In den Jahren nach der Machtergreifung Hitlers erlebte Deutschland einen beispiellosen Exodus der brillantesten Intellektuellen des Landes. Es waren Wissenschaftler, Filmemacher, jüdische Geschäftsleute, vor allem aber rund 1.500 Schriftsteller, die das Land notgedungen verlassen mussten. Denn im März 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, begannen die Nazis, Jagd auf alle zu machen, die sich gegen sie stellten. Zuflucht gaben zunächst Städte in Nachbarländern, wie Paris, Amsterdam oder Prag. Später, als Deutschland Kriege an allen Fronten begann, war man nur noch in Übersee und in Moskau sicher. Zu den Autoren im Exil zählten neben vielen anderen Brecht, Canetti, Döblin, Kisch, Remarque, Anna Seghers, Werfel, Zweig, Toller, Tucholsky – nicht wenige begingen Selbstmord im Exil. | Klaus Manns Roman ist ein einzigartiges Kaleidoskop dieser heterogenen Gruppe, die aus Immer-noch-Hoffenden und Verzweifelten bestand, von denen manche ihren Wohlstand hatten retten können, während andere mangels finanzieller Mittel ums nackte Überleben kämpften. Untereinander verstricken sie sich in politische Debatten; viele fürchten, wegen unzureichender Pässe oder Visa jederzeit abgeschoben zu werden. Alle zusammen beobachten sie aus der Ferne den brodelnden Vulkan Deutschland, der nicht zur Ruhe kommt, sondern, im Gegenteil, immer mehr Opfer fordert.
Klaus Mann war der älteste Sohn des Schriftstellers Thomas Mann, geboren als dessen zweites Kind nach Schwester Erika, am 18. November 1906 in München. Von einem leichtfertigen, selbstbezogenen und bohéme-artigen Nachwuchsschriftsteller, der im Schatten seines berühmten Vaters stand, entwickelt er sich im Lauf der Jahre zu einem der wichtigsten Kritiker der Nazi-Diktatur im Exil. Er arbeitet für im Ausland publizierte Widerstandsblätter und geht in den USA auf Vortragsreisen, um das Bild eines ›anderen‹, humanen Deutschland zu vermitteln. Drogensucht, oft unglücklich gelebte Homosexualität und ein schwieriges Verhältnis zum ›Übervater‹ Thomas Mann ließen ihn häufig am Leben zweifeln und mit Selbstmordgedanken spielen. Am 21. Mai 1949 starb er in Cannes nach einer Überdosis Schlaftabletten.
Unsre Bestimmung verfügt über uns,
auch wenn wir sie noch nicht kennen;
es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel gibt.
Nietzsche,
›Menschliches, Allzumenschliches‹
Ein junger Mensch saß in einem Berliner Pensionszimmer und schrieb einen Brief.
Berlin, den 20. April 1933. Lieber Karl! Ich hoffe, Du bist gut in Paris angekommen und fühlst Dich wohl. Ich bin einmal zehn Tage lang dort gewesen – weißt Du, damals mit den drei Jungens aus unserer Klasse; Du durftest damals nicht mitkommen, weil Deine Eltern sagten, Paris ist ein zu gefährliches Pflaster für einen jungen Menschen. Das Allerschönste, woran ich mich in Paris erinnern kann, ist der Blick von der Place de la Concorde die Champs-Élysées hinauf bis zum Arc de Triomphe. Das ist wirklich großartig. Ich bin doch etwas neidisch, dass Du das nun jeden Tag genießen kannst. Ob Du sehr viel Schwierigkeiten mit der Sprache hast? Und ob Du es jetzt bereust, dass Du immer so sündhaft faul gewesen bist, gerade in der französischen Stunde? – Aber ich stelle mir vor, in Paris lernt man ja die Sprache fast von selbst.
Lieber Karl, ich denke sehr oft an Dich – fast immer, wenn ich gerade mal nichts anderes zu tun habe – wie es Dir gehen mag, und ob Du Deinen Entschluss nicht bereust. Denn es ist doch ein großer, schwerer Entschluss – sich von der Heimat zu trennen.
Ich habe mir das alles während der letzten Wochen hin und her überlegt, und ich bin zu der ganz festen inneren Entscheidung gekommen: Du hast einen Fehler gemacht.
Missverstehe mich nicht, Karl: es ist ein anständiger Fehler, den Du gemacht hast. Aber doch ein Fehler.
Ich weiß nicht, ob es noch irgendeinen Sinn hat, Dir zuzureden: Komme zurück! Ich fürchte, es hat keinen Sinn mehr. Als ich Dir, vor drei Wochen, am Bahnhof Zoo auf Wiedersehen gesagt habe, fühlte und wusste ich, dass wir uns sehr lange nicht wiedersehen werden.
Natürlich könntest Du auch jetzt noch Deine Meinung ändern und zurückkehren – wohin Du gehörst. Da Du ja ein sogenannter »Arier« bist und Deine alten Herrschaften feine Beziehungen haben, würde man Dir sicher alle Deine Sünden verzeihen – wenn Du jetzt erklärst, dass alles nur jugendliche Torheit und Unwissenheit von Dir gewesen ist.
Du würdest Dir natürlich wie ein Schuft vorkommen, wenn Du eine solche Erklärung abgeben müsstest. Aber vielleicht wäre es in diesem Augenblick das Klügste und das Anständigste, was Du machen kannst. Denn jetzt brauchen wir hier Burschen wie Dich. Hier können sie jetzt nützlich sein, und nur hier.
Was gibt es denn im Ausland für Dich zu tun? Bei den Franzosen auf uns Deutsche schimpfen? Aber Karl! Ich kenne Dich doch! Das bringst Du ja gar nicht fertig. Du weißt viel zu genau, wie sehr die Franzosen mitschuldig oder sogar hauptsächlich schuldig sind an dieser radikalnationalistischen Entwicklung in Deutschland, die wir immer so bedauert haben. Nicht nur der Vertrag von Versailles ist schuld – obwohl der die schlimmste und eigentliche Ursache für alle Verwirrungen in Europa bleibt – sondern die ganze Art, wie die Franzosen uns während all dieser Jahre gedemütigt haben. Wir hatten wirklich keine nationale Ehre mehr.
Die Frage ist, ob wir jetzt wieder eine bekommen werden. Ich weiß wohl, dass Du es nicht glaubst – und Dir ist nicht unbekannt, dass auch ich schwere Zweifel habe. Ich war nie ein Nazi – Dir muss ich das nicht erst lang und breit versichern – und ich werde nie einer werden. Ich trete nicht in die Partei ein, habe nur keine Angst – ich denke gar nicht daran. Ich mache hübsch brav meine Examina zu Ende, und dann tue ich was Vernünftiges.
Ich bin kein Nazi, und ich gebe auch zu, dass hier viel Hässliches geschehen ist während der letzten Monate – alle besseren Menschen sind sich darüber einig, und wir alle glauben, dass dies am Anfang einer großen Umwälzung vielleicht unvermeidlich war, aber bald ganz anders werden muss. Keinesfalls hat es Sinn zu leugnen, dass eine große Umwälzung im Gange ist; dass ein nationales Erwachen sich in Deutschland vollzieht. Überall ist echte Begeisterung zu spüren. Aus der könnte allmählich etwas Schönes, Fruchtbares, Positives wachsen, etwas, was dann auch Europa zugute käme, und dem Frieden.
Du findest sicher, ich bin zu optimistisch. Vielleicht bin ich es. Vielleicht kommt alles ganz anders, nicht so gut. Aber sogar wenn schwere Jahre für Deutschland kommen, will ich hier bleiben. Wenn der Führer seine begeisterten, idealistischen Anhänger enttäuschen sollte – vor allem: wenn er die Jugend enttäuscht – dann wird in Deutschland eine Opposition entstehen, und dann ist eben von dieser Opposition alles zu hoffen … Ich würde, wenn es sein muss, bei den Oppositionellen sein, wie ich heute bei den Loyalen bin. Das kommt mir tapferer und vernünftiger vor, als ins Ausland zu gehen. Verzeih das harte Wort, Karl: aber es hat doch etwas von Fahnenflucht.
Mein Vater, mit dem ich gestern lang über diese Dinge sprach, gibt mir recht. Du kennst ja den alten Herrn – er ist der preußische Offizier, wie er im Bilderbuch steht. Zu diesem »böhmischen Gefreiten« – so soll Hindenburg den Hitler genannt haben – hat er im Grunde nicht viel Vertrauen. Aber er sagt: Man muss es zugeben – es weht ein neuer Geist in Deutschland. Niemand weiß noch, was draus werden soll; aber es könnte etwas Großes draus werden. Die jungen Menschen haben plötzlich ganz andere, neue, strahlende Gesichter – findet mein alter Herr. »Du musst hier bleiben, Junge!« sagte er. – Du weißt ja, ich überschätze seine Intelligenz keineswegs; aber es hat mir doch Eindruck gemacht. – Ich erzähle Dir das alles, damit Du siehst: ich habe es reiflich erwogen.
Diesen Brief gebe ich dem Kurt B. mit, der morgen auch nach Paris fährt. Man kann sich schon nicht mehr trauen, einen solchen Brief mit der Post zu schicken … Der Kurt B. sagt, hier wird es bald nicht mehr auszuhalten sein, und nächstens werden auch noch die Grenzen gesperrt, da ist es schon besser, man macht sich rechtzeitig auf und davon. Aber der Kurt ist ja Jude, da beurteilt er die Dinge natürlich von einem etwas anderen Standpunkt als wir; von seinem Standpunkt aus, finde ich, hat er recht.
Vielleicht hast auch Du recht, Karl. Ich will nicht mit Dir streiten, und ich will Dir keine Vorwürfe machen. Ich will Dir nur erklären, wie ich denke und fühle.
Ich denke und fühle: Unser Platz ist hier. Hier müssen wir uns bewähren, hier müssen wir kämpfen, hier braucht man uns. Draußen braucht man uns nicht.
Ich bin gegen die Emigration.
Viele, die heute rausgehen, werden es bald bereuen. Sie werden ein bitteres Leben haben und außerdem auch noch ein schlechtes Gewissen. Wie die Zigeuner werden sie von einem Land ins andere ziehen; man wird sie nirgends behalten wollen; sie werden entwurzelt sein, sie werden den Boden unter den Füßen verlieren, viele werden elend zugrunde gehen. Ich sehe das alles kommen. – Ich hoffe von Herzen, dass es Dir gelingen wird, Dir draußen eine neue Existenz aufzubauen. Es wird schon gehen, Du bist ja ein tüchtiger Mensch. Mich würde es schrecklich freuen, wenn ich nächstens erfahre, dass Du eine gute Stellung gefunden hast, in Paris oder sonst irgendwo. Noch froher würde es mich allerdings machen, wenn Du mir morgen telegraphierst: Ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich komme zurück.
Aber das passiert wohl nicht. Du bist ja so verdammt eigensinnig, altes Haus! Alles Gute! Dein Kamerad Dieter.
Dieter war ziemlich erschöpft, nachdem er dies alles geschrieben hatte. Einen so langen Brief – schien ihm – hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht abgefasst. Er lehnte sich in den Sessel zurück.
Er war ein hübscher, hoch aufgeschossener Junge, mit blondem Haar, einem langen Schädel, blanker Stirn, blauen Augen und einem weichen, kindlichen Mund. Es gab in seinem Gesicht keine Falten.
Draußen zog ein Trupp von SA-Leuten vorbei. Sie sangen. Dieter trat ans Fenster, um ihnen zuzuhören. Das Lied gefiel ihm nicht. Auch ihre Stimmen klangen nicht angenehm. Er machte das Fenster zu.