Night Soul 2

Night Soul 2

Aragón

Kajsa Arnold

Kajsa Arnold Edition

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Danksagung

Dieses Buch widme ich Conny

Vielen Dank für deine Hilfe

Prolog

Der Wind wehte leise über die Hügel der rauen Landschaft und strich leicht über die Gräser. Eine sanfte Bewegung nur, aber doch stark genug, dass sich das Gras zart Richtung Norden neigte. Es verursachte ein leises Geräusch, ein Flüstern, das immer wieder denselben Namen trug: Violett!

Ein Wirbel entstand aus dem Wind, der sich immer schneller um sich selbst drehte, Nebel fuhr aus ihm empor. Mitten in dessen Zentrum wurde eine Frauengestalt sichtbar, die sich nach wenigen Sekunden zu einer lebenden Person entwickelte. Was eben noch wie ein Hologramm gewirkt hatte, bestand jetzt aus Fleisch und Blut. Wunderschönes langes und blondes Haar floss ihren Rücken hinunter und schloss sich in leichten Wellen um ihren grazilen Körper. Ein fließend weißer Stoff umspielte ihre schlanke Figur und ein rosafarbenes Band hielt das Kleid an ihrer schmalen Taille zusammen. Die Farbe ihrer leicht schräg stehenden Augen machte ihrem Namen alle Ehre, das dunkle Lila schmeichelte ihrem hellen zarten Teint. Violett Farnese war nur mit einem Wort zu beschreiben: bezaubernd!

Ihr Blick glitt wehmütig über die Klippe hinaus auf das Meer, das laut gegen die Felsen schlug. Die Gischt schäumte weiß auf und rollte am Strand zu langsamen Wellen aus; vereinzelt spülten sie Treibgut an, das viele Jahre ein trostloses Dasein in den Gezeiten gefristet hatte. Ebenso monoton wie das Leben, das Violett führte, seit sie vor Jahrhunderten hier an Land gespült worden war …

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Kapitel 1

Leise schloss sich die Tür zum Büro von Captain Albert Sullivan, dem Chief des Seattle Police Departments. Er schüttelte den Kopf, nicht wissend, was er von dieser ganzen Sache halten sollte. Erst verstarb seine Profilerin Ewa Butler bei einem Hausbrand und nun fiel auch noch Cruz Esposito aus. Er konnte zwar nachvollziehen, dass Esposito dieses Unglück schwer zu schaffen machte, immerhin war Butler seit über einem Jahr seine Partnerin gewesen. Aber deshalb gleich unbezahlten Urlaub auf unbestimmte Zeit zu nehmen, war schon etwas sonderbar.

So, wie es aussah, glaubte Cruz nicht an ein Unglück, denn er wollte nach eigenen Aussagen neuen Hinweisen nachgehen. So ein Unsinn! Die Spurensicherung hatte einen wasserdichten Bericht abgeliefert, es war und blieb ein Unfall ohne Fremdeinwirkung. Daran konnten auch Espositos Ahnungen nichts ändern. Jetzt musste der Chief nicht nur den Posten der Profilerin neu besetzen, sondern auch noch einen Ersatz für Esposito finden, denn die Art und Weise, wie dieser die Tür schloss, hatte etwas Endgültiges gehabt.

Er kannte Cruz seit über zehn Jahren und dieser entschlossene Ausdruck in seinem Gesicht war ihm wohlbekannt. So schnell würde er ihn nicht wiedersehen. Jetzt hieß es erst einmal, ein neues Team zu bilden, das sich der ungeklärten Mordfälle von Seattle annahm, deren Zahl seit geraumer Zeit stetig wuchs. Leichen, die mit Bissen übersät waren, das Blut bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen, hier wären Vampire am Werk. Missmutig knurrte Sullivan vor sich hin. Was für eine absurde Idee.


Drei Tage später


Das kleine Hotel an der nördlichen Spitze der Bretagne wirkte wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Das aufragende Steingebäude war auf einer Seite komplett mit Efeu überwuchert, das die installierten Kameras vor fremden Augen verbarg. Ein altmodischer Zaun grenzte das gesamte Gelände ab und war immer dann mit Strom unterlegt, wenn niemand im Haus war.

Die Sicherheitsmaßnahmen galten nicht den neugierigen Touristen, die gelegentlich nach einem Hotelzimmer fragten und denen noch nicht zu Ohren gekommen war, dass das Hotel keine Zimmer mehr zu vermieten hatte, da es sich seit einem Vierteljahr in Privatbesitz befand. Sie galten der eigentlichen Gefahr, gegen die sich die Bewohner des Hotels schützen mussten.

Die Anwohner des kleinen Ortes Ploumanac’h an der französischen Côte de Granit Rose hatten sich an die Bewohner des Hotels Rosé Granit gewöhnt, die sich etwas seltsam kleideten und meist nur im Dunkeln das Haus verließen. Offiziell waren sie Mitarbeiter einer großen Versicherungsagentur. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, niemandem fiel auf, dass immer die gleichen Personen kamen und gingen.

Dr. Channing McArthur – Amerikaner, Historiker und Vampir –, stand am Fenster seiner Suite und schaute auf die tosenden Fluten des Ärmelkanals hinaus. Die Hände tief in den Taschen seiner Hose vergraben, wippte er ungeduldig auf seinen Füßen hin und her. Unentschlossen fuhr er sich mit einer für ihn typischen Handbewegung durch sein kinnlanges Haar und strich es zurück.

Seit einiger Zeit quälten ihn Erinnerungen an sein früheres Leben, bevor man ihn zum Vampir gewandelt hatte. Es war Shia gewesen, der Zwillingsbruder von Sara, der Frau, mit der er ein Glaubensgelöbnis eingegangen war. Shia hatte ihn zu einem von ihnen gemacht, um sein Leben zu retten. Er hatte ihn aus einem brennenden Taxi gezogen. Ohne Shia wäre er bei lebendigem Leib verbrannt.

Die Frage, welches Leben das bessere war, beschäftigte ihn sehr. Ein kurzes als Mensch, das so plötzlich enden konnte, oder ein ewiges als Vampir? Wollte er tatsächlich ewige leben? Ja. weil es nun Sara gab.

Er schüttelte den Kopf. Und davor? Seit einiger Zeit tauchten Bilder aus seiner Vergangenheit in seinem Kopf auf, die dort nichts zu suchen hatten und ihn beunruhigten. Keiner der anderen Vampire erinnerte sich an sein früheres Leben. Allerdings begann Channing zu glauben, dass seine Erinnerungen wichtig waren.

In seiner ersten Rückblende war dieses kleine Hotel in der Bretagne vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Woher er es kannte, wusste er nicht, aber es stand zum Verkauf und nun hatten die Krieger des Glaubens hier ein neues Zuhause gefunden. Saras Haus in Seattle war als Unterschlupf ja nicht mehr sicher gewesen. Sie hatten es in Brand setzen müssen. Sicherheitshalber hinterließen sie jede Menge DNA-Spuren von Shia, Sara und Ewa dort, damit es so aussah, als hätten die drei in den Flammen den Tod gefunden. Seitdem hatte die Polizei aufgehört, nach ihnen zu suchen.

Dann begann er sich plötzlich an seine Wohnung in Paris zu erinnern. Immer öfter sah er einzelne Zimmer deutlich vor sich. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, doch der Drang in ihm wuchs, nach Paris zu fahren und sich seine Wohnung einmal genauer anzusehen.

Es blieb nur die Frage, ob das nicht zu gefährlich war, denn im Gegensatz zur Polizei hatten sich Castaway und sein Gefolge nur kurzzeitig täuschen lassen und waren ihnen bereits wieder auf den Fersen. Ihre Gier, das geheime Buch der Vampire, das Diarium, in die Hände zu bekommen, war nach wie vor ungestillt.

Castaway, der charismatische Anführer der blutrünstigen Jäger der Dunkelheit, verfügte über eine Vielzahl von Kontakten und ebenso viel Geld, welches ihn eine gewisse Macht verlieh. Doch die Krieger des Glaubens hatten ihm vor einigen Monaten einen herben Rückschlag verpasst, bei dem sie fast alle Gefolgsleute Castaways mit einem Schlag auslöschten und Sunny auf ihre Seite zogen. Sie war es auch, die Philippes Nähe spürte, da sie ihn einst zu einem Vampir gewandelt hatte, auf Castaways Befehl. Und diese Nähe machte nicht nur Channing nervös.

Er schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk und sah, dass es Zeit für das Abendessen war. Seit sie das Haus an der Küste bezogen hatten, war es zu einem allabendlichen Ritual geworden, nach Sonnenuntergang ein gemeinsames Abendessen einzunehmen und die Nachtaktivitäten zu besprechen. Er hörte die Dusche rauschen und beschloss, schon einmal vorzugehen, denn wenn Sara ohne Kleidung das Zimmer betrat, war es um ihn geschehen und das Abendessen würde ohne sie beide stattfinden.

Mit einem Lächeln auf den Lippen durchquerte er den Flur und lief mit schnellen Schritten die Treppe in das große Wohnzimmer hinab.

Hier stand seit Neustem ein großer Esstisch, an dem sie alle Platz fanden. Auf dem Absatz stieß er fast mit Aragón zusammen.

»Hola, mein Bruder! So ganz in Gedanken?«, grüßte Channing ihn.

Der angenehme Bariton des riesigen Vampirs erfüllte den Raum.

»Das ist etwas, woran ich mich nur schwer gewöhnen kann. – Essen! Etwas, das ich Jahrhunderte lang nicht getan habe.« Aragón lächelte. »Aber es gefällt mir langsam. Auch wenn keine Notwendigkeit besteht, es ist ein angenehmes Ritual, mit dem wir unsere Zusammengehörigkeit ausdrücken.«

Channing nickte. »Sara und ich als Halbvampire müssen ab und zu etwas menschliche Nahrung zu uns nehmen und es gefällt uns ausgesprochen gut, dass die französischen Tischsitten dieser Gegend nun ein wenig auf uns abfärben.« Er lächelte. »Das macht unsere gemeinsamen Mahlzeiten wirklich sehr angenehm.«

Sie nahmen am Tisch Platz, der beinahe festlich gedeckt und fürstlich mit gutem Essen bestückt war. Chloé, ihre Haushaltshilfe, die tagsüber nahezu unsichtbar für die Krieger die Räumlichkeiten sauber hielt, richtete das Essen her, bevor sie am Abend unauffällig das Haus wieder verließ. Sara hatte sie bei einem nächtlichen Ausflug entdeckt, als Chloé sich gerade an einem Menschen nährte. Sie lebte seit einigen Jahren in der Bretagne und führte ein einsames, abgeschiedenes Leben. Da sie sich auf eigenen Wunsch hin nur einige Stunden am Tag im Haus aufhielt, bekam sie kaum etwas mit von dem, was los war. Sara war sicher, dass einige ihrer Brüder sie noch nie gesehen hatten, so unauffällig verhielt sich die scheue Angestellte. Nun, ihr sollte es recht sein, dachte Sara.

Nach und nach trudelten alle übrigen Krieger zum Essen ein. Shia und Ewa kamen direkt aus dem Trainingsraum und trugen noch Trainingshosen und T-Shirts. Lachend setzten sie sich an den Tisch und schauten zur Kellertreppe, auf der nun auch Ruben und Jôrek auftauchten. Rubens Gesicht sprach Bände.

»Es sieht so aus, als wäre Rubens Training nicht von Erfolg gekrönt«, kommentierte Aragón dessen Mienenspiel.

»Worauf du einen lassen kannst!« Shia lachte laut auf. »Ewa hat ihm gehörig den Hintern versohlt. Gar nicht schlecht für eine tote Profilerin.«

Ewa strich sich ihr blondes Haar aus dem Gesicht und winkte ab. »Das war nur Glück. Ich hätte ebenso gut wie er auf der Matte landen können. Vielleicht ist Ruben nur etwas aus der Übung.«

»Danke, aber wenn du schon siegst, solltest du dazu stehen. Auf diese Art von Mitleid kann ich verzichten!« Ruben sprang auf, lief vor Wut aufstampfend zur Haustür und verließ das Hotel.

»Upps, da hat aber jemand schlechte Laune.« Sara kam die Treppe heruntergerauscht und Channing erhob sich, um ihr den Stuhl zurechtzurücken. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Dabei zog er ihren unwiderstehlichen Duft ein, der ihm jedes Mal, wenn sie nur in seine Nähe kam, den Verstand raubte. Und dies geschah ausgerechnet ihm, der nicht an die Vorsehung glauben wollte. Der den Gedanken für absurd gehalten hatte, dass Sara sein Glaubensgelöbnis sein sollte. Doch das Schicksal hatte anders entschieden.

Sara erwiderte seinen Kuss und strich ihm zärtlich über den Arm. »Was ist mit Ruben los?«, fragte sie in die Runde.

Jôrek hob die Schultern. »So benimmt er sich schon eine ganze Weile. Ich glaube, im Moment läuft es nicht gut mit Phoebe. Zumindest schläft er in einem der Gästezimmer.«

»Phoebe nimmt heute nicht am Essen teil«, verkündete Sunny, die zusammen mit Maroush und Gabriel den Raum betrat und ihren Platz einnahm. »Sie sagt, sie hat noch etwas zu klären.«

»Dann können wir ja anfangen«, meinte Shia und legte sich ein blutiges Steak auf den Teller.

Nach dem Mahl versammelten sich die Krieger im Untergeschoss des Hauses, in dem man einen großen Besprechungsraum eingerichtet hatte, direkt neben Phoebes Schaltzentrale. Phoebe war für die Sicherheit und die Computer zuständig. Sie war IT-Spezialistin und ein Finanzgenie und hatte den Kriegern zu einem beachtlichen Vermögen verholfen. Auch wenn Phoebe nie eine Kriegerin des Glaubens werden würde, so hatten ihre Talente für die Kriegerschaft einen unermesslichen Wert und Channing sah es nicht gern, wenn sie sich aus der Runde ausschloss. Doch obwohl er als Vampir die Fähigkeit besaß, bereits leichte Schwingungen aufzunehmen, war ihm entgangen, dass sich das Verhältnis zwischen Ruben und Phoebe verändert hatte.

Mittlerweile war es fast Mitternacht und draußen schien der Mond an einem sternenklaren Sommerhimmel. Phoebe blickte aus dem Fenster ihres Zimmers und sah Ruben im Garten an einen Baum gelehnt sitzen. Sie öffnete es und sprang aus der ersten Etage auf den Rasen hinunter. Leise landete sie auf dem grünen Gras und schlenderte zielsicher auf Ruben zu.

»Nimmst du heute nicht an der Besprechung teil?«

»Mir ist nicht nach Reden.« Er vermied es, ihren Blick zu erwidern.

»Auch nicht mit mir?«

Er schüttelte stumm den Kopf.

»Hat das etwas mit uns zu tun?«

Nun blickte er sie doch an und schien sich ertappt zu fühlen. »Wie meinst du das?«

»Ruben, ich bin nicht dumm. Etwas hat sich verändert. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, ich spüre es deutlich. Du bist anders, wir haben uns in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Hast du jemanden kennengelernt, vielleicht dein Glaubensgelöbnis?«

Ruben schüttelte den Kopf. »Nein, wenn es so wäre, hätte ich es dir gesagt, das habe ich dir versprochen.« Er erhob sich und trat nah an sie heran. »Ich kann dir nicht sagen, was es ist, denn ich weiß es selber nicht.« Er berührte sachte mit seinem Finger ihre Wange.

»Ich weiß, immer treu!«, flüsterte Phoebe traurig und spielte damit auf Rubens Losung an, die sich nach seiner Wandlung auf seinem Körper als Tattoo gezeigt hatte. »Auch wenn ich keine Kriegerin bin, besitze ich Instinkte und diese sagen mir, dass du nichts mehr für mich empfindest.«

Ihr Blick war starr auf seine Augen gerichtet, was bei Ruben den Schweiß ausbrechen ließ. Er schüttelte unwillig den Kopf. »Nein, so ist es nicht. Ich liebe dich, das weißt du, nur ...«

»Nur was?« Phoebe gab nicht nach, sie wusste, sie musste das hier ein für alle Mal klären.

Ruben streckte wieder seine Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück.

»Ich weiß nur eines: Du hast mir das Leben gerettet, als du mich aus der brennenden Bank trugst, und dafür werde ich dir immer dankbar sein. Aber lieben, nein, lieben werden ich dich ab sofort nicht mehr ...« Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand so schnell es ging, nur damit er ihre Tränen nicht sah, denn das, was sie gesagt hatte, war nicht das, was ihr Herz fühlte. Aber es war besser so.

Ruben liebte sie nicht auf die Weise, wie sie geliebt werden wollte. Sie war nicht sein Glaubensgelöbnis, das hatte sie immer gewusst. Es würde einfacher sein, wenn Ruben dachte, ihre Liebe für ihn wäre erloschen.

In ihrem Zimmer stellte sie sich vor den Spiegel und löste das Tuch, welches sie kunstvoll um ihren Hals geschlungen trug. Die dicke Narbe, die vom Ohr hinab und dann quer über ihren Hals verlief, rief sie in die Wirklichkeit zurück und ließ ihre Tränen versiegen. Ihre Finger fuhren das leuchtend rote Mal entlang, das unter ihrer Berührung brannte, als würden ihre Finger glühen. Niemand liebte einen Menschen mit solch einer Entstellung, wirklich niemand!

Als Phoebe wenig später den Besprechungsraum betrat, nickten ihr alle zu.

»Entschuldigt meine Verspätung, aber ich hatte noch etwas mit Ruben zu klären. Ich habe mich von ihm getrennt und ich möchte, dass ihr es wisst. Es geht ihm nicht gut und ich hoffe, ihr seid etwas nachsichtig mit ihm.«

Sie machte eine entschuldigende Handbewegung, ließ das Gesagte im Raum stehen, als hätte sie eine Nachricht über das Wetter verkündet.

Die Krieger warfen einander verstohlene Blicke zu, aber niemand kommentierte diese Neuigkeit – bis Channing das Wort ergriff: »Danke für deine Erklärung. Sie erspart uns die Ungewissheit. Wir besprechen gerade, wie wir vorgehen wollen, um den Schlüssel für das Diarium zu finden. Gabriel hat uns von einem weiteren Baumeister erzählt, der nach der Fertigstellung des Kölner Doms in Richtung Schottland gezogen ist.«

Gabriel nickte zustimmend. Er war in der Kathedrale auf die Krieger gestoßen, als diese das Diarium gefunden hatten, und hatte sich damals der Kriegerschaft angeschlossen. Seine große Gestalt von über einem Meter neunzig und die langen blonden Locken, kombiniert mit einem Paar eisblauer Augen, ließen ihn engelsgleich wirken. Seine Stimme war sanft und wohlklingend und ließ ihn äußerst charmant erscheinen. Die Beine steckten in einer Lederhose, die an den Seiten geschnürt wurde, so wie Biker sie manchmal trugen. Ein schwarzes Seidenhemd hing lässig über der Hose.

»Ja, es gab einen weiteren Baumeister, der mit Alban Haffyn gut bekannt war. Sein Name ist James Thomson. Er ist Schotte und reiste nach Beendigung des Dombaus in sein Heimatland. Allerdings kann ich nicht sagen, ob Alban ihm den Schlüssel anvertraut hat.«

»Aber es wäre eine erste Spur, der wir folgen könnten«, wandte Sara ein.

Auch Aragón nickte zustimmend. »Das sollten wir auf jeden Fall weiterverfolgen. Ich habe einen guten Freund, der in Schottland lebt. Es besteht die Möglichkeit, dass er uns weiterhelfen kann.«

»Ein Vampir?«, fragte Channing.

»Ja. Marten MacFarlane genießt mein absolutes Vertrauen. Er gehört einem Clan an, der aus der Gegend nördlich von Loch Lomond stammt. Die Männer dieses Clans gehen keinem Streit aus dem Weg, aber mit ihnen kann man Pferde stehlen.«

»Woher kennst du diesen Marten?«, fragte Shia misstrauisch.

»Ich habe sein Leben vor einer Horde Jäger der Dunkelheit gerettet. Es ist schon einige Jahrhunderte her und ich glaube, es wird Zeit, eine Gefälligkeit einzufordern.«

»Du willst nach Schottland reisen?« Sara sah ihn überrascht an.

Aragón nickte zustimmend: »Ja. Wenn es im Moment unsere einzige Spur ist, werde ich diese Reise auf mich nehmen, oder was meint ihr?«

Allgemeines Gemurmel beantwortete seine Frage.

»Du solltest nicht allein reisen, ich werde dich begleiten«, warf Jôrek ein.

Channing aber schüttelte den Kopf. »Nein, wir brauchen dich hier. Sara und ich wollen uns etwas in Paris umsehen und du bist unsere Verstärkung, falls Jäger dort auf uns warten sollten. Sunny spürt Philippe in der Nähe, also wird auch Castaway nicht weit sein.«

»Im Moment ist mir aber absolut nicht nach einer Sightseeing-Tour.« Mürrisch verzog der Finne das Gesicht.

»Hey, wir fahren nicht zu unserem Vergnügen nach Paris!« Sara schlug mit der Hand auf den Tisch. »Mir gefällt es genauso wenig wie euch, Aragón allein nach Schottland zu schicken, aber wir brauchen hier jeden Mann. Sollte sich Marten als Sackgasse herausstellen, haben wir dort nur Zeit vergeudet, das können wir uns nicht leisten.«

Auf Aragóns Gesicht zeigte sich ein Anflug von Belustigung. »Ich bin ein großer, starker Vampir, ich komme schon zurecht. Außerdem ist es besser, allein nach Schottland zu gehen. Ich habe Marten einige Jahrhunderte nicht mehr gesehen und er hat sich von den Kriegern losgesagt.«

»Nimm einen der Q7, sie sind aufgetankt.« Shia warf Aragón einen Schlüssel quer über den Tisch zu, den dieser gekonnt auffing.

»Ich reise am besten gleich ab, bis Schottland sind es einige Kilometer.«

»Weißt du, wo sich dieser MacFarlane aufhält? Immerhin ist es lange her, dass du ihn gesehen hast.« Phoebe reichte ihm ein neues Mobiltelefon. »Hier, nimm dieses mit. Der Empfang ist besser und ich habe das Kartenmaterial aktualisiert, damit du auch den Heimweg findest.«

»Gracias, Phoebe! Zuletzt bewohnte er Eilean Donan Castle. Dort werde ich mit meiner Suche beginnen.«

Als sich Aragón zur Tür wandte, hielt Sara ihn zurück. »Warte bitte!« Sie schlang ihre Arme um seinen mächtigen Körper und drückte ihn. »Achtet darauf, dass Ihr Euren Kopf nicht verliert, Eure Hoheit.«

Aragón beugte leicht den Kopf und ließ den Blick ein letztes Mal über seine Familie schweifen. »Ich reise nicht allein.« Er berührte das große schwere Kreuz, das er um den Hals trug. »Hasta la vista!«

Ziellos lief Ruben durch die Gassen von Ploumanac’h und hoffte, dass seine Wut endlich verrauchen würde. Sein Zorn war gegen sich selbst gerichtet, er kam sich schäbig vor. Vielleicht sollte er umkehren und Phoebe um Verzeihung bitten, doch er wusste, dass dies seine Wirkung verfehlen würde. Sie war keine Frau, die eine getroffene Entscheidung revidierte. Dafür kannte er sie zu gut.

Im Grunde genommen konnte er es auch nicht. Er hasste es, ihr wehzutun, aber sie hatte recht. Seine Gefühle hatten sich verändert. Tagsüber wollte er am liebsten das Haus nicht verlassen und in der Nacht zog es ihn immer wieder hinaus. Als würde ein unsichtbarer Magnet ihn durch die Straßen von Ploumanac’h schleifen, auf der Suche nach ... ja, nach was? Er wusste es nicht.

Seine schnellen Schritte hallten leise in den engen Gassen wider, bis ein Geräusch, das ihm nur zu vertraut war, ihn aufhorchen ließ. Er hörte in der Ferne das Klirren von Schwertern. Ein eigenartiger Klang, der die Nacht erfüllte, etwas, das er vornehmlich aus dem Trainingsraum kannte. Doch hier unter freiem Himmel klang das Scheppern in seinen geschulten Ohren tausendmal lauter, als es ein Mensch je wahrgenommen hätte. Mit eiligen Schritten rannte er den Geräuschen entgegen und zog dabei sein Schwert aus dem Halfter, das er verborgen unter der langen Jacke trug.

An einer Straßenkreuzung blieb er im Schatten des Hauses stehen und lugte vorsichtig um die Ecke. Die Straße war eine Sackgasse, an deren unterem Ende ein Parkplatz lag mit einem Fußweg zum Meer. Das Gelände war leer. Keine Autos, keine Menschen.

In geduckter Haltung schlich Ruben zu dem spärlich beleuchteten Platz und ging hinter einem Busch in Deckung. Die Kampfgeräusche waren jetzt ganz nah und er rückte vorsichtig vor, den Fußweg zum Strand hinunter. Dort unten mischten sich die Geräusche mit der Brandung des Meeres, die leicht gegen die Felsen schlug. Als er einen erstickten Schrei vernahm, gab er seine Deckung auf und rannte den Weg zum Meer entlang.

Am Strand sah er eine Gestalt, die ihr Schwert aus etwas zog, das wohl mal ein Vampir gewesen sein musste, denn er löste sich gerade in seine Einzelteile auf und zersetzte sich zu Asche. Als die Gestalt sich umwandte, stöhnte sie auf: »Oh nein, nicht noch einer!« Mit ausgestrecktem Arm kam sie auf Ruben zu. »Was willst du von mir?«

Ruben hob seine Hände in die Höhe. »Nichts! Ich habe Schwerter gehört, da bin ich dem Geräusch gefolgt.«

»Lass dein Schwert fallen.«

Ruben machte ein paar Schritte vorwärts und erkannte im schwachen Mondlicht, dass es sich um eine Frau handelte, eine sehr hübsche Frau. Als er abermals auf sie zutrat, richtete sie ihr Schwert gegen seine Brust und hielt ihn so auf Abstand. »Ich sage es kein drittes Mal, lass dein Schwert fallen.«

»Nur wenn du deins ebenfalls niederlegst.«

Ein verächtliches Fauchen drang aus dem Mund der Frau und Ruben erkannte an ihren Zähnen, dass sie eine Vampirin war.

»Für wie dumm hältst du mich, Krieger?«

Überrascht zog er eine Augenbraue in die Höhe. »Kennen wir uns?«

»Das sage ich dir, wenn du deine Waffe fallen lässt.«

»Was hältst du davon, wenn wir beide gleichzeitig unsere Waffen wegstecken? Ein faires Angebot. Ich bin nicht hier, um gegen dich zu kämpfen, also was sagst du ... auf drei?«

Die Vampirin nickte nach kurzem Zögern, und als Ruben sein Schwert zurück in das Halfter schob, steckte auch sie ihre Waffe in die Halterung, die sie auf dem Rücken trug.

Die Dunkelheit gab nicht viel von ihr preis, ihre schwarze Kleidung hob sich kaum von der Nacht ab. Nur ihre schulterlangen dunklen Haare schimmerten im Mondschein wie mit Perlmutt bestrichen. Und es gab noch etwas anderes, was Ruben wahrnahm. Er roch Blut. Sie war verletzt.

»Du blutest.« Ruben trat näher und sah sich ihre Hand genauer an.

»Das ist nichts! Er hat mich nur kurz mit seinem Schwert gestreift. Es heilt schon.« Sie versuchte sich ihm zu entwinden, aber er war stärker und hielt sie fest.

Als er kräftiger zudrückte, quoll Blut aus der Wunde. Sie war nicht tief, aber das frische Blut stieg Ruben in die Nase wie prickelnder Champagner. Er hob ihren Arm, schob den Ärmel ihrer Jacke höher und sog den Duft ein. Verdammt, woran erinnerte ihn dieser Geruch?

Für eine Sekunde verharrte er regungslos, dann fuhr er vorsichtig mit seiner Zunge über die Wunde.

»Jetzt heilt es schneller«, flüsterte er und sah ihr dabei tief in die Augen.

Sie schluckte.

Er blickte in ihr Gesicht und war sich bewusst, dass er sie kannte. Nur woher, wollte ihm nicht einfallen. Wie hypnotisiert starrte er sie an, bis sie langsam ihren Arm aus seinem Griff befreite und den Ärmel hinunterzog. Die Wunde hatte sich fast geschlossen.

»Warte!«, rief er, als sie ihm den Rücken zuwandte, um zurück zur Straße zu gelangen. »Sag mir, wer du bist!«

Mit einer gekonnten Drehung brachte sie Ruben zu Fall und setzte sich auf seinen Rücken. »Finde es selbst heraus!«, flüsterte sie ganz nah an seinem Ohr und war von einer Sekunde zur Nächsten verschwunden. Sie verschmolz mit der Dunkelheit der Nacht.

Oh Mann, er hatte sich wie ein blutiger Anfänger aufs Kreuz legen lassen.