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IAIN LAWRENCE

SKELETON TREE

Nur die Wilden überleben

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Aus dem Englischen von
Anne Brauner

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Für Françoise
In glücklicher Erinnerung

INHALT

1Der letzte Morgen

2Der Draufgänger

3Das Rettungsboot

4Die Hütte

5Der Rabe

6Die Begrenzung unserer Welt

7Das Flugzeug

8Der Berg

9Maden

10Die alte Straße

11Der Grizzlybär

12Der Geist meines Vaters

13Der Heilige aus Holz

14Der Glasfisch

15Der letzte Morgen

16Thursdays Geschenk

Anmerkungen des Autors

Danksagung

1

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Der letzte Morgen

Wenn ich nachts aufwache, habe ich Angst.

Ich liege mit offenen Augen da, blicke in die Schwärze und lausche jedem einzelnen Geräusch im Wald. Die Decke oder die Wände der Hütte kann ich nicht sehen. Frank kann ich auch nicht sehen und befürchte einen Augenblick lang, dass er nicht mehr da ist. Doch dann höre ich in der Dunkelheit das Flattern seines Atems und fühle mich sofort sicherer, weil er in meiner Nähe ist.

Früher hatte ich ständig Angst, und nachts war es am schlimmsten. Wenn die Sonne unterging, hätte ich schreien können. Das hat sich geändert. Mittlerweile habe ich vieles über den Wald und das Meer und so einiges über mich selbst gelernt. Doch wenn ich nachts aufwache, fürchte ich mich immer noch.

Draußen im Wald wartet etwas. Es ist so still und reglos wie ich selbst, weil wir beide lauschen.

Ist es der Grizzlybär? Ich stelle mir vor, wie er riesenhaft und zottelig gleich neben der Hütte steht und uns nur die paar Zentimeter Wand voneinander trennen. Es könnte aber auch ein Wolf sein. Wir haben sie heulen hören, jede Nacht ein wenig näher. Oder es ist ein Mann – oder sogar ein Skelett. Ich habe gehört, wie sie sich in ihren Särgen drehen. Das ist der Stoff meiner Albträume, der sich in meinen Gedanken im Kreis dreht und mich wahnsinnig macht.

Als Erstes denke ich stets an die schlimmsten Dinge. Vermutlich ist es nur ein Eichhörnchen. Oder es ist ein Reh, das im nächsten Augenblick die Flucht ergreift und mit langen Sätzen lärmend durch den Wald springt. Ich hoffe, es ist mein nachtschwarzer Rabe, der endlich von seinen Ausflügen zurückkehrt. Doch ich habe Angst, ihn zu rufen. Durch die Hüttenwand, durch die nächtliche Stille spüren wir, wie der andere wartet. Wir sind nur zwei lebendige Wesen in der Dunkelheit.

Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bis es am Fenster heller wird. Es dauert Stunden, aber vielleicht fühlt sich das auch nur so an. Doch lange vor Sonnenaufgang glänzt das Rechteck aus Plastik allmählich grau. Schatten von Bäumen tauchen auf wie Radierungen in einer Schieferplatte. Durch die Ritzen in der Hüttenwand dringen schmale goldene Lichtstrahlen.

Mit dem Morgen schwinden meine Ängste. Genau wie das Ding im Wald. Obwohl es keinen plötzlichen Lärm gibt, keine stampfenden Schritte und ich nicht höre, wie es weggeht, weiß ich, dass es nicht mehr da ist. Ich habe lange genug in der Wildnis gelebt, um so etwas zu spüren.

Jetzt geht es schnell. Die Dunkelheit in der Hütte verflüchtigt sich zu Schatten, und die Schatten verändern sich, je härter ihre Kanten werden. Pilze sprießen aus dem Boden und werden zu den Steinen der Feuerstelle. Ein Tier mit mageren Beinen verwandelt sich in unseren Tisch aus Treibholz. Abscheuliche Männer stehen in der Ecke, um schließlich in die Plastikumhänge an den Kleiderhaken zu schlüpfen.

Ich erkenne den Stapel Brennholz, die Wasserflaschen und die Schuhe, die sich unter dem Tisch häufen. Ich glaube, bei den Schuhen ist es mit mir durchgegangen. Ich sehe das Zeug, das ich vom Strand angeschleppt habe und das Frank als Müll bezeichnet. Es bedeutet mir so viel, weil es aus Japan übers Meer kam. Über diese Gegenstände denke ich gern nach und erfinde Geschichten dazu.

Knapp über dem Boden, wo Frank schläft, zeigen helle Kerben in der Wand, wie viele Tage vergangen sind. Sie quetschen sich aneinander und verschwimmen zu einem langen Schmutzfleck wie die Tage selbst: dreißig, vierzig, fünfzig und einer wie der andere.

Dann fällt mir ein, dass dieser Tag anders ist. Heute ist der Tag, an dem wir gerettet werden.

Es ist noch früh, mindestens eine Stunde vor dem Morgengrauen. Doch so lange kann ich nicht warten. Ich muss zu dem Skeleton Tree hinuntergehen, unserem Skelettbaum.

Ich wälze mich aus dem Bett und kauere über Frank. Es ist noch nicht lange her, seit ich Angst gehabt hätte, ihn auf diese Weise zu wecken. Er wäre sehr schnell sehr wütend geworden. Doch heute Morgen macht es ihm sicher nichts aus. Ich rüttle an seiner Schulter, rufe seinen Namen, und schon fliegen seine Fäuste nach oben, um zu kämpfen. Schreiend weicht er zurück und stößt sich den Rücken an der Hüttenwand. Seine Augen sind groß und verwundert, und als er mich sieht, stöhnt er. «Was ist mit dir los?», fragt er. «Bist du verrückt geworden?»

«Heute ist der Tag», sage ich zu ihm.

«Hör auf, mich anzuschreien», murrt er.

Ich verstehe nicht, warum er nicht aufgeregt ist. Frank ist nur drei Jahre älter als ich, also noch nicht einmal sechzehn. Aber manchmal könnte man meinen, er wäre fast erwachsen. Er fährt sich durch sein stumpfes Haar und sieht mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster. «Es ist nicht einmal Morgen, Chris.»

«Aber vielleicht landen sie ja in diesem Moment», sage ich. «Willst du nicht dabei sein?»

Er hustet und schüttelt den Kopf. «Geh schon mal vor. Ich möchte weiterschlafen. Aber mach vorher Feuer, mir ist kalt.»

Noch vor einem Monat hätte ich mich darüber geärgert, herumkommandiert zu werden, doch mittlerweile weiß ich, dass Frank eben so ist. Ich gehe an dem Steinkreis in die Hocke und scharre mit einem dünnen Stock in der Asche. Die Holzkohle darunter ist noch warm und glimmt. In ihrem Schein sehe ich meinen Atem als kleine rote Wolke, wie ein Drachenfeuer. Ich lege ein paar Zweige und ein Stück getrocknetes Moos in den Kreis, und als ich mich vorbeuge, um über die glühenden Holzscheite zu blasen, bekomme ich Rauch in die Augen und kneife sie zu. Doch die Flammen flackern rasch auf. Inzwischen bin ich ein Fachmann, was Feuermachen angeht, und kann es vielleicht sogar besser als Frank.

Ich lege Holz dazu. Der Rauch wird dicht und zäh, kräuselt sich zur Decke und zieht durch das Loch ab. Ich sehe vor mir, wie Bilder entstehen, Bilder, die auseinanderwirbeln und sich neu formieren.

Mein Onkel Jack hat einmal gesagt, wenn man zu lange ins Feuer schaut, stiehlt es einem die Gedanken. Er hatte recht.

2

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Der Draufgänger

Meine Mutter warnte mich vor Onkel Jack. «Er ist ein Draufgänger», sagte sie. «Er ist erst glücklich, wenn er sich in Gefahr begibt.»

Doch ich liebte meinen Onkel. Er fuhr rasend schnell Motorrad, er sprang aus Flugzeugen, und sein Beruf war es, Waldbrände zu bekämpfen. Mein Vater war Buchhalter, fuhr einen braunen Minivan und arbeitete im Büro. Kein Wunder, dass Onkel Jack der Held meiner Kindheit war.

Er unternahm lange Abenteuerreisen, manchmal über Monate. Als mein Vater starb und Onkel Jack zur Beerdigung kam, erkannte ich ihn kaum. Er blieb nur drei Tage und verschwand erneut. Dann kaufte er sich ein Boot und segelte um die Welt.

Genau ein Jahr später kehrte er in mein Leben zurück. Meine Mutter ging ans Telefon, und er war dran. Er rief aus dem Hafen von Kodiak in Alaska an.

Es war ein langes Gespräch, aber meine Mutter sorgte dafür, dass ich nichts verstand. Sie wandte mir den Rücken zu und flüsterte seltsame Dinge mit einer seltsamen Stimme. Jeder Satz begann mit «Oh, Jack.»

«Oh, Jack, glaubst du, das ist eine gute Idee?»

«Oh, Jack, Christopher kennt sich damit gar nicht aus.»

«Oh, Jack, ich bin mir nicht sicher, ob es im Moment das Richtige für ihn ist.»

Als sie aufgelegt hatte, war sie rot im Gesicht und ganz durcheinander.

«Womit kenne ich mich nicht aus, Mom?», fragte ich.

Sie starrte mich an. «Na ja, mit Segeln», antwortete sie. «Zum Beispiel. Jack möchte, dass du nach Kodiak fliegst und das Boot mit ihm nach Hause bringst.»

Ich wusste weder, was ich dazu sagen sollte, noch wie ich dazu stand, da ich meinen Onkel ewig nicht gesehen hatte und noch nie auf einem Segelboot gewesen war.

«Du würdest fast einen Monat in der Schule fehlen», sagte Mom, und plötzlich fand ich die Idee, mit Onkel Jack auf Segeltour zu gehen, ganz toll. Ich bettelte meine Mutter an, es mir zu erlauben.

«Ich könnte etwas lernen», sagte ich.

«Und ob», schnaubte Mom. «Ich bin mir nur nicht sicher, ob du tatsächlich das lernen solltest, was Jack dir beibringen würde.»

Sie stand am Bücherregal vor einer Ansammlung von Fotos, die meinen Vater als kleinen Jungen zeigten. Auf einem Bild schaute er zwischen den Pfosten eines Unterstands nach oben. Auf einem anderen hatte er eine Angel und einen riesigen Lachs in den Händen. Aber meine Mutter nahm das Foto in die Hand, auf dem mein Vater mit Onkel Jack zu sehen war. Sie wirkten fast wie Gegensätze: der eine klein und dunkel, der andere groß und blond, der eine mager, der andere muskulös. Sie saßen ohne Sattel auf einem Pferd, Onkel Jack vorne, mein Vater hinten. Er schaute um seine Schulter herum. Die Brüder trugen nur Shorts und Kopfschmuck aus Pappe mit bemalten Federn, die gerade hochstanden. Sie waren braun gebrannt und lächelten, und mein Vater wirkte auf eine Weise glücklich, an die ich mich nicht erinnern konnte.

«Oh, ich weiß nicht, was das Beste für dich ist», sagte Mom. «Vielleicht ist ein kleines Abenteuer jetzt genau das Richtige. Aber man muss sich vor Männern hüten, die sich mit Vorliebe in Gefahr begeben. Sogar vor Jack.»

Sie wischte mit dem Ärmel den Staub vom Fotorahmen, stellte ihn wieder zurück und seufzte. «Na gut, ich erlaube es dir», sagte sie. «Hoffentlich bereue ich es nicht eines Tages.»

Nicht einmal eine Woche später saß ich in einem Flugzeug, das die Küste hochflog. Ich trug ein Schild mit der Aufschrift «Unbegleiteter Minderjähriger» um den Hals. Es war einen Monat nach meinem zwölften Geburtstag, aber die Flugbegleiter hielten mich – wie fast jeder – für jünger, ungefähr neun oder zehn. Deshalb machten sie viel Trara für ein kleines Kind, das ganz allein reiste. Sie sprachen in diesem peinlichen Ton mit mir, den Erwachsene für Kinder auflegen, mit gekünstelten Stimmen und gekünsteltem Lächeln.

Auf dem Weg nach Norden blickte ich die ganze Zeit auf die endlose Abfolge von Bergen. Auch Mitte August funkelten noch ausgedehnte Schneefelder in der Sonne. Ich stellte mir vor, ich könnte von oben tausend Quadratmeilen gleichzeitig sehen, doch ohne ein einziges Haus, ohne Straßen oder eine Spur von menschlichem Leben.

Ich stellte mir vor, wie das Flugzeug auf einem Gletscher notlandete und ich aus dem Wrack kriechen und feststellen würde, dass ich der einzige Überlebende war. Ich sah es vor mir, wie ich auf einem dieser Berggipfel stand und um Hilfe schrie, wo mich niemand hören konnte.

Nach Sonnenuntergang landeten wir mit einer fünfstündigen Verspätung in Kodiak. Eine Flugbegleiterin nahm meine Hand und begleitete mich wie einen kleinen Jungen durch das Flughafengebäude. Onkel Jack lachte, als er mich sah. Er zog mir das Schild über den Kopf und warf es wie eine Frisbee-Scheibe in einen Abfalleimer. «Den Quatsch brauchst du jetzt nicht mehr», sagte er.

Wir fuhren mit dem Taxi zum Hafen, wo Onkel Jacks Boot lag. Es hieß Puff und sah viel zu klein aus für ein Boot, das um die ganze Welt gesegelt war. Gelbes Licht schien durch winzige Bullaugen aus der Kabine. Als Onkel Jack die Luke öffnete und mich über eine steile Leiter nach unten führte, entdeckte ich zu meiner Überraschung einen anderen Jungen, der sich auf einer Bank lümmelte.

Er war zwei, drei Jahre älter als ich. Seine Arme waren lang und braun gebrannt, sein schwarzes Haar hing ihm ins Gesicht. Onkel Jack legte die Hände auf meine Schultern und forderte ihn auf: «Sag Chrissy Hallo.»

Ich wünschte, er hätte nicht diesen albernen Namen meiner Kindheit benutzt, denn ich sah an dem kurzen Aufleuchten in den Augen des Jungen, dass er mich später damit aufziehen würde.

Er stand langsam auf. Da ich vermutete, wir würden uns mit Handschlag begrüßen, streckte ich schüchtern meine Hand zu ihm aus. Doch er warf nur sein Haar zurück und teilte Onkel Jack mit: «Ich gehe ins Bett.»

«Willst du nicht noch ein bisschen aufbleiben?», fragte Onkel Jack. «Auf ein kleines Spielchen, wie die Walfänger sagen würden?»

«Nein», sagte der Junge, drängte sich an mir vorbei und ging lässig davon.

«Hey, Frank, komm schon», sagte Onkel Jack enttäuscht, doch der Junge verschwand durch eine schmale Tür im vorderen Teil des Bootes.

Wir sahen ihm nach. Dann lachte Onkel Jack ein wenig verschnupft und sagte: «Das ist Franklin.»

Franklin? Beinahe hätte ich gelacht. Der altmodische Name passte überhaupt nicht zu diesem Jungen. Der einzige Franklin, den ich je gekannt hatte, war mein Großvater, ein alter Knacker, der nach Präsident Roosevelt benannt worden war.

«Und wer ist er?», fragte ich.

«Nun, das ist eine lange Geschichte», antwortete Onkel Jack. «Und jetzt ist es schon ein bisschen spät. Warten wir damit bis morgen, wenn wir losgefahren sind. Dann könnt ihr beide zuhören.»

«Er kommt mit?», fragte ich.

Onkel Jack nickte und nickte weiter wie ein Wackeldackel. «Ja. Ich denke schon.»

Wir verbrachten die Nacht am Anleger. Zunächst war es ein bisschen komisch, wieder mit Onkel Jack zusammen zu sein. Doch er war sehr nett zu mir. Er zeigte mir alles, was er auf der Weltumsegelung gesammelt hatte, und sprach über meinen Vater. Er erzählte mir lustige Geschichten, die ich noch nie gehört hatte, und sagte, wie sehr er ihn vermissen würde und dass er sich kaum vorstellen konnte, wie schlimm es für mich sein musste.

«Dein Vater hat dich mehr geliebt als alles andere auf der Welt», sagte Onkel Jack. «Ich hoffe, du weißt das.»

Ich schlief in einem schmalen Bett, das Onkel Jack Koje nannte, und erwachte früh vom Kreischen der Möwen. Franklin stand erst auf, nachdem Onkel Jack dreimal zu ihm gegangen war, um ihn zu wecken. Danach schleppte er sich über das Boot, ohne ein Wort zu sagen. Ständig warf er sein Haar zurück, als wäre Haarewerfen sein Lieblingshobby. Er lächelte nie und sah aus wie einer von der Sorte, die sich in Gedanken die ganze Zeit über andere lustig machten.

Er setzte sich an den Tisch und holte einen iPod heraus. Blitzschnell riss Onkel Jack ihm das Gerät aus der Hand.

«Gib her!», schrie der Junge.

Onkel Jack schüttelte den Kopf. «Auf dem Meer ist kein Platz für technische Spielchen. Glaub mir, du wirst genug interessante Dinge finden.» Er fragte, ob wir noch mehr Geräte hätten, und nahm sie uns alle weg. Franklin musste sogar seine Armbanduhr abgeben, weil ein Spiel eingebaut war. «Deine auch, Chrissy», sagte er und wackelte mit den Fingern.

«Aber meine ist nur eine Uhr, siehst du?» Ich drehte mein Handgelenk um, damit er das Ziffernblatt sehen konnte. «Mein Vater hat sie mir geschenkt.»

«Na gut», sagte er und verstaute alles andere in einer Schachtel, die er in einer Schublade einschloss. «Jetzt zu unserem Rundgang. Da Frank so lange geschlafen hat, müssen wir uns beeilen.»

In einem Rutsch führte Onkel Jack uns über das Boot. Er zeigte uns, wie man den Motor anließ, wo die Signalfackeln lagen und wie man das kleine Funkgerät bediente, falls wir Hilfe rufen mussten – das alles innerhalb von ein, zwei Minuten. Schließlich stiegen wir nacheinander die Leiter hoch auf Deck.

«Ich mache alles startklar», sagte Onkel Jack. «Und ihr bringt währenddessen das Dinghy an Bord.»

«Sag ihm doch, er soll es machen», sagte der Junge.

«Ich sage es euch beiden.»

Das kleine rote Beiboot lag auf dem Kai. Es bestand aus Sperrholz, war an beiden Enden abgerundet und wirkte mickrig und heruntergekommen. Zwei kurze, dicke Ruder waren an den Sitzen festgezurrt, und an einem Stück alter Schnur hing eine Schöpfkelle aus Plastik. Wir fassten das Boot jeder an einem Ende, doch Frank zog zu fest und riss es mir sofort aus den Händen. Abgeblätterte rote Farbe rieselte von den Brettern, als es auf den Kai fiel.

Onkel Jack hob den Kopf. «Geh vorsichtig damit um, Chris», sagte er. «Das ist unser Rettungsboot.»

«Unser Rettungsboot?», fragte ich.

«Mehr braucht man nicht», sagte Onkel Jack. «Vorausgesetzt, man weiß, was man tut.»

Da an diesem Morgen kein Lüftchen wehte, ließ er den Dieselmotor an, und wir fuhren aufs Meer hinaus. Wir schwangen uns über große, glatte Wellen, und es fühlte sich wie eine bedächtige Achterbahnfahrt an. Zu dritt saßen wir hinten an einem Platz, den Onkel Jack als Cockpit bezeichnete. Dort war auch das gewaltige Steuerrad, und überall lagen so viele Leinen herum, dass es mir vorkam, als wäre ich in einer Spaghettischüssel. Franklin steckte die Hände in die Taschen, warf zum neuntausendsten Mal die Haare zurück und blickte stur an uns vorbei.

«Wir entfernen uns erst mal von der Küste, dann setzen wir die Segel und reden kurz, wie gestern angekündigt», schrie Onkel Jack, um den Motorenlärm zu übertönen. «Wenn euch schlecht wird, sagt Bescheid. Ich habe Tabletten dagegen.»

Mir war bereits übel, doch ich wollte es nicht eingestehen. Frank schien nichts dergleichen zu spüren, und ich war wild entschlossen, mich nicht als Einziger zu übergeben. Das Boot hob sich auf den Wellen und glitt auf der anderen Seite wieder hinunter, während die Abgase an uns vorbeizogen. Das Frühstück schwappte in meinem Magen.

Hinter uns verschwamm das Land. Onkel Jack zeigte immer wieder auf interessante Phänomene, doch mir war zu komisch im Bauch, um mich umzudrehen und zu schauen. Ich saß nur schlapp da und sah zu, wie Müll an uns vorbeitrieb. Plastikflaschen, Fässer aus Metall, Fetzen von Schleppnetzen, all das hüpfte schwindelerregend auf den Wogen. Onkel Jack meinte, es seien die Überreste eines Tsunamis, der sich vor zwei Jahren in Japan ereignet habe. «Das ist noch gar nichts», sagte er. «Da draußen schwimmt eine wahre Insel aus Müll, kein Witz. Eines Morgens lag sie voraus, und ich dachte schon, ich laufe auf Grund.» Er steuerte das Boot mit einer Hand und genoss die Sonne. «Die Details erspare ich euch, aber ich habe Dinge gesehen, die so unerträglich sind, dass ich nicht darüber nachdenken kann.»

«Echt? Was denn zum Beispiel?» Frank setzte sich auf wie ein Eichhörnchen, mit strahlendem Blick. «Leichen etwa?»

«Das willst du nicht wissen», sagte Onkel Jack, woraus ich schloss, dass es schreckliche Dinge gewesen sein mussten. «Das Problem ist, dass eines Tages alles an Land geschwemmt wird. An einigen Stellen passiert das jetzt schon.»

Gegen Mittag war es so weit, und ich glaubte, mich übergeben zu müssen. Ich dachte, keiner würde es merken, aber Frank rief entzückt: «Sieh mal, er wird grün!»

«Wir sollten was essen», sagte Onkel Jack. Er ging in die Kabine und kramte in den Schubladen. Als er das Mittagessen hochbrachte, kam es auch mir hoch. Der Geruch von Dosenfleisch und Ketchup drehte mir den Magen um, und dann spie ich alles in einem heißen Schwall durch Nase und Mund.

«Bah!», sagte Frank.

Onkel Jack forderte mich auf, mich in der Kabine hinzulegen, und gab mir eine große blaue Tablette zum Einschlafen. Zur Sicherheit verabreichte er mir gleich noch eine. Ohne Stiefel und Jacke auszuziehen, lag ich in meinem zugezogenen Schlafsack in einem Bett, das schwankte und schaukelte, und träumte von diesen Dingen, die zu unerträglich waren, um darüber nachzudenken.

Es fühlte sich an, als würden Tage vergehen. Die blauen Pillen lösten eine derartige Verwirrung aus, dass ich nicht mehr wusste, was Wirklichkeit war. Ich war sicher, dass mein Vater mir ein Glas Wasser brachte und dass eine Möwe in die Kabine flog und mir eine Geschichte erzählte. Irgendwann merkte ich, dass der Motor aus war. Durch die offene Luke sah ich das Segel, das sich in grellem Weiß in der Sonne blähte, während die Puff vorwärtsrauschte.

Ich hatte schreckliche Träume. Zombies verfolgten mich auf einer Insel aus Müll. Einer schnappte mich, drückte mich runter und begann, mir die Arme abzureißen. Ich wachte auf, als ich gegen Onkel Jack ankämpfte. «Alles ist gut, Chrissy», sagte er. Er hatte mir Wasser und Suppe gebracht, doch ich hatte keinen Hunger. Seine Stimme klang laut und verzerrt, und er sah mich besorgt an, während ich erneut in die schwindelerregenden Albträume abtauchte.

Das Meer gurgelte, die Wellen rauschten und brachen. Die Sonne schien und es war dunkel, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als von Bord zu gehen und festes Land zu spüren. Plötzlich wurde ich ruckartig aus dem Schlaf gerissen. Ich hörte einen Schrei und einen Knall, dann kam die Puff bebend zum Halten. Die Bodenbretter platzten aus ihren Halterungen, als das Meer durch den Rumpf schäumte.

Wegen der blauen Tabletten erschien das alles nicht real, aber eiskaltes Wasser stieg über mein Bett. Ich begriff, dass wir sanken.

3

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Das Rettungsboot

Mir ist bewusst, dass Frank etwas zu mir gesagt hat. Er macht es mir unmissverständlich klar, indem er mich in den Hintern tritt. Dafür muss er nicht extra aufstehen. Er schwingt einfach sein Bein und gibt mir einen Tritt.

«Hey!», ruft er. «Alles okay mit dir?»

Die Kohlen knistern im Feuer. Flammen schießen durch den Rauch nach oben und werfen ihre seltsamen Bilder an die Wand. Ich nicke als Botschaft an Frank, dass es mir gut geht. «Hab nur nachgedacht.»

«Dann denk draußen nach», sagt er. «Das nervt.»

Ich schnappe mir einen Plastikeimer und lege rasch alles hinein, was ich brauche: ein Plastikcape und meinen verschlissenen Poncho, das Taschenbuch mit den abgegriffenen Seiten, eine Flasche Wasser und die Hälfte unseres letzten Stücks Fisch. Als ich die Tür öffne, ragen die Bäume hoch über mir auf und strecken ihre zotteligen Äste nach unten aus. Vom Meer ertönt das sanfte Brechen der Wellen, als würde der Wald atmen.

Der Weg schlägt einen dunklen Tunnel durch die Salalsträucher, in denen sich alles Mögliche verbergen könnte. Vor sechs Wochen hätte ich es noch nicht gewagt, allein hier langzugehen. Selbst jetzt, wenn ich an den Bären und die Wölfe denke, wünsche ich, ich hätte auf Frank gewartet. Andererseits kenne ich jede Biegung, jeden Knick. Ich habe gelernt, mit all den Dingen, die mir Angst machen, umzugehen. Ich ziehe nur den Kopf ein und renne weiter.

Äste reißen an meinem Eimer, Wurzeln wollen Stolperfallen sein, doch ich bleibe oben, und sobald ich die Lichtung erreiche, sehe ich den Skelettbaum. Er steht allein auf dem grasbewachsenen Gestein, und seine Äste verrenken sich vor dem Himmel. Die schwarzen Konturen der Särge ruhen in seinen knorrigen Armen, und ich schaue nicht hoch, als ich unter ihnen vorbeisause, geradewegs zu dem felsigen Strand, an dem der Heilige aus Holz blind aufs Meer hinausblickt.

Es ist eine schreckliche Enttäuschung, das Meer schwarz und leer zu sehen. Kein Schiff der Küstenwache, kein Hubschrauber – nichts außer meinen Erinnerungen.

Irgendwo da draußen in den wogenden und schlingernden Wellen habe ich Onkel Jack zum letzten Mal gesehen.

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Ich schrie seinen Namen, als sich das Meer in die Kabine ergoss. Doch niemand rannte herbei, um mich zu retten.

Hinter der offenen Luke schwebten bauschige Wolken, die von der Sonne angestrahlt wurden. Das Steuerrad glänzte und das große Segel schlug vor und zurück, die Leinen strafften sich zitternd. Auf einmal überfiel mich die grauenhafte Vorstellung, Onkel Jack wäre mit dem anderen Jungen weggegangen und hätte mich auf einem sinkenden Boot allein zurückgelassen.

Ich wand mich in meinem Schlafsack, rollte vom Bett und fiel in das eiskalte Wasser. Ich schnappte nach Luft. Die Puff schlingerte, und ich wurde erst an den Küchentresen und dann an den Herd gestoßen. Als ich die Leiter hinauf ins Cockpit flüchtete, war kein Land in Sicht.

Ich drehte mich um und blickte zum Bug. Da war Onkel Jack, der mit Frank versuchte, das kleine rote Dinghy loszubinden, das nun tatsächlich unser Rettungsboot werden sollte.

Der Bug der Puff tauchte ins Meer und schoss wieder hoch, sodass das Wasser in einem silbernen Schwall abfloss. Frank lag auf den Knien und klammerte sich an die Takelage, während die Gischt über ihn hinwegflog. Onkel Jack hackte mit einem Messer auf die Leinen ein, und die Wellen waren haushoch.

In der Klinge fing sich das Sonnenlicht. Mit einem Mal sprang das kleine Boot von seinem Platz, wurde von einer Welle erfasst und geradewegs über die Reling geschleudert. Das Meer nahm es mit, bis es ruckartig hochgedrückt wurde, als sich das Halteseil spannte.

«Rein da!», schrie Onkel Jack. Doch Frank rührte sich nicht.

Onkel Jack musste seine Finger einzeln von der Takelage abziehen. Dann hob er ihn hoch, stellte sich breitbeinig hin und suchte auf dem stampfenden Deck sein Gleichgewicht. Vor der aufgewühlten See sah er groß und heldenhaft aus. Als das Beiboot auf einer Welle nach oben schoss, ließ er Frank hineinfallen. Dann drehte er sich um und kam zu mir, indem er sich fest an den Handlauf klammerte, während die Wogen über das Deck schwappten.

Er kletterte ins Cockpit. «Hast du das Funkgerät mitgebracht?», rief er.

«Nein», antwortete ich. Das Beiboot wurde von einer Welle hochgehoben, stieg über unsere Köpfe und verschwand anschließend unterhalb der Reling. Der andere Junge lag reglos da.

«Die Signalfackeln?», fragte Onkel Jack. «Die Rettungswesten?»

Ich schüttelte den Kopf. Das Denken fiel mir unendlich schwer.

«Warte hier.»

Er tauchte die Leiter hinunter in die Kabine. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust und stieg schnell. Alles, was schwimmen konnte, wirbelte in einem Strudel.

«Komm zurück, Onkel Jack!», rief ich.

Er sah mir kurz in die Augen. «Spring ins Rettungsboot, Chrissy», sagte er, bevor er weiter in die Kabine vordrang und sich einen Weg durch die mahlende Masse aus Kissen, Bodenbrettern und Bettdecken bahnte.

Das Deck, das zuvor so hoch erschienen war, lag nun auf gleicher Höhe mit dem Meer. Nur das niedrige Kabinendach ragte noch aus dem Wasser, und jede Welle brandete durchs Cockpit.

«Onkel Jack!», schrie ich.

Es sah aus, als würde ein Fluss durch die Luke in die Kabine fließen. Ich sah, wie Onkel Jack das Walkie-Talkie von seinem Platz nahm, doch das Wasser drückte dermaßen, dass er nicht ins Cockpit zurückkehren konnte.

«Hier!», schrie er. «Fang!» Er warf das Funkgerät zu mir hinauf.

Ich versuchte es aufzufangen und hielt es einen Augenblick lang tatsächlich in den Händen. Doch es entglitt mir. Ich stürzte los, um es zu packen, und wäre dadurch beinahe selbst durch die Luke gefallen. Ich hielt mich an den Seitenkanten der Luke fest, während das Funkgerät im schwarz wirbelnden Wasser unterging. Als Onkel Jack zu mir hochblickte, las ich Angst und Kummer in seinen Augen – und noch etwas. Ich hatte ihn enttäuscht.

Das Meer flutete durch die Luke, stieg über Onkel Jack hinweg und saugte ihn in die Dunkelheit. Anschließend platzten dicke Blasen aus der Luke, und das Deck rutschte mir unter den Füßen weg. Ich trieb im Meer.

Das Kabinendach verschwand. Die Reling tauchte ins Wasser, und als das kleine rote Beiboot darübergewirbelt wurde, ließ ich mich hineinfallen. Franklin saß jetzt aufrecht, doch er sagte kein Wort und blickte stur geradeaus. Seine Hände krallten sich wie Klauen an die Seiten des Bootes.

Das Meer brodelte vor lauter Leinen und Segeln und Dingen, die aus der Kabine entwichen waren. Ich entdeckte Kräckerschachteln, einen Laib Brot, ein paar von Onkel Jacks Erinnerungsstücken. Dann bekam ich Angst, dass die Puff uns in die Tiefe ziehen würde, und machte mich an der Leine zu schaffen, mit der wir an ihr festgebunden waren. Der feste Knoten ließ sich nicht lösen, und ich ging erst mit den Händen und schließlich mit den Zähnen darauf los. Das Rettungsboot neigte sich, der Bug tauchte unter Wasser. Ich sah die Puff als schattenhaftes Ding tief unter der Wasseroberfläche. Endlich riss die Leine mit einem heftigen Knall, und das Rettungsboot klatschte flach aufs Wasser. Langsam trieben wir mit dem Wind und schlingerten über die Wellen.

Die Puff war gesunken. Um uns herum war nichts mehr zu sehen außer dem schrecklichen Meer. Das rote Boot tanzte über die Wogen, und wir wurden hin- und hergeschleudert. Ich brüllte, bis ich heiser war.

«Onkel Jack!»

«Onkel Jack!»

Auf See gab es kein Echo. Und selbstverständlich auch keine Antwort.

Die Wirkung der blauen Tabletten war abgeklungen, doch noch immer erschien mir alles wie ein Traum ohne Bezug zur Realität, als wir in dem kleinen roten Boot trieben. Während es in den Wellen schaukelte, blieb Frank reglos sitzen. Er verlagerte nicht einmal das Gewicht, um uns in der Balance zu halten. Die Jacke hatte er bis zum Kinn zugezogen, klammerte sich weiterhin fest und blickte mich an, ohne mich wirklich zu sehen.

Am anderen Ende musste ich mich vorbeugen, zurücklehnen oder zur Seite ausweichen, um das Gleichgewicht immer wieder von Neuem herzustellen. Dennoch schwappte an den Seiten weiterhin Wasser ins Boot, das kurz darauf bereits um meine Knöchel rauschte.

Die Schöpfkelle aus Plastik hatte sich mit den Rudern verheddert. Ich riss sie von der Schnur und schöpfte Wasser aus dem Boot. Andauernd schaute ich auf meine Uhr, bis ich merkte, dass sie stehengeblieben war. Der Anblick der reglosen Zeiger machte mich wütend und raubte mir die Hoffnung. Ich legte den Kopf in den Nacken und brüllte das Meer und den Himmel an.

Bei Sonnenuntergang flaute der Wind ab, die Wellen wurden flacher, und wir liefen nicht mehr Gefahr zu kentern. Aber meine Angst steigerte sich ins Unermessliche, während ich zusah, wie der Himmel sich rot färbte. In dem winzigen Boot, weit entfernt vom Land, fragte ich mich, was Onkel Jack zuletzt wohl gesehen hatte. Und schwammen etwa alle Menschen, die ins Meer geschleudert worden waren, um uns herum?

In jeder Hinsicht trieb ich hilflos im Dunkeln, ohne zu wissen, wohin die Reise ging und was ich am Ziel vorfinden würde. Ich wünschte sehnlichst, ich wäre zu Hause bei meiner Mutter. Vermutlich stand sie an dem großen Wohnzimmerfenster, blickte in dieselbe Dunkelheit hinaus und dachte an mich, so wie ich an sie. Doch sie hatte keine Ahnung, dass ich auf dem Meer herumirrte. Sie glaubte sicher, ich würde fröhlich mit Onkel Jack segeln.

Die Dunkelheit setzte ein. Dann überstrahlten die Sterne den schwarzen Himmel – mehr Sterne, als ich je gesehen hatte. Dazwischen schwebten Satelliten mit einer stillen, stetigen Beharrlichkeit, die eine fürchterliche Einsamkeit in mir hervorrief.

Frank saß die ganze Zeit starr am anderen Ende, und die Umrisse seiner Gestalt zeichneten sich vor den Sternen ab, wenn die Wellen das Boot anhoben. Da ich vor Kälte zitterte, schlang ich meine durchweichte Jacke enger um mich und rieb mir die Arme, um ein wenig Wärme zu erzeugen.

Im Morgengrauen sah ich Wolken in der Ferne. Und unter den Wolken war Land, eine Reihe zerklüfteter Berge mit schneebedeckten Wipfeln. Die Strömungen und Winde drückten uns in die richtige Richtung, aber es ging so langsam voran, dass ich befürchtete, wir würden die Küste niemals erreichen. Franks Finger waren weiß und verschrumpelt und glichen ertrunkenen Würmern, eingehakt über dem Bootsrand. Seine Zähne klapperten, um seine Augen zuckte es, und er erschauerte immer wieder. Ich hatte furchtbare Angst, dass er sterben würde. Wie sollte es dann weitergehen? Ich konnte nicht mit einem toten Jungen in diesem Boot sitzen, doch wie sollte ich ihn über Bord werfen und zusehen, wenn er in der blauen Dunkelheit des Meeres unterging?

Ich löste die Ruder aus ihrer Halterung und begann zu rudern. Stunden über Stunden ruderte ich mit dem Boot. Ich bekam Blasen. Meine Hände brannten von dem Salzwasser, das an den Rudern herabrann. Die Seiten des Bootes verzogen sich nach innen, bis Bläschen an den Ecken nach oben quollen. Wasser drang durch den Boden. Rudern würde das Boot zerstören, doch ich hatte keine andere Wahl.

Am Ende des Tages sahen die Berge gewaltig aus. Das Land machte einen wilden, unbewohnten Eindruck, und als die Sonne unterging, schien kein einziges Licht an dem breiten Küstenstrich, nirgends gab es ein Zeichen von menschlichem Leben. Später frischte der Wind wieder auf, die Wellen wogten höher, und kurz vor der Morgendämmerung hörte ich das Rauschen einer Brandung.

Ich hob den Kopf, um den Blick schweifen zu lassen. Im bleichen Mondschein tauchten gespenstische Gischtwolken auf. Die Brandung wurde lauter, und ich entdeckte Schaumfetzen auf den Kämmen riesenhafter Wellen. Das Boot sauste wie ein Schlitten durch die Dunkelheit. Ich zog die Jacke aus, weil ich hoffte, ohne sie besser rudern zu können, und versuchte, das kleine Boot vom Land wegzusteuern. Doch wir wurden in die Brecher hineingezogen, und schon donnerte der erste auf uns herab.

Als ich ins Meer geschleudert wurde, flogen die Ruder fort. Vor Kälte schnappte ich nach Luft und kämpfte mich zurück an die Wasseroberfläche. Ich drosch mit den Händen, bis ich das Boot zu fassen bekam. Umgestülpt wölbte es sich wie eine Schildkröte aus dem Meer, und ich packte seinen schmalen Kiel und hielt mich fest.

In drei Meter Entfernung trieb Frank mit dem Gesicht nach unten in der grauen Gischt der Brecher. Sein schwarzes Haar glänzte matt und glatt. Seine von der Luft aufgebauschte Jacke blähte sich am Rücken und hielt seine Arme ausgebreitet auf dem Wasser. Ich konnte mich am Boot festhalten und an die Küste treiben lassen – oder ich konnte meine letzte Hoffnung fahren lassen und versuchen, Frank zu retten. Doch ich dachte kaum darüber nach, drückte mich vom Boot ab und packte Frank. Dann hielt ich seine Jacke, seinen Kragen und seine Arme fest, als eine Welle über uns hereinbrach und uns auseinanderreißen wollte.

Schlagartig wurde er wach.

Er schüttelte den Kopf wie ein Hund und schleuderte das Wasser aus seinem Haar. Seine Augen wurden unglaublich groß. Und dann klammerte er sich an mir fest und presste meine Arme an meine Seiten.

Ich konnte nicht schwimmen. Ich konnte uns nicht einmal mehr oben halten. Doch je mehr ich darum kämpfte, von ihm wegzukommen, umso kräftiger versuchte Frank, sich an mich zu klammern. Wir gingen zusammen unter und wurden von der nächsten Welle noch tiefer gedrückt. In einer erstarrten Dunkelheit wurden wir immer wieder herumgewälzt, bis das Wasser uns über die Felsen am Meeresgrund zerrte und schließlich an die Oberfläche zurückwirbelte. Ich rang nach Luft, legte einen Arm um Frank und hielt seinen Kopf über Wasser.

In dieser Brandung waren wir nur winzige Wesen, die hin und her geworfen, verprügelt und geschlagen wurden. Wir waren ein Spielball der Wellen, doch jede brachte uns näher an Land, und die siebte – oder achte oder neunte – wuchtete uns auf einen Steinstrand. Kollernd und rasselnd zog sie sich zurück und ließ uns gestrandet liegen.

Ich hörte das Dröhnen der nächsten anrollenden Welle, die uns noch höher an den Strand trug, dann aber versuchte, uns wieder mitzunehmen, als sie in einem gurgelnden Rauschen zwischen den Steinen zurückfloss. Ich schnappte mir einen Felsen und hielt mich fest.

Welle über Welle rollte an, um uns zu packen. Sie zogen mir die Stiefel aus, einen nach dem anderen. Sie rissen Frank aus meinen Armen und zerrten ihn den Strand herab. Er schlitterte mit ausgestreckten Gliedern auf dem Rücken über die vom Mond beschienenen Steine und brüllte, ich solle ihn retten. Ich bekam sein Bein zu fassen und kroch wie ein Krebs am Strand nach oben, krabbelte immer ein Stückchen höher.

Meine Hände bluteten und in meinem Knie pochte es. Doch ich rückte immer weiter vom Meer ab, während Frank mir kriechend folgte wie eine grausige Kreatur, die aus der Tiefe gekommen war. Als wir am oberen Rand des Strandes eine Klippe entdeckten, setzen wir uns und lehnten uns an.

Ich konnte es nicht fassen, wie schnell ich aus einem normalen Leben in meinen schlimmsten Albtraum geschlittert war. In der Wildnis gestrandet – und das mit einem Jungen, der kaum noch lebendig war und den ich überhaupt nicht kannte.

Im Morgengrauen blickte ich auf eine trostlose Welt. Die Wellen schlugen donnernd in die Bucht und warfen sich gegen die Felsen, die unter uns lagen.

Ein Streifen aus Seetang und Meeresalgen zog sich wie ein Seil am Fuß der Klippe entlang. Doch es gab kein einziges Stück Treibholz, was mich zunächst in Verwirrung stürzte. Doch dann begriff ich, was es bedeutete: Bei Flut würde der Strand vollständig überschwemmt. Die Bucht würde sich füllen wie ein riesiger Eimer, und wir würden wie Mäuse darin ertrinken.

Ich drückte mit der Hand gegen Franks Schulter. «Steh auf», sagte ich.

Stöhnend schob er meine Hand weg, doch er hob den Kopf und schaute sich um. Dann schleppte er sich zu der Klippe und legte eine Hand an den Felsen, wo ein Rinnsal ihn schwarz und glänzend erscheinen ließ.

Nach kurzer Zeit füllte sich Franks Handfläche. Er schlürfte das Wasser auf und füllte nach, während ich mich neben ihn stellte und das Gleiche tat. Gemeinsam tranken wir Wasser von dem Gestein.

Als wir unseren Durst gestillt hatten, wandte Frank seine Aufmerksamkeit den Algen zu und zog ein paar Blätter aus dem Haufen. Sie sahen aus wie Salat, der im Gemüsefach verwelkt war, doch Frank schüttelte die Steinchen, Zweige und winzigen Muscheln ab. Dann steckte er die Algen in den Mund. Bei dem Kaugeräusch gurgelte es in meinem Magen. Seit dem Abend auf der Puff hatte ich nichts mehr gegessen.

«Woher weißt du, dass man das essen kann?», fragte ich.

Er sah mich an, als wäre ich dumm. «Das kann man alles essen, du Penner.»

«Wer sagt das?»

Er gab keine Antwort, sondern kaute weiter und stopfte sich noch mehr Algen in den Mund.

«Woher weißt du, dass man das essen kann?», fragte ich ihn noch mal.

Aber er verriet es mir immer noch nicht.

Mittlerweile war ich so hungrig, dass es mir egal war, ob mir von den Algen schlecht würde. Ich zupfte ein verschrumpeltes Blatt heraus und fing an zu essen. Nachdem ich einmal damit begonnen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Die Algen waren zum Teil knusprig, andere waren weich und schleimig und glitten durch meine Kehle wie Rotz. Sie schmeckten allesamt abscheulich, aber ich schlang sie trotzdem hinunter.

Frank blickte aufs Meer hinaus und auf die kleine Bucht. Dann fragte er mich, während er noch kaute: «Wo ist Jack?»

Die Frage verblüffte mich irgendwie. Ich hatte Angst, ihm die Wahrheit zu sagen, weil ich befürchtete, er würde erneut in seinen unheimlichen Schlaf verfallen. Oder er könnte sich weigern, sich zu bewegen, bevor ich ihm Hunderte von Fragen beantwortet hätte. Deshalb servierte ich ihm eine schändliche Lüge. «Er ist vorgefahren, um Hilfe zu holen.»

«Dann suchen wir ihn.» Frank stand auf. Er ließ erneut den Blick schweifen und schaute auf meine Füße. «Hey, wo sind deine Schuhe?»

«Die habe ich verloren», sagte ich.

«Schwachkopf.»

Die Klippe war keine sieben Meter hoch, aber das Gestein war spitz und schartig. Mit meinen zerkratzten Händen und nur mit Socken an den Füßen kletterte ich viel langsamer als Frank.

Doch er bot mir nicht an, mir zu helfen. Er kraxelte einfach nach oben und verschwand über dem Rand.

Als ich endlich die Spitze der Klippe erklommen hatte, war ich sicher, dass er bereits meilenweit weg war. Aber stattdessen lag er auf dem Rücken im Gras und hatte einen vertrockneten Halm im Mund.

Ich hatte nie gedacht, dass wir direkt hinter der Bucht auf Menschen stoßen würden. Aber es war doch eine große Enttäuschung, nach Norden zu blicken und zu erkennen, dass die verlassene Wildnis sich unendlich weit ausdehnte. Falls wir auf einer Insel gelandet waren, war sie riesig, zu groß, um darum herumzulaufen, zu gebirgig, um sie zu überqueren. Wenn wir stattdessen auf dem Festland waren, sah es so aus, als müssten wir tausend Meilen weit laufen, um eine Menschenseele zu finden. Es schien sinnlos, weiterzugehen, aber genauso sinnlos, an Ort und Stelle zu bleiben.

«Wie weit waren wir gekommen, bevor wir gesunken sind?», fragte ich.

Frank reagierte nicht.

«Wie lange sind wir gesegelt?»

Er schenkte mir immer noch keine Beachtung, sondern spuckte seinen Grashalm aus und warf die Haare aus dem Gesicht. «Jack ist tot, oder?», fragte er.

Ich konnte es nicht derart unverblümt bestätigen und nickte nur.

«Wieso hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?»

«Weiß ich nicht», antwortete ich. «Ich wollte dir helfen.»

Frank warf mir einen bösen Blick zu. «An dem Tag, an dem ich deine Hilfe brauche, bringe ich mich um.»

Nun ja, ich hatte ihm bereits das Leben gerettet, doch darauf wollte ich nicht herumreiten.

Frank stand auf und ging los. Im nächsten Moment drehte er sich schnell um und schrie mich an: «Weißt du, dass er tot ist?»

«Ja», sagte ich. «Ich habe es gesehen.»

«Was hast du gesehen?»

Als mir die Tränen kamen, wandte ich mich ab. «Er war im Boot, als es sank», sagte ich. «Er stand direkt vor mir unten in der Kabine.»

«Und wieso hast du ihn dann nicht gerettet?»

Jetzt hob ich den Blick und starrte zurück, und es kümmerte mich nicht mehr, ob meine Augen rot waren. «Wieso hast du ihn nicht gerettet?», fragte ich.

«Hätte ich gemacht», antwortete Frank. «Wenn ich so nah dran gewesen wäre.»

«Er hat mir befohlen, draußen zu bleiben!» Ich hatte die Fäuste so fest geballt, dass meine Fingernägel sich in die Haut bohrten. «Er ist runtergegangen, um das Walkie-Talkie zu holen, und wurde vom Wasser eingeschlossen. Was hätte ich denn bitte tun sollen, du Vollidiot?»

«Du hättest es versuchen können», sagte Frank.

Jetzt kreischte ich. «Das Boot ging unter!»

Wir standen nur ein paar Meter auseinander und fauchten uns an wie Tiere, die sich an die Gurgel gingen. Mein Herz raste, und Frank war vor Wut ganz rot im Gesicht. Doch als ich schon dachte, er würde mich schlagen, warf er sein Haar zurück. Dann drehte er sich zum Meer hin, und wir beruhigten uns wieder ein wenig.

«Was ist denn nun mit dem Funkgerät?» Er kehrte mir den Rücken zu. «Hat er es gefunden? Hat er um Hilfe gerufen?»

«Nein», sagte ich.

«Und warum nicht?»

Ich hätte meinen misslungenen Versuch, es aufzufangen, gern für mich behalten, doch plötzlich stand mir ein Bild von Onkel Jack in dem sinkenden Boot vor Augen, und es schien unfair, Frank nicht die ganze Wahrheit zu sagen. «Er hat das Walkie-Talkie gefunden», sagte ich. «Er hat es durch die Luke geworfen, aber ich habe danebengegriffen.»

Frank gab ein leises Geräusch von sich. Da ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich nicht, ob er sauer war oder sich lustig machte, und als er sich umdrehte, hatte er nur das Gesicht wieder zu seiner nervigen Schmollmiene verzogen, sodass es nichts verriet.

Ich