© 2016 Arthur Fontaine, 3. Auflage
Hersteller and Verlag: BOD — Books on Demand GmbH, Norderstedt
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ISBN: 978-3-7481-5465-5
Die Sammelbezeichnung „Merziger Terrakotta“ kennzeichnet bestimmte keramische Industrieprodukte mit künstlerischem Gestaltungsanspruch, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Markt kamen, dort zunehmend an Bedeutung gewannen und nach wenigen Jahrzehnten weltweit bekannt waren.
Es handelte sich hauptsächlich um Architekturelemente und figürliche Schmuckkeramik aus dem spezifischen Material der Merziger Terrakotta. Entwickelt und produziert wurden die Erzeugnisse vom damals bereits weltweit tätigen Keramikunternehmen Villeroy & Boch mit Sitz in Mettlach an der Saar.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erreichte die Produktpalette durch den Historismus im Bauwesen eine immense Formenfülle, die Produkte selbst eine extensive Anwendung auf allen Kontinenten. Mit dem Wandel zur Jugendstilarchitektur verlor die Architekturterrakotta dann ihre schwerpunktmäßige Bedeutung zugunsten der Sparte Schmuckkeramik. Aber auch deren Produktion wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgenommen. Damit verschwand die Merziger Terrakotta nach knapp 100 Jahren Marktpräsens völlig aus dem Blick und dem Bewusstsein der Öffentlichkeit, gefördert durch die kriegsbedingten Zerstörungen.
Ihre Wiederentdeckung begann 1992 mit der Auffindung großer Bestände nicht verbauter Architekturteile aus diesem Keramik-Material in den Kellergewölben des Schlosses Herrenchiemsee, dessen Fassaden reichlich mit solcher Bauzier versehen sind.1) Sie setzte sich fort mit der denkmalgerechten Restaurierung von Bauwerken aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, als zur Fassadenerneuerung Schmuckteile aus Merziger Terrakotta benötigt wurden, wie sie zum Erbauungszeitpunkt an diesen Baukörpern verwendet worden sind. Zwei bedeutende Restaurierungsprojekte dieser Art waren z. B. die historistischen Bauten der Bibliotheca Albertina in Leipzig (Universitätsbibliothek), 1887-1891 erbaut, und der Deutschen Bank, Filiale Leipzig, 1898-1902 erbaut.2)
Die Wiederentdeckung der Architekturelemente aus Merziger Terrakotta lenkte in der Folge den Blick auch wieder auf die figürlichen und sonstigen Produkte aus diesem Material. Nach vielen Jahrzehnten wurden sie in einer großen Ausstellung anlässlich des 250jährigen Firmenjubiläums der Villeroy & Boch AG 1998 mit zahlreichen Exponaten nochmals zusammengeführt. Exemplarisch werden einige dieser Produkte in der ständigen Firmenausstellung „Keravision“ im Gebäude der Generaldirektion des Unternehmens, der „Alten Abtei“ in Mettlach/Saar, im Kreuzgang der „Alten Abtei“ sowie im Foyer des Alten Rathauses in der Kreisstadt Merzig gezeigt.
Der in diesem Buch unternommene Versuch einer möglichst umfassenden Darstellung der Geschichte dieses außergewöhnlichen keramischen Industrieproduktes soll es für eine breite Öffentlichkeit aus der Vergessenheit herausführen. Gleichzeitig können dem Bild der Keramikgeschichte einige Facetten eingefügt werden. Der Versuch rechtfertigt sich zudem wegen der Bedeutung des Beschäftigungsgegenstandes für die Kunst-, Bau- und Industriegeschichte. Auch für die Baudenkmalpflege können die Darstellungen nützlich sein.
Die Vielfalt der Merziger Terrakotta macht eine Systematik der Darstellungen schwer, wenn es um die konkreten Objekte geht. Noch schwieriger ist es, eine einmal festgelegte Systematik durchzuhalten. So blieb an wenigen Stellen nichts anderes übrig, als pragmatisch zu verfahren und Zusammenhänge für wichtiger zu halten als unbedingte Systematik.
Dank gilt dem Leiter des Firmenarchivs der Villeroy & Boch AG, Franz Büdinger, für seine Unterstützung bei der Nutzung von Archivmaterial, in fachpraktischen Fragen – besondes zum Thema Herstellungsverfahren – und für die Bereitstellung historischen Bildmaterials. Auch Ing. Walter Fransée danke ich für seine fachliche Beratung. Wichtig für das vorliegende Buch ist ferner die Untersuchung von Margit Euler im Rahmen ihrer Dissertation „Studien zur Baukeramik von Villeroy & Boch 1869-1914“, Universität Bonn, 1994. Hier wird einer der Schwerpunkte unseres Themas erstmals in einer wissenschaftlichen Arbeit behandelt.
Der Farb-Anhang zu diesem Buch enthält 26 ausgewählte Abbildungen von erhaltenen Terrakottaobjekten. Sie sollen einen Eindruck von äußerer Farbgestaltung vermitteln. Die Abbildungen Nr. 11, 17, 19, 23, 24 und 25 geben monochrome, die übrigen Abbildungen polychrome Oberflächen wieder. Alle dargestellten Objekte sind Villeroy & Boch-Produkte.
Der Begriff Terrakotta geht auf die italienischen Bezeichnungen „terra“ und „cotto“ zurück und bedeutet „gebrannte Erde“.3)
Danach bestehen Terrakottaerzeugnisse aus anorganischen, nichtmetallischen Rohstoffen (Erden), die nach zweckgerechter Formgebung durch Einwirkung hoher Temperaturen (Brennen) ihre Gebrauchsfähigkeit erhalten haben. Spezifischeres ist dem Begriff Terrakotta sprachlich nicht zu entnehmen, wobei der Gesichtspunkt der zweckgerichteten Formgebung schon als dem Herstellungsverfahren wesensgemäß unterstellt werden muss.
Ähnlich allgemein und umfassend, aber mit dem gleichen Bedeutungskern, ist der Begriff Keramik. Er kommt vom altgriechischen keramiké (téchnē) = „Töpferkunst“. Durch Töpferkunst oder Keramik aber entstehen Erzeugnisse nach Formgebung geeigneter, aufbereiteter Rohmasse – klassisch natürlicher Ton aus der Substanz-Gruppe der Erden – durch Brennen.4)
Beide Begriffe konkurrieren in der Anwendung dennoch nicht miteinander: Keramik ist der Oberbegriff, in der einschlägigen Fachwissenschaft zur Bezeichnung einer Verfahrenstechnik5), im landläufigen Sinn als Produktbegriff verwendet. Terrakotta wird über das Material (den keramischen Werkstoff und Merkmale des Scherbens) sowie das spezifische Herstellungsverfahren einengend als eine der Produktarten der Keramik (neben Steingut, Porzellan u. a.) definiert.
So bezeichnet Terrakotta herkömmlich Keramikerzeugnisse aus meist farbig, überwiegend rotbraun – seltener weißlich, gelblich, bräunlich bis schwarz – brennendem Ton, entsprechend porösem Scherben, in der Regel unglasiert. Die Formgebung erfolgt aus einem plastifizierbaren Ton-Wasser-Gemisch heraus, der Brand bei Temperaturen von 900 bis 1 000° C. 6)
Die Zuordnung typischer Produkte kann im Einzelfall schwierig sein, da sich hier ein breites Feld auftut und nicht selten Abgrenzungsprobleme zu anderen Produktarten der Keramik auftreten. Zudem wurde der Terrakottabegriff nicht zu allen Zeiten gleich angewendet und er wird auch heute nicht einheitlich benutzt. Ebenso bereitet eine Gliederung der Terrakotta-Erzeugnisse Probleme. Am ehesten erscheint die Ordnung nach dem Verwendungszweck geeignet, und zwar in die Teilbereiche Zierterrakotta (Figuren, Büsten, Reliefs, Schmuckvasen, Jardinieren usw.), Bauterrakotta (Architekturteile, Ornamente usw.) sowie Gebrauchsterrakotta (z. B. Podeste, Ständer, Vasen, Behältnisse).
Ein gemeinsames äußeres Merkmal der meisten Terrakotten ist ihre künstlerische Gestaltung, um Ausdruck oder Dekor zu schaffen. Die obigen Gliederungsbegriffe lassen aber schon erkennen, dass dies bei den verschiedenen Produkten in unterschiedlichem Maße zu erwarten ist.
Darstellung oder Dekoration kann die ausschließliche Zweckbestimmung des Produktes sein, wie z. B. bei figürlich-bildlichen Terrakotten und bei solchen Gebrauchsartikeln, bei denen die praktische Funktion nur Träger des Schmuckes ist, z. B. eine reine Schmuckvase. Aber auch bei Terrakottaware für den praktischen Gebrauch wird meist auf eine mehr oder weniger ausgeprägte dekorative Wirkung Wert gelegt. In seltenen Fällen ist eine rein praktische Funktion durch aufwändige Formen und/oder aufwändiges Dekor kaschiert, gar überhöht (z. B. die Gestaltung einer Sitzgelegenheit als Tier oder Pflanze). Schließlich gibt es den schlichten, ornamentlosen Gebrauchsartikel aus Terrakotta (z. B. einfache Blumentöpfe und sonstige Behältnisse).
Künstlerisches und Lapidares ist so bei Terrakotta anzutreffen. Gelegentlich liegt beides dicht beieinander.
Der Begriff Terrakotta hat demnach zwar einen spezifischen Material-Aspekt (traditionell der natürliche Ton und seine spezielle Verarbeitung) aber einen ziemlich unspezifischen Form-Aspekt (ein Objekt aus der großen Gruppe der Terrakotta-Produkte). Deshalb werden zur Schaffung begrifflicher Klarheit häufig Doppelbezeichnungen verwendet. Die Angabe „Terrakotta-Relief“ beispielsweise spezifiziert durch die Objektangabe Relief den Form-Aspekt; Terrakotta ist dann reine Materialbezeichnung (aus Terrakottamasse). Daneben wir die Bezeichnung Terrakotta auch autonom angewendet, wenn es also nur „Terrakotta“ heißt und z. B. rotbraune Skulpturen oder auch schlichte Gartenartikel gemeint sind.7) In solchen Fällen muss für das Verständnis der sachliche Zusammenhang bekannt sein, in dem die Bezeichnung Terrakotta angewendet wird.
Terrakotta ist die ursprünglichste, auf der ganzen Welt verbreitete Keramik-Art. Sie war schon den Menschen der Vorgeschichte, vor allem der alten Hochkulturen (Mesopotamien, Ägypten u. a.), in Form von Gefäßen, Plastiken und als Baumaterial vertraut.
Aus der Zeit des 1. Kaisers von China, Quin Shi Huang (259-210 v. Chr.), ist die „Terrakotta-Armee“ bekannt, die das Grab des Reichsgründers bewachte und 1974 bei der Stadt Xian entdeckt wurde. Die tausende lebensgroßer Kriegerfiguren und andere Skulpuren sind gebrannter Ton.
Aus der griechischen Antike sind Plastiken und Architekturteile (Friese, Firstschmuck, Antefixe – Stirnziegel – Wasserspeier, als Reliefs gestaltete Füll- und Verkleidungsplatten u. a.), Sarkophage, häuslicher Zierrat usw. aus Terrakotta bekannt. Aus Griechenland stammen auch die berühmten Tanagra-Figuren, kleine bemalte Terrakottafiguren, ursprünglich Weihegeschenke, aus den Gräbern der altgriechischen Stadt Tanagra östlich von Theben (4./3. Jahrhundert v. Chr.).8)
In Fortführung der griechischen Tradition wurde künstlerisch gestaltete Zier- und Bauterrakotta auch während der römischen Antike geschätzt. Vielfach wird daher die Bezeichnung Terrakotta auf die künstlerischen Tonerzeugnisse der griechisch-römischen Antike und des italienischen Bereiches beschränkt.
Eine Wiederbelebung der Bauterrakotta ist in der oberitalienischen Renaissance-Architektur erfolgt, als an Sakral- und Profanbauten Schmuckelemente aus gebranntem Ton verwendet wurden.9)
Durch die Vorbilder der Antike und der italienischen Renaissance angeregt, griff die Architektur des 19. Jahrhunderts den Gebrauch des Terrakottaschmucks und des Terrakottabegriffs wieder auf.10)
In der zweiten Hälfte der 1830er und in den 1840er Jahren experimentierten die Fachleute der keramischen Werke Villeroy & Boch in Mettlach an der Saar intensiv mit Keramikmassen und ihrer Technologie. Hauptziel dabei war es, einen Keramik-Fußbodenbelag von großer Härte und Strapazierfähigkeit zu entwickeln. Das Ergebnis waren die „Mettlacher Platten“, Mosaik-Imitatplatten aus Steinzeug, die ab 1852 in Mettlach produziert wurden und bald in aller Welt geschätzt waren.11)
Die Experimente der Mettlacher in jener Zeit mit keramischen Steinzeugmassen führten offenbar auch zu anderen Anwendungsmöglichkeiten. So teilt August von Cohausen mit, dass in Mettlach eine Röhren- und eine „Terrakotta“-Produktion stattgefunden hat: „Als in der Mitte der vierziger Jahre man von der Fabrication von Thonröhren weiterschritt zur Anfertigung größerer Terracotten…“12)
Man versteht diese Mitteilung falsch, wenn hieraus gelesen wird, dass sich das Material der „Terrakotta“ aus dem Material der Röhren entwickelt habe. Vielmehr wird hier berichtet, dass die auslaufende Röhrenproduktion durch eine ausgeweitete „Terrakotta“- Produktion abgelöst worden ist. Zutreffend ist, dass die Keramiker die „Terrakotta“-Masse aus dem Material der Mettlacher Platten entwickelt haben. Prof. A. Schmidt stellt fest: „In der That ist dies unvergleichliche Material aus demjenigen der Mettlacher Mosaikplatten hervorgegangen oder, mit anderen Worten, es ist dasselbe unverwüstliche kieselreiche Steinzeug…“13) Die Innovation bestand also darin, dass die „Terrakotten“ aus der Mettlacher Fabrik ab der Mitte der 1840er Jahre vom Material her dem Steinzeug sehr nahe standen, letztlich Steinzeug waren. Dies zog gegenüber herkömmlicher Terrkotta nicht nur andere Herstellungsverfahren nach sich, sondern führte auch zu verbesserten und neuen Eigenschaften der Produkte. Ferner wurden neue Erzeugnis-Dimensionen und Einsatzbereiche erschlossen. Zum neuen Material und zu den neuen Produkten heißt es aus dem Hause Villeroy & Boch in einer 1880 veröffentlichten Fachzeitschriften-Beilage: „Alle zeitherige Terracotta ist Thonware in gewöhnlichem Sinne, nur mehr oder weniger hart gebrannt. Die Terracotta des…Etablissements von Villeroy & Boch ist nach ganz anderen Fabricationsprinzipien gearbeitet, ist den unübertroffenen Mettlacher Fliesen verwandt…“14)
1880 schreibt ein exellenter Kenner des „Terrakottamaterials“ von Villeroy & Boch: „…das Steinzeug ist, im Gegensatz zu dem niederrheinischen, gewöhnlichen oder natürlichen, salzglasierten Steinzeug ein künstliches, ein nach dem Prinzip der Porzellanfabrication zusammengesetztes Feinsteinzeug…“15) Auf die „Steinzeug-Terrakotta“-Masse, ihre Eigenschaften, Einsatzmöglichkeiten und Verarbeitungstechniken wird an anderer Stelle näher eingegangen.
Bleibt hier noch die Frage zu erörtern, ob die Anwendung des historisch geprägten und sachlich festgelegten Begriffs Terrakotta auf die so bezeichneten neu entwickelten Produkte von Villeroy & Boch überhaupt zutreffend bzw. zulässig war und ist. Hat man es doch bei diesem Keramik-Produkt mit einem Material von ganz anderer Beschaffenheit und mit einem veränderten Herstellungsverfahren als bei herkömmlicher Terrakotta zu tun, wie dies der Hersteller selbst nachdrücklich betont (vgl. Zitat unter Anmerkung 14). So ist festzustellen, dass das Produkt-Material und das Herstellungsverfahren die Anwendung des Terrakotta-Begriffs auf diese Erzeugnisse nicht rechtfertigen.
Wenn aber der Material-Aspekt hier nicht greifen kann, bleibt nur der Form-Aspekt. Auf ihn allein müssen sich die Mettlacher Fabrikanten bei der Bezeichnung ihrer Produkte mit dem Begriff Terrakotta im Wesentlichen gestützt haben, pragmatisch und am angestrebten unternehmerischen Erfolg orientiert. War der traditionelle Begriff Terrakotta doch treffend geeignet, die gewünschte Assoziation mit den neuen Firmenprodukten herzustellen, vor allem in den anvisierten Zielgruppen, in denen dieser Begriff geläufig war und durch die Entwicklung – wie dargestellt – ein neues Gewicht bekommen hatte, wie Architekten, Künstler, Kunsthandwerker und Baumeister.
Tatsächlich deckte die Palette der „Terrakotta-Produkte“ von Villeroy & Boch schließlich weitgehend die herkömmlichen Terrakotta-Formen ab, wie noch nachgewiesen wird.
Dass das Keramikunternehmen Villeroy & Boch seine neue Bau-, Zier- und Gebrauchskeramik mit dem Begriff Terrakotta verbunden hat, allein festgemacht an seinem Form-Aspekt (allenfalls noch gestützt durch die unspezifische Wortbedeutung), kann kritisch gesehen werden, ist aber letztlich als Faktum zur Kenntnis zu nehmen.
Unter dem Vorbehalt dieses vorgegebenen Verständnisses wird der Begriff Terrakotta für die entsprechenden Produkte von Villeroy & Boch daher hier weiter verwendet.
Es liegen keine Quellen vor, aus denen sich der möglicherweise komplexe Entscheidungsprozess zum Einstieg der Firma Villeroy & Boch in die Terrakotta-Sparte klar belegen ließe. Man kann nur Umstände sowie Bedingungen aufzeigen und analysieren, unter denen dieser Einstieg in den 1840er Jahren stattgefunden hat und die ihn beeinflusst haben können.
Für das frühe 19. Jahrhundert ist es das wieder erwachte Geschichtsinteresse, vor allem die Beschäftigung mit dem antiken Bauwesen und der Renaissance-Architektur, die auf historische Architektur-Terrakotta und Terrakottaskulpturen aufmerksam machten, u. a. in der bereits1820 einsetzenden Fachliteratur zu diesem Themenkreis.16)
Zu den Architekten dieser klassischen Zeit gehörte auch der so bedeutende Karl Friedrich Schinkel, der in den 1820/30er Jahren in Berlin den Werkstoff Ton nicht nur als Grundstoff des Bauens propagierte (vgl. Anm. Nr. 10, erster Spiegelstrich), sondern auch wichtige seiner Bauten in Backstein und folgerichtig deren gesamten plastischen Schmuck (Kapitelle, Reliefs, Skulpturen u. a.) nach hellenistischem Vorbild in Terrakotta ausführen ließ, z. B. den Backsteinbau der neugotischen Werderschen Kirche (1825-1828) und der Bauakademie (1832-1835) in Berlin.
Die so durch Schinkel initiierte Backsteinarchitektur (Berliner Schule) verwendete in der Folge verstärkt Terrakottaelemente, wodurch ihre Produktion angeregt wurde.17)
Die persönlichen Beziehungen Schinkels zu den Mettlacher Fabrikherren, der Familie von Boch, sind bekannt. Schinkel weilte 1826 anlässlich einer Reise nach Frankreich und England in Mettlach zu einem Besuch bei Jean-François Boch. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Begegnung eines Verfechters der Terrakotta am Bau mit einem Keramikhersteller auch zu einem anregenden Gedankenaustausch über diesen Sachbereich geführt hat.
Schinkels Kontakte zur Gegend blieben länger erhalten. 1833 beauftragte der preußische Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. Schinkel – ab 1831 Leiter der obersten preußischen Baubehörde – mit der Neugestaltung der Klausnerkapelle in Kastel, nahe Saarburg, zu einem Grabmal für seinen Ahnen, den König Johann von Böhmen, genannt der Blinde, aus dem Hause Luxemburg. Der Kronprinz hatte den Leichnam König Johanns anlässlich eines Besuches in Mettlach 1833 vom Fabrikherrn Jean-François Boch als Geschenk erhalten. Der Umbau der Kapelle erfolgte von 1835-1838.18) Sie gilt als Höhepunkt der Baukunst der Deutschen Romantik.
Der Besuch Schinkels in Mettlach und seine spätere Tätigkeit in der Nachbarschaft ist sicher nicht ohne Eindruck auf den Sohn Jean-François Bochs, Eugen von Boch (1809-1898) geblieben, der ab 1832 die Mettlacher Fabrik leitete und unter dessen Leitung später die Terrakottaproduktion in der Mettlacher Fabrik begann. Vor allem die Gedanken Schinkels waren Eugen von Boch nicht fremd. Er war ein sehr geschichtsbewusster, weit gereister und kunstsinniger Mann, der selbst künstlerisch tätig war, von dem auch Entwürfe für Produkte seines Unternehmens vorliegen.19)
Für eine so ausgeprägte Unternehmerpersönlichkeit ist der Schritt in den kreativen Bereich der Terrakotta sehr nahe liegend gewesen, insbesondere weil die sachlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben waren.
Die zunehmende Verwendung von Terrakotta am Bau durch den Einfluss der Berliner Schule öffnete und verbreiterte einen Markt für solche Produkte. Die Nachfrage befriedigten zunächst einige bestehende Keramikhersteller, z. B. die Ofenfabrik von Thobias Feilner (sie stellte z. B. die Terrakottaelemente für Schinkels Werdersche Kirche her, u. a. eine 2,50 m hohe Portalfigur des Erzengels Michael; siehe Abb. 7) und die Tonwarenfabrik von Cornelius Gormann, beide Berlin.20)
In Berlin wurde 1836 aber auch die Tonwarenfabrik March mit Spezialisierung auf Terrakotta für den Bau neu gegründet. 21) Die von diesen Fabriken hergestellten Artikel waren besonders hart gebrannte Terrakotta-Produkte herkömmlicher Art.
Es geht hier ja um die Frage, wodurch Villeroy & Boch veranlasst worden sein konnte, in die Terrakotta-Produktion einzusteigen. Zur Beantwortung dieser Frage sind im Vorstehenden mehrere mögliche Anstöße in Anspruch genommen worden: die Wiederentdeckung von Terrakotta im Bauwesen; die persönlichen Kontakte des führenden Verfechters dieser Bewegung, Karl Friedrich Schinkel, mit dem Mettlacher Keramikhersteller; einen für die Sache disponierten Unternehmer, Eugen von Boch, sowie die Chancen eines neuen Marktes für ein neues Produkt.
Es mag verwundern, dass in dieser Reihe das innovative Material der späteren Terrakotta-Produkte von Villeroy & Boch fehlt. Dies hat seinen guten Grund. Es gibt nämlich einen Beleg dafür, dass der fragliche Einstieg bereits erfolgt war, als das neu entwickelte Material zur Anwendung kam.
Im Zuge der Umbauarbeiten an der Klausnerkapelle bei Kastel (1835-1838) durch Schinkel war der Altar der alten Kapelle beseitigt worden. 1842 besichtigte der Bauherr, König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, die neue Kapelle. „…bei seinem Besuch im J. 1842 beauftragte der König den Landrat S. v. Cohausen (Salentin von Cohausen, Landrat in Saarburg; eig. Anm.) einen neuen aufzustellen: auf einer von Säulen getragenen Tischplatte, schwarzer Marmor, die Säulenschäfte unpoliert, steht unter dem Fenster eine dreiteilige niedrige Rückwand mit Symbolen des heiligen Messopfers.“22)
Eine andere Quelle berichtet zum Altar der Kapelle weitere Einzelheiten: „Der königliche Bauherr kümmerte sich bei der Klause um zahlreiche, grundsätzliche wie scheinbar unwesentliche, künstlerische Fragen. So geht z. B. der Altar auf seine Gedanken zurück. Die Motive von Ähre und Traube gehören dazu, seitlich der Darstellung eines Kelches mit Hostie.“23)
Der König hat also selbst die Gestaltung von Altar und Altarrückwand im Wesentlichen bestimmt. Der Auftrag zur Anfertigung ging an Villeroy & Boch im nahen Mettlach. Dies ist einer sicheren Quelle zu entnehmen, denn der von 1840 bis 1848 in der Steingutfabrik in Mettlach als Fabrikinspektor tätig gewesene August von Cohausen (1812-1894),24) Sohn des oben genannten Saarburger Landrates Salentin v. Cohausen, berichtet, dass „der Altar-Aufsatz nebst romanischen Kapitällen“ in der Klausnerkapelle zu Kastel Arbeiten aus der Mettlacher Fabrik gewesen seien.25)
Was hier als „Altar-Aufsatz“ bezeichnet wird, entspricht der oben charakterisierten niedrigen Rückwand. Sie besteht aus drei farbig gefassten Reliefplatten, die an ihren Schmalseiten aneinanderstoßen, wobei die beiden äußeren in leicht stumpfem Winkel zur mittleren ausgerichtet sind. Rankwerk verbindet die Platten übergreifend.
Der Vollständigkeit halber ist auch auf das Altarpodest der Kasteler Klause zu verweisen. Es besteht „…aus Ziegelmosaik, schwarz und rot, einem der ersten der Firma Boch, die bald zu den führenden Häusern für diese Technik zählt.“ 26)
Damit steht fest, dass die keramischen Teile des Altares der Kasteler Klause – heute noch alle erhalten – 1842/43 in der Mettlacher Fabrik des Keramikunternehmens Villeroy & Boch modelliert und angefertigt worden sind.
Nach allen bekannten Umständen gehört der Altar zu den frühesten Arbeiten der neuen Sparte Terrakotta in Mettlach. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es die erste solche Arbeit des Unternehmens überhaupt und damit der unmittelbare Anstoß für den Einstieg von Villeroy und Boch in die Terrakotta-Produktion gewesen ist.
Ungeklärt bleiben muss nach derzeitiger Quellenlage die sicher interessante Frage, ob sich Villeroy & Boch um den – ehrenvollen – Auftrag beworben hat oder ob Landrat von Cohausen an das Unternehmen herangetreten ist. Die Beantwortung dieser Frage würde gewiss mehr Licht auf die Motivation des Mettlacher Unternehmens beim Einstieg in die Terrakotta-Erzeugung werfen.
Nicht übersehen werden können in diesem Zusammenhang die persönlichen Kontakte von Landrat Salentin von Cohausen mit Villeroy & Boch, wo sein Sohn, August von Cohausen, zu diesem Zeitpunkt in einflussreicher Stellung beschäftigt war. August von Cohausen, Offizier und Multitalent – Architekt, Historiker, Altertumsforscher, Konservator – war zudem mit dem Fabrikherrn Eugen von Boch eng befreundet.27) Wie noch aufgezeigt wird, bezog v. Cohausen Terrakotta in sein architektonisches Schaffen ein. Dies lässt erwarten, dass er beim Einstieg von Villeroy & Boch in die Sparte Terrakotta eine eher zuratende Haltung vertreten hat.
Das Wichtige am Altar der Kasteler Klause ist aber nicht nur, dass er zu den Anfängen der Terrakotta-Produktion von Villeroy & Boch führt, sondern vor die Zeit des neu entwickelten innovativen Materials der späteren berühmten Terrakotta-Produkte des Unternehmens. Nach fachlicher Beurteilung ist der Altaraufsatz nämlich aus Steingut (Feldspatsteingut) gefertigt. Die Kapitelle der den Altartisch tragenden Säulen sind im zugänglichen Bereich glasiert, höchst wahrscheinlich aber auch aus Steingut. Die Säulenschäfte sind dickwandige Röhren, schwarz durchgefärbt, aus Steinzeug-Masse, wie sie wohl auch in der Röhrenproduktion dieser Zeit von Villeroy & Boch eingesetzt worden ist. Damit ist klar, dass der Anstoß zur Terrakotta-Produktion in Mettlach nicht vom Material ausging, sondern von Gestaltungswillen – aus eigenem Antrieb oder von außen initiiert.
An dieser Stelle soll auf den derzeit schlechten Zustand des Altar-Aufsatzes der Kasteler Klause durch Feuchtigkeitseinwirkung hingewiesen werden, den auch die vorstehenden Abbildungen erkennen lassen. Wird hier nicht bald Abhilfe geschaffen, droht in absehbarer Zeit der gänzliche Verfall.
Der weitere Fortgang der Terrakotta-Produktion bei Villeroy und Boch hing dann wesentlich von der bereits kurz beschriebenen Entwicklung der verwendeten Steinzeugmassen ab. Dabei ging es bekanntlich nicht in erster Linie um Masse für Terrakotta-Erzeugnisse. Vielmehr wurde die zu anderen Einsatzzwecken entwickelte Masse auch als für Terrakotta-Artikel grundsätzlich geeignet erkannt und für diese Produkte mit neu definierten Eigenschaften optimiert. Der genaue Zeitpunkt, ab dem die neue Masse zu Terrakotta-Produkten verarbeitet worden ist, ist nicht bekannt. Es gibt aber einen deutlichen indirekten Hinweis darauf.
Wir kommen nochmals auf den in verschiedener Hinsicht aufschlussreichen Bericht von August von Cohausen zurück, nach dem man in Mettlach „…in der Mitte der vierziger Jahre (der 19. Jahrhunderts; eig. Anm.) von der Fabrication von Thonröhren weiterschritt zur Anfertigung größerer Terrakotten…“28)
Liest man diese Textpassage genau, stellt man fest, dass von Cohausen nicht schlechthin vom Übergang von der Röhren- zur Terrakotta-Produktion spricht, sondern davon, dass man nach dem Auslaufen der Röhrenproduktion mit der Anfertigung größerer Terrakotten begann. Das bedeutet zunächst, dass kleinere Terrakotten auch schon vor diesem Zeitpunkt in Mettlach hergestellt worden sind. Das führt aber auch zu der Frage, wieso nun auch größere Teile produziert wurden. Die Antwort kann nur lauten: Der Einsatz der neuen Steinzeugmasse machte die größeren Dimensionen möglich. Damit lässt sich der Übergang auf Steinzeug-Terrakotta in die Mitte der 1840er Jahre datieren. Hier beginnt dann auch die Erfolgsgeschichte der „Terrakotta“ aus dem Hause Villeroy & Boch.
Neben dem hervorragenden neuen Material war es der ständig wachsende Markt für die daraus hergestellten Produkte, der diese Erfolgsgeschichte möglich machte. Denn ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Interesse an Bauterrakotta und anderen Terrakotta-Erzeugnissen verstärkt weiter und erreichte im letzten Viertel des Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Für Bau-Terrakotta wurde dieser Schub durch die Errichtung des Berliner Rathauses 1859, an dem reichlich Terrakotta-Elemente verwendet worden sind, ausgelöst. In der Folge wurden für staatliche und private Bauten vermehrt Gesimse, Friese, Reliefs, Säulen usw. aus Terrakotta eingesetzt. Diese Teile lieferte hauptsächlich March, der bis zum Beginn der 1860er Jahre auf dem Gebiet der Bauterrakotta in Deutschland dominierte.29)