Es wird Herbst auf der Insel. Die Melancholie der kürzer werdenden Tage weckt in Nele die Sehnsucht nach einer eigenen Wohnung. Außerdem wird ihre Freundin Frauke schwanger und braucht sie jetzt. Das Projekt »Familienversöhnung« kommt in Gang, und immer noch ist die Zukunft zwischen ihr und Maik ungewiss. Werden die Dinge wieder ihren eigenen Lauf nehmen? Wird sie, wenn der Winter kommt, in ihrem eigenen Häuschen sitzen bei Tee, Kerzenlicht und Bratäpfeln?

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt.

Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Lebkuchenstadt (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020); Flieg zum Regenbogen (2020); Im Herz aller Dinge (2020); Frühling auf Helgoland (2020); Sommer auf Helgoland (2020; Der Globetrotter (2021).

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© 2021 Rainer Gross

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Umschlagfoto: © depositphotos.com/AntonMatyukha

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783753431611

1. Kapitel:
Nachsommer

Der September war angebrochen. Morten musste zurück auf See. Nele verabschiedete sich herzlich von ihm. Sie hatte den Kapitän auf dem Trockenen über den Sommer ins Herz geschlossen. Er würde ihr fehlen. Frauke brachte ihn hinunter zum Hafen. Als sie zurückkam, stieg sie gleich in ihr Arbeitszimmer und ließ sich bis zum Abendessen nicht blicken.

Dann kam sie herunter und klopfte an Neles Wohnungstür. Sie weinte ein bisschen in Neles Arm, und Nele versuchte sie zu trösten.

»Ach, ist doch alles Scheiße!«, flennte Frauke. »Was sollen die ganzen drei Monate, wenn ich dann den Rest des Jahres wieder allein bin?«

»Ja, lass den ganzen Frust mal raus!«, meinte Nele.

»Ach, ich hab’s so satt«, beklagte sich Frauke. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch mitmache!«

»Ich leide mit dir«, sagte Nele. »Lass uns was machen, was uns guttut.«

»Was denn?«

»Einen Film gucken zum Beispiel. Aus der Konserve«, schlug Nele vor.

»Der weiße Hai«, knurrte Frauke. »Das wäre das richtige Kontrastprogramm!«

»Aber da kommen Kapitäne drin vor.«

»Wenn ich auch nur eine Kapitänsmütze sehe, kriege ich einen Heulkrampf!«, drohte Frauke.

»Dann lass uns den Hobbit anschauen. Den letzten Teil kenne ich noch nicht.«

Zu zweit schauten sie sich also alle drei Teile des Hobbit an und schlugen sich die halbe Nacht um die Ohren. Frauke hatte einen großen Becher Schokoeis mit Karamellsoße und Browniestückchen im Gefrierfach, den vertilgten sie gemeinsam.

Hinterher war Frauke schlecht, aber der Kummer war vorüber.

»Ich sag’s dir«, brummte Frauke. »Ich mach das nicht mehr lange mit!«

»Sag das nicht mir, sag es Morten.«

Frauke brummelte noch ein bisschen vor sich hin und ging dann ins Bett. Nele machte sich einen Tee in der Küche und saß noch eine Weile auf dem Sofa, zufrieden und nachdenklich. Der Kummer ihrer Freundin bewegte sie. Gab es einen Weg, ihr irgendwie zu helfen?

Sie wollte sich etwas einfallen lassen.

Der September setzte das sommerliche Wetter der letzten Wochen fort. Ein blauer Himmel spannte sich über die Insel, der Wind wehte lau, und das Thermometer zeigte zwanzig Grad. Nele konnte ihr müßiges Leben fortsetzen, lag oft im Laubengärtchen auf dem Rasen unterm Rosenbusch, spazierte den Klippenweg entlang und genoss den Ausblick auf das Meer. Auf der Düne schwamm sie am Badestrand und beobachtete die Robben, und manchmal besuchte sie Ommo Hüppop in seiner Vogelwarte oder wanderte verträumt durch den Fanggarten.

Mit Maik traf sie sich nun regelmäßig. Sie kochten gemeinsam, sahen sich einen Film an, machten gemeinsam einen Spaziergang und kuschelten abends auf dem Sofa. Manchmal schlief sie bei ihm, in seinem Bett, sie waren zärtlich und küssten sich, aber zu einem neuerlichen Sexversuch kam es nicht.

Nele war zufrieden mit ihrem Leben. Oft dachte sie an Kati. Einmal war sie zum Campingplatz auf der Düne gegangen und hatte die Stelle gesucht, wo Katis Zelt gestanden hatte, das rotgelbe Igluzelt. Aber die Stelle war leer, Kati war schon abgereist aufs Festland. Wer weiß wohin. Nele hatte ihre Mailadresse und wollte ihr so bald wie möglich schreiben. Zugleich aber wollte sie Kati Zeit lassen, um sich daran zu gewöhnen, dass ihre große Schwester wieder in ihrem Leben war.

Einmal auch ging sie allein zum Flugplatz der Düne und setzte sich in das Restaurant, um einen Cappuccino zu trinken und sich an das Gespräch mit Kati kurz nach ihrem Wiedersehen zu erinnern. Was Kati von ihrer Kindheit und von ihren Eltern erzählt hatte. Wie für Nele eine Welt zusammenbrach. Wie unzugänglich und hart Kati gewesen war. Und wie sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden würde.

Dann, eines Nachmittags, nachdem sie eine Zwei-Lolli-Sitzung am Laptop hinter sich hatte, öffnete sie ihr Mailprogramm, klickte auf »Nachricht verfassen« und gab Katis Adresse ein.

Betreff?

Wiedersehen.

Liebe Kati!, schrieb sie. Ich freue mich so, dass Du wieder in meinem Leben bist. Wir beide brauchen sicher noch Zeit, uns daran zu gewöhnen. Vielen Dank noch einmal für Dein Vertrauen, dass Du mir Deine Mailadresse gegeben hast.

Pause. Nachdenken.

Was wollte sie ihr eigentlich mitteilen?

Sie wollte nur den Kontakt festigen. Vertrauen aufbauen. Zugleich interessierte es sie, wie Kati lebte. Was waren das für Teilzeitjobs, die sie hatte? Wie sah ihre Wohnung aus, die Kati gemütlicher als Neles Wohnung genannt hatte? Und wo lebte sie, in welcher Stadt, in welchem Dorf?

Obwohl sie Kati nicht bedrängen wollte, stellte sie Fragen. Sie formulierte sie so, dass daraus unverfängliches Interesse und Neugier sprachen. Von der Familienvergangenheit wollte sie nicht mehr reden. Auch von ihrer Kindheit nicht.

Mir geht es prächtig hier auf Helgoland. Ich habe mich in diese Insel verliebt, wie Du wahrscheinlich auch. Die Lösung mit der Einliegerwohnung bei Jensens ist praktisch und preisgünstig; besser werde ich es auf der Insel nirgends treffen. Und doch spüre ich allmählich ein Heimweh nach meinen Möbeln. Ich bekomme Lust, mir mein eigenes Nest zu bauen.

Sie hielt inne. Stimmte das, was sie da schrieb? Das war ihr selbst noch nicht klar gewesen. Aber ja: Sie sehnte sich nach ihren Möbeln, die in Regensburg in der untervermieteten Wohnung zurückgeblieben waren. Sie wollte sich die Zimmer einrichten, wie es ihr gefiel, wollte die Tapeten und den Anstrich haben, den sie wollte, und wollte auch neue Sachen kaufen, um sich einzurichten. Sie erinnerte sich daran, dass das Wohnen bei Frauke ein Provisorium war.

Aber bevor sie sich etwas Eigenes suchte, mussten vorher einige Fragen beantwortet werden. Wie lange wollte sie auf der Insel bleiben? Was hatte sie hier noch zu tun, nun, nachdem sie wusste, was sie im Leben wollte? Konnte sie hier die Familie gründen, die ihr vorschwebte: eine richtige, intakte Familie, die für sie Heimat und Zuhause sein würde? Was war mit Maik? Und konnte sie sich das überhaupt leisten?

Wie sieht es denn bei Dir in Deinem »Nest« aus? Was verstehst Du unter Gemütlichkeit? Ich würde gern einmal vorbei kommen, um es mir anzuschauen, schrieb sie, aber dann besann sie sich und löschte den letzten Satz.

Es war schwierig, diese erste Mail zu schreiben. Ein Eiertanz, aber das würde von Mal zu Mal besser werden. Kati war leicht kränkbar und misstrauisch, und überall lagen Tretminen, die sie meiden musste bei der Formulierung. Aber sie war zuversichtlich. Wenn sie erst einmal wusste, wo Kati wohnte, würden gegenseitige Besuche und Treffen von Angesicht zu Angesicht die Sache erleichtern.

In Liebe Deine Schwester Nele, unterschrieb sie, schaute das Geschriebene noch einmal durch und schickte die Mail dann ab. Nun hieß es warten, wann und ob eine Antwort kam.

Frauke war oft in ihrem Atelier. Sie arbeitete, seit Morten weg war, mit Hochdruck an der neuen Kollektion. Sie hatte jetzt mehrere Exemplare des Seepferdchens hergestellt, sowohl Kettenanhänger als auch Ohrhänger, fotografierte sie und schickte Nele die Bilder per Mail, damit Nele sie für die Homepage verwenden konnte.

Nele wiederum saß oft am Schreibtisch und arbeitete nicht weniger eifrig an der Website, die sie für Frauke entwarf. Sie machte sich viel Mühe mit dem Hintergrund und den einzelnen Präsentationen, die alle einem gemeinsamen Konzept folgten, einem Form-. und Farbkonzept, das von Fraukes Suche nach der Linie der Schönheit und Anmut inspiriert war. The line of beauty and grace, das war das Motto der Homepage, das auf jeder Seite wiederkehrte. Sie recherchierte nach dem Urheber des Zitats, einem englischen Maler, der so seine Ästhetik betitelt hatte, und brachte eine kleine Erläuterung in einer eigenen Rubrik. Sie formulierte an Fraukes Vita herum, bis sie passte. Sie kramte mit Frauke in deren Bilderarchiv, um eine passende Aufnahme zu finden, auf der Frauke sympathisch und selbstsicher aussah. Und sie ließ sich immer wieder von Frauke erzählen, wie sie bei ihrer Arbeit vorging, woher sie die Ideen hatte und wie sie den Rohstoff, den Helgoländer Feuerstein, fand.

Frauke selbst verfasste eine Art künstlerisches Credo, indem sie ihre Vision und ihr Anliegen beschrieb, die sie mit dem Schmuck verfolgte. Und da dies alles Fortschritte machte, nahm sich Frauke auch das erste Einzelstück vor, das sie kreieren wollte. Sie wählte dazu einen besonders schön gemusterten Stein, zeichnete Skizzen dazu, probierte und überdachte und war nicht zufrieden, bevor sie nicht den Entwurf gelungen fand und ihn Nele zeigte.

Der Stein in seiner natürlichen Farbgebung kam dabei besonders zur Geltung. Fraukes Eingriffe in die Form waren fast minimalistisch, und doch war es ihr gelungen, mit wenigen Schliffen und Schwüngen dem Stein eine Dynamik zu geben, die die Linie der Schönheit und Anmut besonders gut verwirklichte.

»Das wird was«, sagte Nele und verzog anerkennend die Lippen.

»Meinst du, ich kann das so machen?«

»Klar. Und ich wette, beim Schleifen kommen dir weitere Ideen, und in Wirklichkeit wird es noch besser als in der Skizze.«

»Ja. Beim Schleifen spürst du den Stein unter den Fingern. Du fühlst, wie er geschliffen werden will. Morgen setze ich mich ran. Für heute mache ich Schluss.«

Sie telefonierte mit Morten per Facetime; er war wieder auf seinem alten Schiff und überquerte gerade den Atlantik. Die Kreuzfahrt ging diesmal in die Karibik, durch den Panamakanal und die Westküste Südamerikas entlang.

Nele hörte sie einmal sprechen, als sie sich in der Küche einen Salat aus dem Gärtchen zurechtmachte. Frauke klang gereizt, die beiden schienen sich uneinig, und ihr »Bis bald!« klang eher trotzig als sehnsüchtig.

Da kocht Fraukes Frust wieder hoch, dachte Nele. Das war also noch nicht vorbei. Mortens Abwesenheit und die intensive Arbeit an ihrer Karriere als Schmuckdesignerin verstärkten den Konflikt eher noch.

»Ich will das einfach nicht mehr hinnehmen«, sagte ihr Frauke einmal beim Frühstück. »Ja, ich habe gewusst, worauf ich mich einlasse. Kapitänsehen sind kein Zuckerschlecken. Aber allmählich reicht’s mir einfach!«

»Kann man denn an der Situation etwas ändern?«, fragte Nele behutsam. »Oder musst du einfach einen anderen Weg finden, damit umzugehen?«

»Beides vermutlich«, meinte Frauke knurrig. »Ich weiß ja, wie gern er seinen Beruf ausübt. Ich weiß, wie sehr er die Schiffe und das Meer vermissen würde, wenn er zuhause bleiben müsste. Das will ich eigentlich nicht von ihm verlangen. Aber irgendwann wollen wir Kinder. Wir beide. Spätestens dann muss sich etwas ändern. Ich will keine Kinder, die acht Monate im Jahr auf ihren Vater verzichten müssen.«

»Was für berufliche Möglichkeiten gibt es denn sonst für ihn?«

»Er könnte in die Aus- und Weiterbildung gehen. An die Uni. Das liegt ihm durchaus. Er hat ein Faible für Theorie und kann ganz gut mit Menschen. Ich glaube, dass würde ihm sogar Spaß machen. Er hat das selber schon erwähnt. Aber, hat er gesagt, das ist eine Option für später, wenn er von der Seefahrt die Nase voll hat. Weiß der Geier, wann das sein wird!«

Nele nickte und umarmte Frauke. Im Moment fiel ihr nichts anderes ein, als Frauke in ihren beruflichen Ambitionen zu bestärken. Vielleicht füllte sie die Arbeit so aus, dass der Schmerz des Alleinseins nicht mehr ins Gewicht fiel. Und ganz allein war Frauke ja nicht.

Das Einzelstück, an dem Frauke gerade werkelte, sollte übrigens den Namen »Nele« tragen.

2. Kapitel:
hCG

Frauke klopfte und kam in Neles Schlafzimmer. Es war noch früh am Tag, Nele blinzelte schlaftrunken.

»Nele«, eröffnete Frauke ernst, »meine Periode ist ausgeblieben.«

Sie war blass im Gesicht und wirkte wie versteinert. Sie setzte sich steif auf Neles Bett-kante und schaute sie an.

»Denkst du, es gibt einen Grund dafür«, fragte Nele und rieb sich die Augen, »oder ist es nur eine Unregelmäßigkeit?«

»Ich bekomme meine Tage immer regelmäßig. Ich habe extra abgewartet, aber sie ist definitiv ausgeblieben.«

»Du glaubst, du bist schwanger?«

»Was sonst?«

»Das lässt sich ja leicht feststellen. Du gehst zur Insel-Apotheke und besorgst dir einen Schnelltest. Dann sieht man weiter.«

Frauke nickte. Ihrem Gesicht war nichts anzusehen. Keine Freude, keine Angst, nichts. Sie stand einfach auf, ging zur Tür hinaus und machte sich auf den Weg zur Apotheke. Wie gesagt, es war noch früh am Tag; das wäre günstig für die Zuverlässigkeit des Tests.

Bis Frauke wiederkam, stand Nele auf, duschte sich, zog sich an und machte gerade Frühstück, als Frauke wieder da stand und sagte: »Ich geh mal aufs Klo.«

Sie benutzte die Gästetoilette im Erdgeschoss, und nach wenigen Minuten war sie wieder da und hielt Nele den Test-Pen unter die Nase. Nele sah gleich den rosa Streifen.

Sie war baff. Erst jetzt realisierte sie, was das bedeutete.

Frauke ging es ähnlich. Erst jetzt, nachdem die Fakten geklärt schienen, setzte sie sich mit den Folgen auseinander.

»Du kriegst ein Baby!«, sagte Nele fröhlich. Aber sie sah gleich, dass für Frauke anscheinend kein Grund bestand, sich zu freuen.

»Das ist der Hammer!«, sagte sie fassungslos. »Das ist eine Katastrophe! Oder nein«, sagte sie mit grimmigem Lächeln: »Das ist die Stunde der Wahrheit!«

»Und wie ist das passiert?«, fragte Nele. »Ich dachte, du verhütest?«

Frauke dachte nach. »Tue ich auch«, sagte sie stirnrunzelnd. »Es muss in der letzten Nacht passiert sein, bevor Morten ging. Da haben wir miteinander geschlafen. Und ich hatte Durchfall. Nur leicht, aber da muss es passiert sein. Ich habe nicht daran gedacht, dass bei Durchfall der Verhütungsschutz nicht mehr gegeben ist.«

Nele schüttelte den Kopf.

»Also ein Unfall. Und das euch beiden!«

Frauke schaute sie an, als ob sie vom Mond käme.

»Genau!«, sagte sie erstaunt. »Genau! Ein Unfall. Ein Zufall. Die Stunde der Wahrheit.«

»Was hast du denn immer mit der Stunde der Wahrheit?«

»Jetzt muss Morten die Karten auf den Tisch legen. Ich habe dir ja gesagt, dass ich keine Kinder will, deren Vater dauernd weg ist. Genau das werde ich ihm sagen.«

»Also, Frauke, jetzt mal im Ernst. Erstens ist das noch nicht wirklich sicher. Diese Tests sind nicht zuverlässig ... «

»Doch«, erwiderte Frauke bestimmt. »Sind sie. Im positiven Fall ja. Ich habe mich erkundigt bei der Apothekerin.«

»Also, ich habe gehört«, meinte Nele ruhig, »dass es zum Beispiel vom Zeitpunkt des Tests abhängt, ob er zuverlässig ist ... «

»Im Falle eines negativen Ergebnisses«, unterbrach sie Frauke. »Das Ding hier misst das Vorkommen des Schwangerschaftshormons hCG im Körper. Wenn er nichts findet, kann es sein, dass das Hormon noch zu wenig ausgeschüttet wird. Wenn er aber etwas findet, dann ist es da. Definitiv.«

»Du meinst: Wenn er anzeigt, dass man nicht schwanger ist, kann es sein, dass man es doch ist. Und wenn er anzeigt, dass man schwanger ist, dann ist man auf keinen Fall nichtschwanger?«

Frauke nickte. »Genau.«

»Trotzdem. Ich würde warten, was die Frauenärztin sagt, bevor ich die Pferde scheu mache.«

»Ich mache Morten scheu, das ist es!«, ereiferte sich Frauke. »Jetzt ist der Fall eingetreten, wo eine Entscheidung her muss. Jetzt muss er sich einen anderen Job suchen, einen, wo er mehr zuhause ist als bisher.«

»Und zweitens«, sagte Nele unbeirrt, »freust du dich gar nicht. Ist dir klar, dass du ein neues Leben in deinem Bauch trägst?«

»Nö«, meinte Frauke. »Das kommt noch. Ich hab ja neun Monate Zeit dafür. Als Erstes rufe ich Morten an und überbringe ihm die freudige Botschaft.«

Und sie holte ihr Smartphone und rief über Facetime ihren Ehemann an. Doch die Verbindung kam nicht zustande, das gab es öfter.

»Scheißleitung!«, schimpfte Frauke. »Na ja, egal. Versuche ich es heute Abend noch mal.«

Und damit ging Frauke in ihr Atelier, polterte die Treppe hinauf, kein bisschen vorsichtig, obwohl sie doch ein werdendes Leben in sich trug.

Nele blieb zurück und war geplättet. So eine Reaktion auf einen positiven Test hatte sie auch noch nicht erlebt. Frauke schien die wahre Bedeutung vollkommen zu verdrängen. Der Umstand, dass sie ein Kind bekam, schien nur als Argument gegen Morten zu gelten. Sie musste mächtig sauer auf ihn sein.

Bei dem Gespräch mit Morten wäre sie gern dabei. Sie wollte sein Gesicht sehen. Und sie wollte hören, was er sagte, wenn Frauke ihren Vorschlag anbrachte, dass er sich einen anderen Job suchen sollte. Was heißt Vorschlag? So, wie Frauke gerade drauf war, wurde daraus eher eine ultimative Forderung!

Am Abend saßen sie am Tisch im Wohnzimmer und hatten gerade zu Abend gegessen. Frauke holte ihr Smartphone und sagte, während sie wählte: »So. Ich will mal sehen, ob ich ihn jetzt kriege!«

»Frauke«, sagte Nele und legte ihre Hand auf Fraukes Hand, die das Telefon hielt. »Vielleicht solltest du vorher noch mal darüber nachdenken. Es ist nicht gut, wenn du ihn in dieser Stimmung und mit dieser Haltung anrufst.«

»Keine Sorge, ich weiß schon, was ich sagen will.«

»Ja, eben. Das fürchte ich ja.«

Frauke ließ die Hand sinken. »Wie soll ich denn die Sache deiner Meinung nach angehen?«

»Zuallererst: Freu dich mal! Werde dir erstmal bewusst, was das für dich persönlich bedeutet. Du wirst Mutter! Du bekommst ein Kind von Morten! Ihr werdet künftig zu dritt sein. Das sind doch alles Veränderungen, die du dir erst einmal klar machen musst, finde ich.«

Frauke lächelte. »Nele, pass auf! Ich bin Frau genug, dass mir die Veränderungen klar sind. Ich freue mich durchaus, und ich finde es wunderbar, dass da ein neuer Mensch in mir heranwächst. Das habe ich mir schon lange gewünscht. Aber ich werde mich damit im Einzelnen erst beschäftigen, wenn ich weiß, wie die Zukunft aussieht. Wenn ich weiß, dass ich einen Mann habe, der seine Vaterpflichten ernst nimmt und mich unterstützt. Der an meiner Seite ist, wenn es losgeht, und nicht irgendwo in Madagaskar. Verstehst du?«

»Also, ich finde, du solltest wirklich erst zur Ärztin gehen und dir die Schwangerschaft hundert Prozent bestätigen lassen. Nachher ist doch irgendwas bei dem Test schief gegangen ... «

»Ich könnte ja einen zweiten machen.«

»Das ist es nicht. Ein Ultraschallbild, irgend ein grießeliges Gebilde in deiner Gebärmutter – das ist für mich zuverlässig.«

»Ich versteh dich ja, Nele. Wahrscheinlich hast du recht. Aber solange will ich nicht warten. Ich will vorher, bevor es unumstößlich ist, von Morten die Zusage, dass er für unser Kind da ist.«

»Warum?«

»Weil ich diese Sicherheit brauche. Sonst lasse ich mich erst gar nicht auf Schwangerschaftsgefühle ein.«

Nele schaute sie ernst an. »Hast du vor, im Ernstfall abzutreiben?«

»Nein, das nicht. Das kommt nicht in Frage«, sagte Frauke. »Aber ich will vorher von Morten das Zugeständnis. Da bin ich stur.«

»Aber das ist doch nicht vernünftig. Das ist unlogisch.«

»Na und? Frauen sind unlogisch, besonders wenn es um Frauensachen geht.«

Und dann tippte sie die Nummer zu Ende und hielt das Smartphone vor sich hin.

Die Verbindung kam zustande.

Auf dem Display sah man Morten in Uniform mit seiner Kapitänsmütze auf dem Kopf. Er war gerade auf der Brücke, wie es schien, und hatte wenig Zeit.

»Hallo Liebes!«, sagte er und lächelte etwas bemüht. »Du bist etwas zu früh mit deinem heutigen Anruf. Kannst du nachher noch mal anrufen? In – sagen wir – zehn Minuten?«

»Hallo, mein Odysseus«, sagte Frauke zärtlich. Nele staunte. Woher auf einmal die Sinnesänderung?

»Ich muss dir nur kurz was mitteilen. Was Wunderbares. Such dir eine stille Ecke und hör mir zu!«

»Also gut, Moment«. sagte er, und man sah, wie er das Smartphone umhertrug und dann sein verzerrtes Gesicht wieder auf dem Display erschien.

»Hier sind wir halbwegs ungestört«, sagte er. »Was gibt’s denn Dringendes?«

Und sie sagte es ihm.

In einfachen Worten, mit Freude in der Stimme.

Nele fragte sich, ob das nun Schauspielerei war, aus Taktik, oder ob hier bei Frauke wahre Gefühle durchkamen. Jetzt sah sie sich erstmals dem Vater ihres Kindes gegenüber, Morten, dem Papa. Vorher war er nur ihr Mann gewesen, ihr Odysseus. Vielleicht machte das etwas aus.

Er freute sich. Uneingeschränkt und ehrlich.

Er konnte es nicht fassen.

Er fragte, wie denn das passieren konnte, sie nahm doch die Pille. Und sie erzählte ihm ihren Denkaussetzer in der letzten Nacht. Aber Morten kümmerte das nicht besonders. Was passiert war, war passiert. Und ein Kind hatte er sich ja auch gewünscht, früher oder später.

Klar, dachte Nele, dass er sich uneingeschränkt freuen kann. Für ihn ändert sich ja nicht viel, glaubt er. Er schippert weiter auf den Weltmeeren herum, kommt alle acht Monate nach Hause, und wer alles managen muss, wer das Kind füttern und waschen und erziehen muss, das ist Frauke! Aber der wird sich wundern, dachte Nele.

Frauke erzählte von dem Test und dessen Ergebnis. Morten fragte, ob sie denn noch nicht beim Frauenarzt gewesen sei.

»Nein, noch nicht.«

»Und warum nicht?«, fragte Morten verdutzt.

»Weil ich vorher von dir die Zusicherung will, dass du zu unserem Kind stehst. Uneingeschränkt.«

»Natürlich stehe ich zu unserem Kind! Was denkst du?«

»Mit allen Konsequenzen?«

»Was für Konsequenzen?« Morten wurde misstrauisch.

»Ich möchte nicht, dass unser Kind mit einem Vater aufwächst, der acht Monate aus dem Haus ist. Ich möchte ihm nicht jedes Mal erklären müssen, warum du nicht da bist.«

Morten blieb das Gesicht stehen, man sah es auf dem Display. »Und was soll das heißen?«

»Dass ich möchte, dass du dir einen anderen Job suchst. Einen, bei dem du öfter und länger zuhause bist. Da wird es doch sicher Möglichkeiten geben ... «

Morten fing sich rasch wieder. Er war Kapitän und das Repräsentieren in der Öffentlichkeit gewohnt.

»Wenn ich richtig verstanden habe, warst du nicht beim Arzt. Du weißt also nicht hundertprozentig, ob du wirklich schwanger bist.«

»Doch, das weiß ich. Der Schnelltest war absolut eindeutig.«

»Solche Test sind nicht zuverlässig ... «

»Im Negativfall, ja. Aber im positiven Fall zeigen sie das Schwangerschaftshormon – «

»Frauke, tu mir den Gefallen und geh zum Arzt. Damit wir wissen, worüber wir hier eigentlich reden.«

»Also, ich weiß nicht, worüber du redest«, sagte Frauke gereizt, »aber ich rede über unser Kind!«

»Wer ist denn das da im Hintergrund?«, fragte Morten plötzlich.

Unwillkürlich wich Nele aus dem Blickfeld der Kamera,

»Das ist Nele. Sie hat als Erste von dem freudigen Ereignis erfahren.«

Morten nickte. Er ließ sich nichts anmerken, aber es musste ihm beinahe wie eine Verschwörung vorkommen, dachte Nele. Dabei konnte Nele ja wirklich nichts für eine Liebesnacht ohne Verhütungsschutz.

»Ich gehe zum Arzt«, sagte Frauke, »aber erst, wenn du mir die Zusicherung gegeben hast.«

»Welche Zusicherung?«

»Dass du uneingeschränkt zu unserem Kind stehst.«

»Aber Frauke, Schatz, das tue ich doch!«

»Und du suchst dir einen neuen Job?«

»Darüber reden wir in aller Ruhe. Geh du erst einmal zum Arzt, dann sehen wir weiter.«

»Nein, wir sehen jetzt weiter! Ich will jetzt deine Zusicherung! Ich will wissen, worauf ich mich einlasse!«

Nele sah, dass das zu nichts führte. Sturköpfe, dachte sie, einer so schlimm wie der Andere. Sie machte Frauke ein Zeichen, dass sie das Telefonat beenden sollte, und Frauke gab nach.

Sie verabschiedeten sich, waren sich aber uneins über den nächsten Anruf. Morten beharrte auf dem Arztbesuch, Frauke beharrte auf seiner vorherige Entscheidung. Dass sie sich am Schluss noch ein Küsschen durch den Äther schickten, war erstaunlich.

Als Frauke das Gespräch beendet hatte, war sie sichtlich zufrieden.

»Natürlich braucht er Zeit zum Nachdenken«, sagte sie, »das ist klar.«

»Frauke«, sagte Nele wie zu einer Umnachteten, »hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Er wird erst darüber nachdenken, wenn die Schwangerschaft hundert Prozent sicher ist.«

»Ach, weißt du, Nele, ich kenne ihn. Das sagt er nur so, um Zeit zu gewinnen. Ich weiß, dass es jetzt ganz schön in ihm rumort. Er weiß jetzt, woran er ist.«

»Sag mal«, meinte Nele erbost. »Es geht hier um euer Kind und nicht um irgendwelche Machtspielchen zwischen euch. Ich weiß wirklich nicht, ob ihr die richtige Einstellung habt, um Eltern zu werden.«

»Ich gehe jetzt rauf ins Atelier und mache einen Hühnergott«. meinte Frauke energisch und stand auf.

»Du machst was

»So einen Lochstein. Ich suche mir ein ganz besonderes Stück Feuerstein aus, am besten schon mit rundlicher Form, und dann bohre ich ein Loch hindurch wie bei einem richtigen Lochstein. Ich sehe ihn schon vor mir. Ein hockender Götze. Fettleibig. Ohne Gesicht. Die angezogenen Beine schleife ich heraus. Er soll so richtig archaisch werden, magisch, ja. Genau darauf habe ich jetzt Lust!«

Und sie ließ Nele stehen und verschwand nach oben.

So ging das zwei Wochen. Die Gespräche, die Frauke mit Morten führte, endeten immer wieder in der Sackgasse. Er wollte erst darüber nachdenken, wenn das Ergebnis absolut sicher war, und Frauke wollte erst zum Arzt gehen, wenn sie Mortens Zusicherung hatte. Sie kamen kein Stück voran.

Nele ließ es laufen. So stur hatte sie Frauke noch nie erlebt. Sonst war sie immer diejenige, die schließlich vernünftig wurde und das Ganze rational sah. Aber diese Schwangerschaft schien sie um den Verstand zu bringen. Ob das schon die Hormone sind?, fragte sich Nele.

Im Grunde konnte Nele nachvollziehen, wie Frauke sich fühlte. Natürlich wollte sie Sicherheit. Natürlich wollte sie wissen, worauf sie sich einlassen würde. Aber das hatte doch noch Zeit! Wieso brauchte sie diese Gewissheit sofort? Warum konnte sie nicht einfach den Dingen ihren Lauf lassen?

Sie versuchte, mit ihr zu sprechen, wollte heraus finden, was in ihr vorging. Aber entweder wich Frauke aus und redete von den Schmuckstücken, die sie machen wollte, oder sie verwickelten sich wieder in eine Sachdis-kussion.

»Die Ärztin kann auch nichts anderes tun, als den hCG-Gehalt messen. Nix Ultraschallbild, liebe Nele. Da gibt’s noch nichts zu sehen. Das ist nur eine befruchtete Eizelle.«

»Na ja, aber es könnte doch sein, dass da bei der Einnistung etwas schief gegangen ist. Oder dem Spermium ist die Sache zu heiß geworden und es hat sich verdünnisiert ... «

Frauke lachte, und auch Nele musste grinsen.

»Na ja, aber vielleicht gibt es wirklich Umstände, die eine Schwangerschaft in letzter Sekunde verhindern. Hast du dich darüber mal informiert?«

»Nein, habe ich nicht. Aber solange das Schwangerschaftshormon da ist, ist auch eine Schwangerschaft da.«

»Aber vielleicht ist es inzwischen wieder abgeklungen. Vielleicht solltest du einen zweiten Test machen, wenn du schon nicht zu deiner Ärztin willst.«

»Fang du jetzt nicht auch noch an wie Morten«, war die einzige Antwort.

Dann gab es Stunden, in denen sich Frauke intensiv mit ihrer künftigen Mutterrolle auseinandersetzte. Sie überlegte sich, ob es wohl ein Mädchen oder ein Junge wurde. Sie überlegte sich Namen. Einmal saßen sie auf dem Sofa und schauten fern, als Frauke plötzlich mit der Hand über ihren Bauch strich und sagte:

»Manchmal meine ich, schon etwas zu spüren.«

»Das kann nicht sein«, meinte Nele.

»Ich weiß. Aber wenn ich mir vorstelle, was jetzt da unten los ist ... «

»Was soll denn los sein? Eine Eizelle hat sich eingenistet, weiter nichts.«

»Na ja, aber das hat doch Auswirkungen auf den ganzen Körper. Ich meine, da stellt sich doch alles um. Stoffwechsel, Durchblutung ... «

»Fühlst du dich jetzt weiblicher, oder was?«

»Fast«, meinte Frauke und musste grinsen. »Ich bin ganz schön durch den Wind, was?«

»Nun ja, es ist ja auch ein wunderbares Ereignis«, meinte Nele.

»Komm, fass mal an«, sagte Frauke und nahm Neles Hand.

Nele riss sich los und sagte: »Du hast sie ja nicht mehr alle!«

»Man kommt sich vor wie eine Schatztruhe«, meinte Frauke versonnen. »Wie ein Tresor.«

»Komm, du Tresor! Lass uns Abendessen machen!«, sagte Nele barsch. Aber ein bisschen beneidete sie Frauke. Auch wenn das hormonell bedingt nicht sein konnte: Frauke wirkte tatsächlich weiblicher.

Sie arbeiteten weiter fleißig an ihren Aufgaben: Frauke hatte sich ganz auf die Anfertigung von Einzelstücken verlegt, hatte eine Menge Ideen, produzierte seitenweise Skizzen und stand unermüdlich an der Schleifmaschine, und Nele brachte die Website voran, setzte ihr Konzept stringent um, und es gelang ihr ein Werk, das bisher seinesgleichen suchte. Soviel Vergnügen hatte ihr eine Arbeit selten gemacht. Und so viel kreativen Ehrgeiz hatte sie selten eingesetzt. Es war eben doch ein Unterschied, ob sie für ein Weingut im Saarland Weine präsentierte oder für eine gute Freundin deren künstlerisches Werk.

Als die Website fertig war, zeigte sie sie Frauke. Die war sehr angetan, fand sich und ihre ästhetischen Vorstellungen treffend wiedergegeben und bestand darauf, dass Nele noch eine Rubrik über sich selbst hinzufügte. Mit Vita und Foto und allem. Wie bei Marianns Onlineshop. Nele weigerte sich, gab dann aber nach.

Frauke hatte keinen Onlineshop gewollt. Nele hatte stattdessen ein Bestellformular und einen Maillink installiert, sodass interessierte Käufer die Stücke direkt bei Frauke bestellen konnten. Das müsste fürs Erste reichen.

»Und wenn ich mal berühmt bin und Cartier bei mir zum Abendessen war, suche ich mir eine Galerie.«

»Ich weiß nicht, was dir mehr zu Kopf steigt: das hCG oder dein Ehrgeiz«, meinte Nele nur.

3. Kapitel:
Annäherung

Nele stand immer noch jeden Dienstag in Marianns Teeladen und freute sich daran, Kundenwünsche zu erfüllen. Der Touristenstrom hatte im Gegensatz zur Hauptsaison nachgelassen, aber es kamen immer noch genügend Urlauber, die einen Tagestrip gebucht hatten. Und der Eine oder Andere war darunter, der über den Onlineshop auf die Teestube gestoßen war und sich nun vor Ort ein Bild machen wollte.

Frauke ging hin und wieder zum Oststrand der Düne und sammelte Steine, und wie verabredet sammelte sie dabei auch Lochsteine und Klappersteine und Teufelsfinger, die sie Mariann brachte, damit diese sie als Souvenirs verkaufen konnte. Frauke wollte nichts dafür, also kam auch sie in den Genuss eines unbegrenzten Teenachschubs.

Während Frauke ihren Streit mit Morten aussaß und sich immer mehr schwanger fühlte, fand Nele eines Tages eine Mail von Kati in ihrem Postfach.

Freudestrahlend öffnete sie sie und las.

Lieb Schwesterlein!

Es ist schön, von Dir zu hören. Hätte ich nicht gedacht. Hatte schon Alpträume, weil ich Dir meine Mailadresse gegeben habe. Alpträume von den Eltern, die plötzlich vor der Tür stehen ...

Dir ist schon klar, dass diese Adresse nur für Dich ist? Gib sie ja nicht weiter! Auf keinen Fall den Eltern oder Martin!

Mein Heim ist gemütlich. Ein richtiges Nest. Wie ich wohne, kannst du am Krähennest am Nordstrand ablesen. Das verstehe ich unter Gemütlichkeit.

Und Du? Wie willst du später mal wohnen? Wo würdest du am liebsten wohnen? Penthouse, Altbauwohnung oder Hochhausapartment?

Ich finde es wichtig, wie man wohnt. Bin lange genug durch die freie Wildbahn gestreift, um Zufluchten und Verstecke zu schätzen. Sagt viel über einen Menschen. Ich bin eine Maus, die sich im Loch versteckt. Oder ein Dachs unter der Erde, zehn Meter tief.

Was bist du?

Entschuldige meine Konfusion. Muss mich erst ans Schwesterschreiben gewöhnen.

Kati