Gesa Schwartz
Band 3:
Daimon
Roman
Der Dom des Teufels erhob sich als glühende Kathedrale in die Nacht. Nando fühlte die Hitze, die von ihm ausströmte, und er nahm das Flackern hinter den Fenstern wahr, das aussah, als würden Wellen aus Blut dagegen drücken. Die Luft flirrte durch die Macht der Zauber, der Boden war von toten Körpern bedeckt, und Nando musste mit angezogenen Schwingen durch die Reihen der Kämpfenden gleiten. Wie in einem seltsamen Traum führte er sein Schwert, wich den Hieben seiner Feinde aus und kam näher, immer näher an die Festung des Teufels heran. Luzifer wartete auf ihn, er konnte es spüren. Mit jedem Dämon, den er niederstreckte, jedem Spiegelkrieger, den er überwand, wurde die reglose Stille größer, die hinter diesen Mauern lauerte.
Noemi sprang auf Ghrorkramars Rücken an seine Seite, immer wieder schlug sie den Dämonen, die von allen Seiten auf sie zuglitten, donnernde Zauber entgegen. Blut rann aus der Wunde in ihrer Schulter, die Raars Schatten ihr geschlagen hatte, und Nando konnte die Sorge hinter ihrer Entschlossenheit sehen. Avartos hatte sie gerettet, er hatte Kymbra herausgefordert und so die Macht der anderen beiden Reiter über die Spiegelkrieger für den Augenblick zerbrochen. Doch Nando fühlte Kymbras Kraft in jedem Atemzug, den er tat. Der Engel riskierte sein Leben und vielleicht mehr als das, indem er sich ihr entgegenstellte. Dieser Gedanke trieb Nando noch kühner voran. Bald schon würde diese Schlacht vorbei sein – er würde sie beenden!
Das Lachen, das seine Gedanken durchdrang, war voller Spott. Er nahm noch den Schatten des Doms wahr, der über sein Gesicht glitt. Dann traf ihn ein mächtiger Wirbelschlag vor die Brust. Die Luft wurde aus seiner Lunge gepresst, hart kam er am Boden auf. Blut lief über seine Schläfe, die Flammen des Zaubers fraßen sich in sein Fleisch, während er vergeblich versuchte, auf die Beine zu kommen, und er hörte das Zischen der Falle, in die er geraten war, blind und taub, als wäre er ein törichtes Kind. Schemenhaft nahm er Noemi und Ghrorkramar wahr, die sich neben ihm aufrichteten, und spürte ihren Schrecken, noch ehe er selbst den Blick wandte. Lautlos landeten mehrere Dutzend Krieger der Ersten Legion kaum eine Armlänge von Noemis Schutzwall entfernt – eine Mauer aus Dunkelheit, die sie vom Dom des Teufels trennte. Schwarzes Feuer loderte auf ihren Rüstungen, und an ihrer Spitze, die Augen in blauer Glut entbrannt, saß Beristan auf seiner Echse und stieß verächtlich die Luft aus.
»Lächerliche Kreatur«, sagte er und kam näher, gemächlich, als würde er keine Eile kennen. »Beenden willst du, was du nicht begreifst! Doch was nun, Kind der Menschen? Willst du meine Krieger in der Glut des Schwertes verbrennen, das du meinem Herrn gestohlen hast? Oder wirst du mich um Gnade anflehen angesichts deiner eigenen Schwäche?«
Nando presste sich die Hand auf die Brust. Sein Heilungszauber half nur langsam gegen Beristans Feuer, aber er stemmte sich auf die Beine. Er würde nicht im Staub liegen vor diesem Sohn der Hölle!
»Du redest von Gnade«, stieß er zornig aus und rang den Schmerz nieder. »Du redest von Schwäche und Glut und einem Ende, das du selbst nicht kennst, und du tust so, als wüsstest du Bescheid. Aber du weißt gar nichts, General der Ersten Legion. Alles, was du kennst, ist Finsternis!«
Damit stieß er die Faust vor. Sein Blut flog Beristan ins Gesicht und entfachte sich zu schwarzem Feuer, und ehe dieser es von sich schleudern konnte, trafen ihn Noemis Messer in die Seite. Ghrorkramar stürzte sich auf zwei der Legionäre, Nando breitete die Schwingen aus, ungeachtet des Schmerzes, der ihn durchzog – und fühlte im nächsten Moment die Hitze, die von Beristan ausging. Grell glomm die Glut in seinen Augen auf, sie flutete seinen Körper und schmolz die Messer in seinem Fleisch, und als er sich die Flammen vom Gesicht riss, wurden sie zu einem Kegel aus blauem Feuer. Wutentbrannt umfasste er Nando mit seinem Blick, und ehe dieser noch das Schwert heben konnte, schoss der Zauber auf ihn zu. Nando duckte sich, doch es war zu spät. Er meinte schon, die grausame Glut des Ophaistos zu spüren, als ein Schatten vor ihn glitt und den Zauber mit einem Hieb abwehrte. Dröhnend stob das Feuer über die Köpfe der Kämpfenden hinweg und zerbarst, und Nando traute seinen Augen kaum, als er Drengur vor sich sah: hocherhoben auf Althos, den Blick fest auf Beristan gerichtet.
»Beristan, Träumer!«, rief Drengur und wirbelte sein Schwert durch die Luft. »Lässt du dich übertölpeln von einem Kind der Menschen?«
Sein Lachen klang laut über das Schlachtfeld, doch da stießen die Legionäre die Fäuste vor und ein Pfeilhagel ging auf Drengur nieder, der die Luft in Fetzen riss. Blitzschnell wich Althos den Geschossen aus, Nando schien es, als würde sich die Silhouette des Uthu auflösen, und er duckte sich neben Ghrorkramar unter Noemis Schutzwall. Seine Wunde schloss sich allmählich, schon fühlte er, wie seine Kräfte zu ihm zurückkehrten. Mit rauschenden Schwingen landete Althos am Boden, die letzten Pfeile erloschen unter seinen Pranken – doch als Drengur von seinem Rücken sprang, sah Nando nichts mehr um sie herum als die Legionäre der Ersten Legion, die sich wie ein tödlicher Strom um sie zusammengezogen hatten.
Beristan umfasste Drengur mit seinem Blick. Noch immer stand Zorn in seinen Augen, doch jetzt gewann der Triumph die Oberhand. »Verräter«, raunte er voller Abscheu. »Ist deine Erinnerung so stark verblasst, dass du selbst die Stärke der Ersten Legion vergessen hast? Willst du uns eigenhändig in Stücke reißen, ausgerechnet du, der wie kein anderer um unsere Macht wissen sollte?«
Nando spürte Noemis Anspannung ebenso wie seinen eigenen Flammenzauber. Ihr Schutzwall war stark, Ghrorkramar gierte danach, sich auf seine Feinde zu stürzen, ebenso wie Althos – aber selbst mit Drengurs Hilfe war es unmöglich, die Reihen der Ersten Legion zu durchbrechen. Es waren zu viele, unerreichbar weit schien das Portal des Doms entfernt zu sein. Doch Drengur lachte über Beristans Worte, als hätte er selten etwas so Einfältiges gehört.
»Wie amüsant es ist, dich über Erinnerungen sprechen zu hören«, sagte er scheinbar desinteressiert. »Hast du vergessen, was ich dich lehrte? Vergiss die Deckung nicht!«
Im selben Moment ging ein Keuchen durch die Dämonen ringsum. Sichtlich verwirrt ballten die Legionäre der ersten Reihen ihre Zauber – und gleich darauf wurden sie abgeschmettert mit einem Geräusch, als würden Spiegel zerbrechen. Flackernde Lichter strömten über die Reihen hinweg, als die hintersten Dämonen niederfielen, und da brachen sie durch die Menge: Dutzende Spiegelkrieger, die Hände vom Blut der Legionäre benetzt, die Augen in grünem Feuer entfacht – Drengurs Feuer. In rasender Geschwindigkeit stürzten sie sich auf die Dämonen. Noch immer waren die Legionäre ihnen zahlenmäßig überlegen, aber Drengur trieb seine Krieger mit solcher Entschlossenheit voran, dass immer wieder Dämonen niederfielen. Er selbst stellte sich Beristan entgegen. Donnernd schlugen die Schwerter der beiden Brüder zusammen, und als Nando die Funken auf seiner Haut fühlte, schickte er sein Feuer auf Bhalvris’ Klinge. Sein Schmerz verbrannte in den Flammen, die er gegen die Legionäre richtete. Er hörte Ghrorkramars Brüllen, der mit Noemi durch die Reihen jagte, und sah Althos im Kampf mit Beristans Echse. Schon meinte er, hinter dem Gewirr der Leiber den Dom auftauchen zu sehen, als Beristan einen Schrei ausstieß, so laut und durchdringend, dass er Nando den Kopf in den Nacken schlug.
Beristans Faust stand in blauer Glut. Gleißend hell stieß sie Drengur zurück und stob dann in Beristans Brust, so plötzlich, dass ein lautes Dröhnen über das Schlachtfeld hallte. Knisternd breitete sie sich in ihm aus, und als er die Arme in die Höhe riss, überzog sie seinen Leib mit tosendem Feuer. Unnennbare Hitze ging von ihm aus, Nando bemerkte nur undeutlich, dass auch die Waffen der Legionäre die Glut des Ophaistos empfingen. Mühelos glitten sie nun durch die Leiber der Spiegelkrieger, wiederholt entkam Nando nur knapp ihrem Hieb. Noemi duckte sich auf Ghrorkramars Rücken, um einem Funkenschlag zu entgehen. Die Luft brannte, das Atmen fiel Nando schwer, und er sah mit Entsetzen, wie Beristan vorstürzte und sein Feuer über Drengur schickte. Kurz nur bäumten dessen Flammen sich gegen diese Hitze auf, dann wurde er von Beristans Feuer verschluckt.
Für einen Lidschlag spürte Nando die blaue Glut in seinem eigenen Fleisch, als wäre er selbst auch in ihre Klauen geraten. Das Herz pochte in seinen Schläfen, blind parierte er die Schläge der Dämonen, während er das Feuer fixierte, und gerade als die Furcht in ihm aufstieg, fühlte er die Blüten des Mohns unter seinen Fingern und noch etwas anderes, Durchdringendes, das nun den Boden durchzog. Im nächsten Augenblick flackerte Beristans Glut auf, und da brach Drengur daraus hervor. Sein Körper hatte sich mit grünem Feuer überzogen, Funken sprühten aus seinen Klauen und sein Schwert brannte in einer Hitze, die Beristans Flammen von Nandos Körper zog. Krachend schlugen die Klingen der beiden Brüder gegeneinander, und im selben Moment stob die grüne Glut auch in die Leiber der Spiegelkrieger. Auf einen stummen Befehl hin stemmten sie sich den Legionären entgegen, atemlos kämpfte Nando sich an Noemis Seite voran, aber bei jedem Hieb, den die Brüder taten, flammten Bilder aus ihrer Vergangenheit um ihn herum auf. Beristan als junger Dämon, der seinem Bruder auf die höchsten Klippen folgte, sie beide, wie sie Bannzauber um ihre Körper legten und allein durch Muskelkraft in tiefste Schluchten kletterten, die Abenteuerlust, als sie Seite an Seite in glühende Dschungel geritten waren, wohl wissend um deren tödliche Hitze. Es waren Szenen der Gemeinschaft und Verbundenheit, und je unbeirrter die Brüder ihre Kräfte maßen, desto stärker wurde Nando in die Bilder gezogen, die er sah. Zischend fuhr Bhalvris durch den Leib eines Dämons, aber Nando sah in seinen Augen Drengur und Beristan auf einer Klippe stehen, er fühlte den Wind, als sie sich in die Tiefe stürzten, und er saß mit ihnen am Feuer in der Nacht, als sie irgendwo in der Einöde ihr Lager aufschlugen. Beinahe unwirklich war das sanfte, hingebungsvolle Gesicht Beristans, wenn er Drengur betrachtete, und Drengurs Stimme klang so warm und behutsam, als hätte er nie gelernt, sie im Zorn zu erheben. Doch das hatte er. Nando hörte nun sein Brüllen über das Schlachtfeld hallen, und er vernahm auch Beristans Zauber, die in immer kürzeren Abständen über ihn hinwegbrandeten.
Nando warf sich zwei Kriegern der Legion entgegen, er führte Bhalvris so schnell, dass seine Knochen schmerzten. Die Bilder um ihn herum veränderten sich. Sie wurden dunkler. Immer öfter sah er den jüngeren Bruder allein in den Schatten, er stand an seiner Seite auf den Klippen, die er einst mit Drengur besucht hatte, und er ritt seinem Bruder nach, wieder und wieder, wenn dieser in kostbarer Rüstung in die Schlacht zog. Immer noch glühte die Hingabe in Beristans Brust, Nando fühlte sie deutlich, aber er nahm auch die Einsamkeit wahr, die Beristan in sich verbarg und die Sehnsucht nach jenem, der nichts anderes war als dies: sein Bruder und Gefährte. Drengur jedoch war zum Krieger geworden, ein gefürchteter, unbesiegbarer Jäger der Finsternis, und Nando spürte die Ehrfurcht in Beristan, jedes Mal, wenn dieser seinen Bruder ansah. Vage erinnerte Nando sich daran, wie er Silas betrachtet hatte, damals vor so langer Zeit. Er hatte nie einen Bruder gehabt, aber jetzt verstand er, dass er dasselbe für den Nephilim empfunden hatte wie Beristan für Drengur. Er bewunderte seinen Bruder, er verteidigte seinen Namen, ganz gleich in welchem Streit, er wollte nur an seiner Seite stehen und teilhaben an dem Glanz, den er verbreitete. Und das tat Drengur. Nando sah ihn in den größten Schlachten der Hölle, ein dunkler Prinz inmitten all der Krieger, die er führte, und er empfand die Macht, die Drengur durchströmte, und die Euphorie bei jedem seiner Siege. Sein Schrei hallte in ihm wider, selbst jetzt, da er den Blick wandte und zu seinem Freund aufschaute, und er konnte sehen, wie Drengur als Herrscher der Schatten hoch über ihm am Himmel stand. Die Glut des Ophaistos ließ seinen Körper glühen, Nando fühlte den Sand der Dreizehn Wüsten auf seiner Haut, die einst in den Tiefen der Hölle gelegen hatten, roch den Duft der Ozeane aus lang vergangener Zeit und hörte die flüsternden Stimmen in den Klauen dieses Dämons, alt, so alt wie die Welt. Der Sohn der Hölle schwebte an diesem Himmel – Drengur, der in seinem eigenen Feuer stand. Doch nicht dieses Bild war es, das die Stimmen der Kinder plötzlich übertönte, die Drengur in seinem Inneren schürte, nicht diese Erinnerung an seine einstige Macht, sondern ein Ton, so durchdringend, dass Nando ihn vor sich sah: Beristan auf den Knien in der Wüste, er schrie vor Verzweiflung, dass sein Bruder ihn verlassen hatte, und es lag so viel Schmerz, so viel Trauer in seiner Stimme, dass es Nando so vorkam, als würde er selbst auf dem Grund der Wüste knien, die Klauen in die Erde graben und schreien – nach seinem Bruder, der ihn verlassen hatte, dieser Bruder, der so viel mehr gewesen war, als er selbst jemals sein würde.
Es war Beristans Schrei, der die Flammen ringsum zu einer anderen Szene formte. Nur schemenhaft nahm Nando noch die Dämonen wahr, die sich ihm entgegenstellten, er parierte ihre Hiebe wie in Trance. Deutlich jedoch sah er die reglosen Gestalten, die sich um ihn herum erhoben, eingeschlossen in ewigem Glas, spürte den Wind über den eisigen Zinnen des Spiegelgebirges – und sah Drengur wenige Schritte von ihm entfernt. Auch er stemmte sich auf dem Schlachtfeld vor dem Dom des Teufels noch immer Beristan entgegen, aber hier, an diesem inneren Ort, bewegte er sich nicht. Die Flammen waren von seinem Körper gewichen und er stand da wie in einem Traum. Seine Klaue lag auf der Wunde unter seinem Rippenbogen, Nando konnte das Blut riechen, das aus ihr hervorquoll. Ein Schauer flog über seinen Rücken, als er begriff, wo er sich befand.
Man sagt, der Zorn des Teufels über Drengurs Verrat sei nirgendwo so stark wie hier, erinnerte er sich. Und obgleich Beristans Schrei noch immer in der Szene widerhallte, war es nicht der Dämon, der nun hinter den erstarrten Bherengaer hervortrat. Es war Luzifer, und er schien Nando nicht einmal wahrzunehmen. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt Drengur. Doch es lag kein Zorn in seinen goldenen Augen und keine Lüge. Stattdessen erkannte Nando etwas Sanftes wie Vergebung darin, und er hörte sie deutlich, die betörende Melodie, in die sich die Schreie der Kinder verwandelten, die Drengur mit aller Kraft in sich festhielt.
Mein Freund, sagte der Teufel, als er nah bei seinem einstigen Gefährten stehen blieb. Sein Blick glitt über Drengurs Gesicht, Nando meinte fast, ihn selbst zu spüren, und nur im letzten Moment konnte er dem Hieb eines Dämons ausweichen, der nach ihm schlug – dort drüben, weit entfernt in der anderen Welt. Du hast dich verändert.
Da hob Drengur den Kopf. Er schwankte, der Blutverlust schwächte ihn, aber sein Zorn loderte glühend in seinen Augen. Ich bin nicht wie du, gab er zurück. Das Leben ist mehr für mich als ein Fluss, den ich beobachte, ohne jemals daran teilzuhaben.
Kurz nur senkte Luzifer den Blick. Dann legte er den Kopf schief. Das Leben, sagte er sanft. Dieses große Rätsel. Du glaubst, es zu kennen, meinst sogar, es zu bewahren. Doch in Wahrheit ist es nichts als Stillstand, Verzweiflung und Tod, das du in dir trägst.
Du bist es, der Tod und Verderben bringt!, stieß Drengur aus. Nie ist es anders gewesen!
Luzifer lachte leise. Noch immer flackert dein Blick, wenn du eine Lüge aussprichst, erwiderte er amüsiert. Du weißt, dass deine Worte nichts anderes sind. Mit den Augen deines Bruders hast du gesehen, was du verloren hast. Und wofür? Sieh dich an. Du bist eine Figur aus Glas geworden wie jene, die uns an diesem Ort umstehen, gefangen in dir selbst, getrieben von Selbstverachtung und Schmerz. Du glaubst mir nicht? Dann sieh selbst …
Es brauchte nicht mehr als einen Fingerzeig, um Flammen um sie herum aufbrechen zu lassen. Nando fuhr zurück, als er die Gestalten erkannte, die sich in den Glutherden aufbäumten, und seine Kehle schnürte sich zusammen, als die Schreie der Kinder mit aller Gewalt die Luft zerrissen. In der äußeren Welt ließ Drengur seine Magie aufwallen, in mächtigen Hieben schlug er auf Beristan ein, als würde er jeden Kinderschrei gegen ihn richten wollen, aber zwischen den Bherengaer sah Nando ihn schwanken, und er spürte sie selbst: die Verzweiflung angesichts dieses Leids, das niemals enden würde, ganz gleich, was geschah. Atemlos wurde Nando Zeuge, wie der Dämon sich über die Brust fuhr. Blut blieb an seiner Haut haften. Der Teufel jedoch lächelte noch immer.
Erinnere dich, raunte er nun. Du hast die Macht, dich zu befreien. Erinnere dich daran, wer du einst warst, und kehre zurück zu dem Weg, für den du bestimmt bist. Kehre dich ab von diesem Schmerz, in dem nichts liegt als Verzweiflung.
Wie ein Dolchstoß fuhr Beristans Schrei in die Stimmen der Kinder, wieder sah Nando den Dämon auf den Knien liegen, und er fühlte die Trauer, die nun in Drengur aufwallte und die ihn auseinanderzureißen drohte, ihn, den mächtigen Heerführer der Hölle. Schwer atmend stützte Drengur sich auf sein Knie, Nando selbst griff sich an die Kehle, so heftig stürmten die Stimmen auf ihn ein.
Es ist leicht, flüsterte der Teufel, und als Drengur den Blick hob, streckte er die Hand nach einem der Kinder aus. Ganz leicht. Kannst du es denn nicht sehen?
Lautlos drang Luzifers Hand in die Flammen ein und löste sie auf, nicht mehr als wispernder Rauch blieb zurück, und mit ihm, erlösend wie ein kühler Windhauch, strömte die Stimme des Teufels in die verbliebenen Schreie und verwandelte sie in jene Melodie, die mehr war als Linderung und Verführung. Drengur stemmte sich auf die Beine, Nando wollte ihm zurufen, dass diese Stimme eine List war, eine Täuschung – doch das war sie nicht. Sie war ein Versprechen. Er konnte sie hören, die Erinnerung, die in Drengur aufbrach. Und im selben Moment grub der Dämon die Klauen in das erste Feuer.
Wie von einem mächtigen Hieb getroffen wurde Nando zurückgeschleudert. Er sah noch, wie Drengur die Flammen auseinanderriss, tosend stoben die Funken in die Luft. Gleich darauf spürte er die Hitze, die in der äußeren Welt von Drengur ausging. Er riss einen Schutzschild in die Höhe, die grüne Glut des Ophaistos brandete gegen seinen Wall, entfesselt warf sie sich Freund und Feind entgegen, und er sah Drengur an jenem anderen Ort inmitten der Flammen wüten. Außer sich grub er seine Klauen in die Glut, Nando schien es, als würde er sich den eigenen Schmerz aus der Brust reißen, und er erkannte die Kinder inmitten des Feuers, deren Schreie allmählich verstummten. Einige erhoben sich aus der Glut, brennend flohen sie vor dem Dämon, der sie jagte, aber er fing sie alle und zerriss sie, bis nur noch ein kleiner Junge übrig war. Nando schien es, als wäre er selbst es, als Drengur ihn an der Kehle packte, und er hörte Luzifers Stimme in seinem eigenen Kopf.
Kehre zurück zu mir, flüsterte der Teufel an Drengurs Ohr. Jeder Verrat wird vergessen sein, wenn du heimkehrst als der, der du immer warst.
Drengur hatte die Augen geschlossen, und er lächelte, als Luzifer neben ihn trat. Nando hielt den Atem an, ein Schritt, ein winziger Schritt nur, und Drengur würde alles verlieren, was ihm etwas bedeutete. Er schrie, als die Glut des Ophaistos sich in seinen Schutzwall fraß, aber seine Stimme blieb ungehört. Schemenhaft nur erkannte er Noemi und Ghrorkramar, die sich gegen Drengurs Spiegelkrieger zur Wehr setzten, Illusion und Wirklichkeit flackerten um ihn herum, aber erst als er dem Jungen in die Augen schaute – dem Kind, das Drengur an der Kehle gepackt hielt und das er zerreißen wollte –, stockte ihm der Atem. Denn die Todesfurcht war aus den Augen des Kindes gewichen, und stattdessen las Nando eine Bitte darin, leise und dabei so erschütternd, dass ihm das Blut aus dem Kopf wich.
Tu es, flüsterte der Junge, und Nando sah zu, wie er seine Gestalt verwandelte und zu dem wurde, den Drengur weit draußen auf dem äußeren Schlachtfeld in seinen Klauen hielt. Werde, der du einmal warst, sagte Beristan kaum hörbar. Ich bitte dich … Lass mich sterben. Für dich.
Drengur lächelte noch immer, die Frage brach fast flüsternd durch Nandos Gedanken. Und was, mein Bruder, war ich?
Beristan holte Atem, Nando sah ihn noch einmal auf der Klippe stehen, den Blick in eine unerreichbare Ferne gerichtet. Du warst frei, erwiderte er.
Kurz schien es, als würde Drengur den Kopf neigen, langsam und demütig vor dem goldenen Glanz, den Luzifer auf seine Stirn sandte. Doch dann verlor sich das Lächeln auf seinen Lippen, etwas anderes trat auf seine Züge, und als Drengur die Augen öffnete und die Hand auf die Brust seines Bruders legte, fühlte Nando die Tränen, die über seine Wangen liefen, als wären es seine eigenen.
Nein, raunte Drengur kaum hörbar. Das war ich nicht.
Im selben Moment brachen die Feuer um ihn herum erneut aus, und Nando konnte die Gesichter der Kinder sehen, die Drengur in seinen Bruder schickte, die Todesfurcht, die sie verzerrte und die zum Schrei geöffneten Münder, er konnte den Gestank verbrannten Fleisches riechen und ihr Blut, und er konnte ihn spüren – den Schmerz, den Drengur bei diesem Anblick empfand und der ihm mehr galt als alle Schatten dieser Welt.
Dies bin ich, rief Drengur seinem Bruder zu, der die Augen weit aufriss unter den flammenden Bildern, die auf ihn einstürmten. Dieser Schmerz bin ich! Und er ist mehr wert als jeder Exzess, jede Euphorie, jede Regung, die du Freiheit nennst! Denn in seinem Kern ist etwas, das mich aufrecht hält – etwas, das mich lebendiger macht als alles andere! Und du, Bruder und Träumer – du weißt, wie das ist! Du, der für mich sterben wollte, nicht als General der Hölle, nicht als Scherge Luzifers, sondern als mein Bruder, der meinen Tod nicht ertragen würde – so wenig wie ich den seinen!
Mit diesen Worten ließ er die Flammen auflodern. Luzifer verschwand in ihrer Glut, und Drengur schickte die Schreie der Kinder über das Schlachtfeld, so ohrenbetäubend laut, dass selbst Nando in die Knie ging. Sie fuhren in die Spiegelkrieger ein und rissen das Flüstern und Raunen aus Drengurs Gedanken, die ihn seit so langer Zeit begleiteten, und noch einmal glitt der goldene Schein über dessen Haut. Nando konnte die Hitze fühlen, die seinem Freund zusetzte, die ihn von innen heraus verbrennen wollte mit all ihrer Macht – aber Drengur wandte den Blick nicht ab.
»Das«, rief er so laut, dass seine Stimme wie ein Sturmwind über die Köpfe fegte. »Das ist Freiheit!«
Und mit einem Grollen, das von den Mauern des Doms widerhallte, ließ er die Schreie der Kinder in seinem Inneren aufbrechen, und im selben Moment, da er den Teufel aus seinem Leib brannte und den Pakt zerriss, der sie aneinanderband, hörte Nando ein Dröhnen durch das Innere der Erde gehen, das ihn bis ins Mark erschütterte. Drengur sprengte die gläsernen Kerker um die Bherengaer, und als der Dämon seine Kraft in den Leibern der Spiegelkrieger entfaltete, da sah Nando die Stadt auf den Zinnen des Scherbengebirges vor sich: die gewaltige Festung Thalor Phargam, die sich in grüner Glut entfachte und dann mit mächtigem Donnern auseinanderbrach. Gleichzeitig barsten die Leiber der Spiegelkrieger, Nando zog Noemi an sich, um sie vor den umherfliegenden Splittern zu schützen. Sie drückten sich eng an Ghrorkramar, doch er sah Drengur hoch über ihnen, sah auch Beristans Tränen und fühlte die Demut wie damals, als sie Kinder waren, als dieser nun vor Drengur den Kopf neigte.
Nando spürte Luzifers Zorn, noch ehe er sich als brüllende Flutwelle aus dem Inneren des Doms über das Schlachtfeld ergoss.
Es traf die Scherben und ließ sie in goldenem Regen zu Boden fallen, lautlos vereinten die Tropfen sich zu Gliedern und Köpfen und Nando beobachtete zu seinem Entsetzen, wie sich ganz in seiner Nähe der Torso eines Spiegelkriegers in die Höhe hob. Aber gerade als der Krieger nach seinem Arm griff, stob ein Schemen heran und durchschlug seine Brust. Fassungslos schaute Nando auf und erkannte den geisterhaften Umriss eines Bherengaer. Kurz verbeugte der Gefallene sich vor ihm. Dann löste sein Körper sich auf, als hätte ein Windhauch ihn gestreift.
»Luzifer erschafft sie neu!« Noemi riss Nando vor einem weiteren Spiegelkrieger zurück, der sich nicht weit von ihnen entfernt aus der goldenen Lache erhob.
Nando trieb dem Krieger das Schwert in die Brust, aber ehe er noch etwas erwidern konnte, brachte ein heftiges Krachen aus dem Inneren des Doms den Boden zum Erzittern. Mühsam nur konnte Nando das Gleichgewicht halten, die Luft über den Dächern begann zu flattern, als wäre sie nicht mehr als eine dünne Haut. Wieder krachte es im Inneren des Doms, und jetzt zogen sich feine Risse über den Himmel.
»Okaryn!«, rief Noemi so laut, dass ihre Stimme sich überschlug. »Das Auge der Dämmerung steht kurz vor dem Zerbrechen!«
Nando zögerte nicht länger. Atemlos warf er sich herum, wich den Spiegelkriegern aus, die überall zu neuer Kraft erwachten, und rannte, so schnell er konnte, auf den Dom des Teufels zu.
Avartos fiel, doch er merkte es kaum. Zu vollkommen war die Dunkelheit um ihn herum, zu betörend ihre Schönheit und zu sanft der Wind, der durch sein Haar strich, als würde er in Wirklichkeit auf einem Hügel irgendwo in der Welt der Menschen stehen und mit geschlossenen Augen in die Ferne schauen.
In Wirklichkeit, ging es ihm durch den Kopf, und er musste fast lächeln, als er die Hiebe Kymbras wahrnahm, die seinen Körper in der äußeren Welt trafen. Noch parierte er die meisten Angriffe, doch er spürte die Erschöpfung in seinen Gliedern, während Kymbra keine Schwäche zu kennen schien. Immer wieder kam er ihr gefährlich nahe, nur um im letzten Moment ins Leere zu schlagen. Es war ein absurder Tanz, ein gefährliches Spiel, und Avartos erschrak, als er sich stolpern sah. Sofort zischte Kymbras Schwert aus schwarzem Feuer auf ihn nieder, in letzter Sekunde drehte er sich zur Seite und die Klinge schlug in den Boden ein. Avartos sah sich zurückweichen und er fühlte den Blick seines Vaters, der hoch über den Dächern auf ihn niederschaute.
Ich kämpfe, dachte Avartos und hoffte für einen Moment, sein Vater würde ihn hören. Ich kämpfe für mehr als die Rettung der Menschen, für mehr als Nando und Noemi und eine freie Welt. Ich kämpfe für mich, Vater, für mich, deinen Sohn, der endlich wissen muss, was auf seinem Grund liegt.
Kolkrinor sah ihn an, hinter ihm hoben drei Dutzend Krieger ihre Bogen. Noch durchschlugen ihre Geschosse die Leiber der Dämonen und Spiegelkrieger, noch richteten sie sich gegen ihren gemeinsamen Feind. Doch Avartos konnte Kolkrinors Anspannung fühlen, die Sorge in seinem Blick und den Zweifel, der noch immer in ihm keimte.
Wir sind Engel, hörte er seine Stimme, und wir können zu Bestien werden, wenn wir uns selbst verlieren.
Aber es steckt mehr in der Welt als Verzweiflung, gab Avartos zurück. Das sagtest du mir. Du glaubst daran, dass mehr in mir ist als Finsternis, und ich habe es selbst gefühlt. Nun werde ich sehen, ob wir uns irren.
Sein Vater schwieg hoch oben über den Dächern der Stadt, doch etwas war in seinem Blick, das Avartos innehalten ließ. Hatte er ihm eine Frage gestellt, lautlos und ohne ein Wort zu sprechen? Hatte sein Vater ihm Antwort gegeben auf dieselbe Weise? Würde er ihn von seinem eigenen Schrecken erlösen, wenn er erkennen musste, dass sie sich geirrt hatten?
Vater, dachte er leise. Ich bitte dich. Zögere nicht, wenn es so weit kommen sollte.
Kymbras Klaue traf Avartos’ Schulter, aber er schlug ihr so heftig vor die Brust, dass ihr Schwert ihn verfehlte. Dumpf nur empfand er den eigenen Atem seines fernen Körpers, und dann fiel er tiefer, noch tiefer, als er jemals geträumt hatte. Kolkrinor verschwamm vor seinem Blick, selbst sein eigenes Gesicht verlor sich in den Schatten, und erst als er nicht mehr wusste, wie lange er schon geflogen oder gefallen war, streifte etwas seine Wange. Es war ein Lachen, das die Düsternis um ihn herum entfachte, das Lachen seiner Eltern. Er sah sie über sich gebeugt, er war klein, gerade geboren, und sie betrachteten ihn mit so viel Hingabe, als würde er den Schlüssel der Welt in seinen leeren Händen halten. Die Wärme ihrer Stimmen zog in ihn ein, und sie blieb bei ihm, als er durch das nächste Bild abwärtsfiel. Er sah sich übermütig über die Wellen des schwarzen Meeres dahinjagen, so nah über ihnen, dass ihm die Gischt ins Gesicht schlug. Sein Herz hämmerte in der Brust, sein ausgelassener Schrei fegte über den Himmel, und als er die Arme zurückriss, da schien es ihm, als würde er die Sterne von dort oben herunterholen und schmelzen können, wenn ihm nur der Sinn danach stand. Wieder verglühte das Bild und neue tauchten auf, immer schneller, sodass es Avartos schien, als würde er von einem Traum in den nächsten geraten. Er sah sich in den Gängen der Akademie, hochgewachsen und schöner als alle Engel, die er kannte, dann im Kampf mit seinen Lehrern und über den ersten Dämonen, die er erschlagen hatte, und er spürte die Hitze in seinen Wangen, die ihn vorwärtstrieb, den brennenden Ehrgeiz, der ihn schliff, bis er der beste Krieger der jungen Garde geworden war.
Etwas presste seinen Brustkorb zusammen, dumpf nur nahm er die Feuerwinde wahr, die Kymbra ihm entgegenschlug, und wehrte sie mit einer raschen Folge schwarzer Scherben ab. Sein Körper funktionierte im Griff der Magie, er war wie eine Maschine, jahrhundertelang darauf trainiert, diesen Kampf bestehen zu können, und er schoss noch schneller in sich selbst hinab, in diese Tiefe, die er nicht ermessen konnte.
Rasend schnell veränderte sich sein Gesicht, er wurde ein Mann, ein Krieger, ein Jäger. Er sah sich die Nephilim hetzen, fühlte seine Überlegenheit wie köstliches Gift auf seinen Lippen, seine Stimme brachte die Unterwelt zum Beben, er genoss die Gerüchte, die sich um ihn rankten, um ihn, der bereits nach kurzer Zeit zur lebenden Legende wurde. Dann wieder spürte er den Schein der Sonne auf seiner Haut, die unergründliche Sehnsucht, die ihn mitten in der Nacht aus den Gassen der Engelsstadt hinab nach Rom zog, den Stolz, der ihm den Blick in die Fenster der Menschen verbot, und das wilde Pochen in seinen Schläfen, das ihn dennoch stets näher heranzog. Sanft, so sanft erschienen sie ihm noch immer in ihrer Unwissenheit, und er sah sich dabei zu, wie er die Hand von außen an ein Fenster legte und zu dem jungen Mädchen hineinsah, bis sie aufstand und ihn direkt anschaute, durch die Spiegelung der Straße hindurch. Oh, lang war das her, so lang wie ihr ganzes Leben, und doch hatte Avartos nie ihr Gesicht vergessen, das so unschuldig, so sehnsuchtsvoll gewesen war. Er hatte ihr einen Kuss gestohlen in jener Nacht, wohl wissend, dass sie fortan nie wieder einen Menschen küssen konnte, ohne an ihn zu denken, und er spürte die leise Demut noch immer in seiner Brust, die damals in ihm erwacht war.
Seine Hände griffen nach der Peitsche, die Kymbra nach ihm warf, und hielten sie fest, während sie sein Fleisch verbrannte. Der Schmerz ließ die Bilder in ihm flackern, aber er schickte seine Magie in Kymbras Zauber, und als die Peitsche zu Asche zerbrach, warf er ihr die glühenden Flocken ins Gesicht.
In seinem Inneren brachen sie als rauschender Rabenschwarm aus dem nächsten Bild. Er sah einen jungen Mann auf der anderen Seite eines Fensters, Nando war es, damals vor tausend Jahren. Blitzartig durchzog Avartos erneut der Drang, den Sohn des Teufels zu stellen, den er noch nicht einmal gekannt hatte, die Gier und Besessenheit der Jagd, die Kälte, als er Paolo erschlug, die Hitze, die ihn durch Bantoryns Himmel brechen ließ, und dann der Schmerz angesichts der Gräueltaten seines Volkes, nachdem Nando ihn gerettet hatte.
Kurz nur hörte er Kymbra lachen in der Welt dort draußen, aber er schlug ihr mit solcher Wucht ins Gesicht, dass Blut an seinen Fingern haften blieb. Niemals würde sie lachen über das, was er empfunden hatte in jener Nacht! Niemals würde sie lachen über ihn! Außer sich kämpfte er gegen ihre Tücken, während er in seinem Inneren weiter abwärtsraste.
Erinnerungen aus lang vergangener Zeit durchbrach er ebenso wie Bilder, die er gerade erst erlebt hatte, und bald formten sie sich zu flirrenden Strömen, sodass er nicht mehr anders konnte, als auf ihnen fortzugleiten. Farben waren es, die ihn nun weiterzogen, Gerüche, Gefühle, Gedankenfetzen, und als er endlich auf hartem Grund aufkam, glaubte er zuerst, in einen Traum geraten zu sein. Der Boden unter seinen Füßen war kühl und staubig, aber der Duft der Steine kam ihm bekannt vor, und als er sich aufrichtete und sich im trüben Dämmerlicht umsah, erkannte er, wo er sich befand. Um ihn herum erhob sich die Eingangshalle Oreids. Dämonen mit blutigen Waffen kamen ihm entgegen, sie glitten durch ihn hindurch, als wäre er nicht mehr als ein Schemen, doch er konnte sie lachen hören, dunkel und verschlagen. Er kannte ihre Stimmen, er hatte sie schon einmal gehört. Eilig lief er den Weg entlang, den sie gekommen waren, er roch den Schweiß ihrer Haut, der in der Luft stand wie ein Fluch, und obwohl er wusste, was ihn hoch oben im Zimmer des Turms erwartete, fuhr er zurück, als das Bild ihn traf. Seine Mutter lag reglos am Boden, ihre Flügel waren gebrochen, ihr Körper von unzähligen Blutergüssen und offenen Wunden gezeichnet. Sie war tot.
Kymbras Hieb verletzte ihn an der Schläfe, aber selbst der Schmerz ließ das Bild vor seinen Augen nicht verschwinden. Mit einem Schrei, der mit dem Klang seiner Kinderstimme durch Oreids Flure raste, riss er den Arm in die Höhe und traf Kymbras Kopf. Sie prallte von ihm zurück, so heftig war der Schlag gewesen, doch er setzte ihr nach, so schnell, wie er in seinem Inneren auf seine Mutter zustürzte.
Er spürte den Schmerz in seinen Knien, als er sich neben ihr fallen ließ, ebenso wie die Trauer, die wie damals mit Übermacht in ihm aufstieg. Sie zog seine Kehle zusammen, als er ihr bleiches Gesicht betrachtete, ihr Haar, das blutbesudelt um ihre Schultern lag, und ihre Hände, die ihn beschützt hatten, ihn, ihr einziges Kind, für das sie gestorben war. Er erinnerte sich daran, wie er damals durch Oreids verbrannte Räume gelaufen war, wie er geschrien hatte aus Verzweiflung und Schmerz, und kurz wollte er sich diesen Empfindungen erneut hingeben, so stark wurden sie in ihm. Aber dann hörte er wieder das Lachen der Dämonen, sie waren noch da, ganz nah. Avartos stand auf, er atmete nicht, als er durch die Räume auf sie zustob, doch er nahm jede ihrer Bewegungen wahr, noch ehe sie vor ihm auftauchten. Ihre Waffen, ihre Statur, ihre wachsamen Augen. Und ihre Klauen, an denen das Blut seiner Mutter klebte. Sein Dolch schnitt durch ihre Kehlen wie durch weiches Menschenfleisch, kaum dass er hinter ihnen auftauchte. Sie konnten nicht einmal mehr schreien. Polternd fielen ihre Körper zu Boden, aber Avartos schenkte ihnen keinen Blick. Er breitete die Schwingen aus und folgte den anderen Stimmen, all jenen, die sich noch immer in der Burg seiner Eltern verbargen.
Blitzschnell bewegte er sich von Kymbra fort, lautlos wie ein Sonnenstrahl flog er näher an sie heran, und ebenso strich er durch die Räume seines Inneren und schlug die Dämonen nieder, die seine Mutter ermordet hatten. Deutlich hörte er ihr Keuchen, fühlte ihr Blut an seinen Händen, und mit jedem Hieb, den er gegen sie führte, setzte er auch Kymbra zu. Das Lächeln wich von ihren Lippen, ihre Bewegungen wurden schneller, triebhafter, je stärker er auf die Dämonen einschlug. Er schürte die Magie der Schatten in sich, sie durchdrang ihn wie die Luft seine Lunge an diesem Ort, und sie verwandelte seinen Zorn in etwas anderes. Zischend traf er Kymbras Bein mit seinem Schwert, und erst als er sie stöhnen hörte, wusste er das Wort für das, was er empfand: Triumph.
Doch es war nicht die Euphorie des Sieges, wie er sie bisher kennengelernt hatte. Das Gefühl ging tiefer, als würde es mit jedem Atemzug in den Räumen Oreids in sein Blut dringen, und es fachte die Magie an, die wild in ihm tobte. Hunger war es, der ihn nun durchzog, und während er auf dem Schlachtfeld Roms mit glühenden Ketten auf Kymbra losging, schlug er im Inneren die Nägel in die Mauern seiner Burg. Glühend trafen die Schatten seine Finger, im ersten Moment meinte er, sie rot gefärbt zu sehen, als hätte er sie in lebendiges Fleisch getrieben. Aber es war die Nacht Oreids, die er anrief, und nun glitt sie aus den Mauern, aus den Winkeln und Decken, den Säulen, Treppen und Verliesen. In schwarzen Fetzen stob sie in ihn hinein, und mit jedem neuen Schatten flammte ein Bild in ihm auf, das ihn vorwärtstrieb, immer weiter voran gegen seine Feinde. Er selbst über einem Meer aus silbernen Leibern, auf den Gipfeln der Welt, in einer Wüste aus Farben, die er mit eigenen Händen erschaffen hatte. Immer stärker wurde der Rausch, der in ihm tobte, immer leiser die Stimme der Vorsicht, die ihn mahnend anrief. Seine Furcht verbrannte in den Flammen, die er um sich schürte, und als er den letzten Dämon erschlagen hatte, grub er seinen Willen tief in Oreids Mauern und riss die Festung auseinander.
Kymbra taumelte durch die Luft, so hart traf sie sein Wirbelschlag, und er sah sie inmitten der Trümmer, die weit über das verschwundene Meer hinausschossen. Durch eine Geste wurden sie zu glühenden Sternen, laut donnernd stoben sie in die Höhe, und Avartos folgte ihnen in den Himmel, frei, so frei, wie er noch nie zuvor gewesen war. Absolute Grenzenlosigkeit flutete seine Glieder, ein Gefühl, das kein sterbliches Wesen ertragen konnte. Aber er – er konnte es! Sein Lachen schlug Kymbra ins Gesicht, ehe er tief in seinen Schatten auf schwarzem Marmor landete.
Eine Erinnerung flog ihn an, als er den Thron betrachtete, der direkt vor ihm stand, doch gleich darauf streckte er bereits die Hand nach ihm aus. Die Streben aus Knochen waren warm. Wortlos setzte er sich, erst jetzt bemerkte er, dass die Welt um ihn herum in schwarzem Feuer stand. Schemenhaft nahm er Kymbra in der äußeren Welt wahr, sah zu, wie sie auf die Beine kam … Und wie sie plötzlich zu Füßen seines Throns saß, blutend, aber mit einem Lächeln, das ihr noch immer Würde verlieh.
»Dies«, flüsterte sie in beiden Welten, »ist der tiefste Punkt. Dies ist es, was du wirklich willst, Prinz der Nacht, ich habe es immer geahnt. Du kannst mehr sein als alles, was du je geglaubt hast, du kannst sein wie … ein Gott!«
Ein seltsamer Ausdruck lag in ihren Augen und Avartos brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es Ergebenheit war. Ihr Atem ging flach, als würde es um mehr gehen als ihn, ja … als wäre in Wahrheit sie selbst es, die einen Weg durch die Schatten finden musste, ausgerechnet sie, die immer darauf bestand, sie zu beherrschen. Langsam kam sie näher, und Avartos sah sich selbst in der äußeren Welt, die Fäuste in dunkles Feuer gesetzt. Seine Magie loderte heftig, er konnte sehen, wie Dämonen und Engel vor ihm zurückwichen. Ein Fingerzeig würde genügen und er würde unzählige Krieger beider Seiten in den Tod reißen. Er sah die Engel, die hoch über den Dächern ihre Bögen hoben. Kolkrinor stand neben ihnen, sein Blick lag voller Anspannung auf seinem Sohn, und eine Stimme flüsterte in Avartos’ Gedanken. Zögere nicht.
»Sie fürchten dich«, raunte Kymbra. »Denn sie kennen deine wahre Stärke nicht. Ich aber kenne sie. Folge ihr, Prinz der Dunkelheit. Folge ihr und werde, der du sein willst!«
Der Thron warf seinen Schatten auf ihr Gesicht, als sie vor ihm innehielt, und Avartos fühlte die Glut in seinen Streben, als würde sie durch seinen eigenen Körper fließen. Und tat sie das nicht? Seine Flammen züngelten um seine Finger, sie lachten wie die Scherben Oreids, die er über das Meer geschickt hatte, denn sie kannten keinen Schmerz, keine Verzweiflung, keine Rastlosigkeit. Sie waren grenzenlos, wie er selbst es sein konnte, nur seinem eigenen Willen unterworfen, und etwas in ihm drängte ihn mit aller Macht, die Glut in seinen Fäusten freizusetzen, den ersten unwiderruflichen Schritt zu tun. Dumpf hörte er die Rufe der Engel über den Dächern und die gespannten Sehnen, als sie ihre Bögen auf sein Herz richteten. Für sie war er ein Engel kurz vor dem Fall, sie durften nicht zögern, ihn zu vernichten, und irgendetwas in ihm sehnte sich danach, von den Pfeilen in die Brust getroffen zu werden. Doch sein Vater rührte sich nicht, und als einer der Krieger den Befehl zum Abschuss verlangte, schüttelte er kaum merklich den Kopf.
Vielleicht war es diese Geste, die ihn innehalten ließ. Im selben Moment vernahm er die Stimme eines Mädchens. Sie tauchte hinter Kymbra aus den Flammen und schaute ihn unverwandt an, sie war ihm nah, viel näher noch, als er begreifen konnte. Sacht legte sie die Hand auf seine Brust, und obgleich er noch immer auf dem Thron saß, spürte er, wie er im Innersten der Schatten erneut in die Tiefe stürzte, tief, so tief, dass er nicht wusste, ob er jemals aufkommen würde. Doch das war ohne Belang, denn sie war bei ihm, und jetzt vernahm er ihre Worte in seinen Gedanken.
Du trägst es in dir, wisperte sie. Das Herz der Welt – so wie ich.
Avartos hörte den leisen Klang, der nun die Stille in ihm durchzog, und als das Bild des Mädchens verschwand, sah er, wie er inmitten der Schlacht auf Kymbra zutrat. Ihr Gesicht war ganz nah an dem seinen, als er sich auf dem Thron vorbeugte, dumpf nur nahm er die Fassungslosigkeit der Engel wahr, die auf ihn niederstarrten, und vielleicht war es die Wärme in den Augen seines Vaters, die Avartos lächeln ließ.
Königin der Nacht, raunte er nah an Kymbras Ohr. Du hast recht mit deinen Worten. Der Weg der Schatten bietet mir ein Leben ohne Grenzen. Doch zugleich verschlingt er mich. Er verbrennt alles, was jenseits von mir liegt, denn nichts hält meiner Finsternis stand – nichts, und du weißt das. Du fühlst es selbst. Er schüttelte den Kopf, langsam, kaum merklich. Es ist keine Freiheit, von der du sprichst, sagte er beinahe sanft. Es ist der Tod.
Kurz nur sah er sie an, erkannte den Schrecken in ihren Augen und dann den Zorn. Blitzschnell stürzte sie sich vor, aber er wich ihrem Hieb aus und umfasste sie von hinten. Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen ihn, sie rief die Mächte der anderen Reiter, die in ihr aufwallten, doch Avartos ließ sie nicht los. Ihre Magie rannte gegen ihn an, Funken stoben von ihnen in die Nacht Roms und er wusste, dass irgendwo in dieser Schlacht der Sohn des Teufels vor dieser Kraft bewahrt werden musste – er und das Mädchen, das Avartos liebte. Er allein stand zwischen ihnen und der Finsternis, und er war bereit, sich von ihr zerreißen zu lassen, wenn es nötig war. Wie oft hatte er Antonio bewundert für dieses Geschenk, das er Nando bereitet hatte, wie oft geglaubt, dass Furcht und Hilflosigkeit in ihm toben würden in diesem Moment. Aber so war es nicht. Es war ein freies Gefühl – ein Gefühl aus Licht.
Kymbra glitt so plötzlich in ihn hinein, dass ihm der Atem stockte. Ja, sie kannte Licht, sie kannte Finsternis, das spürte er nun, denn sie schickte ihre Macht in jede Faser seines Körpers und warf ihn in seinen Abgrund zurück. Lähmend wie Gift riss sie an seinen Gliedern, doch gerade als seine Hände zu zittern begannen und sie drohte, sich zu befreien, ließ er den leisen Klang in sich aufbrechen. Kraftvoll ergoss er sich in seinem Inneren, wurde zu Antonios Lächeln, Kayas Musik, Silas’ Entschlossenheit, stob mit Hadros’ Stimme durch die Dunkelheit und brach zu Bildern auf, die mächtiger waren als jedes Licht und jeder Schatten. Denn in ihnen glomm eine andere Macht, und Avartos schauderte, als sein Abgrund sich in Gold und Farben verwandelte und mehr, viel mehr als das. Die Nacht, die ihn umgab, war ein Wunder.
Kymbra schrie in seinen Armen auf, als diese Kraft in sie einfuhr. Sie begann zu zittern, doch Avartos hielt sie fest, während das Licht seines Abgrunds alle Schatten von ihr wusch und all die Jahrhunderte, die sie in der Düsternis verharrt hatte. Bunte Funken fielen um sie nieder, als sie inmitten der brechenden Farben zu Boden stürzte. Avartos hielt sie noch immer fest, er fühlte ihr Blut an seiner Wange und die Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, während sie durch die Bilder ihres Lebens jagte. Tausend Empfindungen strichen an ihm vorüber, und er hielt den Atem an, als das letzte Bild in Kymbras Brust aufbrach. Es zeigte Kymbra vor unendlich langer Zeit. Sie war nackt und blutbesudelt, und sie hielt ein Kind in ihren Armen … ihr Kind, von dem sie Abschied nahm und das ihr fehlte, tief in ihrer Finsternis – ihr Kind, das sie immer geliebt hatte.
Ihr Kopf sank auf seinen Arm. Sie schaute ihn an als das Mädchen, das einst den Weg in die Schatten begonnen hatte, und obwohl er Kolkrinors Blick auf sich spürte, den Blick eines Vaters, der durchdrungen war vom Stolz auf seinen Sohn, krampfte sich seine Brust für einen Moment zusammen. Hätte er dieses Mädchen gefunden, damals in dem dunklen Keller, hätte er sie gerettet aus all der Finsternis, wäre sie es gewesen, die er geküsst hätte … Vielleicht wäre es dann nie so weit gekommen. Vielleicht hätten sie einander vor dem bewahren können, was sie geworden waren. Doch er hatte es nicht gewusst. Er fuhr sich über die Augen. So unendlich viel hatte er nicht gewusst.
Das Lächeln, das nun auf ihre Lippen trat, war sanft, und es erschien ihm, als würde er zum ersten Mal ihr wahres Gesicht sehen – ein Gesicht, das all ihre Schönheit zuvor übertraf. Es war wie ein Geschenk für ihn, den Engel, den Verlorenen, der sie gesucht hatte in all den Schatten und sie gehen ließ, nun, da er sie gefunden hatte. Er spürte die Wärme, die in ihr aufbrach und die einem kleinen Wesen galt, das nie erfahren hatte, was Leben bedeutete – ebenso wenig wie sie selbst. So lange hatte sie geglaubt, sie verloren zu haben, so lange hatte sie versucht, sie zu vernichten. Und doch war sie immer da gewesen, und sie strich behutsam über ihre Lider, als sie starb.
Die Glut des Doms setzte die Luft in Flammen. Sie sprühten um Nando herum, der in rasender Geschwindigkeit das Schwert gegen zwei Krieger der Ersten Legion führte, und jagten knisternd durch sein Haar. Noemi und Ghrorkramar waren an seiner Seite, unermüdlich schlugen sie auf ihre Feinde ein. Ein Schatten war es, in den er geraten war, gerade hier, wenige Armlängen vom Portal des Doms entfernt, doch es schien ihm, als stünde er in einem Morast, der ihn keinen Fingerbreit vorankommen ließ. Er hatte gerade beschlossen, in einem riskanten Manöver in die Luft zu schießen und sich mit einem Feuerwirbel den Weg zu bahnen, als er irgendwo in der Menge einen versagenden Schrei aus tausend Kehlen hörte. Im selben Moment krümmte Noemi sich zusammen und stürzte zu Boden.
Erschrocken packte Nando sie am Arm, während die Dämonen gegen seinen Schutzwall schlugen. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Schatten unter ihren Augen waren schwarz geworden, und er konnte Raars Gift fühlen, das ihr Herz fast erreicht hatte. Doch ein kalter Hauch brach nun in ihm auf, ein Frost, der Nando das Blut aus dem Kopf zog, als er ihn erkannte. Kurz erklang Ligurs Keckern über den Köpfen, das abrupt abbrach, und da begriff er, dass Avartos gesiegt hatte. Er hatte Kymbra bezwungen, hatte ihr das Leben genommen und mit ihr auch den Kreaturen, die sie in sich barg.
Ghrorkramar warf sich drei Schattenkriegern entgegen, ihre Leiber brachen unter ihm zusammen, aber Nando sah nur Noemi, ihre zitternden Lippen und die Adern, die dunkel wurden unter ihrer Haut. Warum zum Teufel setzte der Schatten des Verfalls ihr noch immer so zu, jetzt, wo er vernichtet war? Er legte seine Hand auf ihre Schläfe, und da hörte er Raars Stimmen, die im Todeskampf entsetzlich schrien. Er spürte sie selbst, die Klauen des Geiers, die sich in Noemis Körper gruben, und als sie das Bewusstsein verlor, überkam ihn eine Furcht, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Der verfluchte Reiter stürzte ins Verderben, aber er wollte nicht allein gehen. Er würde Noemi mit sich reißen. Nando packte ihre Schultern, doch seine Magie wurde im Tosen der Stimmen zerrissen. Er empfand den Schatten des Todes wie damals im Forum Romanum, als er Silas’ Hand gehalten hatte, während er starb. Entschlossen schüttelte er den Kopf. Dieses Mal nicht. Mit geballter Kraft schickte er seine Magie in die Schutzkuppel um sie herum, dann stürzte er sich vor.