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Total Data – Total Control

Null-Toleranz in allen Lebensbereichen

Herausgegeben von
Konrad Hummler und Fabian Schönenberger

NZZ Libro

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2017 (ISBN 978-3-03810-237-3)

Lektorat: Max Kellermüller, Nanaimo, Kanada

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ISBN E-Book 978-3-03810-307-3

www.nzz-libro.ch

Inhaltsverzeichnis

Konrad Hummler, Fabian Schönenberger
Vorwort

Martin Killias
«Immer mehr Kontrolle, immer weniger Freiheit» – eine geschichtsblinde Sichtweise

Konrad Hummler
Total Data – oder die auffindbare Nadel im Heuhaufen

Fabian Schönenberger
Null-Toleranz und kreative Zerstörung – warum es den modernen Unternehmer gerade jetzt braucht

Bruno S. Frey
Kontrolle, Wohlstand und Glück

Frank Urbaniok
Wo Null-Toleranz imperativ ist

Allan Guggenbühl
Null-Toleranz oder das Ende der Erziehung

Roberto Simanowski
Kalter Bürgerkrieg und Data Love – Privatsphäre zwischen Datenschutz und gesellschaftlichem Erkenntnisinteresse

Ernst Hafen und Mathis Brauchbar
Data to the people – Befreiung aus der digitalen Leibeigenschaft

Matthias Haller und Matthias Holenstein
Big Data und Versicherung

Konrad Hummler
Fehlerfreier Algorithmus

Hannes Grassegger
Schwarzes Kapital

Martin Meyer
Privacy? Ade! – Unterwegs zur Selbstpreisgabe

Autorenverzeichnis

Progress Foundation

Vorwort

Konrad Hummler, Fabian Schönenberger

Bis anhin erübrigte sich eine Debatte über «Null-Toleranz» eigentlich. Denn Null-Toleranz, als Form des Zusammenlebens in der Gesellschaft praktiziert, war schlicht zu aufwendig. Die dafür notwendigen Kontrollmassnahmen konnten nicht einmal in den totalitärsten Staaten so engmaschig angelegt werden, dass die erwünschte Wirkung lückenlos eingetreten wäre, zumal sich ohnehin auch noch das Problem der Kontrolle über die Kontrollorgane ergab. Typischerweise wurden im totalitären Staat als Folge der hohen Kosten einer möglichst lückenlosen Kontrolle die Kosten für die Verletzung der Null-Toleranz erhöht. Drastische Strafen für Bagatellübertretungen waren Ausdruck des gestörten Kosten-Nutzen-Verhältnisses im totalitären Staat; der Schrecken musste mit seiner Vorwirkung beim Bürger die Mangelhaftigkeit der realen Kontrollmechanismen antizipativ substituieren. Die Idee der Null-Toleranz beziehungsweise der Versuch ihrer Umsetzung und brutale Staatsgewalt waren deshalb immer miteinander verknüpft. Die Ablehnung der Idee von Null-Toleranz entsprach deshalb dem Common Sense zivilisierter Kreise. Ob eher links, bürgerlich-liberal oder auch politisch rechts verortet, spielte dabei keine Rolle.

Neue Technologien senken nun allerdings die Kosten der Kontrolle erheblich. Kein Bahngeleise, keine Tramstation, kein Eisenbahnwagen, keine Strassenkreuzung und keine Raststätte ohne Überwachungskamera. Keine Bank ohne Erkennungssoftware für geldwäschereiverdächtige Transaktionen. Kein PC, kein Tablet Computer, kein Smartphone ohne Staatstrojaner. Die moderne Gesellschaft kann sich, ohne zu drastischen Strafmassen greifen zu müssen, sanft-totalitär im Sinne der Null-Toleranz organisieren, weil die Kontrollkosten gegen Null tendieren. Wir Menschen gehen in dieser Situation sogar so weit, dass wir uns selbst, sanft-totalitär, kontrollieren lassen. Wir benutzen Schrittzähler, Ortungsdienste, Kalorienrechner, Schlafüberwachungssoftware und aufs Handy aufsteckbare Alkoholpromillemessgeräte zur sanft-totalitären Selbstkontrolle. Ob durch das staatliche Umfeld angewandt, ob durch eigene Hand an uns selbst appliziert: Je billiger die Kontrolle, desto mehr wird sie angewandt. Das könnte das Ende der Freiheit bedeuten.

Wie erklärt sich die Kontrollaffinität von Mensch und Gesellschaft? Ist sie anthropologisch begründet? Haben die Erfahrungen während der menschlichen Evolution die Gefahr des Kontrollverlusts – und mithin der Risikonahme – zu einem negativen Auswahlkriterium für unsere Spezies werden lassen? Mag sein. Andererseits wissen wir, dass just die Freude an der Risikonahme – und somit am gezielten Kontrollverlust – die wesentlichste Triebfeder für die Entwicklung der Menschheit war. Und wir wissen auch, dass zusätzliche Kontrollmöglichkeiten nicht weniger, sondern mehr Risikonahme nach sich zogen. Mit dem Auto begann der Mensch erst waghalsige Überholmanöver zu vollführen, nachdem das Kontrollinstrument des Rückspiegels erfunden war. Optionsgeschäfte begannen an den Finanzmärkten erst dann Furore zu machen, als dank Black und Scholes einfache Berechnungsmethoden zur Annäherung an eine korrekte Preisbildung gefunden worden waren. Kontrolle und Risiko stehen einander mit anderen Worten in einem zwiespältigen, ja widersprüchlichen Verhältnis gegenüber. Das Mehr an (immer kostengünstigerer) Kontrolle könnte am Ende auch zu einer Überhandnahme letztlich nicht mehr kontrollierbarer Risikonahme führen – weil man alles als kontrollierbar wähnt.

Vor dem Hintergrund der geschilderten Widersprüche wurde der vorliegende Sammelband von Essays konzipiert. Am Anfang stand ein Workshop zum Thema «Null-Toleranz» der Progress Foundation auf Schloss Freudenfels ob Stein am Rhein. Die meisten Autoren hatten an den sehr lebhaften Debatten zum Thema teilgenommen. In Gefolge der Veranstaltung erschien es als sinnvoll, ihre Positionen und zusätzlichen Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Das Ziel des Bandes besteht gewiss nicht darin, absolute Wahrheiten zu vermitteln. Deshalb lassen wir als Herausgeber vorsätzlich auch widersprüchliche Sichtweisen aufeinanderprallen. Unsere gemeinsame Motivation manifestiert sich in der Absicht, Gedankenanstösse zu vermitteln, die eine notwendige gesellschaftspolitische Debatte anzustossen und zu nähren vermögen.

So bleibt uns nun nur noch zu danken: Allen Autoren, die sich in ihren gewiss nicht unterbefrachteten Agenden doch noch die notwendige Luft verschaffen konnten, um ihre Gedanken in eine schriftliche und damit für weitere Kreise nachvollziehbare Form zu bringen. Sodann unseren studentischen Mitarbeitern Roman Dobriakov und David Wiprächtiger, die mit viel Elan und Ausdauer zum Gelingen dieses Buches in materieller und zeitlicher Hinsicht beigetragen haben. Ein herzliches Dankeschön geht auch an Richard Hall für seine professionellen und überaus lesenswerten Übersetzungen der Abstracts. Schliesslich sei auch der Progress Foundation ein verbindlicher Dank für die Fortsetzung der langen Reihe von Themenbänden zu Zeitfragen ausgesprochen. Der intellektuelle Diskurs entsteht nicht von selbst, zu seiner Fortführung braucht es auch Geld, Geist und vorausschauende Menschen.

«Immer mehr Kontrolle, immer weniger Freiheit» – eine geschichtsblinde Sichtweise

Martin Killias

Die Klage, dass unsere Freiheit beim Navigieren im digitalen Alltag zusehends durch Kontrollen und Sicherheitsinstallationen eingeschränkt werde, ist weit verbreitet. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und angesichts des massiv erweiterten Angebots an freien Gestaltungsmöglichkeiten im heutigen Alltag erscheint diese Beschwerde jedoch geradezu als absurd. Vergegenwärtigt man sich, wie Menschen früher ihren Alltag erlebten, so kann man sich über die empfundene Beschränkung unserer «Freiheit» nur wundern. Zu früheren Zeiten waren die Menschen massiv eingeschränkt durch wenig entwickelte Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten und damit nicht nur ökonomisch, sondern durch die gesellschaftlich antifreiheitlichen Konventionen auch in Ihrem Privat- und Sexualleben eingeschränkt. Dies zeigt auf, wie viel an realen Möglichkeiten der autonomen Lebens- und Alltagsgestaltung wir gewonnen haben. Es war die technische Innovation der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die uns unendlich viele kleine und grosse Freiheiten beschert hat, auf die wir unter keinen Umständen wieder verzichten möchten. Die Freiheit, alles Mögliche tun oder lassen zu können, konnte nicht trotz, sondern gerade wegen der technologischen Revolutionen errungen werden. Andererseits bringen diese neuen Möglichkeiten auch Bedrohungen für unsere Sicherheit mit sich, ohne die es keine Freiheit gibt. Die ideale Lösung liegt daher nicht in einer Gesellschaft der – auch kriminell – unbegrenzten Möglichkeiten, sondern in einem Ausgleich zwischen sinnvollen, legitimen Kontrollen zur Reduktion krimineller Risiken und einer exzessiven, intrusiven Kontrollgesellschaft à la «Big Brother». Gefragt sind sinnvolle Lösungen, mit denen die Kontrolleure anhand eines umfassenden persönlichen Datenschutzes kontrolliert werden können, der die Überwachung, Speicherung und Verarbeitung von Daten einschränkt, damit so ein nachhaltig freiheitliches System funktionieren kann.

Following a widely shared view, electronic means of supervision and control of access are increasingly restricting personal liberties. The author criticizes this idea as fundamentally a-historic, because it ignores the countless restrictions of liberties that past generations experienced in their everyday life. Before 1800, less than half of those who attained the age of 20 ever had a legitimate marriage partner, and sex life was extremely restricted for the vast majority of lower-class individuals. The attraction of foreign military (mercenary) service should be viewed also in light of such restrictions of freedom in everyday life. With the onset of early industrialization and the development of modern mass transportation and communication, many restrictions to personal mobility disappeared and life chances increased dramatically. With easy ways to move and communicate with others without interference and control by superiors and bystanders, opportunities to offend increased in parallel – and so did crime rates throughout the Western World, especially after 1945. Security technology at all levels restricts again some liberties, but with the aim to protect others from illegitimate attacks on their quality of life. Decreasing crime rates, as observed over the last decade in most Western societies, can largely be attributed to increased levels of security. Overall and despite claims to the contrary, new technologies have opened unprecedented freedoms of movement and communication with others. The real issue only can be to keep controllers and controls under control, especially by data protection rules that restrict monitoring, stocking and making use of information gathered through technical devices of everyday transactions.

Die Klage, unsere Freiheit werde immer mehr beschnitten, ist bereits so etwas wie ein Evergreen des politischen Diskurses. Tatsächlich sieht man immer mehr technische Sicherheitsvorkehrungen, Überwachungskameras, Zutrittskontrollen mit elektronischen Geräten und anderes mehr, was leicht die Illusion entstehen lässt, wir hätten immer weniger «Freiheit». Dabei wird mit «Freiheit» unausgesprochen gemeint, das tun oder unterlassen zu können, wonach einem gerade der Sinn steht. Ob Freiheit noch tiefere Bedeutungen hat oder haben müsste, wollen wir hier bewusst ausklammern.

Wie steht es nun mit dieser Freiheit, jederzeit, überall, in allen Lebenslagen tun und lassen zu können, wozu immer man gerade Lust hätte? Vergegenwärtigt man sich, wie Menschen früher ihren Alltag erlebten, kann man sich über die Vorstellung, unsere «Freiheit» werde immer mehr beschränkt, nur wundern. Für landwirtschaftliche Hilfskräfte, sprich Knechte und Mägde, begann der Tag jeweils frühmorgens, jedenfalls vor 6 Uhr morgens. Dann galt es das Vieh zu versorgen, und gegen 8 Uhr folgte das Frühstück. Nachher folgte die Tagesarbeit – im Sommer auf den Feldern, im Winter im Wald – bis in den frühen Nachmittag, nach einem Mittagessen wiederum die Tagesarbeit, am Ende das Versorgen des Viehs und schliesslich ein Nachtessen und die Bettruhe. Während dieses Tagesablaufs waren die Menschen fast immer unter Kontrolle, sei es, weil viele Arbeiten die Mitwirkung anderer erforderten, sei es, weil die Aufgabe an sich – etwa das Viehhüten – ihr Tun und Lassen indirekt kontrollierte. Was das bedeutete, kann man sich am ehesten veranschaulichen, wenn man sich Erfahrungen im Militärdienst in Erinnerung ruft, wo bekanntlich jedes «Abhauen» – und sei es auch nur in die nächstgelegene Bar – als unerlaubte Entfernung von der Truppe empfindlich bestraft wurde.

Ausser am Sonntag, wo der obligatorische Kirchenbesuch einen grossen Teil der Zeit beanspruchte, gab es in diesem monotonen und stark durchkontrollierten Alltag kaum Freiräume. Richtig «ausflippen» konnte man nur an Kirchweihen und anderen Volksfesten, die alle paar Monate etwas Licht in diesen Alltag brachten. Bei solchen Anlässen, zu welchen jeweils junge Leute aus einem grösseren Umkreis zusammenströmten, gab es nicht nur Alkoholexzesse und Schlägereien, sondern auch Tanz und Gelegenheiten zu Kontakten mit dem anderen Geschlecht – manchmal mit Folgen. Solche Gelegenheiten zur Unterhaltung, deren schlechten Einfluss auf die guten Sitten die Pfarrherren und andere Sittenwächter beklagten, zogen oft auch unehelich geborene Kinder nach sich.

In diesem Zusammenhang muss man sich vergegenwärtigen, was für ein überaus armseliges Sexualleben die Menschen früher führten. Bis die Bundesverfassung ab 1848 die Ehefreiheit garantierte, war die Eheschliessung nur Paaren gestattet, die über ein Mindestmass an Besitz verfügten. Allen anderen war eine legitime sexuelle Betätigung grundsätzlich verwehrt. Von den Menschen, die überhaupt das Erwachsenenalter erlebten, blieb die Hälfte bis in die Zeit der Frühindustrialisierung – als eine bescheidene Wohlstandssteigerung einsetzte – ehelos. Prostitution gab es nur in den grösseren Städten, wo sie nur im engen Rahmen von Bordellen geduldet wurde. Die meisten Menschen aber hatten gar keine Möglichkeit, jemals in eine grosse Stadt zu gelangen. Auf der Landschaft gab es zwar immer wieder «Huren», aber diese wurden meistens massiv unterdrückt und unter allen möglichen Vorwänden verbannt oder zuweilen auch hingerichtet.

In dieser Gesellschaft lebten junge Männer ihre Sexualität nicht selten mit Tieren aus. Dazu bot das Viehhüten auch relativ viele Möglichkeiten in einer Zeit, als es noch keine Metalldrähte zur Einzäunung gab und das Vieh deshalb auf abgelegenen Weiden beaufsichtigt werden musste. Dass diese Form von Sexualität auch relativ häufig vorgekommen sein muss, bezeugen die vielen Prozesse wegen «Sodomie» unter dem Ancien Régime. Nicht auf der Verfolgung von Hexen, sondern auf der Bestrafung von Homosexualität und «Unzucht mit Tieren» lag die Priorität des Strafrechts in vergangenen Zeiten – was viele, vor allem junge Männer und oft auch Knaben auf den Scheiterhaufen brachte. Heute ist sexueller Umgang mit Tieren vor allem noch in Kulturen verbreitet, in denen das Konzept der «Freundin» nicht existieren darf und wo kaum legitime Möglichkeiten zum Ausleben der Sexualität bestehen. Dass «Sodomie» unter dem Strafrecht des 17. und 18. Jahrhunderts so viele junge Leute das Leben kostete, vermittelt eine vage Vorstellung davon, wie elend und armselig das Sexualleben damals für breiteste Kreise gewesen sein muss. Und dass viele junge Männer sich für fremde Dienste anwerben liessen, muss wohl auch vor dem Hintergrund des ebenso trostlosen wie perspektivlosen Alltagslebens der ländlichen Unterschicht betrachtet werden: In den fremden Städten mit ihren Bordellen, gelegentlich auch bei kriegerischer Heimsuchung in feindlichen Gebieten, ergaben sich Möglichkeiten zum Ausleben der Sexualität. Man muss die Attraktivität des Dienstes in Schweizerregimenten fremder Fürsten wohl auch vor diesem Hintergrund sehen.

Die im 19. Jahrhundert entstandenen Verkehrsmittel erhöhten die Mobilität der Menschen in einem bis dahin nie dagewesenen Ausmass – und erweiterten damit indirekt ihre «Freiheit». So richtig unkontrolliert «abhauen» konnte man zwar noch immer nicht, weil die Züge zu teuer und zu langsam waren, um «mal schnell» irgendwohin zu kommen. Auch das Pendeln war damals noch kaum verbreitet; davon zeugen die vielen Industriebauten aus dem 19. Jahrhundert in abgelegenen ländlichen Gegenden, wo Wasserkraft und Arbeitskräfte in grosser Zahl verfügbar waren. Mit dem Aufkommen des täglichen Pendelns zum Arbeitsplatz, sei es nun mit öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln, der Möglichkeit, jederzeit jede bekannte Person drahtlos zu erreichen, und schliesslich auch mit Unbekannten unbemerkt von Dritten über das Internet zu kommunizieren, haben sich ungeahnte Möglichkeiten ergeben – zur Kontaktaufnahme und zum Schmieden aller möglichen Pläne und deren zeitnahe Umsetzung. Mit dem allmählichen Verschwinden der Stempeluhr am Arbeitsplatz erhöht sich ausserdem die Zeitautonomie vieler Menschen – man kann heute fast jederzeit überall sein, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Auch wenn die meisten Menschen das nicht unbedingt suchen, sind heute auch sexuell motivierte Kontakte fast permanent möglich, ohne dass neugierige Nachbarn oder andere Beobachter stören würden.

So gibt es eigentlich nichts zu klagen über neugewonnene Chancen. Im Gegenteil, die Beschäftigung mit den massiv eingeschränkten Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten früherer Generationen zeigt, wie viele reale Möglichkeiten wir in der autonomen Lebens- und Alltagsgestaltung gewonnen haben. Das Zweischneidige an der Entwicklung ist, dass wir damit nicht nur in den Besitz erweiterter legitimer Formen von Freiheit gekommen sind, sondern dass sich gleichzeitig die Gelegenheiten zu Straftaten auf Kosten Dritter vermehrt haben. Die starke Zunahme von Straftaten ab 1950 – zunächst von Eigentumsdelikten, dann von Strassenraub und sexuellen Übergriffen auf Frauen – die eine lange Phase rückläufiger Kriminalitätsraten beendete, ist vor dem Hintergrund vermehrter Gelegenheiten – mit mehr ausgestellten Konsumgütern, mehr Menschen im Ausgang und mehr Frauen im öffentlichen Raum – zu sehen. Die besonders ab den 1990er-Jahren einsetzende massive Zunahme von Gewalt – nicht etwa zu Hause, sondern auf der Strasse – war weitgehend die Folge eines massiv ausgeweiteten Nachtlebens mit öffentlichen Verkehrsverbindungen rund um die Uhr, das vor allem an Freitag- und Samstagabenden eine regelrechte «Völkerwanderung» aus ländlichen Gebieten und den Vororten in die grösseren Städte auslöste. Überlagert wurden diese Trends durch Veränderungen im Konsum legaler und illegaler Substanzen, deren Erhältlichkeit sich gegenüber früher ebenfalls massiv erhöhte – viele davon, wie Opiate, Cannabis und Kokain, waren vor 1970 in der Schweiz und anderswo in Westeuropa kaum erhältlich.

Diese hinzugewonnenen Freiheiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Straftaten deutlich. Eine Folge davon ist, dass man sich vor allen möglichen Gefahren schützen muss – an einem Vorortsbahnhof im Grossraum Zürich sah ich vor wenigen Tagen eine «permanent überwachte Velo-Einstellhalle». Gab es, brauchte es das denn früher? Dass man das Fahrrad nicht mehr vor einem Laden oder einer Kneipe kurz abstellen kann, ohne ein Schloss anzubringen oder es an einem geschützten Ort unterzubringen, ist eine Beeinträchtigung der Lebensqualität: nämlich der Freiheit, Vorsichtsmassnahmen unterlassen und etwas einfach stehen lassen zu können. Freiheit bedeutet schliesslich auch, nicht tun zu müssen, was man lieber unterlassen würde. Ähnliches gilt für die elektronischen Verbindungen, mit Passwörtern auf jedem Gerät, an Zugangstüren und vielen anderen Einrichtungen. Insofern sind wir durchaus daran, die neu geschaffenen Freiräume indirekt wieder einzuschränken, indem wir sie kontrollierbar machen. Doch kann man im Ernst fordern, etwa auf PIN-Codes bei Bankomaten zu verzichten oder den Zugang zu unserem Mail-Account jedermann zu ermöglichen? Das würde uns sehr verletzlich machen. Die Sicherheitstechnologie hat also letztlich durchaus eine positive Wirkung, nämlich die, dass wir sicherer leben und ruhiger schlafen können. Ist das nicht auch ein Aspekt von «Freiheit»: nicht jederzeit über unseren Besitz und unsere Privatsphäre aktiv wachen zu müssen? Wäre der Zwang, ständig selbst für unsere Sicherheit sorgen zu müssen, nicht eine massive Beeinträchtigung unserer Zeitautonomie – weil wir dann Aufmerksamkeitsressourcen für Dinge aufwenden müssten, die uns eigentlich nicht interessieren und die wir als selbstverständlich gerne voraussetzen würden? In diesem Zusammenhang sei auch die Frage erlaubt, ob die ungehemmte Freiheit, auch bedingt durch wegfallende soziale Kontrolle, nicht eine Überforderung unserer Gesellschaft darstellt.

Die Sicherheitstechnologie hat sich im Lauf der letzten zwanzig Jahre stark entwickelt und ausgebreitet. Es ist empirisch erwiesen, dass sich für die immer wieder geschmähten Sicherheitsvorkehrungen gegen Einbruch in Wohnräume vor allem alleinstehende Personen oder kinderlose Paare interessieren, deren Wohnungen häufig über längere Zeit hinweg leerstehen. Sicherheitseinrichtungen wie Alarmanlagen verringern das Risiko von Einbrüchen, vor allem von erfolgreichen, deutlich. Auch die zu Unrecht als unwirksam bezeichneten Videokameras an stark frequentierten Orten erweisen sich als sehr wirksam, wenn man nicht – wie üblich – nur polizeilich registrierte Vorfälle (die wegen der Kameras sichtbarer werden), sondern auch notärztliche Interventionen berücksichtigt. Die beispiellosen, oft als schikanös empfundenen Personen- und Handgepäckkontrollen an Flughäfen bewirkten, dass es nie mehr ein 9/11 gegeben hat. Der deutliche Kriminalitätsrückgang der letzten Jahre in so gut wie allen westlichen Ländern kann wohl als Folge davon gedeutet werden, dass unsere Gesellschaften im Alltag sehr viel sicherer geworden sind. Das Individuum kann sich daher auch wieder freier im öffentlichen Raum bewegen – ohne dauernd auf sich oder seine Siebensachen aufpassen zu müssen.

Deshalb nochmals die Frage: Stimmt es, dass die steigenden Kontrollen und Sicherheitsinstallationen unsere Freiheit beeinträchtigen? Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und der massiven Ausweitung freier Gestaltungsmöglichkeiten im Alltag erscheint die These geradezu absurd. Es war die technische Innovation der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die uns unendlich viele kleine und grosse Freiheiten beschert hat, auf die wir unter keinen Umständen mehr verzichten möchten. Umgekehrt bringen diese neuen Möglichkeiten auch wieder Bedrohungen für unsere Sicherheit mit sich, ohne die es keine Freiheit gibt. Die ideale Lösung ist daher sicher nicht eine Gesellschaft der unbegrenzten – auch kriminellen – Möglichkeiten, sondern ein Ausgleich zwischen sinnvollen, legitimen Kontrollen zur Reduktion krimineller Risiken und einer exzessiven, intrusiven Kontrollgesellschaft à la «Big Brother». Dies führt letztlich zur Frage zurück, wie die Kontrolleure kontrolliert, das heisst ihre Kompetenzen und ihre Möglichkeiten begrenzt, werden können. Wer den gesellschaftlichen Diskurs über Datenschutz – auch etwa im Zusammenhang mit Überwachungskameras – verfolgt, kann unschwer feststellen, dass genau hier die Suche nach einer konstruktiven Lösung eingesetzt hat. Die zeitliche Begrenzung etwa der Speicherung von Bildern, aber auch die Definition der Zugangsberechtigten sind wirksame Mittel, um Missbräuche zu unterbinden. Ganz abgesehen davon ist zu erwähnen, dass die schlimmsten Verletzungen der Privatsphäre nicht durch staatliche oder halbstaatliche Sicherheitsorgane, sondern – oft vom Opfer selbstverschuldet – von privaten Nutzern von Internetplattformen begangen werden.

Wir sollten also im Auge behalten, dass die Freiheit, alles Mögliche tun oder lassen zu können, nicht trotz, sondern gerade wegen der technologischen Revolutionen errungen werden konnte. Nicht geklärt ist, was «Freiheit» in einem tieferen Sinne auch noch bedeuten könnte. Aber das wäre ein anderer Diskurs, der mit Technik und Kontrolle nur mehr entfernt zu tun hat und den zu führen andere berufener sind als der philosophisch wenig geschulte Autor dieser Zeilen.

Total Data – oder die auffindbare Nadel im Heuhaufen

Konrad Hummler

Das Sammeln von Daten hat eine Tradition, die auf die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurückgeht. So wurden bereits in biblischen Zeiten Volkszählungen durchgeführt und akribische Steuerlisten in Form von schweren Steintafeln geführt. Der einzige Unterschied zur heutigen Art des Vorgehens besteht in der Effizienz der Datenerfassung und -auswertung, die nun praktisch zum Nulltarif möglich sind. Die Hürden für eine effiziente Segmentierung und Profilierung wurden nicht nur auf der Distanz-, sondern auch auf der Zeitebene reduziert. So sind viele Analysen heutzutage bereits in Echtzeit möglich. Dies schafft einen enormen Mehrwert, da uns das Smartphone beispielsweise daran erinnert, wann wir losfahren müssen, um pünktlich zu einem Termin zu erscheinen, oder weil eine Flugbuchung statt in einer Stunde mittlerweile binnen Minuten möglich ist. Diese Leistungen erhalten wir gratis, während unklar bleibt, was die Unternehmen als Gegenleistung für diesen Komfort erhalten. Die Macht, die mit der Datenherrschaft einhergeht, ermöglicht Unternehmen und mitunter auch Institutionen, das Verhalten von Individuen vorherzusagen, und potenziert die Macht des Staats über den Bürger. In der vorliegenden Darstellung von Big Data wird versucht, einerseits die Abgründe der Potenzierung der informationstechnologischen Möglichkeiten durch die Kombination mit privater, vor allem aber staatlicher Macht aufzuzeigen. Andererseits wird aber auch auf das segensreiche Potenzial im Bereich ungelöster gesellschaftlicher Probleme infolge weit kostengünstigerer Definitionen von Eigentumsrechten hingewiesen. Es stellt sich heraus, dass durch die zielgerechte Nutzung von Daten ein enormes Potenzial an weltweiter Entwicklung und an Fortschritt freigesetzt werden kann, dass sie jedoch auch Risiken in sich birgt. Im existenziellen Bereich bleiben Zweifel am Sinn des «gläsernen Bürgers» oder des «perfekten Gedächtnisses» der Datenwelt.

There is a tradition of data gathering that goes back to the earliest annals of human history; a census was carried out in Biblical times and tax records were scrupulously logged in the form of weighty stone tablets. Over time, the only thing that has really changed is the efficiency of such data capture and evaluation. Nowadays, these processes can be run at practically zero cost, obstacles to efficient segmentation and profiling have been reduced both temporally and geographically, and a good deal of analysis is now possible in real time. Data processing of this kind creates enormous added value – our smartphones can remind us what time we need to leave to get to an appointment on time, for example, and booking a flight is now a matter of minutes, not hours. We receive all these services free, gratis and for nothing, but what companies get in return for enhancing our comfort remains opaque; the power inherent in such mastery of data makes it possible for firms – and, on occasion, institutions – to predict the behaviour of individuals, and thus increases the ascendancy of the state over its citizens. This exploration of Big Data examines the sweeping expansion of the power of information technology through the combination of private and – in particular – state might while also outlining its potential benefits for as yet unsolved problems thanks to the significantly more cost-effective definition of property rights. It becomes clear that, while judicious use of such data may yet harbour enormous potential for global development and progress, it is not without its risks: some existential doubts persist, most notably with respect to the surveillance/freedom trade-off («goldfish bowl citizen», «perfect memory»).

Big Data in Bethlehem

Man liest üblicherweise etwas oberflächlich darüber hinweg, weil für die abendländische Christenheit die Hirten auf dem Felde und das Geschehen im Stall zu Bethlehem verständlicherweise im Vordergrund stehen und die zeitgeschichtlichen Umstände etwas weniger wichtig erscheinen. Dennoch ist das, was uns im zweiten Kapitel des Lukasevangeliums über die Zustände im römischen Reich berichtet wird, von seltsamer Aktualität. Weshalb in aller Welt musste das junge Pärchen Josef und Maria von Nazareth hinauf nach Bethlehem ziehen? Um an einer Art Volkszählung, einer «Schätzung», teilzunehmen, lautete bis vor einigen Jahren die Antwort. Neuere Übersetzungen sind präziser: «… um sich in Steuerlisten eintragen zu lassen.» Dafür hatte man sich offenbar an seinen Heimatort zu begeben, und der war für Josef die Königsstadt Bethlehem, so die Überlieferung.

Steuerlisten. 2013, in einer Zeit, in der mit dem «Foreign Account Tax Compliance Act» (FATCA) und dem automatischen Informationsaustausch (AIA) zwischen Staaten in Steuerangelegenheiten gerungen wurde, musste die Botschaft aus dem Neuen Testament beruhigend wirken: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Alles schon einmal dagewesen. Rom hatte soeben eine Phase entscheidender Expansion hinter sich gebracht, hatte Truppen von teuren Legionären beziehungsweise von noch teureren Anführern rund ums Mittelmeer und bis weit nach Mitteleuropa hinein stationiert, leistete sich im Zentrum ein feudales Leben mit immer weniger eigener Produktivität und musste darüber hinaus noch dafür sorgen, die kollaborierenden Eliten in den eroberten Gebieten mit allerlei Privilegien zufriedenzustellen. Augustus war vermutlich so pleite, wie es verschiedene westliche Industrienationen heute ebenfalls sind. Der Ausweg: der direkte Zugriff des Imperiums auf die Steuerpflichtigen beziehungsweise auf solche, die es werden sollten. Der Betrieb von Imperien will finanziert sein.

Ein Unterschied liegt allerdings darin, dass die Steuerlisten mutmasslich in Form von schweren Steintafeln geführt werden mussten, während heute modernste Informationstechnologie dafür sorgt, dass eine sozusagen globale Steuererhebung und -durchsetzung möglich ist – vorausgesetzt, die Daten werden lückenlos erfasst. Immerhin, zur Erfassung braucht heute niemand mehr zu dislozieren; sie erfolgt sozusagen ubiquitär, sogar ausserhalb der eigentlichen Grenzen der Imperien. Dies nicht zuletzt dank kollaborierender Eliten, die es auch heute noch gibt und deren Hauptbeschäftigung, wie zur Zeit von Christi Geburt, in erster Linie darin besteht, die eigenen Landsleute sogenannt übergeordneten Interessen zu opfern.

Jedoch ist nicht das spezifische Phänomen der Steuererhebung interessant, sondern vielmehr die Frage, welche Konsequenzen die technischen Neuerungen im Nachgang zu den Steintafeln für das Verhältnis der Individuen untereinander und zu einem übergeordneten Kollektiv nach sich ziehen. Big Data und Macht, mithin die bedrohlichen Seiten der Innovation in der Informationstechnologie, sind allerdings nicht die einzigen Stichworte. Vielmehr geht es auch darum, die nicht zu leugnenden gesellschaftspolitischen Risiken den ebenfalls vorhandenen, nicht geringeren Chancen gegenüberzustellen – und somit den Versuch zu unternehmen, eine ungeheuer dynamische Entwicklung in vertretbarer Weise gedanklich einzuordnen.

Was ist neu an Big Data?

Steintafeln als Datenträger waren in erster Linie: schwer. Zudem waren sie beschränkt in ihrer Aufnahmekapazität. Das Anbringen von Information mit Hammer und Meissel war mühselig. Diese Verarbeitung der Inhalte, vorab zur Nutzbarmachung zwecks Steuereintreibung, musste dezentral und vermutlich mit immensem administrativem Aufwand erfolgen. Der Statthalter Quirinius und seine Entourage hatten alle Hände voll zu tun im damaligen Damaskus. Daran änderte sich im Laufe der Geschichte dank der Einführung von Papier, Buchdruck, Karteisystemen, Kopierer, Fax sowie Computern der ersten und nachfolgenden Generationen zwar einiges, aber nichts Grundsätzliches. Immer hatte man es, bis vor ganz kurzer Zeit, mit «Data» zu tun, deren Erfassung, Verarbeitung und Speicherung hohe Kosten zur Folge hatten oder schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stiessen.

Die moderne Informationstechnologie kennt in vielerlei Hinsicht solch hohe Kosten und Grenzen nicht mehr. Das beginnt dort, wo Informationen entstehen, das heisst, wo ein Wissenszustand in einen neuen verwandelt wird. Zum Beispiel, wenn wir uns durch eine Personenschleuse eines Flughafens begeben. Name, Bild, gegebenenfalls unser Nacktscan, die Daten unseres Mobiltelefons samt allen Kontakten und Nachrichten, die Inhalte unseres Laptops, der Füllstand der Zahnpastatube, die Marke des Deodorants – alles kann erfasst werden. Wenn wir eine E-Mail schreiben, können Stichwörter, aber auch ganze Inhalte erfasst werden. Wenn wir uns in den Social Media bewegen, dann ist bald einmal ein Teil unserer Persönlichkeit erfasst und damit sichtbar. Mit dem illegalen Zugriff via Daten-CDs oder, bald einmal legal, über den automatischen Informationsaustausch auf Bankkonten geschieht Ähnliches mit dem finanziellen Profil unserer Persönlichkeit. Alle unsere physischen oder auch virtuellen Tätigkeiten hinterlassen erfassbare Spuren quasi zum Nulltarif. Spuren, Spürchen, Mini- und Mikrospürchen, als einzelner Eintrag zuallermeist völlig irrelevant.

Es bleibt aber nicht dabei. Nebst dieser Datenerfassung zum Quasi-Nulltarif gibt es neu die sozusagen grenzenlose Verarbeitung zu ebenfalls enorm tiefen Kosten. Wer auch immer auf welchen Wegen auch immer zu welchen Daten auch immer gelangt ist, kann damit anstellen, was immer er will. Er kann personifizierte Profile herstellen, er kann segmentieren, kann aggregieren. Man nenne zum Beispiel in einigen E-Mails mehrere Male die Stichwörter «Ferien», «Sandstrand» und «Palmen», und siehe da, bald einmal mehren sich die Werbebanner für Destinationen wie Mauritius, Malediven und Miami. Ob das aus übergeordneter Sicht gut oder schlecht ist, sei vorderhand einmal dahingestellt. Es soll lediglich festgehalten werden: Das und sehr viel mehr ist möglich und findet statt. Ob wir eine Suchmaschine, einen E-Mail-Anbieter oder eine Onlinezeitung benutzen, laufend werden die von uns generierten Daten erfasst und verarbeitet und für jeden denkbaren Zweck «veredelt».

Aber auch dabei bleibt es nicht. Vielmehr ist auch die Speicherung solchermassen erfasster und verarbeiteter Information zu ebenfalls tiefsten Kosten möglich. Moderne Speichermedien, ob physisch zu Hause zur Datensicherung auf dem eigenen PC oder virtuell in der «Cloud», der nirgends zu ortenden Exabyte-Wolke, können ganze Bibliotheken problemlos wegstecken und wieder hervorzaubern. Die Programme zum Wiederauffinden von Information werden immer raffinierter und komfortabler. Mittlerweile hat man es mit regelrechten Zeitmaschinen zu tun, die in der Lage sind, den Datenstand zu jedem Zeitpunkt in der Vergangenheit wieder vollumfänglich darzustellen. Mit anderen Worten: Die moderne Informationstechnologie hat nach den Hindernissen von Distanz oder Datenmenge viele Hürden der zeitlichen Dimension ebenfalls zur Seite geräumt. Es geht grundsätzlich nichts mehr vergessen, sondern es kann laufend wiederhergestellt werden. Das Gedächtnis ist, auf individueller wie auf kollektiver Ebene, unendlich geworden.

Irgendwo im Netz, mit unbekannten Zugriffsmöglichkeiten berechtigter und weniger bis gar nicht berechtigter Instanzen, liegt eine Vielzahl mehr oder weniger vollständiger Mosaiken. Diese Mosaiken bilden uns ab, beschreiben uns, liefern Anhaltspunkte über unser Verhalten, über unsere mutmassliche Denkweise und über unsere Präferenzen. Im Gegensatz zu den echten Mosaiken, wie man sie von Ravenna oder von der Hagia Sophia her kennt, sind es aber nicht leblose Standbilder, sondern Filme, dynamische Entwicklungsromane. Zugeordnet sind die Mosaiken entweder der Internetprotokoll-Adresse unserer elektronischen Geräte oder aber – dank Kreditkartenzahlungen und elektronischem Banking, in vielen Fällen dank Fotos und ab Mobiltelefonen kopierten Kontakten – durchaus auch unserem persönlichen Namen und unserer Wohnadresse. Die Mosaiken haben nicht nur eine dritte, zeitliche Dimension, sondern bilden zusätzlich gleich auch noch unser Beziehungsnetz ab. Sie lassen sich zu übergeordneten Grossmosaiken von Beziehungsclustern verknüpfen. Die heutigen Rechner haben ohne weiteres die Kapazität, daraus extrem realitätsnahe Modelle für kleinere oder grössere Teile der Gesellschaft herzustellen.

Wirklich säkulare Potenz erlangt die moderne Informationstechnologie indessen erst durch die algorithmische Rekombination der enorm problemlosen, kostengünstigen Erfassung, der ebenso billigen Verarbeitung und der Wiederherstellungsmöglichkeiten sozusagen zum Nulltarif. Das ist Big Data. Die Konsequenzen dieser Revolution im Bereich der Informationstechnologie auf Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur sind enorm. Es wäre aber allzu einseitig und auch etwas trivial, lediglich die bedrohliche Seite («Big Brother», «Orwell 1984», «Brave New World») zu nennen. Jeder technische Fortschritt ist janusköpfig.

Es ist viel die Rede davon, dass wir in der schönen neuen Welt der modernen IT-Applikationen alles Mögliche und Unmögliche «gratis und franko» erhalten. Die neueste Fluglinien-App, die Wetter-App, die ganze Geografie der Welt auf Karte und Satellitenbild, verschiedenste Messenger-Services, das neueste Betriebssystem von Apple und so weiter und so fort. Autos können bei gleichbleibenden Preisen immer mehr, ebenso die Maschinen und Anlagen der Industrie oder die Softwarepakete im Dienstleistungssektor. Milton Friedman jedoch lehrte: «There is no such thing as a free lunch.»

Zumindest implizit kann vermutet werden, worin der Preis für die Überlassung von so viel elektronisch erzeugtem Wohlbefinden liegt: In der Überlassung privater Daten an eine übergeordnete Organisation, die solche Daten sammelt. Gewiss, man kann diese Überlassung zu vermeiden versuchen. Allerdings kommt man nicht sehr weit, wenn man die sehr zahlreichen und sehr kleingedruckten Nutzungsbestimmungen von Softwarepaketen nicht akzeptieren will. Man kann selbstverständlich durch vorsichtiges Agieren auch einen Teil des Datenverkehrs abschneiden. Nur: Ohne beispielsweise die Ortungsdienste eines Smartphones aufgeschaltet zu haben, verzichtet man just auf einen wesentlichen Teil des gewährten Wohlbefindens. Also macht man wohl oder übel mit, im Wissen darum, mit privaten Bewegungsdaten und sehr viel anderem Teil der Datenbewirtschaftung geworden zu sein.

Die Überlassung von Daten ist also zur Tauschware geworden. Sehr viele Transaktionen, wo Leistung normalerweise in Geldwerten entschädigt würde, erfolgen im Barter-Verfahren «Ware gegen (künftige) Daten». In gewisser Hinsicht ersetzen also Daten das Geld, und das in immer umfangreicherem Stil. Beziehungsweise in einem Masse, das längst volkswirtschaftliche Relevanz erlangt hat. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie Notenbanken – an sich auch der gesamte Bereich der Geschäftsbanken – über diesen Teil der Wirtschaft nachdenken, der sich jenseits der Geldwirtschaft ihrem Zugriff entzieht. Welchen Wert haben unsere Daten eigentlich? Ein Umrechnungskurs für die Barter-«Währung» künftiger Daten existiert ja nicht. Wenn man an die letzten Firmentransaktionen, etwa zwischen WhatsApp und Facebook oder LinkedIn und Microsoft denkt, dann handelt es sich um Milliardenwerte – in aggregiertem Zustand allerdings. Unser privates Datenhäuflein wäre dann ein Teil dieses Milliardenwerts.

Immerhin. Nun ja, andererseits hat man doch seine Zweifel, wofür das alles gut sein soll, wenn auf riesigen Datenfriedhöfen beispielsweise festgehalten wird, zu welchem Zeitpunkt man vorletzte Woche den Zürcher Bahnhofplatz überquerte und wann man zum letzten Mal ein Bildchen seiner Enkel mit «so herzig» kommentierte. Was soll denn eigentlich all der Quatsch? Weshalb gibt es jemanden, der mir für solche Belanglosigkeiten eine für mich wertvolle Software überlassen will? Der mitlauschende Geheimdienst entschädigt den Datenaggregator ja vermutlich nicht – oder wenigstens nicht adäquat. Dabei nicht zu vernachlässigen: mittels Big-Data-Methoden lässt sich viel Aggregiert-Relevantes und in zunehmendem Masse auch viel Individuell-Relevantes – zum Beispiel allfällige Bombenbaupläne oder meine Präferenzen für Markenjeans – aus dem Datenberg herausfiltern. Dennoch graut einem vor der immer rasanter wachsenden globalen Müllhalde von individuellen Belanglosigkeiten. Die damit generierten Werbeeinnahmen rechtfertigen die Kosten für die Datensummierungswut jedenfalls noch nicht. Eine weitere Frage ist auch, welche Funktion die noch viel rasanter wachsenden Berge von Daten aus dem «Internet of Things» einmal einnehmen werden.

Offenbar arbeiten die meisten Unternehmen daran, Beherrscher von Datenbergen zu werden. Sie «verschenken» zu diesem Zweck elektronisch erzeugtes Wohlbefinden. Handelt es sich bei der Abgeltung realen Mehrwerts gegen die Überlassung von Daten nur um ein vorübergehendes Phänomen, das später wieder einmal durch geldwerte Leistungen ersetzt wird? Oder wird die Barter-Währung Daten fortan Teil unserer wirtschaftlichen Existenz bilden?

Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Klar ist jedoch, dass die Frage nach dem Wesen dieses «Etwas» enorm relevant ist, denn es werden Milliarden investiert, ja, man könnte ohne Übertreibung behaupten, dass ein wesentlicher Teil der sich in alle Belange hineinfressenden Datenbewirtschaftung dem Aufbau von Datenreservoirs und der Bewirtschaftung von Datenflüssen gilt. Letztlich geht es um Macht. Macht nämlich, dank höchst granularem Verständnis für die Abläufe in Wirtschaft und Gesellschaft die nächsten Perioden vorauszusehen und deshalb immer zur richtigen Zeit mit der richtigen Menge zum richtigen Preis zur richtigen Stelle zu sein: idealtypische Diskrimination auf der Zeitachse der Zukunft. Dann wäre quasi marktwirtschaftlich das erreicht, woran Tausende und Abertausende von Beamten im Ostblock immer arbeiteten und was sie doch nie erreichten: eine Art Planwirtschaft. Das Uber-Fahrzeug, zu Stosszeiten und bei Regen deutlich teurer als sonst, aber stets innert Minuten zur Stelle, gibt uns einen Vorgeschmack auf eine Welt, in der sich dank zu vernachlässigender Informations- und Transaktionskosten alles immer zur richtigen Zeit in der richtigen Menge einstellt.

Die Potenzierung von Macht

Dank den Geheimnissen, die der Informatiker Edward Snowden den Medien verriet, bekam man eine Ahnung davon, was für Material einer der vermutlich 16 amerikanischen Geheimdienste (laut Spiegel Online mit einem jährlichen Budget von 50 Milliarden US-Dollar) weltweit am Sammeln ist. Bedauerlicherweise, aber anscheinend auch typischerweise entflammte sich der Zorn nicht primär an der Menge der Datenerhebungen über ganz gewöhnliche Bürger, sondern am Umstand, dass das Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel abgehört worden war. Der Nationalstolz, in unserem nördlichen Nachbarland offenbar nach wie vor stärker als Regungen für Freiheit und Individualrechte, war verletzt.

Nun ist aber exakt das Mobiltelefon der Regierungschefin eines wichtigen Landes nicht geeignet, die Problematik von Big Data darzustellen. Ein Tor, wer je gemeint hätte, dass die Kommunikationsmittel wichtiger Entscheidungsträger, ob Handy, E-Mail oder auch Briefschaften, nicht Objekt der Begierde aller möglichen geheimen Dienste aller möglichen Provenienzen sind. Das war seit je so und machte auch seit je nicht Halt vor sogenannten Freundschaften zwischen den Nationen. Die Annahme der Existenz solcher besonderen Vertrauensverhältnisse zwischen Ländern ist ohnehin ziemlich naiv, denn es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass die meisten Nationen wohldotierte Geheimdienste unterhalten. Diese wollen beschäftigt sein, und die Registrierung seismischer Veränderungen in den obersten Organen anderer Länder gehört zum selbstverständlichen Auftrag solcher Dienste. Es ist davon auszugehen, dass die in der von Geheimdiensten durchsetzten DDR aufgewachsene deutsche Regierungschefin um die Gefährdung ihres Handys wusste und sich entsprechend verhielt.

Die Erstellung eines Profils von Leuten wie Frau Merkel durch Geheimdienste ist Standard; die Profilierung jedes einzelnen Bürgers dank Big Data weist jedoch auf die zusätzlichen und im Wesentlichen hoch problematischen Dimensionen hin, die sich durch die Verbindung der neuen Möglichkeiten der Informationstechnologie in der Datenerfassung, -verarbeitung, -speicherung und -rekombination mit den spezifischen Fähigkeiten und Kompetenzen des zum Staat zusammengeschlossenen Kollektivs ergeben. Macht trifft auf Macht.

Staaten können sich praktisch unbeschränkt Informationen aneignen, Staaten können enteignen, Staaten können Menschen physisch angreifen und gegebenenfalls auch vernichten. Nicht, dass es im privaten Bereich, namentlich dem kriminellen, diese Phänomene von Informationsaneignung, Entwendung von Eigentum oder auch physischen Angriffen nicht gäbe. Aber beim Staat sind solche Aktivitäten Programm, gehören zu Wesen und Auftrag. Sie finden weitgehend im Bereich der legalen und üblichen Staatstätigkeit statt. Kaum jemand käme auf den Gedanken, die Wegnahme von finanziellen Mitteln im Rahmen einer massvollen, gleichmässigen Besteuerung als illegal zu betrachten. Auch die dazu notwendigen Vorbereitungshandlungen, nämlich die Datenerhebung und -verarbeitung mittels Steuererklärung, werden selbstverständlich akzeptiert. Ebenso wenig werden das Gewaltmonopol der Polizei und die zu seiner Effektivität notwendigen Fahndungsmethoden, sprich Datenerhebungen, angezweifelt. Der Bürger ist auch durchaus bereit, dem in Not geratenen Kollektiv weitergehende Rechte zu gewähren, ja, in beschränktem Rahmen zwar, dem Staat einen gewissen Spielraum am Rande aller Legalität für geheime Aktivitäten einzuräumen. In funktionierenden Rechtsstaaten mit einigermassen unabhängiger Justiz, argwöhnischen Medien und der stets drohenden Gefahr der Machtübernahme durch die Opposition ergab sich bis anhin ein Gleichgewicht, das dem unbescholtenen Bürger ein lebenswertes Leben in genügend Freiheit ermöglichte.

Mit Big Data in der Hand des Staates ändert sich das alles grundsätzlich. Zwar fehlt für die lückenlose Erstellung von Mosaikfilmen über die Bürger noch der kleine, implantierte Identifikator, der RFID-Chip («Radio Frequency Identification»), mit dem Aufenthaltsort, Bewegungen und Handlungen von Personen eindeutig zugeordnet werden können. Aber Kameras sind inzwischen ja in genügender Zahl installiert, andere beziehungsweise weniger auffällige Überwachungsinstrumente erahnt man bereits. Es fragt sich also nur noch, wann – und nicht ob – sich der RFID-Chip durchsetzt. Was sich heute bei Haustieren, quasi im grossangelegten Tierversuch, bewährt, wird vor dem Menschen nicht Halt machen. Denn der RFID-Chip hat zu viele Vorteile, auf die bei der Behandlung der Problematik öffentlicher Güter noch zurückzukommen sein wird. Hier nur so viel: Zum Beispiel kann man damit die vielen Zutrittskontrollen weitestgehend eliminieren. Es ist voraussehbar, dass nach dem biometrischen Pass, der ja bereits einen RFID-Chip besitzt, das Implantat eine Bedingung zur Einreise in bestimmte Länder und auf bestimmte Kontinente darstellen wird. Im Zusammenhang mit der Obamacare-Vorlage heulten deren Gegner einmal kurz auf, weil sie ein RFID-Chip-Obligatorium für die Teilnahme am neuen Versicherungsprogramm in der 906-seitigen Vorlage entdeckt haben wollten. Trotz hastig erfolgtem Dementi aus dem Regierungslager: Es besteht kein Zweifel, dass die Idee des Menschen-Chips in technokratischen Kreisen, und das sind Staatsapparate nun einmal, auf grosse Zustimmung stösst und damit bald einmal Thema der Gesetzgebung werden dürfte.

Financial Monitor,