Mit schnellen Schritten überquerte Channing den menschenleeren Parkplatz des Krankenhauses. Es war überrascht, mit welcher Leichtigkeit es ihm gelungen war, das Gebäude ungesehen zu verlassen.
Es hatte einige Minuten gedauert, bis er sich gefangen hatte, nachdem er sein Spiegelbild erblickt hatte. Erst nachdem er seinen Atem und Blutdruck wieder einigermaßen unter Kontrolle gehabt hatte, hatten sich die Reißzähne zurückgebildet und die dunkelgraue Farbe seiner Augen war wieder zu sehen gewesen. Diese Eigenmächtigkeit seines Körpers jagte Channing eine Heidenangst ein. Auch das schnelle Abheilen der Wunde auf seiner Wange war etwas, das ihn an seinem Verstand zweifeln ließ.
Was war zum Teufel noch mal passiert? Warum konnte er sich an nichts Wichtiges erinnern? Natürlich waren ihm die alltäglichen Dinge vertraut, wie sich zu rasieren, den Fahrstuhl zu benutzen oder ein Taxi heranzuwinken, aber Bedeutendes, wie Namen, Adressen, Begebenheiten aus seinem Leben, waren aus seinem Gedächtnis verschwunden, als wären sie mit der Entfernen-Taste gelöscht worden.
Für Channing gab es nur eines: so schnell wie möglich weg von hier. Er hatte zwar keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, aber im Krankenhaus konnte bei den Untersuchungen entdeckt werden, was aus ihm geworden war, und das war bestimmt nicht klug.
Erst musste er selbst herausfinden, was mit ihm geschehen war, dann wäre er in der Lage, die Fragen anderer zu beantworten. In dem kleinen Schrank hatte er einen Koffer gefunden, etwas ramponiert, aber sonst okay. Die Kleidung darin war unbeschädigt, ebenso wie der Laptop. Was war nur geschehen?
Die Bekleidung bestand zum größten Teil aus schwarzen Hosen, weißen Hemden und grauen Rollkragenpullis. Allesamt von edlen französischen Herstellern und teilweise maßgeschneidert.
Channing hatte sich eilig angezogen, den dunklen Mantel übergeworfen, seine Sachen gepackt und ungesehen den Flur betreten, um dann fluchtartig das Gebäude zu verlassen. Er achtete darauf, keiner der Krankenschwestern über den Weg zu laufen. Hier war es zu gefährlich für ihn. Undenkbar, wenn man seine Reißzähne entdeckte. Oder dass alle Wunden, die er gehabt haben musste, geheilt waren, ohne Spuren zu hinterlassen.
Er musste erst Antworten finden, aber das konnte er nicht hier im Krankenhaus.
Als er seinen kleinen Koffer ergriffen hatte, war sein Blick auf den Boarding Pass der United Airlines gefallen. Darunter ein Gepäckanhänger und darauf sein Name und eine Adresse. Obwohl ihm die Anschrift nichts sagte, war sie der einzige Anhaltspunkt, den er hatte.
Mit schnellen Schritten begab er sich zu einem wartenden Taxi und ließ sich nach North Beach bringen.
Die angegebene Adresse lag am Ende einer kleinen Straße, die sich an eine Bucht nahe dem Meer schmiegte. Sie führte auf eine Anhöhe, etwas abseits der übrigen Häuser, die in der Siedlung mit Strandnähe lagen. Das Gebäude war umgeben von einer Mauer, die die Sicht auf das Anwesen ziemlich einschränkte.
Der Mond stand sichelförmig am Himmel und schimmerte silbern auf dem Wasser der Bucht. Am Strand in der Ferne konnte man mächtige Baumstümpfe ausmachen, die irgendwann einmal angeschwemmt worden waren. Wie schlafende Riesen bewachten sie in dieser klaren Nacht das Ufer.
Das quadratisch gebaute Haus aus grünem Holz war auf einer großen Garage errichtet, die in die Erde hinabführte. Das weiße Tor war so breit, dass sie vermutlich vier Autos nebeneinander Platz bot. Die schwarzen Dachschindeln ragten in der Dunkelheit vor Channing auf, und er konnte erkennen, dass das über zwei Etagen gebaute Haus im Erdgeschoss von einer Veranda umgeben war.
Unschlüssig blieb er stehen, als sich das Taxi entfernte. Das Gebäude lag im Dunkeln, kein Lichtschein drang aus seinem Inneren. Alle Fenster der ersten Etage waren hinter schweren Rollläden verborgen. Um das Haus herum führte eine kurze Gasse zu einem Seiteneingang, der etwas versteckt hinter einer Efeuhecke lag.
Zielstrebig ging Channing auf die Tür zu und stieg die vier Stufen hinauf. Einer Eingebung folgend griff er über die Tür und fand, wonach er suchte: einen kleinen goldenen Schlüssel, der genau in das Schloss passte. Zögerlich betrat er das Haus. Sein Instinkt sagte ihm, dass es leer war. Er benötigte noch nicht einmal Licht, um sich umzusehen, denn obwohl es stockfinster war, erkannte er alle Umrisse so klar und deutlich, als wäre es heller Tag.
Er durchquerte die Küche und gelangte über einen kleinen Flur in das Wohnzimmer. Neben der Eingangstür gab es eine Treppe, die in die obere Etage und ebenso in den Keller führte, vermutlich in die Garage. Er ließ seinen Blick durch die Räume schweifen, in der Hoffnung, dass ihm irgendetwas bekannt vorkam.
Aber er sah sich getäuscht. Nichts deutete darauf hin, dass er schon einmal hier gewesen war. Eine innere Stimme sagte ihm jedoch, dass er an diesem Ort genau richtig war. Im Flur zu stehen und sein Gepäck und seinen Mantel abzulegen, fühlte sich an, als würde er hierhergehören. Aus Gewohnheit schaltete er das Licht an und begann, langsam im Wohnzimmer umherzuwandern. Alles, was er sah, trug deutlich die Handschrift einer Frau. Seiner Frau?
War dies das Haus, in dem er mit seiner Familie lebte? Channing schaute auf seine Hände. Am linken kleinen Finger trug er einen silbernen Siegelring, aber das musste nichts bedeuten.
Weiße luftige Vorhänge zierten die vielen Fenster und gaben dem Raum eine helle, freundliche Note. Neben der Fensterfront, die zur Straße hinausging, stand an der Wand ein altes Klavier, darauf einige gerahmte Fotos. Sie zeigten eine Frau mit flammend roten Haaren, die ihr in großen Locken über die Schultern fielen. Sie sah einfach atemberaubend aus mit ihrem hellen Teint, der wie Porzellan schimmerte. Die Augen waren grün wie das Meer an einem stürmischen Tag. Die kleine Nase kontrastierte mit ihren sinnlich vollen Lippen, die wie reife Himbeeren schimmerten.
Obwohl er keine Erinnerung an diese Frau hatte, wünschte sich Channing, sie zu kennen. Ein leises Knurren entfuhr seiner Brust, dann seinem Mund und er spürte, dass sich sein Pulsschlag beschleunigte.
Das nächste Foto zeigte die gleiche Person, nur dass die Aufnahme mehr als hundert Jahre alt zu sein schien. Die Frau blickte streng, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Der Stil ihrer dunklen und hochgeschlossenen Kleidung war der einer längst vergangenen Epoche. Sie sah der Frau mit den roten langen Haaren zum Verwechseln ähnlich, vermutlich war sie ihre Großmutter. Ein weiteres Foto zeigte wiederum die junge Frau mit einem Mann, der identisch feine Züge aufwies, nur hatte er schwarzes Haar. Er mochte höchstens zwanzig Jahre alt sein und war unverkennbar ihr Bruder: das gleiche Lächeln, dieselbe stolze Haltung.
Als Channing das Foto genauer betrachtete, durchfuhr ihn wieder dieses Wissen, das Gefühl der Verbundenheit, wie er es schon im Krankenhaus gespürt hatte, als er aus dem Koma erwacht war. Ein Luftzug umwehte plötzlich seinen Körper, so als berührte ihn die leichte Brise eines luftigen Frühlingstages. Er blickte sich um, doch er konnte nichts und niemanden entdecken.
Die Schafzimmer befanden sich im Obergeschoss. Zu seiner Überraschung las Channing an einer der Türen auf einem Briefumschlag seinen Namen. Er nahm den Umschlag an sich, der eine kurze Notiz enthielt.
Hallo, Mr McArthur! Dieses Zimmer habe ich für Sie hergerichtet. Ich hoffe, dass Sie sich in meinem Haus wohlfühlen, und wünsche Ihnen erfolgreiche Wochen in Seattle!
Unterschrieben war die Mitteilung mit S. Keane. Channing stieß die Tür auf und trat ein. Der Raum hatte eine eindeutig männliche Note. Er war spartanisch mit einem Schrank und einem großen Bett aus Ebenholz eingerichtet, dunkelgrüne Seidentapeten zierten die Wände und schwarze Samtvorhänge verbargen das einzige Fenster.
Er legte seine Sachen auf dem Bett ab und zog die Vorhänge zur Seite, um einen Blick auf das Meer zu werfen. Von hier aus konnte man sogar einen Teil der Bucht einsehen. Er stützte sich am Fensterkreuz ab und blickte eine Weile in die Dunkelheit.
Dieses Nichtwissen machte ihn verrückt. Er brauchte Antworten, und zwar schleunigst. Zwar hatte er erfahren, was mit ihm geschehen war, aber dies war nur ein kleiner Teil des Puzzles, das er zusammensetzen musste. Was war mit seinem Körper passiert? Wer war diese Frau, in deren Haus er sich befand? Auf all diese Fragen hatte er im Moment keine Antworten. Wutentbrannt schlug er mit seiner Faust so hart gegen den Fensterrahmen, dass die Scheibe klirrte.
Channing machte sich daran, seine Sachen auszupacken. Er wusste nicht, wohin, also schien es ihm zunächst das Klügste, erst einmal hierzubleiben. Schließlich musste es eine Bedeutung haben, wenn sein Name an der Zimmertür stand. Im Bad fiel ihm beim Einräumen seiner persönlichen Sachen wieder das Rasiermesser in die Hände und er betastete seine Wange, auf der keine Spur eines Schnittes mehr zu fühlen war. Nachdenklich betrachtete er das Messer. Blitzartig durchschoss ihn ein Gedanke und er fuhr mit der Klinge die Innenseite seines Unterarms entlang. Langsam und äußerst vorsichtig ritzte er die Haut ein.
Sofort quoll dunkelrotes Blut aus der kleinen Wunde. Der metallische Duft stieg ihm in die Nase und aktivierte seine animalischen Sinne. Er spürte, wie der Lebenssaft durch seinen Körper rauschte und die Reißzähne in seinem Mund wuchsen. In seiner Brust breitete sich ein lautes Grollen aus, und der Drang, es aus seiner Kehle zu lassen, wurde übermächtig.
Der Schnitt war nicht tief. Wie von Geisterhand begannen sich die Ränder anzuheben und die Wunde schloss sich langsam.
Channing gab dem Drängen nach und brüllte auf. Es war ein verzweifeltes Brüllen. Ein Brüllen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, aber auch der Macht und Stärke.
Erschöpft ließ er sich auf dem Rand der Badewanne nieder. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte ...
Langsam begann er, an seinem Verstand zu zweifeln. So etwas gab es nur in Filmen, er hatte in Romanen darüber gelesen, aber das war immer nur Fiktion gewesen, alles war frei erfunden.
Und nun das hier? Er musste hier raus!
Mit schnellen Schritten eilte er die Stufen ins Erdgeschoss hinunter und floh durch die vordere Haustür ins Freie. Ohne innezuhalten, folgte er dem schmalen Trampelpfad, der zur Klippe führte. Kurz vor seinem Ende blieb er stehen. Mit geballten Fäusten stand er am Abgrund und schaute auf das dunkle Wasser hinunter.
Es war eiskalt, aber er spürte die Kälte nicht. Die Klippe ragte hoch über dem Meer auf und diese galt es zu überwinden, um all das Unfassbare hinter sich zu lassen.
Wie von Sinnen raufte er sich die Haare und stieß seinen Atem aus, der in kleinen weißen Wolken dem Himmel entgegenstieg, denn es war für April sehr kalt.
»Du wirst es nicht schaffen.«
»Die Frage ist doch, ob ich das überhaupt will!« Jetzt sprach er bereits mit sich selbst! Ein sicheres Anzeichen dafür, dass er dabei war, vollends den Verstand zu verlieren.
»Das meine ich nicht.«
Ein schwarzer Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Er hatte auf einem der großen Steine gesessen, die den Pfad zur Klippe säumten.
»Du wirst es nicht schaffen, dich zu töten, es sei denn, du wärst in der Lage, dir selber den Kopf abzutrennen. Doch das wird dir nicht gelingen. Also versuche es erst gar nicht. Ich habe keine Lust, deinen Arsch aus dem kalten Wasser zu fischen, bevor es ein anderer tut.«
Channing war herumgefahren, schaute dem Mann in die Augen und las darin, dass dieser noch nie etwas ernster gemeint hatte.
Sein Gesicht kam ihm bekannt vor. Er hatte es auf dem Foto auf dem Klavier entdeckt. Doch hier draußen, in seinem schwarzen Pullover, der Cargohose und den schweren Kampfstiefeln, sah der Typ älter aus als auf dem Foto. Am imposantesten waren jedoch die beiden Schwerter, die er auf dem Rücken trug.
»Lass mich in Ruhe. Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was mit mir los ist. Du solltest dich lieber vor mir in Acht nehmen«, zischte Channing ihn wütend an.
Ein leises Lachen drang aus dem Mund des jungen Mannes.
»Oh Mann, jetzt habe ich aber Angst! Du bist derjenige, der sich in Acht nehmen sollte. Aber lassen wir das. Ich bin Shia. Gehen wir zurück zum Haus, bevor uns noch jemand sieht.«
Er berührte Channing leicht an der Schulter und ging voraus. Channing folgte ihm wortlos und sah, wie die großen Schwerter das Mondlicht reflektierten.
»Du hättest die Vordertür nehmen können, sie ist nie abgeschlossen«, erklärte Shia, als er die Stufen hinaufstieg.
»Du hast mich beobachtet?« Channing schaute ihn überrascht an.
»Unabsichtlich. Ich war im Haus, als du ankamst«, sagte er knapp.
Also hatte er sich doch nicht getäuscht.
»Warum beobachtest du mich? Was weißt du über mich? Ich verstehe gar nichts mehr und brauche dringend Antworten!«
Rastlos ging Channing im Wohnzimmer auf und ab. Shia legte seine Schwerter sorgsam zur Seite. Dann nahm er ein Gürtelhalfter und ein Messer ab, das an seinem Oberarm befestigt war.
»Warum hast du dich so bewaffnet? Für den Dritten Weltkrieg?«, fragte Channing spöttisch und frustriert zugleich.
»Rede nicht über etwas, wovon du keine Ahnung hast! Also lass diesen arroganten Ton, klar?« Shia richtete seinen Blick auf ihn und Channing spürte, dass Shia das, was er gesagt hatte, ernst meinte.
Channing begann wieder aufgeregt im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei fuhr er sich mit einer Hand durch die langen Haare.
»Okay, sorry, Mann! Aber ich hatte heute keinen guten Tag, und wenn das der Erste von vielen war, will ich gar nicht wissen, wie die anderen aussehen werden.« Er versuchte, sich etwas zu beruhigen, und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Mit wachen Augen beobachtete er Shia dabei, wie der seine Waffen sorgfältig auf dem Esstisch ausbreitete.
»Wem gehört dieses Haus?«
»Sara.«
Mit diesem Namen konnte Channing nicht das Geringste anfangen.
»Ist das die Frau dort auf dem Foto?« Er blickte zum Klavier hinüber.
»Ja, das ist Sara. Sie ist meine Schwester und die Frau, mit der du deine Wohnung in Paris für zwei Monate getauscht hast.«
Shia hatte sich am Esstisch niedergelassen und säuberte sorgfältig seine Schwerter.
»Ich kann mich nicht daran erinnern.«
Shia schüttelte ruhig den Kopf. »Du kannst dich an gar nichts erinnern.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich deine Erinnerungen gelöscht habe.« Er sagte es ohne jede Regung, als würde es ihn vollkommen kaltlassen.
»Du warst das? Du bist für all das verantwortlich?«, fragte Channing. Zorn wallte in ihm auf und mit geballten Fäusten trat er einen Schritt auf Shia zu.
»Achtung, mein Freund!« Shia zeigte mit seiner Schwertspitze auf Channings Brust, »pass auf, was du sagst. Du müsstest mir eigentlich dankbar sein. Ohne mich wäre deine Asche längst in alle Richtungen verweht worden. Also mach mal halblang.«
Doch Channings Wut war noch immer nicht verraucht. Sein Blut kochte, und sein Herz begann, unregelmäßig zu schlagen. Seine Reißzähne fuhren aus und er stieß ein mächtiges Zischen aus. Dann machte er einen Satz nach vorne.
In der gleichen Sekunde, für das menschliche Auge gar nicht wahrnehmbar, sprang Shia vom Stuhl, auf dem er eben noch locker gesessen hatte. Er stieß Channing zurück gegen die Wand und zeigte ihm im Gegenzug seine eigenen mächtigen Reißzähne, die er nur Millimeter von seinem Gesicht entfernt hielt. Ein tiefes Grollen entfuhr seiner Brust und dröhnte bedrohlich, während er Channings Kinn mit dem Ellenbogen an die Wand drückte.
»Ich sage dir, wenn du Antworten willst, dann bewahre die Ruhe!«
Vollkommen irritiert von Shias Kraft und Schnelligkeit blieb Channing regungslos. Durch die Wucht des Stoßes hatte die Wand leicht nachgegeben und wies jetzt in Höhe seines Kopfes eine tiefe Delle auf.
Als sich Channings Puls normalisierte, gab Shia ihn frei und setzte sich wieder an den Tisch, um weiter seine Waffen zu säubern – so, als wäre nichts geschehen.
»Was bist du?«, stammelte Channing leise.
»Du meinst wohl, was wir sind, oder? In Griechenland nennt man uns Lamien, in China Chiang-Shih, und in Ghana würde man uns Asanbosam nennen, doch hier bezeichnet man uns ganz einfach als Vampire.«