Zum Inhalt

Vor dem Hintergrund der terroristischen Anschläge auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001 entspinnt sich die Geschichte zweier Freundinnen um die Dreißig, Beatrice und Rita, die ihre langweiligen Bürojobs in Deutschland aufgeben, um in Wien einen Neuanfang zu wagen, wobei sie sich ihren gemeinsamen Jugendtraum von einer Schriftstellerkarriere erfüllen möchten. Damit geben sie jedoch auch ihr bislang geordnetes und sorgloses Leben auf, was ihre vermeintlich unzerstörbare Freundschaft zunehmend auf eine harte Probe stellt.

Dieser Roman beschreibt in seinem Verlauf eine zeithistorische Katastrophe, die, obwohl sie sich fernab in New York zuträgt, gewisse Parallelen zum ganz persönlichen Drama der beiden Protagonistinnen in Wien aufweist. Denn nicht nur die sorgfältig gesponnene Intrige Ritas, im Geiste der „Gefährlichen Liebschaften“ von Choderlos de Laclos (1782), führt schleichend zu Chaos und Zerstörung, sondern auch das reaktionäre und sich zunehmend radikalisierende Gedankengut Beatrices. Wird letztendlich auch die Freundschaft von Beatrice und Rita unter großem Getöse in sich zusammenstürzen, genauso wie die beiden Zwillingstürme in New York?

Der Autor verfasste diesen Roman bereits im Herbst 2001 und entschied sich nun, zum 20. Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center, zur Herausgabe.
ROCHADE wurde nach der alten Rechtschreibung (vor 1996) lektoriert.

Der Autor

© Patrick Karez, 1999

Patrick Karez wurde in den Siebziger Jahren als Kind Prager Eltern in Deutschland geboren. Nach seiner Matura lebte er zehn Jahre lang in Paris, wo er an der Université de Paris-Sorbonne in Kunst- und Architekturgeschichte s.c.l. promovierte und als Kunstkritiker für eine dem französischen Ministerium für Kultur anhängige Institution tätig war. In diesem Rahmen publizierte er bereits mit Mitte Zwanzig – so etwa Kunstkritiken, Übersetzungen aus dem Tschechischen, Englischen und Französischen – und verfasste nebenher kontinuierlich belletristische Texte. Nach seinem Studium ging er für ein Vierteljahr nach Südostasien, lebte ferner für mehrere Jahre in Budapest, Rom, New York und Wien, wo er sieben Jahre lang als Mitarbeiter für die Österreichische Nationalgalerie Belvedere samt anhängigen Häusern tätig war. Das 19. Jahrhundert und die Kunst der Jahrhundertwende zählen zu seinen Forschungsschwerpunkten. So stammen etwa aus der Feder des Autors u.a. die beiden Romanbiographien „Gustav Klimt“ (erschienen im November 2014 im acabus Verlag, Hamburg; 4. Auflage 2020; russische Ausgabe bei Molodaya Gvardiya, Moskau, 2019) sowie „Egon Schiele“ (erschienen im September 2016, im acabus Verlag, Hamburg). Nach seinen Romanen „Schwartz auf Weiss“ (2004, publiziert 2018), „Diva – Whatever happened to Martha Kűlföldi“ (1999/2019) und „Reinthal“ (2020), legt der Autor nun das zeithistorische Drama „Rochade“ (2001/2021) vor.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2001/2021 Dr. Patrick Karez

Cover/Layout: Patrick Karez & Roman Bitzinger

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783753432151

ROCHADE (Schach)

auch: die; persisch, arabisch, französisch

Bei der Rochade handelt es sich um den einzigen Doppelzug, der laut Schachregeln erlaubt ist, wobei sowohl der König als auch der Turm einer Farbe gleichzeitig bewegt werden (immer wird der König zuerst bewegt). Die Rochade ist nur möglich aus der Grundstellung und wenn die Felder zwischen König und Turm nicht besetzt und nicht bedroht sind; außerdem darf der König nicht im Schach stehen.

Die Rochade verfolgt das Ziel, den König in eine sichere Position zu bringen und gleichzeitig den beteiligten Turm strategisch zu entwickeln. Die Rochade darf von jedem Spieler pro Partie nur einmal ausgeführt werden; ihre Zulässigkeit ist an eine Reihe von Bedingungen geknüpft.

Kleine, bzw. Kurze Rochade: Der König zieht auf der Königsseite zwei Felder auf den Turm zu – und der Turm wird über den König hinweg auf das Feld gesetzt, das der König überschritten hat.

Große, bzw. Lange Rochade: König und Turm bewegen sich auf die gleiche Weise wie bei der kleinen Rochade, nur auf der Damenseite.

FÜR CHRISTIAN

Inhaltsverzeichnis

ERSTES BUCH

REAKTION

REAKTION

Die Welt

Reagiert schnell

Auf neue Gegebenheiten

(Indem sie sich ihnen anpaßt)

Der Reaktionär

Reagiert schneller

Auf neue Gegebenheiten

(Indem er sie verleugnet)

1

Tuut. Tuut. Tuut.

Hallo?

„Risi?“

Bisi! Wo steckst Du? Ich dachte, Du wolltest schon seit zwei Wochen hier in Wien sein!?

„Sorry. Mir ist was... dazwischengekommen.“

Was dazwischengekommen?

„Ja. Ich hab... also, Franz und ich, wir haben... grad eine Wohnung in Den Haag angemietet.“

In Den Haag? Sag mal, spinnst Du?

„Reg Dich nicht künstlich auf! Ich komme schon noch nach Wien… Nur halt etwas später…“

Was? Du tickst wohl nicht ganz sauber!? Immerhin war es Deine Idee gewesen, mich hierher nach Österreich zu locken, damit wir hier gemeinsam einen Neustart wagen können! Und jetzt läßt Du mich hier komplett allein, in einer mir völlig fremden Stadt? Also wirklich! Und ich Doofe hab mich auch noch auf diese dumme Idee eingelassen! Eine regelrechte Schnapsidee, die ich jetzt schon total bereue!

„Halt’ aus, ich komme bald! So, ich muß jetzt auflegen – mein Zug nach Amsterdam fährt gerade ein. Tschüß!“

Was? Halt! Warte!

Klick.

Beatrice knallte rasch den Hörer auf. Erstens, um sich nicht weiterhin dieser unangenehmen Diskussion aussetzen zu müssen – und zweitens, damit das andere 2½-Gulden-Stück wieder unten herauskullern würde, denn Beatrice war zur Zeit ein bißchen knapp bei Kasse. Doch es kullerte nicht.

„Mist!“, fluchte sie und versetzte dem Telephon einen Schlag mit ihrer Handkante.

Franz, der die ganze Zeit über teilnahmslos neben ihr gestanden hatte, sah sie nun mit großen Augen an.

„Der Zug?“, fragte er vorsichtig, „Welcher Zug?“

„Hach!“, raunzte Beatrice ihn an, während sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Handkante rieb, „Ist doch viel dramatischer so! Außerdem… Ah! Da hinten kommt er ja tatsächlich…“

Die beiden hatten wieder einmal ein Wochenende am Strand verbracht. In der Nähe von Oostkapelle. In Südholland. War es unspektakulär gewesen. Geradezu langweilig. Im Grunde genommen. War es bloß totgeschlagene Zeit. Und das, obwohl Beatrice ihrer Freundin Rita hoch und heilig versprochen hatte, Anfang August wieder in Wien zu sein. Stattdessen verlängerte sie ihren Müßiggang an der holländischen Nordseeküste noch um eine weitere Woche. Oder zwei. Denn nun ging es ja nach Den Haag. In eine kleine Wohnung. Die sie nie zuvor gesehen hatte. Währenddessen wartete Rita seit bereits gut drei Wochen auf sie. In Wien. In einer kleinen Wohnung. Die auch sie nie zuvor gesehen hatte. Franz sagte zu alledem nichts. Er hatte zur Zeit Semesterferien. Und folgte den Grillen seiner Freundin. Wie ein treuer und willenloser Hund.

Der Zug fraß sich rasch und ohne merklichen Widerstand durch die holländische Marschlandschaft. Die Kühe taten es ihm nach. Sattgrüne Kuhweiden mit vor lauter grünen Weiden satten Kühen zogen teilnahmslos an Beatrice vorbei, die ihrerseits teilnahmslos über sie hinwegsah. In ihrem Kopf jedoch brodelte und rumorte es. Sie fühlte sich plötzlich in einer Endlosschleife gefangen. Genauso wie die unzähligen Kühe um sie herum, war auch sie es satt. Dieses Standbild. Aus sattgrünen Weiden. Dieses ewige Schwarzweiß-Programm. Aus gescheckten Milchkühen. Welches durch nichts und niemanden unterbrochen wurde. Höchstens durch ein paar Trauerweiden. Doch die Trauerweiden stimmten sie traurig. Die sich drehenden Flügel der Windmühlen verdrehten auch ihr den Kopf. Selbst die vielen Kanäle um sie herum vermochten ihre Gedanken nicht zu kanalisieren. Und die winzigen Ortschaften aus Backstein bescherten diesem Backfisch eine steinerne Miene. An ihren Fingernägeln kauend, starrte sie geistesabwesend aus dem Fenster. Sie fragte sich vermutlich, ob dieser letzte Einfall mit der Den Haager Wohnung nicht vielleicht doch eine Schnapsidee gewesen war. Erstens wurde sie ja in Wien erwartet. Und zweitens – und das war ein noch viel gewichtigeres Argument! – wurde allmählich ihr Geld knapp.

„Sag mal…“, hob nun Franz vorsichtig an, der ihr, entgegen der Fahrtrichtung, gegenüber saß, „Warum nennst Du Rita eigentlich immer Risi? Das war doch gerade Rita, die Du da angerufen hast – oder etwa nicht?“

„Ja, schon… Ich weiß nicht. Es hat sich irgendwann mal so aus purem Zufall ergeben. Rita wurde ja schon von ihrer Mutter immer Ri oder Riri genannt – und daraus ist dann irgendwann eben Risi geworden. Und da mein Name ja mit einem B beginnt, wie Du sicherlich weißt, wurde ich dann zu Bisi.“

„Aber warum? Warum nennt ihr euch nicht so, wie ihr wirklich heißt?“

„Risi und Bisi – ein Wortspiel! Kosenamen. Dich nenne ich ja auch manchmal Stinker. Oder Schlappschwanz. Alles klar?“, Beatrice tauchte erneut ihre Nase in irgend eine Zeitschrift, die hier jemand liegengelassen hatte und von der sie kein Wort verstand, da sie auf Holländisch verfaßt war.

„Ja, aber…“, Franz ließ nicht locker, „Weshalb Eskimonamen?“

„Verdammt, Franz!“, Beatrice klappte die Zeitschrift endgültig zu und warf sie neben sich auf die Sitzbank, „Es mag vielleicht wie Eskimonamen klingen – aber es ist ein Reisgericht!“

„Ein… was?“

„Ein Reisgericht! Kennst Du kein Risi-Bisi?“

„Nein.“

„Na, dann kann ich Dir auch nicht weiterhelfen…“

RISI UND BISI

(Ein schwerverdauliches Gericht)

Risi e bisi, auch Risibisi genannt (aus dem Italienischen: „Reis und Erbsen“), ist ein Klassiker der venezianischen Küche. Alljährlich zum Sankt Markustag wurde er dem Dogen als erster Gang serviert.

Man schwitze hierzu Speck, Zwiebeln und Petersilie in einer Mischung aus Olivenöl und Butter an. Dann gebe man die jungen Erbsen hinzu. Zusammen mit einer kräftigen Fleischbrühe wird das alles eine kurze Zeit lang gedünstet.

Nun geben wir den Reis hinzu und lassen das Ganze garen. Bei Bedarf wird mit kochender Fleischbrühe aufgefüllt und mit Salz, Pfeffer und Zucker abgeschmeckt. Anschließend werden auch noch Butter und Parmesan beigemischt.

Eine Variante dieses Gerichts ist übrigens Risi con fenoci. Dabei wird statt der Erbsen Fenchel verwendet. (Doch das interessiert uns nicht die Bohne. Beziehungsweise nicht die Bisi. Denn die bliebe ja dabei auf der Strecke…)

Genervt nahm Beatrice ihre Pseudo-Lektüre wieder auf – doch immer wieder verlor sich ihr Blick in der weiten, unendlichen Plattitüde der niederländischen Marschlandschaft zu ihrer Rechten. Gerade überquerten sie eine große stählerne Brücke – und zu ihrer Linken gähnte sie nun unverblümt das Meer an. Zumindest aber war es eine große Bucht. Oder ein Meeresarm. Der vom offenen Meer abgetrennt worden war. Abgehackt. Durch eine Art riesigen Deich.

Da Beatrice eine Schriftstellerin war – oder sich zumindest dafür hielt – machte sie sich stets zu allem und jedem (also für nichts und wieder nichts) die unnützesten Gedanken. Wenn möglich, notierte sie diese umgehend, wobei sie kurzerhand eine wichtigtuerische Miene auflegte und ihren Hello-Kitty- oder Snoopy-Notizblock herausholte. Das waren Momente, wo man sie unter gar keinen Umständen stören durfte – das wußte Franz nun schon zu genüge und er legte es auch nicht mehr darauf an.

Tragischerweise lag ihr dabei die Lyrik ganz besonders am Herzen – justament jene literarische Nische, die nicht nur am wenigsten einbringt, sondern in der sie auch – mit Abstand – am untalentiertesten war. Franz mußte dabei stets als Versuchskaninchen herhalten, aber erstens hatte er nicht die geringste Ahnung von Literatur – und zweitens wagte er es nicht, sie diesbezüglich zu kritisieren. Einmal oder zweimal hatte er es versucht, ganz zu Anfang ihrer Beziehung nämlich, aber das war mächtig in die Hose gegangen, also ließ er es besser bleiben. Denn wenn Beatrice eines so ganz und gar nicht vertrug, dann war es Kritik an ihrer Person, geschweige denn an ihren literarischen Ergüssen! Da kannte sie kein Pardon. Und wenn ihre unzähligen Manuskripte zum unzähligsten Male wieder daheim im Briefkasten eintrudelten, dann hatte sie stets eine Entschuldigung und eine Erklärung dafür parat: Alle waren doof! Die Lektoren waren doof. Die Verleger waren doof. Und Franz war es natürlich auch. Sie waren allesamt unkultiviert – und vor allem hatten sie alle keine Ahnung!

Rasch griff sie nach dem Bleistift und dem abgegriffenen Notizblock in ihrer Tasche – und begann mit versonnener Miene vor sich hin zu kritzeln...

RISIBISL

Der Doge wehrt sich vehement

Im großen Dogensaal

Gegen den Erbs-und-Reis-Zement

Die alljährliche Qual.

Denn Reis verträgt die Erbse kaum

Zwecks ihrer Konsistenz

Ergibt das Krieg im Hosensaum

Gefolgt von Flatulenz.

Der Doge in Kolik sich windet

Aufgebläht wie ein Ballon

Und ehe noch die Sonne schwindet

Ertönt ein ganzes Bataillon.

Erst hört man nur ein leises Horn

Dann die ganze Artillerie

Kanonendonner nun von vorn

Im Palazzo kracht es laut wie nie!

Doch Schuld an dieser ganzen G’schicht

War des Dogen Hasenscharte.

Denn eigentlich, da wollt er schlicht

Einen Teller frische RI-BI-SL.

(Doch die standen nicht auf der Karte.)

„Hat das etwa was mit eurem neuen Buch zu tun?“, nahm Franz das recht einseitige Gespräch zaghaft wieder auf.

„Was denn?“

„Na… eure Namen!“

„Du willst also wirklich keine Ruhe geben damit?“

„Doch. Schon. Aber wie kommt ihr nur darauf? Ich meine…“, er rutschte unruhig mit seinem Hintern auf dem kreischorangefarbenen Plüschpolster der Nederlandse Spoorwegen umher, „Ihr hättet euch ja genausogut Bonny und Clyde – oder meinetwegen auch Tom und Jerry, oder so, nennen können…“

„Ach so? Und? Findest Du Tom und Jerry vielleicht witzig?“

„Nein. Nicht sehr.“

„Na also.“

Franz fielen daraufhin noch einige andere berühmte Duos ein. So wie Dick und Doof zum Beispiel. Doch das behielt er lieber für sich. Mit Beatrice war heute ohnehin nicht zu spaßen.

2

Der quietschgelbe 14:34’er-Zug mit seinen kreischorangefarbenen Sitzpolstern sollte wohl die Modernität Hollands demonstrieren, mutmaßte Beatrice. Diese Demonstration ging allerdings ziemlich und buchstäblich in die Hose, wie sie fand. Und dieses Papiergeld erst! Neonfarben, wie atomar verstrahltes Kinderspielzeug. In ihren Augen hatten die Holländer allesamt einen gehörigen Knall. Wohl zu viel gekifft. Und dann die Farbtöpfe vertauscht. Im Drogenrausch.

Auch der Zug rauschte. Wie der Blitz. Erst durch Middelburg. Und dann über die Halbinsel Walcheren. Mit einigem Widerwillen hatte Beatrice zuvor, während der Lautsprecherdurchsage am Bahnhof, erfahren müssen, daß man hier in Holland das zarte germanische „ch“ regelrecht vergewaltigte, indem man es tief aus der Kehle hervorwürgte, wie auf einem arabischen Kamelmarkt, wie sie fand. Weiter ging es dann über die Städte Goes, Roosendaal und Dordrecht, wobei letzteres ebenso ungeniert herausgespieen wurde wie ersteres, nämlich wie das garstige, kratzige Gewölle eines Käuzchens, wie sie mit Unbehagen feststellte. Jetzt gerade fuhr er im Hauptbahnhof von Rotterdam ein. Er würde weiter über Delft, Den Haag und Leiden bis nach Amsterdam fahren – doch Beatrice und Franz sollten ihn bereits in Den Haag verlassen, wo sie ja die Wohnung einer Bekannten übernehmen wollten.

Beatrice hing weiterhin ihren unzusammenhängenden Gedanken nach. So betrachtete sie etwa die neuen Wolkenkratzer Rotterdams und dachte dabei, wie günstig sie doch das Zugticket von Middelburg nach Den Haag gekommen war: 37 Gulden und 50 Cent. Das war daheim in Deutschland teurer. Es erstaunte sie, wie nah all diese Städte hier beieinander lagen. Im Grunde bildeten Dordrecht, Rotterdam, Den Haag und Amsterdam beinahe eine einzige, riesige Stadt. Schön platt. Und mit schwarzweiß-gescheckten Kühen dazwischen. (Und Trauerweiden. Und Windmühlen.) In etwa 15 Minuten schon, würden sie in Den Haag ankommen – und Daniela, eine von Franzens ehemaligen Studienkolleginnen, würde sie beide am Bahnhof abholen. (So zumindest war es abgemacht.)

Während sie wieder über sattgrüne Kuhweiden fuhren, wurde Beatrice plötzlich bewußt, daß sich dieses Holland, trotz ihrer momentanen inneren Rastlosigkeit und Zerrissenheit, beruhigend auf sie auswirkte. Es erinnerte sie stark an ihr eigenes Zuhause. Daheim in Niedersachsen. War es genauso platt. Und es gab ebenfalls überall Backstein, Wasser, Trauerweiden und schwarzweiß geschecktes Milchvieh. Etwas langweilig, dachte sie, aber beruhigend. Der Backstein, die Kühe, die platten Weiden und der Dauerregen bildeten unerschütterliche Konstanten, ja, sozusagen die vier Kardinalpunkte, in einem zugegeben etwas zähen und langweiligen Einerlei. Doch da sie eben konstant und unerschütterlich waren, waren sie von ewigem Bestand. Und daher beruhigend. Man kann im Leben nicht alles haben, dachte Beatrice: Entweder die Ruhe und die Sicherheit – und somit auch die tödliche Langeweile – oder aber das Neue, Fremde, Kitzelnde – und somit auch das Risiko, das Entwurzeltsein, das ewige Gehetztsein. Im fernen Wien wartete Letzteres auf sie – doch im Moment zog sie, wohl aus Feigheit oder aus Bequemlichkeit, Ersteres vor.

Kurz vor seiner Ankunft in Den Haag fuhr ihr Zug durch Delft – und bereits dieses kurze Aperçu konnte Beatrice davon überzeugen, daß es sich um eine sehr schöne Stadt handeln mußte. Sie nahm sich vor, Delft beizeiten einmal genauer zu inspizieren. Irgendwann einmal. Bloß nicht jetzt! Was Du morgen kannst besorgen, das verschiebe nicht auf heute…

„Hmm…“, nachdenklich drückte sie ihre Stirn gegen die Fensterscheibe des Zuges, „Nach dem einen Monat hier in Holland frage ich mich allmählich, ob ich hier wirklich leben könnte. Ich meine: wirklich leben.“

„Warum nicht? Ich find’s gut.“

„Na ja… Ich spreche die Sprache nicht und… bald kommt der Herbst… und dann kann man nicht einmal mehr an den Strand gehen…“, sie löste ihren Kopf von der Scheibe und sah Franz an, „Abgesehen davon langweilt mich der Strand jetzt schon. Letzte Woche war ich nicht ein einziges Mal dort gewesen, falls Du es nicht bemerkt hast.“

„Kein Wunder bei dem Wetter letzte Woche!“

„Ja. Und stell’ Dir das alles mal im Winter vor… Brrr!“

Franz setzte sich zurecht. Das tat er immer, wenn er etwas loswerden mußte. Etwas Schwieriges. So etwas wie eine Kritik. Zum Beispiel.

„Na ja… Danach solltest Du aber nicht gehen“, sagte er, „Ich meine…“

„Ich weiß, ich weiß. Aber Ritas und mein Plan war nun mal, gemeinsam nach Wien zu gehen, um dort dieses Buch über die Heiligen zu schreiben. Rita hat extra deswegen auf ihre feste Anstellung in München verzichtet und ist mir zuliebe nach Wien gezogen.“

„Ja. Aber warum ausgerechnet Wien?“

„Tja. Das frage ich mich inzwischen auch…“

Franz setzte sich zurecht, obwohl er es soeben bereits getan hatte.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Rita und Du… na… daß ihr zwei die totalen Chaotinnen seid.“

„Wie bitte?“, Beatrice schaute verdutzt zu ihm auf. Derart harte (und wahre) Töne war sie von Franz gar nicht gewöhnt. Obwohl sie beide nun schon exakt zwei Jahre zusammen waren – oder vielmehr gerade deshalb – zog Franz es stets vor, lieber den Kürzeren vor ihr zu ziehen.

„Na ja, ich meine… Ihr seid beide Mitte Dreißig und…“

„Wie bitte?“

„Ist Rita nicht schon fünfunddreißig?“

„Nein! Sie ist erst dreiunddreißig. Sie wird erst vierunddreißig. Und zwar im September.“

„Aha. Alles klar. In knapp einem Monat also…“

„Aber ich bin erst einunddreißig!“

„Na gut. Dann eben einunddreißig…“

„Ja, genau! Einunddreißig zählt ja wohl noch eher zu den Endzwanzigern als zu Mitte Dreißig!? Das ist ein gewaltiger Unterschied!“

„Ist es nicht.“

„Ist es doch!“

„Nun gut. Ist es meinetwegen also…“, Franz begann erneut auf seinem Polster hin und her zu rutschen, „Nichtsdestotrotz sieht die Realität für euch zwei doch so aus, daß ihr… na ja…“

„Was! Sag es!“, Beatrice befürchtete das Schlimmste.

„Na, daß ihr beide keinen Job habt… und irgendwie…“

„Ja? Was noch?“, sie haßte es, derart auf die Folter gespannt zu werden. Konnte dieser Mensch keine zusammenhängenden Sätze herausbringen? Das wäre dann kürzer – und vor allem schmerzloser!

„Na, daß ihr jetzt plötzlich dieses Buch über… über diese…“

„Die Heiligen?“

„Ja genau. Die Heiligen. Also…“, Franz rutschte plötzlich hin und her wie ein von Hämorrhoiden geplagter Pavian, „Ich persönlich finde das alles ein bißchen… na, sagen wir… unkoordiniert.“

Unkoordiniert?“

„Ja. Ich meine… Da kündigst Du plötzlich Deine Assistenzstelle in Frankfurt… und Rita ihren Job bei der Bank… und…“

„Und?“

„Ja… Und nun laßt ihr euch plötzlich auf dieses Abenteuer ein – ohne Job, ohne Geld – und wollt aus heiterem Himmel Schriftstellerinnen werden!“

Endlich war es raus.

Beatrice seufzte.

„Sieh mal, Franz…“, sie hatte es allmählich satt, sich andauernd rechtfertigen zu müssen. In einem verdächtig ruhigen Ton, so, als spräche sie mit einem Kleinkind, oder vielmehr mit einem Schwachsinnigen, sagte sie: „Es ist nicht so, daß wir gerne Schriftstellerinnen werden wollen – sondern, daß wir Schriftstellerinnen sind. Daß wir unser Leben lang in irgendwelchen stickigen Büros eingeschlossen waren und bisher noch nichts veröffentlicht haben, heißt noch lange nicht, daß wir keine Schriftstellerinnen sind. Sowohl Rita, als auch ich, schreiben bereits seit unserer frühesten Jugend. Nur ergab sich bislang nie die Gelegenheit, unsere Texte zu veröffentlichen – und das, eben gerade weil wir bisher tagein, tagaus in irgendwelchen Büros eingeschlossen waren. Jetzt sind wir frei. Jetzt können wir uns endlich ganz der Kunst widmen.“

„Na, hoffentlich!“

Ja. Hoffentlich!“, dachte auch Beatrice.

3

Am Bahnhof von Den Haag-Hollandspoor entstiegen sie dem Zug. Beatrice fand den Namen des Bahnhofs „irgendwie unterschwellig obszön“, wie sie Franz versicherte. Dieser schüttelte daraufhin nur seinen Kopf. (Manchmal fand er Beatrice ein wenig seltsam.) Franzens Freundin Daniela erwartete sie bereits. Nach jeweils einem Bussi links und einem Bussi rechts, fuhren sie gemeinsam mit der Tramway quer durch die gesamte Innenstadt zu Danielas Wohnung. Die lag in der Van Kinsbergenstraat. Diese wiederum lag im Norden Den Haags. Gleich an der Ortsgrenze zum berühmten Seebad Scheveningen. (Auch diesen Namen quittierte Beatrice mit sichtlicher Abscheu.) (Gut, daß sie nicht wußte, daß Den Haag eigentlich ’s-Gravenhage heißt!)

Während sie vorhin, in Walcheren, auf den Zug gewartet hatten, blieb genug Zeit für das eingehende Studium einer riesigen Holland-Karte, welche an der Wand der Eingangshalle hing. Beatrice stieß dabei auf einige holländische Ortsnamen, die, ihrer Meinung nach, so einiges über die Holländer aussagen. Später am Abend sollte sie dann einige ausgewählte holländische Ortsnamen zu einer Art „Gedicht“ verkochen:

Alkmaar. Kootwijk. Sexbierum.

Poppel. Lochem. Engwierum.

Lemmer. Echt. Koudum.

Putten. Leiden. Tzummarum.

Hee. Balk. Workum.

Urk. Nagele. Marsum.

Boxmeer. Boxtel. Sneek.

Meppel. Beilen. Nunspeet.

Monster. Roden. Dudenbosch.

Axel. Zundert. Alphen.

Heiloo. Sauwerd. Oosterhout.

Wommels. Ommen. Brummen.

(De Cocksdorp. Best. Eierland.)

Hinter dem beschlagenen Fenster der Tram zog ein nagelneues Stadtviertel an ihnen vorbei. Recht hohe Bürogebäude schossen hier, rund um den Centraal-Bahnhof, wie Pilze nach dem Regen aus dem Sandboden. Und verwandelten Den Haag trotzdem nicht in eine Großstadt, wie Beatrice fand. Es folgte eine passable Einkaufspassage aus dem XIX. Jahrhundert (Altes fand Beatrice hingegen gut!), dann das Parlament, der sogenannte „Binnenhof“, und die alte Hauptkirche. Dazwischen die engen und quirligen Geschäftsstraßen. Daniela, die sich hier inzwischen gut auskannte, ersparte ihnen den Führer. Beatrices erster Eindruck von Den Haag war erstaunlich positiv. Die Innenstadt erschien ihr nicht sehr groß. Dafür aber sehr lebendig.

Beatrice und Franz brachten erst einmal ihr Gepäck in die Wohnung, die ja jetzt ihre Wohnung war. Sie hatten sie spontan angemietet, obwohl sie sie zuvor nicht einmal gesehen hatten. Doch sie gefiel ihnen. Beide fanden sie „irgendwie typisch holländisch“, wie sie Daniela versicherten. (Dabei hatte keiner von ihnen je zuvor eine holländische Wohnung zu Gesicht bekommen.) Vor allem das knarrende, hölzerne Stiegenhaus hatte es Beatrice angetan. Es war derart schmal und steil, daß man meinte, gleich einen Speicher zu betreten. Die Wohnung war ebenfalls sehr schmal geschnitten, dafür aber recht tief. Hohe Fenster sorgten dafür, daß dieser enge Wohnschlauch genügend Licht von Außen erhielt.

Nachdem sie sich kurz in der Wohnung umgesehen hatten (Beatrice hatte sich bei dieser Gelegenheit unbequeme Stöckelschuhe angezogen), führte Daniela sie zum nahegelegenen Stadtpark. Dort, gleich hinter dem Königsschloß und den Königlichen Stallungen, erwartete sie bereits Danielas neue Lebensgefährtin, Doris. Doris machte den Eindruck eines „lieben Mädchens“ auf Beatrice, erschien ihr aber weder schön noch sonderlich intelligent. Vielleicht sogar etwas zu zwanghaft auf „alternativ“ getrimmt. (Das war Beatrice nämlich immer suspekt.)

Obwohl es drumherum einiges zu sehen gab, konzentrierte sich Beatrice in Gedanken voll und ganz auf die Beziehung dieser beiden jungen Frauen. Zynisch wie sie war, vor allem gegenüber sich selbst, konstatierte sie, daß ein Mann sich in unbekannter Umgebung wohl zunächst einmal zu orientieren versuchen würde, während eine Frau sich sofort auf die sozialen Bindungen und Verbindungen stürzt, die sie umgehend auszuloten und zu entknäueln versucht. Demnach kam sie rasch zu dem Schluß, daß sie sich für Daniela eine andere Partnerin vorgestellt hätte. Da Daniela in ihren Augen den rationalen, also den „männlichen“ Part in der Beziehung übernahm, sah Beatrice sie eher mit einer intellektuellen, vielleicht sogar älteren Frau, von der sie noch einiges lernen könne. Denn Beatrice fand, daß Danielas mathematische Intelligenz, die für ihren technischen Beruf durchaus von Vorteil war, unbedingt auch in schöngeistige Richtung gefördert werden müsse. Hinzu kam noch ihr Eindruck, daß diese Doris nicht einmal wirklich lesbisch sei – sondern eher einen jener Grenzfälle darstellte, wie Beatrice sie nur allzu gut zu kennen glaubte: In ihren Augen zählte Doris nämlich zu jenem Schlag Frauen, die sich nach einer gescheiterten Beziehung mit einem Mann, oder nach einer enttäuschten Ehe, oder einfach nur, weil es „cool“ ist (sie war ja nur allzu offensichtlich eine „Alternative“!), in die Arme einer Frau flüchten. Und somit war Doris, ohne daß Beatrice bislang auch nur ein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte, auch schon bei ihr unten durch.

Beatrices Meinung nach, hatte diese Beziehung KEINE GROSSE ZUKUNFT. Das war ihr Schiedsspruch. Ihr abschließendes Urteil. (Und sie würde es am Abend gleich Franz auf die Nase binden. Ob er wollte. Oder nicht. Denn der sollte dann später ihren Kronzeugen abgeben. Für ihre gute Intuition. Für jenen Tag nämlich, an dem die Beziehung der beiden dann tatsächlich zerbrechen sollte. Dann würde sie sich mit feierlicher Miene und mit verschränkten Armen vor ihn hinstellen und sagen: „Siehst Du? Hab. Ich. Es. Nicht. Gesagt? Ich habe es gewußt!“.)

Die vier liefen nun gemeinsam durch die Den Haager Innenstadt. Drei mehr oder weniger hübsche Frauen. Eskortiert von einem mehr oder weniger gutaussehenden Mann. (Den die anderen Männer sicherlich um seinen vermeintlichen Harem beneideten.) Franz hingegen hatte keine Augen für die Mädchen. Mehr oder weniger gleichgültig war auch seine Geste, mit der er hie und da ein paar Photos von diesem oder jenem Gebäude schoß. Franz war ein scheinbar gleichgültiger, völlig in sich gekehrter junger Mann, mit einem unbewegten, wächsernen Gesicht. Seine Augen hatten stets gefunkelt. Früher. Bevor er Beatrice kennengelernt hatte. Doch das hatte sie ihm gehörig ausgetrieben. In zwei Jahren nur.

Als erstes zeigte Daniela ihnen das Königsschloß, welches Beatrice in seiner Kleinheit und Puppenstubenhaftigkeit überraschte. Sie fand es zwar „recht hübsch“, ganz und gar französisch angehaucht, doch schien es ihr allein durch seine zwergenhafte Größe zu beweisen, daß das dekadente holländische Volk die Oberhand hatte in dieser, wie sie es nannte, „marionettenhaften Monarchie“. Auch das gesamte Stadtviertel rund um den Palast befand Beatrice, mit kritischer aber wohlwollender Miene, gnädigst als „niedlich“. (Hinter ihrem Rücken wechselten Daniela und Doris verstohlene Blicke. Eine von ihnen verdrehte sogar ihre Augen. Denn in ihren Augen war Beatrice nichts weiter als eine affektierte Zimtzicke. Schlimmer noch: Eine TUSSI.)

Bei ihrem Spaziergang durch das „Hofkwartier“ kamen sie schließlich auch zum sogenannten „Binnenhof“, der das niederländische Parlament und den Regierungssitz beherbergte, wie Daniela ihnen mitteilte. Während Franz wie wild seinen halben Film verschoß, begnügte sich Beatrice damit, ihn lediglich „interessant“ zu finden. (Schließlich war sie ja Schriftstellerin – zumindest in ihrer Phantasie – und da konnte man doch nicht mit Worten wie „toll“, „super“ oder „geil“ um sich schmeißen, wie es andere Vertreter ihrer Generation durchaus taten.) (Die fand Beatrice nämlich „vulgär“. Und „proletarisch“.)

Bei der Besichtigung des Binnenhofs zäumten die vier das Pferd von hinten auf, indem sie diese Abfolge von Gebäuden und Innenhöfen von seiner Rückseite aus betraten. Dies stellte sich bald schon als Vorteil heraus, denn somit sparten sie sich die bemerkenswerte, streng gotische Fassade des „Ridderzaals“ (den Beatrice irrtümlich für eine Kirche hielt) bis ganz zum Schluß auf. Beatrice war beeindruckt von diesem Gebirge, dieser Welt, aus Backstein, mit ihren märchenhaft anmutenden Zinnen und Türmchen. Selbst die Böden bestanden hier, wie fast überall in Holland, aus quer verlegten Ziegeln, die, in der Sonne gleißend, den Städten und Ortschaften etwas Warmes und Heimeliges verliehen. Dennoch zeigte sie ihre Begeisterung nicht und ließ lediglich ab und zu ein „Aha?“ – jedoch höchstenfalls ein „Sehr interessant!“ – heraus. (Die Mühe hätte sie sich sparen können. Denn die anderen hörten ihr ohnehin nicht zu.)

Abschließend genossen sie die schöne Ansicht des gesamten Gebäudekomplexes von der Stadtseite aus, dort, wo sich der große Wasserteich erstreckt und wo sie das obligatorische Gruppenbildchen aufnahmen. Weiter ging es dann über die „Lange Voorhout“. („Welch obszöner Name für eine derart elegante Allee!“, dachte Beatrice.) Über die „Lange Voorhout“ kamen sie schließlich in ein vornehmes Stadtviertel Den Haags. Rund um die Kazernestraat. Und die Hooigracht. Ging plötzlich ein kurzer Schauer auf sie nieder. Sozusagen aus heiterem Himmel. Verschanzten sie sich also. In einer netten Bierpinte. Wo Doris und Daniela sich gleich die Ärmel hochkrempelten. Und zwei große Krüge Bier bestellten. Franz und Beatrice hingegen begnügten sich mit mit einer Tasse Friesischen Tees. Laut Beatrice war es ja „noch viel zu früh für ein Bier“. Das teilte sie den anderen auch lautstark mit. Und Franz teilte brav ihre Meinung. Sowie ihre Tasse Friesischen Tees. (Obwohl ihm offensichtlich eher nach einem Bier zumute war.)

Auf dem Rückweg ging es wieder über die Lange Voorhout zurück. Prompt machte Beatrice diesbezüglich eine anzügliche Bemerkung. (Woraufhin Franz und die beiden Mädels sie umgehend mit brutaler Gleichgültigkeit straften.) Rückbezüglich jedoch, sollte sie, von irgend einer dubiosen Muse geküßt, ein Kurzgedicht in ihrem Snoopy-Notizblock zum besten geben, das sie für eines ihrer gelungensten hielt:

Über die Lange Voorhout

Kam ein Mann geritten

Er mochte diesen Namen nicht

(Denn er war beschnitten)

Die Lange Voorhout brachte sie wieder zurück nach Westen, zum „Paleis“ hin. Derzeit waren auf ihr, unter dem illustren Titel „Carnaval des animaux“, einige Tierskulpturen ausgestellt, worüber Beatrice sich lauthals aufregte. Und auch darüber, daß „unsere Steuergelder für einen derartigen Quatsch zum Fenster hinausgeworfen werden!“. (Sie hatte noch nie in ihrem Leben Steuern gezahlt!) (Und in Holland schon gar nicht!) Mit derartigen Sprüchen machte sie sich bei den anderen immer unbeliebter. Denn die erfreuten sich durchaus an den Skulpturen. Von Pompon. Rude. Und César. Bishin zu Louise Bourgeois. Schaute Beatrice ostentativ in die entgegengesetzte Richtung. (Wo es jedoch auch nichts anderes zu sehen gab. Als Tierskulpturen.)

Erst bei Einbruch der Dämmerung liefen sie zurück. In die Van Kinsbergenstraat. Gleich ums Eck, in der Elandstraat, besorgten sie noch einige Einkäufe. Und zwar im KONMAR. (Einem KONsumentenMARkt.) Beatrice und Franz waren überrascht, wie viele Arten von Meeresfrüchten und Fisch es hier gab. Hauptsächlich gebacken. Da Beatrice ihn hier ausgesprochen günstig fand, kaufte sie ihn gleich. (Hätte sie auch nur einen Funken Selbstironie besessen, so hätte sie mit Sicherheit folgenden Erguß in ihr Snoopy-Notizblock gekritzelt:)

Eingefalteten Petersfisch

Und gebackene Miesmuscheln

Kaufte ein miesepetriger Backfisch

(Altbacken und einfältig)

Franz hingegen stellte rasch und klammheimlich eine Sechserpackung belgischen Bieres in den Warenkorb. Dunkel. Und hochprozentig. Freute er sich. Mit jeder Flasche. Würde er sie sich schöner saufen. Seine nervtötende Freundin. Hundertprozentig. (Denn Bier war gut. Für die Nerven.)

Kurze Zeit später stellten Daniela und Doris ihre Internationalität und Aufgeschlossenheit zur Schau – und zwar mittels eines asiatischen Gerichts im Wok, mit Ingwer, Glasnudeln, Fisch- und Austernsauce. Die Fisch- und Austernsauce war allerdings nicht so ganz nach Beatrices Geschmack, denn sie schmeckte „ziemlich penetrant nach Fisch“, wie sie fand. Prompt beschwerte sie sich – allerdings nur ganz leise, hinter vorgehaltener Hand, allein für Franzens Ohr bestimmt – über die „lesbischen Nudeln“. (Man konnte schließlich nie wissen. Irgendwo hatte sie nämlich mal gehört, daß mit Lesben in diesen Dingen nicht zu spaßen sei!)

4

Am darauffolgenden Tage wollten Franz und Beatrice eigentlich nach Rotterdam fahren. Und nach Delft. (Beziehungsweise wollte Franz nach Rotterdam fahren. Und Beatrice nach Delft.) Doch gleich bei der Grote Kerk wurden sie von einem Regenschauer erfaßt, der sich gewaschen hatte. Also gaben sie ihr Vorhaben zunächst auf und flüchteten sich in das nächstbeste Geschäft – einen Secondhandladen, mit Petticoats aus den 50’ern, Glockenmänteln aus den 60’ern, Plateauschuhen aus den 70’ern, und Leggings aus den 80’ern. Für Beatrices Geschmack waren all diese Klamotten viel zu schrill und zu viel bunt. (Genauso wie das holländische Geld.)

Als sie ihren Unterschlupf wieder verließen, war es bereits zwischen 17 und 18 Uhr. Die Geschäfte in Den Haag schlossen bereits, außerdem schauerte es nach wie vor aus einem bleiernen Himmel, was nicht gerade ideale Voraussetzungen für eine unbeschwerte Fahrt ins Blaue waren, wie Beatrice fand. Also verzichteten sie auf ihren für heute geplanten Ausflug nach Rotterdam (beziehungsweise nach Delft) und liefen vielmehr wahl- und ziellos durch die regennassen Straßen von Den Haag, während auch Beatrices Miene immer finsterer wurde.

„Puh!“, machte sie, „Was für ein Wetter!“

„Aber es ist doch schön!“, strahlte Franz sie an.

„Schön? Ich hasse Regen!“

„Ich liebe ihn!“

„Ich hasse Holland!“

„Ich liebe es!“

„Ich hasse Dich!“

„Ich Dich auch nicht.“

Nach dem heutigen Abendessen gingen die vier noch in ein Café unweit ihrer Wohnung, wo sie einen Espresso und einen Magenbitter tranken, um sowohl Beatrices chronisch miese Laune, als auch Danielas kulinarische Kreation besser verdauen zu können, denn beide gleichermaßen waren recht eigenwillig gewesen und lagen ihnen demnach schwer im Magen. Daniela und Doris gingen gleich darauf wieder heim – vermutlich, um sich den Magen nicht weiter an Beatrice zu verderben, die jedoch nun ihrerseits einen Verdauungsspaziergang „von den Lesben und ihrem unsäglichen, linken Fraß“ benötigte, wie sie sich ausdrückte. Franz sträubte sich zwar dagegen, gab jedoch schließlich, wie immer, klein bei. Also trotteten sie schon wieder durch die Innenstadt von Den Haag, denn was sonst sollten sie hier auch anderes tun.

Die Luft war ungewöhnlich feucht und kühl, was angesichts dieser Jahreszeit einigermaßen verwirrend für sie beide war, denn es war ja mitten im August. Während Beatrice sich nun hemmungslos über die beiden Lesben und deren Kochkünste ausließ, ferner über Holland und das schreckliche Wetter schimpfte, sich also förmlich vor Franz auskotzte, liefen die beiden ziel- und planlos in das Gewirr von Fußgängerzonen hinein, die zu so später Stunde mehr oder weniger leer waren. Nur ein paar dubiose Gestalten irrten noch herum und versuchten Franz und Beatrice irgendwelche Drogen anzudrehen. Plötzlich war dieses tagsüber so nette und offenbar harmlose Den Haag eine ganz andere Stadt. Die unzähligen Dealer schälten sich allerorts aus der Dunkelheit der Hauseingänge, materialisierten sich geradewegs wie Dämonen, und verbreiteten eine ungute, ja, geradezu gefährlich anmutende Atmosphäre. „Shitshitshit!“, ertönte es alle paar Meter – und es klang bedrohlich, wie das Zischen einer Schlange – oder wie ein arabischer Drohfluch, zumindest meinte Beatrice das. Später sollte sie diesen Eindruck in ihrem Snoopy-Notizblock verarbeiten – nicht wirklich in künstlerischer, sondern vielmehr in selbsttherapeutischer Hinsicht.

Im Lande der 1000 Kühe

Und der 1000 Kuhfladen

Erschallt es 1000fach:

„Shit! Shit! Shit!“

(Folglich geht es hier 1000en Menschen beschissen.)

Bereits bei Beatrices letztem Besuch in Holland, vor einigen Jahren noch, hatte sie es immer und immer wieder gehört, dieses „Shitshitshit!“. Monoton und bedrohlich. Doch mittlerweile hörte man auch noch anderes, wie „Cokecokecoke!“ zum Beispiel. Und Beatrice wunderte sich, was wohl da drin war, beziehungsweise, mit welchem Scheißdreck es wohl gestreckt war. Außerdem wunderte sie sich, warum die holländische Regierung, oder zumindest die Polizei, offensichtlich rein gar nichts dagegen unternahm. Zudem fiel ihr auf, daß sich unter all diesen Dealern kein einziger Europäer befand. Mit ihrer dunklen Haut und den dadurch weiß erscheinenden Augen und Zähnen wirkten sie im Zwielicht allesamt wie Gespenster, zumal so unmittelbar vor der Geisterstunde. Sie verunsicherten Beatrice – nein, sie flößten ihr geradezu Angst ein, denn daheim in Niedersachsen – aber auch in Wien – gab es so etwas gar nicht. Dabei hatte sie „eigentlich gar nichts gegen Ausländer“, wie sie es stets zu formulieren pflegte. Doch im Grunde ihres Herzens verachtete sie sie. Diese düsteren Gestalten von anderswo, wie aus einer fremden Dimension, die in dieser, ihrer Welt umherirrten wie verirrte Seelen, um mittels ihrer Drogen der hiesigen Bevölkerung nichts als Krankheit, Leid und Tod zu bringen. Natürlich hörte man immerfort, all diese Menschen seien aus ärmlichen Verhältnissen und erbärmlicher Unterdrückung nach Europa, ins vermeintliche El Dorado, geflohen (wiederum in ärmliche Verhältnisse und erbärmliche Unterdrückung), doch sie fragte sich, warum sie hier ausgerechnet todbringende Drogen verkaufen mußten, anstatt zum Beispiel putzen zu gehen, auf dem Bau zu arbeiten, in der Pflege tätig zu sein oder zumindest irgend eine Lehre oder Ausbildung zu machen, denn es waren augenscheinlich alles sehr junge Männer, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten. Das paßte für sie alles vorn und hinten nicht zusammen. Falls sie hier illegal waren, so mußte man sie polizeilich aufgreifen und umgehend rausschmeißen, war sie überzeugt. Und falls sie legal waren, so kassierten sie in jedem Fall Sozialhilfe und zudem standen ihnen sämtliche Wege für eine anständige Karriere offen. Doch noch viel mehr als über diese eingewanderten Drogendealer ärgerte sie sich über die hiesigen Politiker, die mit Sicherheit ganz genau wußten, was hier abging, aber aus unerfindlichen Gründen rein gar nichts dagegen unternahmen.

„Riechst Du das nicht?“

„Was denn?“, Franz streckte seine Nase in die feuchtkalte Luft und schnupperte wie ein Hund daran.

„Na, dieser ekelerregende Geruch von Marihuana und Haschisch! Überall stinkt es danach!“

„Ich rieche nichts. Meine Nase ist verstopft.“

„Es strömt aus all diesen verdammten Koffieshops. Alle Kneipen dunsten es aus!“

Alle Kneipen?“

„Und sieh nur! Die jungen Menschen, die um diese Zeit noch unterwegs sind, wirken alle… apathisch und krank.“

Alle?“

„Hör auf, Dich über mich lustig zu machen! Ich meine es ernst…“

Erschöpft ließ Beatrice sich auf einer der nassen Bänke vor der Grote Kerk nieder.

„Und diese Kirche hier! Die ist doch schon längst vom Volk entweiht und profanisiert worden. Heute dient sie nur noch als Ausstellungs- beziehungsweise als Lagerhalle! Wie kann man so etwas nur zulassen?“

Franz schwieg. Er ahnte bereits, was da nun auf ihn zukommen würde.

„Nein“, murmelte Beatrice, „Hier in diesem Land könnte ich beim besten Willen nicht leben! Unten, an den Stränden von Südholland, ist es etwas ganz anderes – aber hier, in den Großstädten, zeigt Holland plötzlich ein ganz anderes, knallhartes und eiskaltes Gesicht…“

„Ach, das ist doch in allen Großstädten dieser Welt so!“, versuchte Franz sie zu beschwichtigen, „Sieh doch einmal die positiven Dinge an Holland! Zum Beispiel die Toleranz!“

„Pah! Toleranz!“, Beatrice fegte seinen Einwand mit der Hand beiseite wie eine lästige Fliege, „Man lobt die Holländer so sehr für ihre Toleranz – doch in meinen Augen handelt es sich dabei nicht um Toleranz, sondern um pure Ignoranz. Die Holländer sind gleichgültig. Und gottlos. Und durch und durch materialistisch. Alles, was hier immer schon gezählt hat, ist Geld, Geld, Geld. Früher, als Handelsnation, sind sie mit ihren Schiffen wie die Heuschrecken über die Erdkugel hergefallen und haben die Urvölker ausgebeutet. Mit dem vielen Gold haben sie sich freigekauft von allem. Auch von Gott. Und das Königshaus, das hält man sich nur noch aus purer Sentimentalität. Wie Affen in einem Käfig…“

„Meine Güte, wie kommst Du nur darauf? Weshalb siehst Du plötzlich alles so negativ?“

„Aber ist es Dir denn nicht auch aufgefallen? Diese unheilige Atmosphäre? Dieses Kranke, Tote, Zombiehafte? Hier konsumiert ja wirklich ein jeder Drogen! Das da vorhin, das waren doch noch Kinder gewesen!“, sie begann sich allmählich zu echauffieren, „Und ich sag Dir was, Franz: Hier gilt man auch noch glatt als reaktionäres Urgestein, wenn man etwas dagegen sagt! In diesem Land, wo es einfach scheißegal ist, wer man ist, woher man kommt, wohin man geht, an was man glaubt und was man tut. Nein, in so einem Land kann und will ich nicht leben!“

„Aber Mausi!“, Franz drückte sie fest an sich, „Niemand zwingt Dich, hier zu leben!“

Beatrice stieß ihn barsch von sich.

„Der Mensch wird hier seines Koordinatenkreuzes beraubt!“, fuhr sie ein wenig theatralisch fort, „Man raubt ihm die unerschütterlichen Fixpunkte seiner Existenz! Es ist völlig egal wer er ist – also ist er im Grunde völlig austauschbar und somit überflüssig. Die schlimmste Vorstellung für mich, als gläubige Katholikin!“

Franz räusperte sich.

„Na gut“, Beatrice sah ein, daß sie den Bogen gerade ein wenig überspannt hatte, „Sagen wir: als Christin…“

Franz sagte gar nichts mehr. Er kannte Beatrice nur zu gut und wußte, daß es jetzt zu spät war für irgendwelche Argumente. In diesen Augenblicken war sie wie ein Zug, der volle Fahrt aufgenommen hatte und der alles gnadenlos ummähte, was sich ihm in den Weg stellte. Er würde jetzt besser still sein und gar nichts mehr sagen. Denn sonst würde er glatt unter die Räder kommen.

„Dieser kollektive Scheinindividualismus der holländischen Gesellschaft ist doch in Wahrheit nichts anderes als eine weitere und weitaus subtilere Form der Vereinheitlichung, der Gleichschaltung der Masse – und somit die vollkommenste und konsequenteste Auslegung des Kommunistischen Manifests nach Marx und Co. Nur, daß die Holländer bereits dreihundert Jahre vor Marx damit begonnen haben! Mit ihrer verdammten Reformation haben sie erst den Grundstein zu allem späteren Übel gelegt und eine Welt erschaffen, in der die Klassengesellschaft durch die breite Masse ersetzt wird, wo es durch eine vom Staat forcierte Gottlosigkeit und Drogenabhängigkeit dumm und unmündig gehalten wird – eine Gesellschaft, auf die wir Dank dieser verteufelten Globalisierung alle hinsteuern!“

„Aber Mausi!“, Franz verstand die Welt nicht mehr, „Was bist Du denn plötzlich so gereizt… und reaktionär?“

„Ich habe Dir doch schon hundertmal gesagt, daß Du mich nicht immer Mausi nennen sollst!“, fuhr Beatrice ihn an, „Das klingt abwertend. Und außerdem ist es auch noch… frauenfeindlich!“

„Aber...“

„Verschluck’s!“

Franz verschluckte es.

„Hast Du nicht Huxleys Brave New World gelesen? Da, bitte! Diese Gesellschaft haben wir doch heute schon! Nur hieß dort die vom Staat verabreichte Massendroge Soma – und nicht Marihuana!“

Franz verstand nur noch Bahnhof.

„Nein“, fuhr sie kopfschüttelnd fort, „Holland ist für mich ein Paradebeispiel der stummen, schleichenden Hirnaushöhlung! Wesentlich schlimmer noch als Frankreich, das trotz allem wenigstens noch so etwas wie einen Nationalstolz besitzt! Liberalität! Pah! Was für eine Mogelpackung! Praktisch ist sie allemal, denn so hat man einen Freifahrtschein im Kampf gegen die alten, wahren Werte!“

Franz schaltete ab.

„Hier hält man sich die Könige wie Statisten in einem Theater – da waren die Franzosen 1789 schon um einiges ehrlicher!“

So unauffällig wie nur irgend möglich, erhob sich Franz von der nassen Parkbank und zog Beatrice sachte mit sich. Er war müde, er wollte endlich schlafen. Es gab für ihn kein schöneres Gefühl als dieses leise Kribbeln, das einen immer befällt, kurz bevor man in den erlösenden Schlummer sinkt…

„Und wehe, sie mucken auf, äußern eigene, individuelle Gedanken – und schon wären wir um eine Monarchie ärmer!“

Franz lächelte. Sie hatte nichts bemerkt. Sachte, ganz sachte, aber bestimmt, zog er sie nun mit sich – in Richtung Van Kinsbergenstraat, wo bereits ein frisch bezogenes Bettchen auf ihn wartete…

„Und das ganze System hier würde paradoxerweise sofort zusammenstürzen wie ein Kartenhaus – denn trotz allem stellt die Königin noch jenen letzten Faden dar, der Holland mit dem Boden der Tatsachen verbindet – also mit so etwas wie den Resten von Anstand…“

Ein paar Meter noch…

„Von Moral, Ethik, Glauben und Tradition!“

Gleich waren sie da…

„Die Habsburger hatten Holland leider nur knapp achtzig Jahre lang halten können – schade, daß sie es nicht vor der Reformation bewahren konnten! Aber so, handelt es sich bei diesen glorreichen Niederlanden nur noch um eine leere, durch und durch materialistische Hülle, die nur noch von ihren alten Glanzzeiten, wie Monarchie und Seefahrt, zehrt, um überhaupt noch überleben zu können!“

Franz hatte bereits die Haustür aufgeschlossen. Beatrice wunderte sich nicht einmal, daß sie plötzlich mitten in ihrer neuen Wohnung stand.