Peter Schmidt

Aus dem Rahmen gefallen

Praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss

Patmos Verlag

Inhalt

Auftakt

Vorwort von Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

Der aus dem Rahmen fällt

Was isn das, Autismus?

Die zerrissene Jeans – Bug oder Feature

Eine knappe, knackige Antwort

Die mysteriöse, unsichtbare Mauer – wie ich Autismus als Kind fühlte

Inseln und Kontinente – ein Autismus-Modell

Das Muster, das Autismus charakterisiert

Autistische Begleitsymptome wie Reizüberflutung, Prosopagnosie und andere

Autismus-Folgen – Depressionen, soziale
und andere Phobien

Wie ich Kommunikation erlebe – wenn Grau
Rot oder Grün sein kann

Finden Sie die Swimming-Pools! – was
Kompensation bedeutet

Die plattgebügelte Katze – Autisten haben alle Gefühle, die es gibt

Strukturen geben Halt – Ordnungen, Pläne,
Rituale, Stereotypien

Stereotypien sind keine Zwänge

Wenn es tilt macht – Overload, Meltdown
und Shutdown

Der AH-Effekt, intensive Gefühle und
andere Wahrnehmungen

Wenn aus normal-unangenehm
unerträglich-schmerzvoll wird

Anders geboren – allein unter Kindern

Die tollen Tapeten und die tolle Tante

Die Reise nach Jerusalem

Der Arm, der nicht brechen wollte

Die Mautstelle im Supermarkt

Die unteilbaren Süßigkeiten

Mensch-ärgere-dich-nicht!

Der Weihnachtsliedersingplan, die Autonummernbücher und weitere Tabellen

Im Land der blauen Freunde –
Das Lied vom Anderssein

Merkmale einer autistenfreundlichen Schule

Der Zuckertütentag – aus meiner Sicht

Keine zweite Chance für den ersten Eindruck – die Lehrersicht

Eine Schule voller Straßen

Das Autochen-Ritual

Der Junge, der nur Einsen oder Vieren schrieb

Blue or black? – das Erreichen des Lernziels ist nicht nach Schema F prüfbar

Bilder haben eine Aussage

U wie United – über Sitzordnungen
und reizarme Räume

Der Unterricht ist Erholung – die Pause ist Stress

Konflikte und Mobbing – Brennendes Fett in der Pfanne

Opfer und Täter bei Störungen durch Mitschüler

Die gegenseitige Angst vor dem Unbekannten

Steif wie ein Brett? – Auch Bretter biegen sich! – Sport gehört dazu

Bad und Bus – auf Jugendfreizeiten
und Klassenfahrten

Autisten lernen anders – konkurrierende Erlasse und die ideale Schule

Gesetze für den Take-Off ins Leben –
die geplante Flexibilität

Der autistenfreundliche Arbeitsplatz

Die Kantine und der Achtstundentag

»Stell dich nicht so an!« – im ersten Job
als Werkstudent

Widerstand oder Kapazität – Die Wirkung des ­polarisierten Fähigkeitenprofils

Bärendienste und andere unverstandene Spielchen – Alltag im Berufsleben

Konflikte und Mobbing – Die Gratwanderung der Gerechtigkeit

Einzelbüro statt Kommunikationslandschaften

Kontaktalarm und Gelassenheit

Was mir hilft und was ich brauche, um abzuliefern

Als Autist erfolgreich im Team – so kann es gehen!

Konkurrierende Sehnsüchte – Partnerschaft und Liebe

Allein, aber nicht einsam

Pubertät jenseits von Cliquen und Disco

Innere Konflikte – selbstverletzendes Verhalten

Gewaltfreie Kommunikation

Von Checklisten, Tests und der Liebe im Koordinatensystem

Herausforderndes Verhalten –
die Mohnbrötchengeschichte

Voraussetzungen beim nicht-autistischen Partner

Geplante Gefühle und sexuelle Leidenschaften

Was ich mit meinen Kindern (nicht) anfangen konnte

Vulkanisches Fazit

Auch das noch!

Die Störung als System der Stärke

Innen- und Außensichten –
Autismus durch das JOHARI-Fenster

Vor- und Nachteile einer frühen oder späten Diagnose

City – Stadt – Großraum

Abgrenzung zu anderen Störungen und Mischformen: ADHS, schizoide und narzisstische Persönlichkeitsstörung

MASC und mehr – über Sozialverhalten und Empathie

Outing? Jein, bitte! – Von klinischer Relevanz
und vermeintlicher Gewissheit

Training statt Therapie – Lebenshilfe versus Psychofolter – ABA bitte mit Sahne!

Schlussakkord – die Nimm-Mits

Was Inklusion ist – von Schnittmengen, Integration und Extrawürsten

Fazit – Ein Autist kann aufblühen, wenn …

Who is Who

Disclaimer

Danksagung

Weiterführende Literaturhinweise


Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

»Du kannst einen Menschen nichts lehren;
du kannst ihm nur helfen, es in sich zu finden.«

GALILEO GALILEI

Für alle, die im Bizarren zuallererst

das bewundernswert Besondere sehen und

mir damit helfen, meinen Weg zu gehen.

Auftakt

Vorwort von Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

Das Phänomen Autismus ist mindestens seit dem letzten Jahrzehnt in der Öffentlichkeit sehr prominent geworden. Besondere Beachtung haben dabei insbesondere erwachsene Personen mit Autismus bekommen. Dies kann daran liegen, dass das Konzept des Autismus 1981 durch die britische Psychiaterin Lorna Wing wiederbelebt wurde und die Kinder, die zu dieser Zeit eine Autismus-Diagnose erhielten, nun das Erwachsenenalter erreicht haben. Autismus aus der Perspektive von erwachsenen Betroffenen zu betrachten, ist aus zwei Gründen besonders wichtig. Zum einen bringt Autismus im Erwachsenenalter ganz neue Herausforderungen mit sich, etwa die Gestaltung von Partnerschaften oder den Einstieg ins Berufsleben. Zum anderen sind erwachsene Menschen mit Autismus natürlich in einer ganz besonderen Weise in der Lage, über charakteristische Eigenschaften von Menschen mit Autismus zu berichten und zu informieren.

Eine solche, hochinformative Lebensbeschreibung aus der Innenansicht eines Menschen mit Autismus wird in der vorliegenden »Autismuskunde« von Herrn Dr. Peter Schmidt mit den Lebenserfahrungen des autistischen Jungen in seiner Schulzeit, seinem Einstieg in den Beruf, der Teilhabe am Arbeitsleben als junger Erwachsener und der Gestaltung von Partnerschaft und Familie vorgelegt. Sämtliche Lebensphasen und Alltagswelten werden sorgfältig analysiert. Diese Beschreibung ist auch ein interessanter Einblick in gelungene Inklusion und das gesamte Bedingungsgefüge dahinter: die vielen verschiedenen wechselnden Kontexte von Peergroup, Arbeitskollegen und Familie. Eine wichtige Besonderheit an dem vorliegenden Buch ist, dass sich Peter Schmidt in einer sehr differenzierten und reflektierten Weise über sein eigenes Leben im jeweiligen Umfeld seiner Lebenswelt äußert, so dass wir nicht nur über die äußerliche Entwicklung informiert werden, sondern vor allem auch darüber, wie es sich anfühlt, immer nur wie hinter einer »Glasmauer« mit anderen zu kommunizieren oder auf einer von den »Kontinenten« abgegrenzten »Insel« zu leben oder eine Partnerin mit der »Checkliste Ehefrau« zu suchen.

Die vielen Beispiele machen den Zugang zu den Besonderheiten des autistischen Erlebens leicht nachvollziehbar und ermöglichen auch dem Leser, Empfehlungen für den Umgang mit autistischen Menschen abzuleiten, sei es in der Gestaltung von Schule oder Arbeitsplatz. Damit ist es ein sehr praktisches Buch. Obwohl das Buch das Thema Autismus inhaltlich auf hohem Niveau bearbeitet, ist es dennoch sehr kurzweilig und unterhaltsam geschrieben, so dass man es, einmal in die Hand genommen, kaum wieder weglegen kann.

Dabei werden in den Ausführungen von Peter Schmidt drei übergeordnete Aspekte immer wieder deutlich. Erstens: Das Leben eines autistischen Menschen in einer nicht-autistischen Umwelt ist mit enormen Anstrengungen verbunden. Zweitens: Auch wenn Autismus allgemeine Merkmale aufweist, die Grundlage der Diagnosestellung sind oder die eine Einschränkung am gesellschaftlichen Leben im Sinn einer Schwerbehinderung definieren, ist Autismus zugleich auch immer als Folge der jeweiligen Lebensgeschichte der einzelnen Personen ganz individuell ausgestaltet; das bedeutet auch, dass Menschen mit Autismus auch Eigenschaften besitzen, die gar nichts mit Autismus zu tun haben. Drittens: Autismus beschreibt Eigenschaften einer inneren Verfassung, die lebenslang besteht und nicht durch einfache Maßnahmen »korrigiert« werden kann, wenngleich von der Frühförderung junger Kinder bis zur therapeutischen Begleitung von Erwachsenen auch substantielle Hilfe bereitgestellt werden kann.

Das wiederum bedeutet, dass sich nicht nur Menschen mit Autismus auf die oft unverständliche Welt von Nicht-Autisten einstellen müssen. Vielmehr müssen wir alle offen und neugierig für andere Menschen bleiben, insbesondere für die, die in mancherlei Hinsicht vielleicht anders wahrnehmen, erleben, fühlen, denken oder handeln als wir selbst. Nur dann wird es uns gelingen, Menschen, die »anders« sind, nicht auszugrenzen, sondern an unserem eigenen Leben teilhaben zu lassen. Dieses »Anderssein« schließt natürlich nicht nur die vermeintlichen Schwächen von autistischen Menschen ein, sondern mindestens genauso ihre Stärken, beide Seiten sind in diesem Buch als »bug« versus »feature« oder – in eine physikalische Metapher gewendet – als »Kapazität« versus »Widerstand« sehr eindrucksvoll dargestellt. Damit ist auch die Leserschaft definiert. Profitieren werden von diesem Buch nicht nur autistische Personen selbst, die einer anderen autistischen Person bei ihrem Lebensvollzug zuschauen und aus ihren Erfahrungen für sich selbst lernen können, sondern auch alle nicht-autistischen Personen, die offengeblieben sind, sich mit Anders-Denkenden und Anders-Erlebenden auseinanderzusetzen, unabhängig davon, ob sie in einem therapeutischen Kontext tätig sind oder nicht.

Ich persönlich wünsche dem Buch eine breite Leserschaft und hoffe, dass dieses Buch Diskussionen anregen kann, besonders zwischen den sogenannten Autisten und Nicht-Autisten.

Kai Vogeley, Köln, im Oktober 2019

Der aus dem Rahmen fällt

Liebe Leserin, lieber Leser!

Stellen Sie sich vor, Sie seien als Blinder auf einem Gehweg unterwegs, ohne zu wissen, was »Sehen« wirklich ist. Am laufenden Band kommt es zu Kollisionen mit anderen Menschen. Immer wieder fragen diese Sie vorwurfsvoll: »Können Sie bitte mal genauer hingucken, wo Sie hintreten?« Und Sie wundern sich dann und kontern: »Was soll das sein, sehen, hingucken? Wie muss ich mir das vorstellen? Wenn Sie das können, dann gehen Sie mir doch einfach aus dem Weg!«

Wenn meine Tochter wissen wollte, ob ihr Kleid gut aussieht, antwortete meine Frau: »Geh zu Papa, wenn der dir sagt, dass es gut aussieht, dann kannst du davon ausgehen, dass das stimmt!« Meine Antwort war stets ehrlich und aufrichtig, aber mitunter auch unpassend und schmerzvoll. Es sind gerade diese sozialen Situationen, die Autisten ins Abseits bringen, weil hier oft nicht die Wahrheit, sondern eine Höflichkeitslüge, zumindest aber eine höfliche, ausweichende Antwort erwartet wird. Denn Wahrheit kann schwer verletzen.

Wenn man zu mir als Schulkind gesagt hätte: »Solange du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast, darfst du nicht spielen gehen!«, wäre ein ewiger Aufstand die Folge gewesen. Aus Sicht meiner Eltern, die mich möglicherweise gar als unerziehbar hingestellt hätten, hätte ich »herausforderndes Verhalten« gezeigt. Dabei wären sie es gewesen, die sich mir gegenüber vollkommen danebenbenommen hätten, wenn sie strikt auf der Einhaltung dieser aus meiner Sicht völlig willkür­lichen Regel bestanden hätten. Für mich war es nicht die Frage, dass ich die Hausaufgaben machen will oder muss, sondern wann und wie! Denn ich war motiviert, hatte aber ein großes Erholungsbedürfnis. Erst musste der »Kommunikationskater«, auch gerne als »Sozialkater« bezeichnet, abgebaut werden, dann war ich bereit. Punkt 17 Uhr begann ich, meine Hausaufgaben zu machen!

Drei Beispiele, die charakterisieren, wie Autismus auf Außenstehende wirken kann. Autisten können die Beziehungsebene einer Kommunikation nicht intuitiv erkennen, sie verhalten sich in sozialen Situationen anders als erwartet und bestehen auf Rituale und Regeln, die ihnen guttun. Alle verbindlichen Vorgaben, die mein Gefühls­leben und meine Wahrnehmung infrage stellten, blockier(t)en meine Weiterentwicklung! So ließen meine Eltern mich letztendlich, wenn auch zunächst mit Widerstand, stets meinen eigenen Weg zum Ziel gehen. Wer neue Wege gehen will, muss ohne Wegweiser auskommen.

Ich war, bin und werde lebenslang ein Mensch bleiben, der aus dem Rahmen fällt. Im Jahr 2007, im Alter von 41 Jahren, war ich geschockt und erleichtert zugleich, als mich ohne Vorwarnung »wie ein Blitz aus heiterem Himmel« die Diagnose erreichte, dass ich lebenslänglich ein Autist mit einem lehrbuchartig ausgeprägten Asperger-Syndrom gewesen sei, ohne das zu wissen. Das Leben bekam durch das, wofür dieses Wort »Autismus« steht, eine generalschlüssige Erklärung. Der mittlerweile großkronig verzweigte, dick- und hochstämmig gewachsene Warum-Baum verzweifelter, unbeantworteter Fragen wurde mit einem Schlag gefällt.

Auf der Suche nach Hilfe fanden es andere Menschen interessant, wenn ich erzählte, was ich erlebt habe, wie ich meinen Weg gegangen bin. Dies führte auf einen Weg, der mich als Autor und Referent für Autismus in die breite Öffentlichkeit führte. Immer öfter fragten mich die Menschen, wo sie denn das nachlesen könnten, was ich über das Phänomen Autismus erzähle. So kam es schließlich zu diesem Buch!

Das vorliegende Buch veranschaulicht, was Autismus ist und dass eine andersartige Wahrnehmungsverarbeitung Grundlage aller autistischen Verhaltensweisen ist.

Konkrete Beispiele zeigen, wie ich als Kind und Jugendlicher die Schulzeit (üb)erlebt habe, wie ich mich als Erwachsener durch die Untiefen der Arbeitswelt navigierte und wie ich die himmelhohen Hürden auf dem Weg zur eigenen Familie überwand. Strategien, die mich weitergebracht haben, zeigen grundsätzlich, wie Autisten und ihr Umfeld besser miteinander klarkommen können. So wird deutlich, was ein Leben als Autist und ein Leben mit Autisten ausmacht, welche Herausforderungen bestehen und welche Lösungen es dafür geben kann.

Dieses Buch ist ein Beitrag für Außenstehende, Bedürfnisse autistischer Menschen zu erkennen, zu verstehen und zu akzeptieren. Autisten können inspiriert werden, indem sie die Analyse meiner Lebenserfahrungen auf die eigene Situation übertragen. Das hilft Autisten, sich selbst besser zu verstehen, um daraus Rückschlüsse für die Gestaltung ihres weiteren Lebensweges zu ziehen und ein fruchtbares Zusammenleben mit anderen Menschen zu ermöglichen. Dabei zeigt sich grundsätzlich, was Energie kostet und was Energie liefern kann.

Die konkrete Ausprägung allgemeiner autistischer Verhaltensmuster ist verschieden. Daher gibt es kein allgemeingültiges Rezept, wie man mit Autisten umgehen kann! Es sind immer individuelle Lösungen! Das Buch liefert auch keine Anleitung, wie man aus einem Autisten einen normalen Menschen macht! Denn das geht nicht!

Stattdessen wird herausgearbeitet, was helfen kann, den Alltag zu bewältigen, ohne dass eine wie auch immer geartete Therapie dabei die Persönlichkeit verändert.

Ein autistischer Mensch entwickelt sich am besten, wenn man seine Stärken fördert und ihm hilft, damit aufblühen zu dürfen. Denn das ist das Einzige, womit er es schaffen kann, sich nutzbringend in die Gesellschaft einzubringen, was mit weiterer motivierender Anerkennung und Teilhabe verbunden ist.

Vor Ihnen liegt nun meine kleine Autismuskunde für eine autistenfreundlichere Welt.

Mit diesem Werk, dessen Inhalt auf eigenen Beobachtungen, auf Austausch in vielen Diskussionen und Selbsthilfegruppen und natürlich auch auf Inhalten in der Literatur beruht, übergebe ich meine brücken- und tunnelreiche Autobahn durch das ansonsten nur schwer zugängliche, bizarr geformte autistische Gebirge dem Verkehr. Viel Spaß beim Entdecken einer anderen, bereichernden Weltsicht!