grauer Pelzmantel, enormer Strauß roter Tulpen im Arm. »Hier bin ich!« Gregor hatte eine geradezu frohlockende Stimme. So müssen in der Tat die Weihnachtsengel Stimmen haben. Er ließ das Monokel aus dem Auge fallen, um sich zu Froschele neigen zu können; die Blumen behielt er dabei im Arm. Sie empfing sein Gesicht, geblendet, als ergösse sich aus einer dunklen Wolke unvermutet über sie die Flamme des Heiligen Geistes.

»Sie sind zu mir gekommen«, flüsterte Froschele.

Er legte die Blumen aufs Tischchen, warf den Pelzmantel ab, mit Bewegungen, zugleich so gestrafft und so lässig, dass sie Froschele einfach überirdisch schienen. Große, blau schillernde Flügel schienen ihm von den Schultern zu wachsen, und statt des tadellosen Abendanzugs trug er vor Froscheles tränengeblendeten und kranken Augen ein weißes Gewand, sowohl faltenreich als schlank gegürtet. »Weihnachtsengel …« zitterte Froscheles Mund.

Sogar das wurde ihm noch nicht peinlich. Sein Gesicht strahlte: das gute Vergnügen daran, Glück zu bringen – Weihnachtsengel, der sich niederlässt aus den Wolken; Märchenprinz an des kranken Bettelkindes Lager – mischte sich mit allen Wonnen der Eitelkeit. Er war gütig aus naivster Wirkungssucht; aber darum war seine Güte nicht weniger unmittelbar, nicht minder charmant. Er nahm alle Reize zusammen, die ihm irgend zur Verfügung standen, wirklich um dem geblendeten Froschele ein großes, schönes und unglaubliches Fest zu bereiten.

»Wie geht es Leu?« fragte er unwiderstehlich.

»Er gehört Ihnen«, sagte Froschele schwach. »Weil Sie gekommen sind.«

»Froschele«, sagte Gregor einfach und setzte sich zu ihr ans Bett. Er wollte erst Leu streicheln, aber der zuckte zurück. Das furchtsame Tier hatte sich ganz in eine Ecke des Bettes verkrochen, wo es nervös zitterte. Daraufhin überließ Gregor seine Hand Froschele, die sie gierig ergriff.

Bei aller Ekstase konnte sie nicht umhin festzustellen, dass die Hände nicht das Schönste an ihm waren. Sie liebkoste sie trotzdem – das Unvollkommenste an ihm war immer noch ein Geschenk des Himmels für sie. Seine Hände waren zu groß, zu schwer und zu weiß, mit leichten Sommersprossen auf den Handrücken. Auch die Nägel schienen nicht edel im Material, eher bröckelig und, überraschenderweise, nicht sehr gepflegt, sondern schartig, als habe er die Angewohnheit, an ihnen zu beißen.

Reden konnte Froschele nicht, sie weinte leise. Zuviel, ach, zuviel: sein schönes Profil im Halbdunkel, strenges und weiches Profil; Stirn und Kinn herrisch, aber der Mund von so beunruhigender Weichheit.

»Freuen Sie sich über Leu?« fragte sie schließlich. »Ich freue mich so.«

Er wandte ihr sein Gesicht zu, es schien übergossen von Sanftheit. Die nah beieinander liegenden Augen schimmerten blaugrün, opalen. Mit einem verklärten Schielen blickten sie durchs Halbdunkel Froschele an. (Die Christbaumkerzen waren fast heruntergebrannt, gleich würde es dunkel sein.)

»Jetzt wirst du schlafen …« sagte Gregor mit singend-hypnotischer Stimme. Dabei konnte er nicht umhin, seine Hand um eine Winzigkeit zurückzuziehen, denn sie befeuchtete sie mit ihren Tränen und mit ihren Küssen.

·     ·     ·     ·     ·

»Wo ist Julia?« fragte Sonja, die in W. B.s gotisches Bibliothekszimmer trat.

»Setzen Sie sich erst«, sagte W. B.

Sonja blieb stehen und fragte noch einmal: »Wo ist Julia?«

Bayer, hinter seinem Schreibtisch stehend, auf den er mit den Fingerspitzen trommelte, erklärte: »Sie hatte gestern einen sehr schweren Anfall. Ich musste sie in die Anstalt überführen lassen. Der Arzt sagt, es sei hoffnungslos – was ich übrigens schon wusste. Ich lasse mich also scheiden.«

»Meines Wissens ist Krankheit des einen Ehepartners kein Scheidungsgrund.«

Worauf W. B. nur kurz und drohend durch die Nase lachte. »Ich werde es durchsetzen, verlassen Sie sich darauf. Außerdem ist sie einverstanden. Unmittelbar vor der Abtransportierung hat sie sogar ihrerseits den Wunsch geäußert.«

»Also war sie bei Sinnen.«

Er hob enerviert die Schulter.

»Es war eine ihrer letzten klaren Minuten.« Dann, dringlich, pathetisch, zwei große Schritte näher auf Sonja zu: »Ich habe mich freigemacht, Sonja. Ich bin frei. Ich war in Paris und habe mit meiner Freundin gesprochen. Sie ist abgefunden. Julia rechnet nicht mehr. Ich bin frei, Sonja. Entscheiden Sie sich!« Zitterndes Kinn, starkes Schnaufen, vor Erregung steigt ihm Blut in die Augen; das Weiß des Augapfels färbt sich rot. – Sonja zieht sich zurück.

»Dieser Weihnachtsabend muss die Entscheidung bringen!« hört sie ihn sagen. »Sonja, heiraten Sie mich!«

›Das geht doch nicht, das geht doch einfach nicht. Wer überrumpelt mich so? Alternder Mann, ich habe Mitleid mit ihm. Kein Mitleid – die Frau, mit der man zwanzig Jahre gelebt hat, ins Irrenhaus schicken! Aber ich mag ihn. Immer eine Schwäche für brutale, komödiantische, alternde jüdische Männer gehabt. Ihn heiraten? Frau Geheimrat Sonja Bayer. Mit ihm im Packard auf Gesellschaft fahren? Das geht, das geht, das geht doch einfach nicht.‹

»Ich bin ein bisschen durcheinander«, sagte sie, um einen Ton wehleidiger und matter, als ihr eigentlich zumute war. »Warten wir ab, wenigstens bis nach meiner Premiere …«

Dieser Vorschlag brachte ihn furchtbar auf, er fing an zu brüllen. »Lachhaft! Lachhaft!! Bis nach Ihrer Premiere. – Was hat diese Premiere mit unserem Leben zu tun?! Seit wann nehmen Sie das Theater derart feierlich? Hat Berlin Sie schon angesteckt?« Er rannte mit großen Schritten zwischen den Kirchenstühlen auf und ab.

Ihr war es ganz recht, dass er so die Haltung verlor. So konnte sie kühl und beleidigt sagen: »Benehmen Sie sich anständig, oder ich feiere meinen Weihnachtsabend einfach woanders.« Sie verstand es, sehr unangenehm zu sein, wenn sie es wollte.

Er, sofort ernüchtert, blieb vor ihr stehen, noch keuchend, die Fäuste in die Taschen gekrampft, das Gesicht jetzt bleich statt rot. »Sonja, haben Sie Mitleid!« sagte er mit zitterndem Kinn. Unter den buschigen Brauen wurden seine Augen feucht.

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»Doch, es war sehr, sehr interessant in Berlin«, sagte Maurice Larue hoch und klagend zu Sebastian. »Die Berliner Gesellschaft ändert sich so schnell, das ist das Interessante.« Er rieb sich die Gabelhändchen und sah intensiv, boshaft und wehmütig zu Sebastian hinauf. »Sie sind auch Schriftsteller?« fragte er zart und fingerte schon nach seinem Notizbüchlein.

»Ja«, sagte Sebastian, »ich schreibe auch.«

»Für Zeitungen?« fragte Larue.

»Ja, auch für Zeitungen.«

»Oh«, machte das Heinzelmännchen mit leisem Aufschrei in einer plötzlichen Ideenverbindung, »dann kennen Sie gewiss auch eine sehr, sehr amüsante junge Dame, deren Bekanntschaft ich dieses Mal in Berlin gemacht, oder genauer gesagt: erneuert habe. Mademoiselle Sonja … ja, ein sehr amüsantes und hübsches Mädchen, Sie kennen sie ohne Frage.«

»Nein«, sagte Sebastian, »ich kenne sie nicht.«

Der Kleine wiegte enttäuscht den zerbrechlichen Kopf mit dem gelblichweißen seidigen Flaumhaar. »Schade«, sagte er ehrlich betrübt. Er musterte diesen jungen homme de lettres, der die besten Dinge nicht kannte, etwas misstrauisch. »Aber Sie wissen doch von ihr?« erkundigte er sich, um doch nicht ganz leer auszugehen.

Ja, Sebastian hatte viel von ihr gehört.

»Oh, sie würde Ihnen sehr gefallen.« Maurice hob plötzlich neckisch den Zeigefinger, dies bleiche Knöchlein. »Sicherlich – hahaha.« Und er lachte genau dreimal, pedantisch, klagend und raschelnd.

Sebastian war es unangenehm, dass Larue soviel von dieser Sonja sprach, die er doch gar nicht kannte; vielleicht weil ihn ihr Name an Gregor Gregori denken ließ, der so oft und exaltiert von ihr gesprochen hatte; aber auch noch aus anderen, weniger klaren Gründen.

›Die ist kein Klatschobjekt für diesen‹, dachte er ungeduldig. Nur um etwas zu sagen, erkundigte er sich: »Hat sie den Gregor Gregori denn nun geheiratet?«

Da erst wurde Maurice recht angeregt. »Das ist es ja eben«, flüsterte er und trippelte ganz nah an Sebastian heran. »Diese Affäre steht sehr kompliziert. Es scheinen gewisse zarte Beziehungen zu bestehen zwischen Mademoiselle Sonja und einem Herrn, einem ziemlich gewichtigen Herrn, gewichtig in jeder Beziehung – der auch in dieser Wohnung nicht ganz unbekannt sein dürfte – ich scheine vielleicht indiskret – jedoch …«

Gretas Atelier war voll von Leuten. Lauter »Montparnassiens«: der spanische Bildhauer, ein paar deutsche Maler und Literaten, zwei junge Amerikaner, ein polnischer Dichter, einige bunte kleine Frauenspersonen, teils Französinnen, teils Polinnen, teils Deutsche. Maurice gehörte nicht ganz dazu, er war Outsider. Aber er hatte sich Sensatiönchen davon versprochen, in einem Bohemezirkel, der immerhin nicht ganz ohne Berührung mit mondänen Kreisen war, Weihnachten zu verbringen. Vor allem fand er die Beziehung Greta W. B., von der er natürlich wusste, »sehr, sehr interessant«, und er hoffte etwas darüber zu erfahren, wie sie sich entwickelte.

In einer Ecke stand der Christbaum, von bunten Glaskugeln starrend. Die Kerzen waren rot, grün und gelb. Darunter war eine etwas krasse Krippe aufgebaut, ein junger Russe aus dem Café de la Rotonde hatte sie angefertigt, ihre Figuren zeigten verkrampfte Posen und verzückte Mienen. Die kleinen Französinnen nannten all das très, très joli – aber heimlich unter sich ein wenig sehr extravagant – »et même un tout petit peu boche«.

»Du hast mir noch gar keinen Kuss unterm Christbaum gegeben!« schrie Greta durch das ganze Atelier Sebastian zu. »Das muss man tun, das ist einfach heiliger Brauch.«

Sebastian war froh, von Maurice Larue fortzukommen, der immer noch von Sonja und ihren schönen dunklen Augen erzählte. Er ging, an den Tischchen vorbei, wo getrunken, geschwatzt und gelacht wurde, auf Greta zu, die ihn unterm Christbaum erwartete.

Sie musste viel getrunken haben, denn sie schwankte, das kam bei ihr nicht leicht vor. So wie heute war sie den ersten Abend angezogen gewesen, als Sebastian bei ihr war: Sandalen zu blauen Hosen und den grell gestreiften Sweater. Ihr Gesicht war erhitzt, und sie schielte eine Kleinigkeit mehr als gewöhnlich. Sie schielte immer, wenn sie betrunken war.

Sebastian küsste sie auf die Stirn. Ihre Stirne war glühend heiß.

»Deine Stirn ist ganz heiß«, sagte er.

Sie sagte ihm vorwurfsvoll ins Gesicht: »Du liebst mich ja nicht mehr, Sebastian.«

»Doch«, sagte er ernsthaft. »Sicher.«

Sie schüttelte ernst den Kopf. »Nein. Gar nicht.«

Und plötzlich, während sie ihn an den Schultern packte und sich vorneigte zu ihm: »Aber du hast mich doch mal geliebt? Wie? Du hast mich doch mal geliebt?« – Tödliche Angst in den Augen, wie damals, als es im Bois de Boulogne so dunkel war. Die Lippen halb geöffnet und die Hände auf seine Schultern gekrampft, wartete sie auf eine Antwort.

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Richard Darmstädter lauschte der Grammophonplatte. Es war ein amerikanischer Tango, Musik von einer orgiastischen Sentimentalität.

Richard fühlte sich hingerissen von so viel Schamlosigkeit. Das Gefühl zeigte sich nackt. Es strömte hin, es ergoss sich, es breitete sich aus. Das war viel köstlicher und ärger, als wenn die, die einander zu lieben glaubten, öffentlich sich begatteten. Es war, als könnte man dabei auch noch ihre Herzen sehen.

Das Gefühl – enthüllt. Das Herz – nackt.

So völlig, so schonungslos, mit solcher Wollust könnten nie Worte das Gefühl preisgeben. Das Wort verhüllt, seinem tragischen Wesen nach. Es verheimlicht noch, wenn es beichtet. Es verdunkelt, wenn es analysiert.

Aber die Musik. – Aber dieser amerikanische Tango. Mit schwelgerischem Exhibitionismus wird das zur Melodie, was in unseren Herzen das Verborgenste war. Traurigkeit ohne Grenzen. Seufzer der Lust. Tränenvolle Umarmung. Hinschmelzen der Seele in Zärtlichkeit.

Hinschmelzen. Zärtlichkeit.

Oh, könnte ich mit diesen Rhythmen und Akkorden mein Blut verströmen, damit die Erde es tränke und ihre Blumen schöner blühen lasse. Ein wenig Glück mehr auf dieser Erde: wie gern, wie gerne verströmte ich dafür mein Blut.

Musik, Erlösung, Zärtlichkeit und Tod.

Da kratzte die Platte. Es war zu Ende.

Richard feierte Weihnachtsabend mit dem Jungen, den er Tom nannte. Er hatte einen kleinen Baum geputzt und darunter eine ganze Ausstattung aufgebaut: den blauen Anzug, der gerade gestern fertig geworden war, dazu braune Halbschuhe, Lackschuhe, Hemden, Socken, Taschentücher, Eau de Cologne. – Die Grammophonplatten hatte Richard sich selbst geschenkt. Sie waren das Neueste, was aus New York gekommen war.

»Magst du noch was?« fragte Richard. »Lebkuchen oder Schokolade?«

»Nee«, sagte Walter. »Hab’ schon zuviel gegessen.«

»Vielleicht einen Schnaps?«

Tom schüttelte den Kopf. – Er hatte noch nichts von den neuen Sachen angezogen, sondern trug seinen ungebügelten grauen Anzug und keine Socken zu den Tennisschuhen, trotz der Kälte. Seine Knöchel waren wieder ganz wund. Die Feier des Tages betonte er nur durch einen fast frischen Kragen und eine zerknitterte kleine Krawatte.

»Gleich nach Neujahr wollen wir fahren«, sagte Richard. »Wenn die Feiertage vorbei sind, besorge ich unsere Visa.«

Tom nickte. Plötzlich sagte er, während er nachdenklich ins Weite schaute: »Du, sie sollen doch jetzt so Versuche machen, mit Raketen und so, dass man auf den Mond fliegen kann. Richtig auf den Mond. Du, das wäre mal ’ne Reise.«

Er schwieg wieder.

Richard sah ihn etwas betreten an. »Ja«, sagte er schließlich. »Wie kommst du darauf?«

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»Ich muss Ihnen noch mein Geschenk geben«, sagte Geheimrat Bayer zu Sonja. Er klappte ein weißledernes Etui vor ihr auf. Auf weißem Seidenpolster lag feierlich gebettet ein Renaissanceschmuck, mattgoldenes Kollier, kunstvoll gearbeitet, mit grünen Steinen.

»Gefällt es Ihnen?« fragte W. B. »Ich habe lange gesucht. Aber vielleicht mögen Sie keinen so schweren Schmuck.«

»Es ist viel zu schön«, sagte Sonja ernst.

Er hob ihre Hand zu seinen Lippen (braune Jungmädchenhand). Tiefer Blick unter den buschigen Brauen. »Sind Sie wieder gut?« fragte er gedämpft, doch sonor.

An Sonjas Hand kitzelte sein Schnurrbart. Dabei empfand sie: Er hat mich wirklich sehr gern. Ich wäre aufgehoben bei ihm. Sein breiter Rücken …

»Guter W. B.«, sagte sie und lächelte ihm zu.

»Na, wir werden wohl nächstens ’ne neue Gnädige haben«, sagte unten der Diener Georg zur Mamsell.

»Besser wie eine Übergeschnappte wird sie jedenfalls sein«, meinte diese.

»Eine vom Theater …« machte Sophie skeptisch.

Betty aber, die mit dem besseren Herrn ging: »Och, das sind jetzt oft die allerfeinsten Ladys.«

Fritz, der nicht zugehört hatte, sagte: »Fünfzig Mark is auch nich’ grade ville zu Weihnachten, wenn man schon bald zwei Jahre im Haus ist.«

»Sei du man ruhig!« sagte Georg, obwohl er es auch zu wenig fand. Aber seitdem die Mamsell Fritz hatte fallen lassen und es nicht mehr mit ihm trieb, behandelte man ihn von oben herab in der Küche. Seine Mutter bekam auch keine Fresspakete mehr. Darüber weinte er manchmal, ehe er einschlief, obwohl er jetzt eine viel nettere Freundin hatte, die in der Villa nebenan Hausmädchen war.

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Als Sonja gegen ein Uhr nachts in ihr Hotel kam, saß in der Halle Gregor Gregori. Das erste, was Sonja dachte, war: ›Gott sei Dank, dass ich den W. B. draußen am Wagen verabschiedet habe. Das hätte ja eine nette Bescherung gegeben …‹ Mit einer Munterkeit, die fast natürlich klang, sagte sie: »Ich denk’ doch, ich irr’ mich. Du sitzest ja wie ein Gespenst.«

Gregor war aufgesprungen; seine Miene, über dem steifen Kragen des Abendanzugs, war bleich und gespannt. ›Seine Augen sind ganz grün vor Hysterie‹, dachte Sonja. ›Er sieht aber schön aus.‹ »Willst du was trinken?« fragte sie ihn. Er antwortete: »Nein« – wobei er sich sehr gerade hielt, die Augen niederschlug und den Unterkiefer pathetisch nach vorn schob; es gab ein knirschendes Geräusch an den Zähnen.

Sonja hatte den Fuß schon auf der ersten Treppenstufe. Gregor trat ganz nahe an sie heran. Ein paar Meter von ihnen schnarchte der Nachtportier.

Gregor sagte, immer noch die Augen niedergeschlagen und mit dem trotzig vorgeschobenen Unterkiefer: »Du darfst mich nicht länger hinhalten, Sonja.«

Sie antwortete, wobei sie zu lachen versuchte: »Müssen wir das jetzt, hier auf der Treppe, besprechen?« – »Ja«, sagte er, und er schlug die grünschillernden Augen zu ihr auf. (›Die Augen eines Verrückten‹, dachte Sonja, ›aber wie wunderbar er in Form ist. Er sieht blendend aus. – Sein Gesicht scheint viel härter als sonst.‹)

»Du willst immer aufschieben«, sagte er mit einer gepressten, gleichsam geladenen Stimme. »Du liebst Kompromisse. Für mich existieren Kompromisse nicht. Ich will dich, Sonja. Ich brauche dich, Sonja. Lebe mit mir! Meine Arbeit braucht dich! Heirate mich!« Er rang die großen, weißen Hände, während er so sprach, dass sie leise knackten.

Sonja hatte immer noch den rechten Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt. Mit der linken Hand stützte sie sich auf den Pfosten des Treppengeländers. Ihr Gesicht war jetzt sehr ernst, sie sah Gregor ernst und nachdenklich an. »Ich traue dir nicht«, sagte sie leise.

Darauf wandte Gregori hochmütig-schmerzlich den Kopf (schöne Linie vom Kinn zum Hals, herrschsüchtig und wehleidig). »Man kann nicht mehr von sich anbieten, als ich es tue.« Seine Stimme war immer noch von jener theatralischen Gedämpftheit. »Ich kämpfe seit Jahren um dich. Wenn du dich jetzt wieder entziehst – bin ich fertig. Bin ich ganz einfach fertig.« Seine Stirn sank nach vorn – tänzerische Pose des Schmerzes, doch schien sie erlebt; sie stimmte.

Sie ergriff seine Hand, die große Hand mit den Sommersprossen.

(›Ist es Lüge, wenn ich jetzt sage, dass ich ihn heiraten will? Ich liebe ihn nicht. Er steht mir nur näher, als W. B. mir steht. Wir gehören mehr zueinander. Aber irgend etwas ist bei ihm nicht in Ordnung. Er lügt, er lügt, er lügt. Er kann gar nicht anders. Er muss immer lügen. Liebe ich ihn nicht doch?‹)

»Wollen wir es also miteinander versuchen«, sagte sie leise, aber klar, vollkommen sachlich.

Großes Lächeln, das über seinem Antlitz aufging. Verklärung über seinem Antlitz. Über ihre Hände beugte er sein verklärtes Gesicht.

»Das ist die größte Situation meines Lebens«, hörte sie ihn über ihren Händen sagen. »Ja, das ist ganz sicher …« (hingesungen, schmachtender Ton). Wieder stimmte etwas nicht ganz; und er meinte es ernst. »Jetzt fängt alles neu an«, sagte er, noch jubelnd, aber gedämpft, um den Portier nicht zu wecken. »Und wenn ich die Schauburg eröffne, bist du meine Frau.«

Sie sah von oben, wie kahl sein Schädel schon war. Über eine runde kleine Glatze war sorgfältig weiches, dünnes, blondes Haar frisiert. Sie spürte Mitleid aufsteigen, und sie hielt es für Zärtlichkeit. ›Ich liebe ihn doch, ich liebe ihn doch. Wir brauchen uns, wir gehören zusammen. Armer, fast kahler Kopf. Er hat es sich nicht leicht gemacht, sein Leben …‹

Sie war versucht, sein Gesicht zwischen beide Hände zu nehmen; sein edles und verdächtiges, junges und mitgenommenes, erbärmliches und schönes Gesicht. Aber in diesem Moment erwachte der Portier, reckte sich und gähnte in seiner Loge.