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Heinz G. Konsalik

Bluthochzeit in Prag

Roman

hockebooks

16

Oberst Tschernowskij hatte seine Koffer gepackt. Es waren zwei elegante, helle Schweinslederkoffer, in Paris in der Rue Faubourg St. Honoré gekauft. Mit Wehmut dachte er daran, wie schön sein Leben bis zu dieser Stunde gewesen war.

Dort, wohin man ihn jetzt von Moskau aus schicken würde, brauchte er keine schweinsledernen Koffer mehr, keine italienischen Anzüge, keine Schweizer Uhren und keine Seidenhemden aus Hongkong. General Ignorow hatte es deutlich zu verstehen gegeben: »Sie kommen sofort zurück, Andrej Mironowitsch«, war sein letzter Anruf gewesen, der über Prag und Pilsen in das Nest Horni Vltavice lief. »Ihre Kapriolen habe ich satt. Oberstleutnant Woronigradow wird Ihren Posten übernehmen. Er trifft morgen in Prag ein. Man hat Sie in die Tschechoslowakei geschickt, damit Sie Ordnung unter die Rebellen bringen. Und was tun Sie? Stellen in einer Rundfunkmeldung eine Agentin bloß, kompromittieren die ganze Sowjetunion. Sie rennen einem wippenden Hintern nach wie ein Hahn einer Henne! Ich erwarte Sie morgen Nachmittag bei mir zum Rapport.«

Tschernowskij hatte nichts entgegnet. Wenn der gelbe Giftzwerg in Moskau schlechte Laune hatte, war es vergeblich zu argumentieren. Zwei Stunden lang saß er neben seinen beiden Pariser Koffern und erwog ernsthaft, seine Abreise in eine andere Richtung zu lenken. Wien lag nahe, auf jeden Fall näher als Moskau und Jakutsk, man konnte sich als politischer Flüchtling anerkennen lassen, als Gegenleistung einiges aus dem sowjetischen Geheimdienst plaudern, nicht viel, im Grund Unwichtiges, denn im Herzen blieb man Russe und verriet nicht sein heiliges Vaterland. Dann war man frei, hatte alle Bande zur Heimat zerschnitten und lebte als alternder Mann traurig hinter dem Ofen. Vielleicht fand man eine Anstellung bei der österreichischen Abwehr, aber nur einen unwichtigen Posten, denn das Misstrauen der anderen Seite würde ständig bleiben und erst bei seinem Tod erlöschen. War das ein Leben?

Tschernowskij ruderte in seinem schweren Gewissenskonflikt wie ein Schiffbrüchiger, der vor sich einen Balken und einen Rettungsring sieht und sich nicht entschließen kann, wen er nehmen soll. Wer ist sicherer? Wer trägt ihn am weitesten?

In dieses große Problem platzte der Anruf aus Prag. Major Abadurian, sein Stellvertreter und ein kleiner dunkelhaariger Kaukasier, den Tschernowskij sehr schätzte, meldete den Diebstahl der beiden Uniformen aus dem neuen Lager der 3. Kompanie an der Grenze.

»Ich könnte Sie umarmen, Iwan Nikiforowitsch, wenn Sie jetzt hier wären!«, schrie Tschernowskij ins Telefon. Er gab seinen Koffern einen Tritt und fegte sie in die Ecke. »Wenn Sie wüssten, was Ihr Anruf für mich bedeutet. Gar nicht ermessen können Sie das! Sie machen mich für alle Zeiten dankbar!«

Major Abadurian blickte auf seine Uhr. Zehn Uhr vormittags und schon besoffen, dachte er. Er hat sich sehr verändert, der gute Andrej Mironowitsch. Psychologen behaupten ja, dass der Mensch im Alter ein anderes Gesicht bekommt, aber mit fünfzig ist Tschernowskij noch ein bisschen zu jung, um zu vergreisen.

»Sonst liegt nichts vor«, sagte Abadurian abgehackt. »Die Listen aller aufsässigen Intellektuellen sind vollständig. Die Leute werden beobachtet, soweit sie noch hier sind.«

»Es kann nichts Wichtigeres geben als die geklauten Uniformen, glauben Sie mir. Ich umarme Sie, Iwan Nikiforowitsch.«

Abadurian legte den Hörer auf. Tragisch, dachte er. Französischer Kognak, seine große Leidenschaft. Er säuft sich noch um seinen Generalmajor. Dann dachte er an die unglückliche Tschernowskaja in Moskau und bekam träumerische Augen.

Tschernowskij aber entwickelte eine große Betriebsamkeit. Zunächst rief er in Moskau an. Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Leitungen nach Horni Vltavice frei waren, dann aber war die Verständigung so klar, als säße Ignorow im Nebenzimmer und spräche über den Hausapparat.

»Keine Kommentare, Tschernowskij«, bellte der gelbe Giftzwerg aus Moskau, als sich Tschernowskij meldete. »Und keine Ausreden! Sie sind morgen Abend bei mir. Das ist ein Befehl! Was wollen Sie noch?«

»Um eine Verlängerung bitten, Genosse General.« Jetzt mache ich es förmlich, dachte er. Auch er hat mich ja eben nur Tschernowskij und nicht wie sonst Andrej Mironowitsch genannt.

»Unmöglich! Sie kommen!«

»Ich bin einer Sabotagetruppe auf der Spur. Es wäre unverantwortlich, wenn ich jetzt abreisen müsste.«

»Wer soll Ihnen das noch glauben?«

»Fragen Sie Major Abadurian!«, sagte Tschernowskij heiser. »Fragen Sie auch den Kommandeur des zweiten Panzerregiments in Klatovy. Eine große Aufregung ist hier«, fügte er hinzu und schwitzte vor Selbsterniedrigung.

General Ignorow schien unschlüssig zu werden. Er räusperte sich. »Wie lange brauchen Sie?«, fragte er endlich.

Tschernowskij fühlte einen Stich in der Brust wie ein Mädchen nach dem ersten Kuss. Gerettet! Er beißt in den Köder! Er schenkt mir das Leben! Er verschiebt seinen Befehl, der den Oberst Tschernowskij für immer aus der Sonne rückt.

»Drei Tage«, sagte Tschernowskij kühn.

»Zwei!«, rief Ignorow starrsinnig. Für ihn waren Angebote zunächst dazu da, dass man sie ablehnte. »Was man in drei Tagen erledigen kann, kann man auch in zwei, wenn man sein Soll hochschraubt.«

Gegen diese Logik fand auch Tschernowskij keine Argumente mehr. »Ich will es versuchen, Genosse General«, wich er aus. »Ich gebe Ihnen übermorgen wieder Nachricht.«

Eine Stunde später traf Oberst Tschernowskij bei der 3. Kompanie ein. Die Offiziere des ganzen Regimentes erwarteten ihn, den großen Fachmann aus Moskau. Die beiden bestohlenen Rotarmisten standen in der Ecke wie verstaubte Gartenzwerge; man hatte ihnen einen dünnen grünen Arbeitsanzug gegeben. Sie sahen darin armselig aus.

»Genosse Oberst«, sagte der Kommandeur des Regiments, als man Tschernowskij mit gebührendem Respekt begrüßt hatte und voll Achtung die Spange des Leninordens auf seiner Brust entdeckte, »der Fall ist einfach. Man hat zwei Uniformen gestohlen, und zwar soll der Dieb ein sowjetischer Panzeroffizier gewesen sein. Das machte uns stutzig, darum baten wir auch um Hilfe der Fachleute vom KGB. Ein sowjetischer Leutnant stiehlt doch keine Uniformen!«

»Er tut es, Genossen«, sagte Tschernowskij mit Nachdruck. Dann sah er in die verblüfften, ja betroffenen Gesichter der Offiziere und lächelte. »Ich kenne auch den Namen des Offiziers: Leutnant Muratow.«

Dem untersuchenden Politoffizier fiel der Unterkiefer herab. Er starrte Tschernowskij wie ein Wundertier an. »Das ist ja ungeheuerlich«, stotterte er. »Das wissen Sie?«

»Moskau weiß alles!« Tschernowskij wandte sich ab. Die Wirkung dieses Satzes kannte er. In die Herzen flog so etwas wie der Schein eines soeben erschauten Wunders. Moskau weiß alles, das lebt in jedem Russen mehr als die stille Gegenwart Gottes. Moskau weiß alles, vom Eismeer bis zur Mongolei, von Berlin-Karlshorst bis zum Kap Deschnew im äußersten Norden.

»Und was befehlen Sie, Genosse Oberst?«, fragte der Kommandeur. »Warum hat Leutnant Muratow das getan?«

»Er will mit einer Gruppe tschechischer Revolutionäre, die wir genau kennen, nach Westdeutschland flüchten.« Tschernowskij drehte sich um. Seine hellen Augen leuchteten. Wie nahe bin ich meinem Triumph, dachte er selig. »Geben Sie Alarm an alle Grenztruppen in diesem Bereich. Sperrung aller Übergänge, peinlichste Passkontrolle durch die tschechischen Grenzer im Beisein unserer Leute. Verstärkung auf den Wachtürmen, starke Streifen vor dem Schussfeld der Grenze, Kontrolle aller allein angetroffenen sowjetischen Soldaten, sofortige Schießerlaubnis, wenn jemand bei Anruf nicht stehenbleibt. Genossen, diese tschechische Gruppe darf nicht über die Grenze! Gelingt ihr doch der Durchbruch, muss ich über jeden von Ihnen, Genossen, in Moskau Meldung machen. Sie verstehen mich?«

Die Offiziere nickten ernst. Ein verteufelter Auftrag, dachten sie. Warum muss der Satan gerade in dieser Gegend scheißen? Meldung nach Moskau – der Himmel verhüte das!

»Im Übrigen wurde Leutnant Muratow zum Tode verurteilt«, sagte Tschernowskij nebenhin, als sei das unwichtig. »Wenn Sie ab sofort mehr als Ihre Pflicht tun, Genossen, dürften die Gesuchten nicht mehr weit kommen.«

Genau um die Mittagszeit wurden alle Grenzübergänge gesperrt, besetzten sowjetische Truppen die Wachtürme an dem Todesstreifen, versteckten sich Panzer am Waldrand und überflogen Hubschrauber, die Tschernowskij aus Pilsen anforderte, das ganze Grenzgebiet und die Wälder entlang der Schluchten zwischen den Bergen Lusen und Rachel und der Grenzstraße Nr. 4, die bei Kleinphilippsreuth deutsch wird und bis nach Passau führt.

Es gab nach menschlichem Ermessen kein Durchkommen mehr.

Michael und Valentina hatten sich darauf eingerichtet, im Wald zu bleiben und die Zeit für sich arbeiten zu lassen.

Die Vorräte, die man damals mit den Fallschirmen abgeworfen und die Pilny zurückgelassen hatte, als der Marsch zur Grenze begann, erwiesen sich jetzt als ein wahrer Schatz.

Valentina packte die Kisten und Säcke aus und trug den Inhalt in die Höhle. »Die Vorräte reichen ohne Schwierigkeiten für vier Wochen«, sagte sie, als alles im »Keller«, wie sie die Höhle nannte, aufgestapelt war. »So lange werden wir nicht im Wald bleiben. In vier Wochen hat die Welt vergessen, was am 21. August geschehen ist, und auch Tschernowskij wird wieder in Moskau sein.«

Aus Steinen baute sie einen richtigen Herd, in den sie die beiden Spirituskocher einsetzte. Eine andere Höhle richtete sie als Schlafzimmer ein. Sie legte die Luftmatratzen hin, faltete die Decken am Fußende, stellte zwei Batterielampen an die Kopfteile und bespannte die Felswände hinter den Matratzen mit den großen Nylontüchern der Fallschirme, indem sie den dünnen Stoff malerisch drapierend in Spalten und Ritzen der Felsen stopfte.

Lucek, der langsam herumging und mit größter Anstrengung die leeren Kisten wegzog, blickte einmal in die Höhle und lachte. »Darin sieht man, wie sehr du eine Frau bist«, sagte er. »Es sieht aus wie ein Hochzeitszimmer.«

»Ich habe es bei der Ausbildung in Irkutsk gelernt. Überleben in der Einsamkeit, bei 30 Grad Frost, allein in der Taiga. Da habe ich Bäume ausgehöhlt und das sibirische Feuer angemacht, sonst wäre ich erfroren.«

»Wir wollten nicht davon sprechen«, sagte Lucek langsam. »Nicht von dem, was du damals warst.« Er nahm ihren Kopf zwischen seine zitternden Hände und küsste sie auf die geschlossenen Augen. Dann half er ihr bei dem Bespannen der Wände und setzte sich später erschöpft auf eine der aufgeblasenen Matratzen. »Nun sind sie schon zwei Tage unterwegs«, sagte er und atmete schwer, was in der Brust tausend Nadelstiche erzeugte. »Ob sie über die Grenze sind? Sie müssten es eigentlich, wenn alles so gelaufen ist, wie Pilny geplant hat.«

»Sie sind bestimmt schon in Deutschland.« Valentina sah auf ihre Uhr. »Drei Uhr? Hast du keinen Hunger, Micha?«

»Wie ein Wolf, Liebling.«

»Ich bin eine miserable Hausfrau.« Valentina beugte sich über Lucek und zog seinen Kopf an den Haaren zurück. »Was wünscht der Herr? Bratwurst mit Sauerkohl? Grüne Bohnen mit Speck? Gulasch mit Nudeln? Die Küche ist für alles bereit, ich muss nur eine Dose öffnen. Speisekarten werden erst morgen gedruckt, mein Herr.«

Lachend, Arm in Arm, traten sie aus der Höhle und blinzelten in die Sonne. Nach dem Regen des vergangenen Tages war die Luft herrlich klar, das Grün der Bäume leuchtete wie poliert.

Und dann sahen sie ihn.

Er stand am Waldrand. Schäferhundgroß, struppig, den Kopf witternd vorgestreckt, die Läufe gegen den Boden gestemmt. Ein leises, dumpfes Knurren kam zwischen den leicht hochgezogenen Lefzen hervor, die Augen funkelten grün und böse.

»Bleib stehen«, sagte Lucek gepresst und schob sich vor Valentina. »Bleib ganz ruhig stehen.«

Valentina lehnte sich an den Felsen. Sie hatte keine Angst, sie war nur verwundert, plötzlich ein anderes Lebewesen in dieser wilden Einsamkeit zu sehen. »Das ist doch kein Wolf«, sagte sie leise. »Hier gibt es doch keine Wölfe. Er ist auch viel zu groß. Das ist weiter nichts als ein weggelaufener Hund.«

»Ein verwilderter Hund.« Lucek nickte. »Er ist wieder zum Wolf geworden. Und er hat Hunger.« Er schob Valentina in die Höhle zurück, bückte sich und nahm ein langes Klappmesser aus der neben dem Eingang stehenden Materialkiste. »Er ist doppelt gefährlich, er wird uns anfallen vor Hunger, und er wird uns mit seinem verrückten Gebell verraten. Er hat jetzt Fressen gewittert, und er wird wiederkommen, wenn wir ihn wegjagen.«

»Was willst du tun?« Valentina hatte eine der Pistolen aus der Kiste genommen, die Pilny zusammen mit einem Gewehr und zwei anderen Pistolen gleichfalls zurücklassen musste.

Lucek schüttelte den Kopf. »Nicht schießen, Miroslava. Um uns herum liegen die Russen. So ein Schuss alarmiert sie. Es muss lautlos gehen.« Er trat zwei Schritte vor, das Messer in der Hand.

Der riesige Hund am Waldrand knurrte lauter. Er schob die Lefzen hoch und zeigte ein weißes, blinkendes, starkes Gebiss mit vier spitzen, langen Reißzähnen.

Valentina behielt die Pistole in der Hand und schob unhörbar den Sicherungsflügel zur Seite. Wie kann Micha gegen diesen Hund kämpfen, dachte sie. Er hat doch noch keine Kraft. Für ihn ist dieses Tier wie ein Riese, der ihn zermalmt. Jetzt zieht das Biest den Kopf an, die Vorderläufe senken sich, es ist sprungbereit. »Bleib stehen, Micha, um Gottes willen, bleib stehen«, sagte sie tonlos. »Versuch ihn heranzulocken. Ich werde eine Gulaschdose öffnen und ihm hinwerfen. Das wird ihn ablenken.«

Sie versuchte, hinter Lucek zur Küchenhöhle zu schleichen, aber der Hund, jede Bewegung mit seinen glitzernden Augen verfolgend, verstärkte sein Knurren. Tief grollte es aus seinem Hals, der dicke, buschige Schweif schlug hin und her.

»Zurück!«, schrie Lucek und duckte sich.

Der riesige Hund, schwarzbraun, zottelig, ein Höllenbiest wie aus der Sage, bewegte den Kopf hin und her. Sein Gebiss blitzte in der Sonne, dahinter leuchtete der Rachen blutrot.

»Komm«, sagte Lucek mit ruhiger Stimme und bewegte sich langsam vorwärts. Nur noch sechs weite Schritte trennten ihn von dem verwilderten, bösen, aus grünen Augen funkelnden Hund. »Komm«, lockte er. »Komm her … Komm her … Sei still, mein Lieber, sei still … Brav, schön brav … Komm.« Er streckte die linke Hand aus, in der rechten hielt er das Messer stoßbereit.

Der riesige Hund sah Lucek an mit einer Verachtung, die fast schon menschlich war. Ihr Heuchler, hieß dieser Blick. Ihr lockt mit süßen Tönen, und nachher stoßt ihr mir das Messer ins Herz. Ich kenne euch, ihr Menschen, und ich hasse euch! Ich habe Hunger, weiter nichts. Und ich wittere das Fressen. Es ist mein gutes Recht, es mir zu nehmen.

Der Hund senkte den Kopf, warf ihn dann hoch empor und sprang. Mit zwei gewaltigen Sätzen war er bei Lucek, wich fast elegant dem blitzenden Messer aus, riss das dampfende Maul auf und warf sich mit der ganzen Schwere seines massigen Körpers gegen den verhassten Menschen.

Lucek verlor das Gleichgewicht, taumelte und fiel zu Boden. Noch im Niederstürzen stieß er zu, hörte den Hund aufjaulen und rollte dann über den Felsengrund. Die Wunde in der Brust schien von dem Aufprall wieder aufzubrechen, ein wahnsinniger Schmerz zerriss seinen Körper, er konnte es nicht zurückhalten, er musste schreien, laut schreien, und dann sah er Valentina, die neben dem gemauerten Herd stand, die Pistole auf den Hund gerichtet, der vor ihm den Kopf hin und her warf, grausige, jaulend-bellende Töne von sich gab, das Maul aufgerissen hatte, aus dem Speichel und Blut tropften, und der sich jetzt duckte, um sich erneut auf ihn zu stürzen und ihm die Gurgel zu zerfleischen.

»Nicht schießen!«, brüllte Lucek. »Nein! Nicht schießen!« Er zog die Beine an und trat nach dem Hund. »Lenk ihn ab! O Gott!«

Ein dunkler Schatten warf sich auf ihn. Im gleichen Augenblick krachten zwei Schüsse, ein zuckendes Bündel verfilzter, stinkender Haare senkte sich über Lucek und nahm ihm den Atem, dann rollte es zur Seite, er konnte wieder den Himmel sehen und fühlte, wie Valentina bei ihm kniete, seinen Kopf an ihre Brust drückte und immer wieder seinen Namen rief.

Als er die Augen öffnete, sah er, wie sie den Kadaver fortschleppte. Sie hatte ihn an den Hinterbeinen gepackt, der Kopf schleifte über den Felsboden und hinterließ eine blutige Spur. Sie warf ihn hinab in den Sumpf, kam dann zurück mit einer Schüssel Wasser und wusch Lucek das Blut des Hundes aus dem Gesicht. »Er hätte dich zerfleischt«, sagte sie und kühlte die blutigen Schrammen an seinen Armen, die die langen Krallen des Tieres hinterlassen hatten.

Von dieser Stunde an warteten sie.

Sie lagen im Höhleneingang, hatten einige große Steine als Deckung vor sich aufgeschichtet und alle verfügbaren Waffen geladen. Sie waren bereit, sich zu verteidigen und dann gemeinsam mit den letzten Patronen zu sterben.

»Ich erschieße dich zuerst«, sagte Lucek stockend.

»Es ist besser so, Micha.« Sie nickte. »Ich hätte nicht die Kraft dazu.«

»Oder willst du leben? Sag es. Ich kann es verstehen. Sie werden dich nicht töten. Du bist eine Russin. Du wirst weiterleben können. Aber mich werden sie umbringen. Abschlachten werden sie mich.«

»Leben? Ohne dich? Wie kannst du so etwas denken?« Sie schichtete die Steine für die Deckung höher vor die Höhle und schüttelte den Kopf. »Vielleicht kommen sie gar nicht? Niemand hat die beiden Schüsse gehört. Hier ist es einsamer als auf einer Koralleninsel im Meer. Du wirst sehen, die Nacht kommt, und nichts ist geschehen.«

Aber sie kamen.

In drei Abteilungen rückten sie heran, von drei Seiten. Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags.

Lucek schlief. Seine körperliche Schwäche war noch so groß, dass er so einschlief, wie er lag, den blonden Kopf im Moos, die Hände am Gewehr. Valentina weckte ihn nicht, als sie die schnell herankommenden Laute hörte. Zurufe, rollende Steine, Knacken von Zweigen. Sie stand auf, stieg über die steinerne Deckung und erwartete stolz, die Hände in die Hüften gestemmt, die sowjetischen Soldaten.

Es ist besser so, dachte sie. Warum ein Held sein, warum sterben, warum auf die anderen schießen? Alle Straßen führen zum Meer, sagen die Chinesen.

Warum sollte es keine neue Straße hinaus ins Leben geben?

Valentina sah dem jungen Unteroffizier entgegen, der mit schussbereiter Maschinenpistole als erster aus dem Wald trat. Er konnte etwas Tschechisch und winkte mit dem Kopf.

»Du allein?«, rief er.

»Nein. Ein Mann ist noch hier«, sagte Valentina Kysaskaja.

»Ein Mann. Er kommen! Hoch Hände! Dawai!«

»Er ist krank. Verwundet. Er schläft. Krank, balnoj.«

»Ah! Balnoj. Verstehen.« Der Unteroffizier winkte.

Von drei Seiten rückten die Rotarmisten heran, junge, fröhliche Burschen, vor Kurzem erst aus der Ausbildung entlassen, zum ersten Mal fern ihrer Heimat.

Valentina blickte den Jungen furchtlos entgegen. Sie war froh, dass Lucek schlief und nicht aus der Verzweiflung, sein Leben teuer zu verkaufen, einige von diesen fröhlichen Gesellen erschoss. Man hatte sie in dieses Land befohlen, und keinen von ihnen traf die Schuld an den vielen Tragödien, die sich jetzt in diesem Lande vollzogen. Sie kannten nur einen Befehl, und ein Soldat gehorcht ihm. Das ist überall so, in Russland wie in Amerika. Warum sollte man sie töten?

Valentina lief hinter den Steinwall zurück, bückte sich und schlug Lucek mit dem Pistolenknauf gegen die Schläfe. »Es muss sein, Micha, verzeih«, sagte sie dabei. »Du darfst nicht aufwachen, bis ich ihnen alles erklärt habe.«

Der Unteroffizier war der Erste, der über den Steinwall blickte und Micha neben seinem Gewehr vor der Höhle liegen sah.

»Er muss sofort einen Arzt haben, wratsch, verstehen?«

Der junge Unteroffizier verstand. Zwei Soldaten hoben Lucek vorsichtig vom Boden auf, betrachteten seinen dicken Brustverband und legten ihn dann auf eine Decke. Vier Mann, an jedem Zipfel einer, hoben ihn hoch, und so trugen sie Lucek fort, während die anderen in die Höhle schauten, die Köpfe schüttelten und Valentina misstrauisch musterten.

»Wer du?«, fragte der Unteroffizier erneut. »Ganzes Magazin hier. Warum?«

»Wir sind Freunde Russlands.« Valentina lächelte. Sie band sich die Haare im Nacken zusammen und benahm sich so, als habe man sie nun endlich befreit und als freue sie sich, dass die Sowjets gekommen seien. »Tschechische Freunde! Verstehen? Freunde von Russland. Konterrevolutionäre haben uns gejagt, wir haben uns hier versteckt. Jetzt sind wir frei, Freiheit, swoboda.« Sie gab dem verblüfften Unteroffizier einen Kuss, holte eine Tasche aus der Höhle, in der sie einige persönliche Sachen verstaut hatte, unter anderem auch einige Ampullen Morphium, ihre letzte Rettung vor dem Grauen, wenn es in Gestalt Tschernowskijs über sie herfallen sollte, und ging dann mit wippenden Hüften den vier Rotarmisten nach, die Lucek davontrugen.

Ab und zu sah sie den Kopf Michas, seine blonden Haare; er schwankte in der Decke hin und her und war noch immer besinnungslos.

Wir haben eine Chance, dachte Valentina Kysaskaja. Man wird uns den tschechischen Behörden übergeben, und das wird unsere Rettung sein.

»Wo führen Sie uns hin, Genosse?«, fragte sie den Unteroffizier, der neben ihr ging.

»Zum Stab des zweiten Regiments, Genossin.«

Sie zeigte auf den schwankenden Kopf Luceks. »Er muss einen Arzt haben. Sofort.«

»Er wird kommen in Hospital, Genossin.«

»Wir sind Freunde der Sowjets.«

»Ich weiß. Das auch sagen Kommandeur.«

Nach einer Stunde schlug Lucek die Augen auf. Er fühlte sich wie auf einer Schaukel, und als er begriff, was man mit ihm tat, rührte er sich nicht, sondern wandte nur den Kopf nach hinten. Sein Blick traf Valentina, die neben einem sowjetischen Soldaten hinter ihm herging.

Valentina lächelte ihn an. »Es ist alles gut, Micha«, sagte sie und nickte ihm zu. »Sie bringen dich zu einem Arzt, in ein Krankenhaus. Sie haben Achtung vor denen, die wegen ihrer Freundschaft zur Sowjetunion verfolgt wurden. Bleib nur ruhig liegen, Micha. Verstehst du?«

Lucek nickte schwach.

Die beiden Uniformen, die Muratow erbeutet hatte, passten zwar einigermaßen, aber damit gab er sich nicht zufrieden. Er verlangte, dass sich Pilny und Irena in vollkommene Russen verwandelten. »Niemand glaubt euch, dass ihr sowjetische Soldaten seid, wenn ihr nur die Uniformen anzieht, aber nicht dabei den ganzen Menschen ändert«, sagte er.

»Und wo fängt das an, wo hört es auf?«, fragte Pilny. Er hatte seine Uniform schon übergestreift; sie war ihm etwas zu klein, aber man konnte sich in ihr bewegen. Irena kam aus dem Wald zurück, wo sie sich umgezogen hatte; sie hatte die Haare hochgesteckt und unter dem Schiffchen verborgen. Wie ein frisches, junges blondes Kerlchen sah sie aus, wie ein Milchgesicht in Uniform, ein Jüngelchen, das Soldat spielen muss, ein kleiner Liebling, der noch von Mamuschka träumt.

»Seht euch das an!«, klagte Muratow. »Und das soll eine Streife glauben, wenn wir ihr begegnen? Vom Dnjepr bis zur Lena läuft kein sowjetischer Soldat so herum. Die Haare müssen runter.«

»Die Haare?«, rief Irena entsetzt und griff sich an den Kopf.

»Er hat recht, Irena.« Pilny setzte sich vor Muratow ins Gras und nahm die Mütze ab. Dann presste er seinen Rucksack zwischen die Knie und kramte in ihm herum. »Eine Schere haben wir nicht«, sagte er dabei. »An alles haben wir gedacht, nur nicht an eine Schere. Aber das geht auch.« Er reichte Muratow eine mittelgroße, für Starkstrom abgesicherte Drahtschere und dann ein Taschenmesser. »Versuch es, Semjon.«

Muratow betrachtete die Elektrodrahtschere, setzte sie dann an eine Strähne Pilnys und drückte zu. Es gab einen knirschenden Laut, fast so, als weinten die Haare laut auf, aber die Locke fiel abgeschnitten auf Pilnys Schulter.

»Es gelingt«, sagte Muratow. »Aber es ist eine böse Arbeit, Karel.«

Eine halbe Stunde lang schnitt Muratow an Pilnys Haaren herum. Als die Stoppeln für die Drahtschere zu kurz wurden, nahm er das Taschenmesser, befeuchtete Pilnys Kopfhaut mit Tee und rasierte dann die Borsten ab, so wie man ein Schwein nach dem Abbrühen abschabt.

Mit juckender, glutroter Kopfhaut, aber kahl wie eine Melone, erhob sich Pilny und strich sich mit beiden Händen über den Schädel.

»Schrecklich siehst du aus«, sagte Irena.

»Wie ein Russe«, sagte Muratow gepresst. »Setz die Mütze auf. Siehst du, jetzt bist du fertig! Und nun Irena.«

Sie hockte sich vor Muratow ins Gras, nahm das Schiffchen ab und band die Haare los.

Die folgenden Minuten waren für Muratow eine einzige Qual. Er schnitt mit der Drahtschere die langen, seidigen Strähnen ab, und als Pilny wegging, um vom Waldrand aus die Gegend zu beobachten, rollte er eine dicke Locke des goldenen Haares in seiner Hand zusammen und steckte den glänzenden Ballen in seine Hosentasche. Jetzt bist du bei mir, dachte er. Ich kann dich streicheln, und keiner sieht es. Ich kann dich küssen, und du wehrst dich nicht. Ich kann bei dir schlafen, und niemand reißt mich zurück. Du bist immer bei mir, Irenuschka.

Dann war auch Irenas Schädel kahl, nur ein blondes Stoppelfeld blieb übrig. Die Tortur, sie mit dem Taschenmesser zu rasieren, lehnte Muratow schwer atmend ab. »Sieht unser Rekrut Pjotr Nikolajewitsch nicht gut aus?«, sagte er nachher mit krampfhafter Fröhlichkeit. »Genossen, jetzt fallen wir nicht mehr auf. Wir werden eine perfekte Streife bilden. Ein Leutnant und zwei Soldaten. Keiner wird uns mehr aufhalten.«

»Und die Rucksäcke?«

»Wir haben sie erobert! Abliefern wollen wir sie. Es wird niemanden geben, der das bezweifelt!«

Als sie endlich abmarschierten, zunächst nach Norden, war es vier Uhr nachmittags.

Die Grenzen waren geschlossen. Die sowjetischen Truppen hatten Alarm bekommen. Tschernowskijs Falle war weit geöffnet.

Nach einer Stunde, etwa um die gleiche Zeit, in der die drei sowjetischen Suchtrupps, aufgeschreckt durch zwei Schüsse, die Wildnis durchkämmten und das Lager Luceks erreichten, kamen ihnen im Wald zwei russische Soldaten entgegen.

Muratow, der in der Mitte ging, knirschte mit den Zähnen. »Ruhig weitergehen«, sagte er zwischen den geschlossenen Lippen. »Wir sind ja auch eine Streife.«

Die beiden Sowjetsoldaten blieben stehen, als sie die fremde Patrouille sahen, und grinsten breit. Dann erkannten sie den Offizier und standen stramm. Muratow ging unverdrossen weiter. Ganz kurz blickte Irena zur Seite auf Pilny. Sein Gesicht war hart und kantig geworden. Das Herz klopfte ihr an der Kehle.

»Vorkommnisse?«, bellte Muratow die beiden Soldaten an. Er stand jetzt dicht vor ihnen, neben sich Pilny; Irena war zwei Schritte zurückgeblieben mit weiten flackernden Augen.

»Nichts, Genosse Leutnant«, meldete der eine Soldat.

»Welche Truppe?«

»Sechstes Panzerbataillon.«

»Sehr gut. Wo liegen Sie?«

»Zwei Werst westlich, direkt an der Grenze. Suchen Sie auch diesen Sabotagetrupp?«

»Wie eine Henne ihre gestohlenen Eierchen. Und was ist das da?« Muratow zeigte nach vorn.

Die beiden Soldaten fuhren herum.

Was jetzt folgte, vollzog sich so blitzschnell, dass Irena erst begriff, als die beiden Panzersoldaten umfielen. Fast gleichzeitig hatten Muratow und Pilny zugeschlagen, mit der Handkante gegen den Hals, ein teuflischer Schlag, der sofort betäubte und keinen Laut mehr zuließ. Wie gefällte Bäume sanken die beiden Rotarmisten auf den Waldboden und streckten sich aus. Ihre Maschinenpistolen polterten neben sie.

»Nun haben wir auch noch zwei Maschinenpistolen«, sagte Muratow. »Sie fehlten uns. Eine unbewaffnete Streife im fremden Land, wer glaubt uns das? Diese beiden müssen Idioten sein; sie werden lange darüber nachdenken können.«

Pilny und Muratow fesselten die beiden Sowjets mit den Riemen eines Rucksacks, dessen Inhalt sie in einen anderen umpackten. Dann warfen sie unwichtig gewordene Dinge wie den kleinen Propangaskocher, einen Topf und eine Pfanne weit hinein in den Wald.

Sie marschierten weiter, bevor die beiden Armen wieder zur Besinnung kamen. Erst zwei Tage später wurden sie gefunden, völlig entkräftet und fast verdurstet. Sie waren noch immer so verwirrt, dass sie nicht klar aussagen konnten, was eigentlich mit ihnen geschehen war.

Es war Nacht, als Muratow, Pilny und Irena die Schluchten des Rachelmassivs erreichten. In einem felsigen Hohlweg schlugen sie ihr letztes Lager auf, aßen Brot und Hartwurst und tranken eine Büchse Bier.

»Wir sind nahe an der Grenze«, sagte Pilny und betrachtete seine Spezialkarte. »Wenn wir über die Bäume sehen könnten, müssten wir die Lichter drüben in Deutschland erkennen. Wann soll es losgehen?«

»Am besten im Morgengrauen.« Muratow sah auf seine Uhr. »Dann ist Ablösung der Wachen. Es fällt nicht auf, wenn wir uns dem Todesstreifen nähern. Wir können noch vier Stunden schlafen. Bist du müde, Irenuschka?«

»Zum Umfallen.«

»Ich übernehme die erste Wache.« Pilny faltete die Karte zusammen. »In zwei Stunden wecke ich dich, Semjon.«

»Gut, Brüderchen.«

Sie legten sich auf die Rucksäcke und drängten sich eng aneinander. Die Nächte waren kühl, da musste man schlafen wie die Hunde. Zusammengerollt und aneinandergepresst.

Pilny blieb sitzen und sah in die fahlhelle Nacht. Noch vier Stunden.

Dann die Grenze, die Wachttürme, die Patrouillen, der verminte Streifen bis zum Draht, die Scheinwerfer, die Maschinengewehre in versteckten Erdbunkern.

Noch vier Stunden.

Zum ersten Mal hatte er Angst. Nicht um sein Leben, um Irena. Sie hätte als ein freier Mensch ausreisen können, zu Fuß, in einem Wagen, mit der Eisenbahn, niemand würde sie daran hindern.

Pilny senkte den Kopf und schlug die Hände vor das Gesicht. Mein Gott, dachte er, was tue ich da? Wie kann ich das jemals verantworten?

Wenn Irena an der Grenze etwas zustößt – als lebende Schießscheibe stelle ich mich vor sie hin. Ich habe in diesem Land dann nichts mehr zu suchen als den Tod.

Beim Regimentsstab wurden Lucek und Valentina sofort mit aller Sorgfalt behandelt. Valentina bekam ein gutes Essen und eine Flasche Krimwein, goldgelben Wein, der ihr fast die Tränen in die Augen trieb vor Heimweh.

Um Lucek kümmerte sich der Regimentsarzt. Als er den Druckverband abwickelte, die Wunde sah und dann das lächelnde Gesicht Luceks, der lachte und doch vor Schmerzen mit den Zähnen knirschte, konnte er nur den Kopf schütteln. »So etwas habe ich noch nicht gesehen«, sagte er und starrte auf die zerfetzte Brust. »Hat ein Adler Sie operiert, Genosse?«

Nach den ersten Begrüßungen aber kamen die Bedenken. So viel Valentina auch von ihrem Widerstand gegen die tschechischen Rebellen erzählte, eine wirklich schöne Geschichte erfand, wie Konterrevolutionäre sie in den Wald gejagt hatten und sie nur mit Mühe dem Aufhängen entfliehen konnten, irgendwie schien es dem Kommandeur des Regiments unklar zu sein. Der Alarm, den Tschernowskij ausgelöst hatte, sprach zwar von drei Männern und zwei Frauen, aber was bedeutete das? Die Gruppe konnte sich geteilt haben. Noch lag in den Ohren aller Offiziere die Durchsage, dass Moskau diese Aktion auf jeden Fall siegreich sehen wolle, und »auf jeden Fall« bedeutete: Alles, was unklar ist, soll man dem KGB melden.

Während Valentina sich von den galanten Offizieren des Stabs mit Süßigkeiten verwöhnen ließ und immer wieder darauf drängte, den Bürgermeister des nächsten Ortes zu sprechen, während Lucek zum ersten Mal seit seiner Verwundung und der Behandlung durch Dr. Matuc wieder richtig ärztlich versorgt wurde, telefonierte Oberstleutnant Kirollow, der Kommandeur, mit Oberst Tschernowskij, der wie eine dicke Spinne bei der 3. Kompanie saß.

Fünf Minuten später wusste Kirollow, dass er ein kluger Mensch gewesen war und sein Name in Moskau genannt werden würde. Er goss sich ein Glas Wodka ein, trank es genießerisch und kehrte dann zurück zu seinen Offizieren. Er kam in einen lustigen Kreis, man erzählte Witze aus dem Militärleben.

Eine halbe Stunde später hielt ein Wagen vor der Kommandanturbaracke.

Valentina hob den Kopf und sah Kirollow fragend an.

»Für Sie, Genossin«, sagte Kirollow, und plötzlich sprach er Russisch.

Valentina atmete tief auf. Verloren, dachte sie. Das Spiel ist aus. Ich weiß jetzt, wer dort draußen angekommen ist. Der Einsatz, Micha, war zu hoch.

Kerzengerade, stolz, die langen schwarzen Haare lose über der Schulter, saß sie im Kreis der plötzlich stummen sowjetischen Offiziere, als die Tür aufsprang und Tschernowskij eintrat. Sein Gesicht glänzte, er wirkte jung wie ein strahlender Sieger.

»Valentina Konstantinowna Kysaskaja!«, rief er und streckte beide Hände nach ihr aus. »Ich wusste, dass wir uns wiedersehen. Wölfe ziehen sich gegenseitig an, sie sind nun einmal Herdentiere.« Dann packte er sie an den Schultern, riss sie zu sich empor und starrte in ihre flammenden schwarzen Augen. »Jetzt wird die Hölle ausbrechen, mein Teufelchen«, sagte er heiser vor innerer Erregung. »In einen Vulkan werden wir springen, mitten hinein.«

17

Michael Lucek lag im Sanitätszelt und trank Orangensaft. Er war frisch verbunden und hatte zwei Kreislaufinjektionen erhalten. Der Regimentsarzt, der zur persönlichen Erinnerung die zerfleischte Brust Luceks fotografierte, ehe er sie behandelte, hatte die entzündeten Wundränder mit einer Paste bedeckt, die herrlich kühlte und den brennenden Schmerz betäubte.

Als Oberst Tschernowskij eintrat, saß Lucek auf dem Feldbett, und der Regimentsarzt hörte mit einem Membranstethoskop noch einmal die Atmung ab. Es pfiff bei jedem Luftholen, als blase man auf einer kleinen Pfeife, dann folgte ein Hustenanfall, der Lucek fast die Brust zerriss.

»Aha!«, sagte Tschernowskij laut und lächelte Lucek verzerrt an. »Unser großer Held! Wie geht es ihm, Doktor?«

»Dass er lebt, wird mir immer ein Rätsel bleiben, Genosse Oberst«, antwortete der Regimentsarzt und steckte sein Stethoskop in die Jackentasche. »Er hat eine zähe Natur.«

»Raubkatzen und Wölfe sind eine Gattung für sich.« Tschernowskij setzte sich auf einen Klappstuhl neben das Bett.

Jetzt erst bemerkte Lucek, dass am Eingang des Zeltes auch Valentina stand. Die breite Gestalt Tschernowskijs hatte sie bisher verdeckt. Lucek sah sie stumm an, und sie erwiderte seinen Blick mit einer so starken inneren Kraft, dass er wortlos nickte und sich dem sowjetischen Oberst zuwandte. »Sie brauchen nichts zu sagen, Sie sind Tschernowskij«, sagte er langsam. »So habe ich Sie mir vorgestellt, zynisch und kalt wie ein eisüberzogener Felsen.«

»Sie sind nicht sehr höflich, mein Lieber.« Tschernowskij sah den zögernden Regimentsarzt kurz an. Hinaus, hieß dieser Blick. Was jetzt hier gesprochen wird, hat mit Medizin nichts mehr zu tun. Jetzt ist das KGB im Zelt, die Faust Moskaus. Verhüllen Sie Ihr Haupt, Doktor, und vergessen Sie, dass hier ein Verwundeter liegt.

Der Regimentsarzt verstand. Er verließ schnell das Sanitätszelt.

Tschernowskij genoss eine Weile die drückende Stille, die zwischen ihm, Lucek und Valentina lag. Es war wie das Vakuum, das einem Taifun vorausgeht, eine Luftleere, die den Atem wegnimmt. Valentina war näher gekommen und hatte sich jetzt auf das Feldbett neben Lucek gesetzt. Sie nahm seine Hände und streichelte sie. In den schillernden Augen Tschernowskijs las sie, dass jede zärtliche Bewegung ihrer Finger für ihn ein Schlag mit der Faust war. Darum tat sie es auch, und als Lucek wieder seinen Hustenanfall bekam und sich krümmte, legte sie den Arm um ihn, drückte ihn an sich und küsste ihn auf die keuchenden Lippen.

»Welche Zärtlichkeit«, sagte Tschernowskij. Seine Stimme war rau. »Bisher hatten Sie nur frauliche Formen, Valentina Konstantinowna, doch die abschreckende Kälte eines Eisberges. Plötzlich zeigen Sie Herz.«

»Micha hat es entdeckt!«, sagte Valentina laut. Es musste Tschernowskij wie ein Hammerschlag treffen. Sie erkannte die Wirkung sofort, die Augen Tschernowskijs wurden kleiner, schmaler und kälter.

»Man sollte ihm dafür dankbar sein.«

»Ich bin es bis zu meinem Lebensende, Andrej Mironowitsch. Es ist leider nur noch eine kurze Zeit –«

»Sie also sind Tschernowskij«, sagte Lucek noch einmal, als er sich von dem Hustenanfall erholt hatte. Valentina stützte ihn mit ihrem Körper und streichelte über seine Haare und über die bleichen Wangen, auf denen sich nach dem Husten runde rote Flecken bildeten. »Was wollen Sie von uns? Ihre Divisionen haben unser Land besetzt, der Aufstand der Freiheitsliebenden ist erstickt, die Regierung in Prag wird tun, was Moskau befiehlt, oder man wird sie wegfegen wie damals die Leute in Ungarn. Die Welt sieht zu und schweigt, unsere sozialistischen Reformen werden verwässert, es regieren in unserem Land wieder die Zensur, der Maulkorb, die Angst. Ihre Panzer und Rotarmisten werden dafür sorgen, dass keiner den Mund weiter aufmacht, als es zum Essen und Trinken notwendig ist.«

»Das stimmt genau.« Tschernowskij umklammerte mit beiden Händen sein hochgezogenes linkes Knie. »Die Weltmeinung kümmert uns einen Dreck. Wir schaffen Ordnung in unserem Lebens– und Interessenraum, und wir möchten den sehen, der uns daran hindern will! Der Westen? Amerika? Zum Lachen ist das! Ein Atomkrieg wegen der Tschechoslowakei?« Er beugte sich etwas zu Lucek vor. Ihre Blicke trafen sich. »Hier sitze ich, Lucek, und es wird keinen geben, der mich hindern kann, das zu tun, was ich will!«

»Und was wollen Sie?«, fragte Lucek.

»Sie vernichten!«, antwortete Tschernowskij trocken.

»Das ist eine Aufgabe für Kinder.« Lucek lehnte sich zurück gegen die ihn stützende Valentina. »Ein Dreijähriger mit einem Knüppel könnte mich jetzt erschlagen. Sie haben kindliche Wünsche, Tschernowskij.«

»Man kann es so sehen.« Tschernowskij blickte sinnend an Lucek vorbei. »Politisch sind Sie völlig uninteressant. Die Lage wird sich stabilisieren, und dann werden Feuerköpfe wie Sie isoliert sein. Ihre klugen Männer Svoboda und Dubcek werden alles tun, um einen Kompromiss zu finden: die Forderungen Moskaus einbauen in den neuen Sozialismus, wie ihn sich das tschechische Volk vorstellt. Das wird möglich sein – im Grunde genommen ist jede Politik nur ein Zaubertrick. Was wollen Sie also noch auf der Straße? Wogegen wollen Sie demonstrieren? Sie sind politisch ein völlig unwichtiger Mann! Ein Zwerg, der seine Hosen aufbläst, um größer zu erscheinen. Theoretisch könnten Sie hingehen, wo Sie wollen, zunächst ins Krankenhaus, dann wieder auf die Universität, Sie könnten Ihre Examina machen, Ihren Doktorhut in Empfang nehmen, keiner würde Sie jetzt noch daran hindern.«

»Und praktisch?«, fragte Lucek.

»Praktisch? Ich habe Sie gesucht wie ein verlorenes Auge und gefunden.« Tschernowskij lächelte böse. »Uns verbindet keine politische Gegnerschaft, uns verbindet Hass.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Lucek verwundert.

»Hat Ihnen Valentina nie etwas erzählt?« Tschernowskij sah die Kysaskaja herausfordernd an. »So still, Valentina? Früher waren Sie ein zwitscherndes Vögelchen. Jetzt sitzen Sie nur da und streicheln seine blonden Haare.«

»Er liebt mich«, sagte Valentina nüchtern.

»Das habe ich nicht gewusst.« Lucek richtete sich auf. »Dann ist also alles, was mit Valentina und mir geschehen ist, nur ein persönlicher Kampf gewesen?«

»Ein Privatkrieg, ganz recht. Die politische Lage gestattet es mir, ihn mit allen offiziellen Mitteln zu führen. Auch Ihre Vernichtung, Lucek, wird eine politische Tat sein. Ich habe von Moskau dafür einen Freibrief.« Tschernowskij erhob sich abrupt. »Sie haben mir eine Sehnsucht gestohlen, Lucek. Ich war gezwungen, mehr als einmal meinen Stolz zu brechen. Sie haben mich vor mir selbst lächerlich gemacht. Mich erfasst Ekel, wenn ich mein Spiegelbild sehe. Das kann ein Mann nicht wegwischen wie Fettflecken von seiner Brille. Wenn Sie nicht gekommen wären, besäße ich jetzt das Schönste dieser Welt: Valentina.«

»Nie!«, schrie die Kysaskaja und umklammerte Luceks Schultern.

»Warum sagen Sie das, Valentina? Ohne die tschechische Krise wären Sie nie nach Prag gekommen, hätten Sie nie Michael Lucek kennengelernt. Ich hatte schöne Pläne mit Ihnen. Zum Baikalsee wollte ich mit Ihnen fahren, im Sommer, wenn die Rosen duften und der heiße Wind über das Wasser streicht. Wir wären in einem Boot hinausgefahren, und die Sonne, der weite Himmel, die Wolken, die wiegenden Wellen, sie hätten unsere Herzen geöffnet. Sie wären an diesem Tage meine Geliebte geworden, ich weiß das ganz sicher. Und es wäre Ihnen nicht schwergefallen, Sie sind ja zur Hure ausgebildet worden.«

»O Sie Schwein, Sie erbärmliches Schwein!«, stöhnte Lucek. »Hätte ich nur mehr Kraft.« Er beugte sich so schnell vor, dass Valentina ihn nicht mehr zurückreißen konnte, und spuckte Tschernowskij ins Gesicht.

Einen Augenblick schien es, als wollte Tschernowskij ihn erschlagen, beide Fäuste hatte er emporgerissen; dann ließ er die Hände sinken und wischte sich langsam den Speichel aus den Augen. »Wir werden nach Prag fahren«, sagte er mit eisiger Ruhe. »Ich will den Untergang eines Menschen wie Sie genießen.« Er drehte sich um und verließ schnell das Zelt.

Lucek ließ sich zurückfallen gegen die Brust Valentinas. Vor seinen Augen schwankte alles, als sei er das Pendel an einer Uhr. »Was hat er mit uns vor?«, sagte er schwach. »Was brütet dieser Satan aus?«

»Kümmert es uns, Micha?« Sie beugte sich über ihn und küsste seine heißen Lippen. Er hat wieder Fieber, dachte sie. Er muss sofort in ein Krankenhaus. »Tschernowskij ist ein Mensch, der große Worte liebt. Wenn wir wieder in Prag sind, gibt es hundert Augen, die seine persönliche Rache verhindern. Er wird uns laufen lassen und zurückgehen nach Moskau.«

»Aber er wird dich mitnehmen.«

»Nein! Er wird Valentina Kysaskaja aus seinem Gedächtnis streichen.« Das war eine Lüge, aber sie sprach sie ohne Hemmung aus, weil sie sah, wie Lucek sich beruhigte und wie er an sie glaubte.

»Wir werden ein wunderbares Leben miteinander haben«, sagte er schwach.

Vor der Abfahrt nach Prag, für die sich Tschernowskij vom Regimentsstab einen viersitzigen Jeep auslieh, fand im Zimmer des Kommandeurs noch eine kurze Verhandlung statt.

Valentina Kysaskaja hatte darum gebeten, Tschernowskij unter vier Augen zu sprechen. Er hatte sofort zugesagt. Bevor sie das Zimmer betrat, wurde sie draußen von der Wache abgetastet. »Hat er Angst, der Genosse Oberst?«, fragte sie spöttisch, als man nichts Hartes an ihrem Körper als ihre Brüste und ihre Hüften fand. »Eine verborgene Pistole? Ein verstecktes Messer? Sie haben nicht überall gesucht, Genossen. Man kann ein Messer sehr gut zwischen den Beinen verstecken. Haben Sie keine Hemmungen, fassen Sie mir zwischen die Schenkel! Dienst ist Dienst, Genossen! Warum zögern Sie?«

»Gehen Sie hinein, Valentina Kysaskaja«, sagte der Unteroffizier der Wache heiser. »Nur eine Vorsichtsmaßnahme ist’s, ich kann nichts dafür.«

Tschernowskij empfing Valentina, als habe er sie längst erwartet. Zwei Gläser standen bereit, und er entkorkte gerade eine Flasche seines geliebten französischen Kognaks. Er goss die bauchigen Gläser ein Drittel voll, roch an seinem Glas, schwenkte den Kognak etwas, damit er seinen Duft entfaltete, und blinzelte Valentina zu. »Schon wegen ihres Kognaks sollten wir die Freunde der Franzosen werden«, sagte er. »Wie geht es Lucek?«

»Er schläft.«

Sie tranken in kleinen Schlucken die Gläser leer und sahen sich dann an wie zwei japanische Ringer vor dem Kampf.

»Es hat keinen Zweck, für ihn zu bitten«, sagte Tschernowskij endlich.

»Ich möchte Ihnen einen Tausch vorschlagen, Andrej Mironowitsch.« Valentina sagte es ganz ruhig, so, wie man eben ein Geschäft bespricht und einen Vertrag aushandelt. »Sie bringen Micha in ein Prager Krankenhaus und geben ihm damit die Chance zu überleben, und ich werde heute Nacht Ihre Geliebte …«

»Für eine Nacht? Wie in der Oper ›Tosca‹. Aber ich bin kein Scarpia, mein Täubchen. Eine Nacht, und dann zerfrisst mich die Erinnerung. Ich will Sie ganz, Valentina Konstantinowna. Mit Haut und Haaren sozusagen. Sie kommen mit mir zurück nach Moskau, ich werde über Sie einen glänzenden Bericht schreiben, Sie werden Ihren verdienten Urlaub bekommen, und dann fahren wir zusammen auf die Krim, schwimmen im tintenblauen Wasser, liegen im heißen Sand und füllen die Nächte mit Liebe wie einen Krug mit Wein.«

»Sie werden romantisch, Andrej Mironowitsch.« Valentina hielt ihm das Glas hin. Ihre langen schwarzen Haare wehten über ihr zuckendes Gesicht. »Gießen Sie ein, Genosse Liebhaber, voll das Glas. Ich muss ein trunkenes Gehirn haben, um Sie weiter anzuhören.« Sie nahm das volle Glas und stürzte es in einem Zug hinunter. Tschernowskij erwartete einen Erstickungsanfall, aber es war, als habe sie Wasser getrunken. »Noch einen!« Sie hielt das Glas wieder Tschernowskij unter die Nase.

»Mein Täubchen, das verträgst du nicht.«

»Gieß ein, geiles Väterchen!« Sie setzte sich auf die Tischkante neben Tschernowskij und ließ die langen, herrlichen Beine pendeln. »Was siehst du mich so an? Warum die großen Augen? Bin ich nicht so, wie du mich haben willst? Gieß ein, verdammt noch mal!«

Tschernowskij gehorchte.

Wieder trank sie das ganze Glas in einem Zug wie Wasser und warf es dann an die Wand. Klirrend zerschellte es.

»Nun ist er weg!«, schrie Valentina und beugte sich zu Tschernowskij vor. »Hast du’s gehört, Väterchen? Mein Charakter ist weg! Meine Seele! Klirr, zerbrochen in tausend kleine Scherben. Nun bin ich nichts, gar nichts, nur ein Körper mit runden Brüsten und starken Hüften. Du kannst mit mir machen, was du willst, nur bringe Micha ins Krankenhaus, schenke ihm das Leben.«

»Was ist bloß los mit dir?«, sagte Tschernowskij und lächelte säuerlich. »Setz dich hin, Valentina.«

»Ich biete mich dir dar!«, schrie sie. Rücklings ließ sie sich auf den Tisch fallen und lag ausgestreckt vor ihm, breitete die Arme aus und wölbte ihre vollen Brüste. »Was willst du mehr, he? Bin ich jetzt die Hure, wie du sie verlangst? Greif zu, Väterchen, packe das Fleisch, es gehört dir, verdammter Bock! Ich werde still liegen und dich ertragen – ist das nicht genug? Du kannst meine Wärme nehmen, mein Zittern, meine glatte Haut, ich wehre mich nicht! Väterchen!« Sie riss die Bluse auf und drückte mit beiden Händen ihre Brüste hoch. »Auf sie hast du gewartet. Von ihnen hast du geträumt, stimmt es, Andrej Mironowitsch? Greif zu – nur erlaube, dass ich mit den Zähnen knirsche!«

Tschernowskij war aufgesprungen und hatte einen Schritt vom Tisch weg getan. Mit zusammengekniffenen Augen und schwer atmend starrte er auf die entblößten Brüste Valentinas, auf diese festen, schwellenden Kugeln mit der glatten, ins helle Kupfer schimmernden Haut. Sein Blick glitt über ihren gestreckten Körper, über den flachen Leib, die Wölbung ihrer Schenkel, den Einschnitt der derben Hose, hinter der sich ihre Weiblichkeit verbarg, die langen, stämmigen Beine, und er biss die Zähne zusammen und schlug ihr auf die Hände, die noch immer die nackten Brüste hochpressten. Dann zog er ihr mit einem Ruck die Bluse zu und riss Valentina an den Haaren vom Tisch herunter. »Ich will nicht nur deinen Körper, ich will dich, deine Seele, dich als Ganzes.«

»Du bist ein Fantast, Väterchen.«

»Nenn mich nicht immer Väterchen!«, schrie Tschernowskij. Er zog Valentina vom Tisch weg und ließ dann erst ihre Haare los. »Warum benimmst du dich so?«

»Ich bin verzweifelt. Ich könnte den Himmel zerfetzen in meiner Not.« Sie starrte ihn aus flackernden Augen an, griff dann zum Gürtel und begann, ihre Hose aufzuknöpfen. Bevor sie sie abstreifen konnte, hielt Tschernowskij ihre Hände fest.

»Lass das, verdammt noch mal!«

»Sie sollen alles haben, Andrej Mironowitsch, alles! Wie ein geschlachtetes Schwein will ich vor Ihnen liegen, und Sie können sich die besten Stücke aussuchen. Kaufen Sie, was Sie wollen, aber bezahlen Sie mit Micha.« Sie riss sich los und ließ die Hose fallen. Ein knappes, schmales Dreieckshöschen bedeckte ihre Scham. Ein dünner, durchsichtiger Stoff war’s, ein Pariser Modell mit violetten Spitzchen.

»Zieh dich an«, sagte Tschernowskij heiser. »Wir fahren nach Prag. Irgendwo halten wir an, in Klatovy, Svihov, Borovy oder Prestice, dann sprechen wir weiter.«

»Sie werden Micha in ein Krankenhaus bringen, Andrej Mironowitsch?«

»Ich werde für ihn sorgen.«

»Versprechen Sie mir das?« Sie zog die Hose wieder hoch und knöpfte die Bluse zu.

»Ich verspreche es dir.« Tschernowskij drehte ihr den Rücken zu und sprach zum Fenster hin: »Er wird bald keine Schmerzen mehr haben.«

»Das ist schön. So schön. Ich danke Ihnen, Andrej Mironowitsch.« Sie hörte in ihrem Glück nicht den Doppelsinn der Worte, sie begriff nur eins: Micha ist gerettet. Er wird bald keine Schmerzen mehr haben. Er wird weiterleben.

Eine halbe Stunde später fuhren sie ab.

Die Druckerei der Prager Studenten in den unterirdischen Gewölben war verraten worden.