Night Soul 1

Night Soul 1

Channing

Kajsa Arnold

Kajsa Arnold Edition

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Danksagung

Für Katharina, Michael, Rouven, Elias, Pauline und Maja.

Ihr seid meine wirklichen Krieger!

Prolog

Das Wasser schwappte in hohen Wellen über ihren Kopf hinweg und es war bitterkalt. Die schwere Kleidung zog sie immer tiefer dem schwarzen Unbekannten entgegen. Ihre Augen, starr vor Schreck, waren auf ihn gerichtet, und obwohl sie den Mund bewegte, drang kein Laut aus ihm heraus.

Ihr langes rotes Haar breitete sich unter Wasser wie ein Fächer aus und legte sich wie zärtliche Finger um ihr Gesicht. Sie streckte ihre Arme in die Höhe, die Beine waren wie zu einer Pirouette gedreht. Es sah aus, als würde sie tanzen.

Immer tiefer zog das Meer sie hinab in sein Reich. Kleine runde Luftblasen entwichen ihrem Mund, als würde sie Worte formen, doch sie verhallten lautlos in der Unendlichkeit des Ozeans.

Er rief ihr etwas zu, doch seine Worte erstarben im Getöse des Wassers, ohne verstanden zu werden. Er versuchte, sie zu fassen, aber seine Hände griffen ins Leere. Ihre dunkelgrünen Augen schauten ihn flehend an und er griff verzweifelt weiter nach ihr. Doch immer tiefer sank sie dem dunklen Meeresboden entgegen. Sie blickten sich an, und für eine Sekunde schien es ihm, als könne er in ihre Seele schauen.

Seine Lungen brannten und drohten zu bersten, wenn er nicht auftauchte, um nach Luft zu schnappen. Er musste dem Drängen seines Körpers nachgeben. Hastig rang er nach Atem, als sein Kopf endlich die Oberfläche des tosenden Meeres durchstieß.

Die Wellen des Ozeans schwappten über sein Gesicht und nahmen ihm für einen Moment die Sicht. Ihr flehender Blick brannte sich in sein Gedächtnis und in tiefer Verzweiflung schrie er ihren Namen: Sara!

Kapitel 1

Lautlos landete er auf dem Fenstersims und betrat einige Sekunden später das Zimmer, das völlig im Dunkeln lag. Einen Moment verweilte der große Vampir am Krankenbett und blickte auf den Patienten herab. Dessen Haut hatte sich gut erholt und auch die anderen Wunden an seinem Körper waren verheilt.

Seit zwei Wochen schaute er fast jeden Tag vorbei, in der Hoffnung, dass der Patient endlich aus dem Koma erwachte. Aber sein Körper schien noch nicht bereit zu sein.

Ohne ein Geräusch zu verursachen, führte er sein Handgelenk an den Mund, biss mit den ausgefahrenen scharfen Zähnen hinein und hielt seine tropfende Vene dem Patienten vor den leicht geöffneten Mund. Dieser nahm den roten Saft mit seiner Zunge auf, schien den Mund bereitwillig für mehr zu öffnen.

Als sich eine Krankenschwester näherte, um den Überwachungsmonitor zu prüfen, verschwand er auf dem gleichen Weg, den er gekommen war. Er schwang sich aus dem Badezimmerfenster acht Stockwerke hinab, landete schwerelos auf dem Asphalt der Straße und verschwand im aufsteigenden Nebel. Ungesehen.

Das Geräusch erreichte ihn wie aus weiter Ferne. Ein regelmäßiger Ton, fast wie ein Herzschlag, aber er hörte sich irgendwie mechanisch an. Er vernahm es nur für einen kurzen Moment und schlief dann gleich wieder ein, glitt auf die andere Seite, wo es weder Geräusche noch Schmerzen gab.

Es dauerte einen ganzen Tag, bis Channing abermals das Bewusstsein erlangte. Doch diesmal war da mehr. Andere Laute. Stimmen, leise, fast flüsternd. Als kämen sie von weit her. Seine Lider flatterten leicht, aber er hatte keine Kraft, die Augen zu öffnen. Später vielleicht. Wenn er ausgeschlafen war. Dabei tat sein Körper seit weiß Gott wie vielen Tagen nichts anderes, als sich durch tiefen Schlaf zu regenerieren.

Er horchte in sich hinein, und soweit er es beurteilen konnte, gab es in ihm keinen Schmerz. Daher konzentrierte er sich auf das Flüstern und versuchte zu verstehen, was gesprochen wurde. Sein Atem ging leise und flach. Er musste sich gar nicht weiter anstrengen. Zwar sprachen die Stimmen gedämpft, aber doch war jedes Wort so glasklar, als käme es aus seinem eigenen Kopf.

Channing hörte sich nähernde Schritte und unternahm einen neuen Versuch, seine Augen zu öffnen. Langsam blinzelte er durch die langen dichten Wimpern. Als das Licht der Deckenlampe seine Iris traf, schlug er seine Lider gleich wieder zu, aber nur, um es einen Wimpernschlag später erneut zu versuchen.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit im Zimmer und er schaute mit leerem Blick an die Decke. Von einer Sekunde zur anderen wurde er sich seiner übrigen Sinne bewusst. Vorsichtig tasteten seine Hände die Bettdecke ab, er roch den sterilen Geruch, der ihn an ein Krankenhaus erinnerte. Etwas schmeckte metallisch und süßlich, so, als hätte er sich auf die Zunge gebissen. Das Geräusch von Schritten wurde immer deutlicher, die Umrisse der Deckenlampe sichtbarer.

Doch da war noch etwas. Er spürte eine Nähe. Die Nähe eines Menschen, den er nicht sehen konnte und von dem er wusste, dass er gar nicht in Reichweite war. Es war mehr ein Wissen als eine Wahrnehmung und diese Erkenntnis verwirrte ihn. Er lag zwar in einem Krankenhaus, fühlte sich aber gar nicht krank. Sein Kopf war klar und in seinem Körper spürte er eine Kraft wie niemals zuvor. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.

Die Zimmertür wurde geöffnet und eine Krankenschwester betrat mit leisen Schritten den Raum. Erst jetzt nahm Channing das mechanische Geräusch wieder wahr, das zwar die ganze Zeit vorhanden war, er aber verdrängt hatte.

»Da sind Sie ja! Sie sind endlich bei Bewusstsein!« Die Krankenschwester beugte sich über sein Gesicht. »Wie fühlen Sie sich?« Besorgt zog sie die sorgfältig gezupften Augenbrauen in die Höhe.

Channing starrte sie an. Er hatte sie zwar verstanden, aber irgendetwas irritierte ihn. Die Sprache, sie war ihm fremd. Er versuchte, zu einer Antwort anzusetzen, doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Nur ein leises Krächzen kam aus seinem Mund und gleichzeitig wurde er von einem Hustenanfall geschüttelt. Die Krankenschwester legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm und reichte ihm ein Glas Wasser.

»Ganz ruhig. Trinken Sie erst einmal etwas, gleich wird es sicher besser.«

Nachdem Channing getrunken hatte, gab er ihr das Glas zurück und bedankte sich mit einem »Merci beaucoup!«

Die Augen der Krankenschwester weiteten sich. »Sie sind nicht von hier? Können Sie mich trotzdem verstehen?«

»J‘ai compris, ça va bien! Ja, ich habe Sie verstanden. Danke, es geht mir gut!«, fügte er in perfektem Englisch hinzu.

Die Krankenschwester lächelte ihn zurückhaltend an. »Gut, ich werde sofort den Arzt rufen.«

Wie ein weißer Engel schwebte sie aus dem Zimmer. Er schaute sich neugierig in dem spärlich eingerichteten Raum um. Außer seinem Bett gab es nur einen Schrank an der Wand, einen Stuhl und einen Nachttisch, auf dem der Monitor stand.

»So, den Überwachungsmonitor brauchen wir jetzt wohl nicht mehr!«

Er blickte auf und sah, dass ein Arzt seinem Blick gefolgt war. Er hatte lautlos den Raum betreten und griff nach Channings Handgelenk, um seinen Puls zu fühlen. Danach hörte er wortlos mit einem Stethoskop Herz und Lunge ab. Als er Channings Nachthemd anhob, warf er der Krankenschwester einen verblüfften Blick zu. Es vergingen Minuten in absoluter Stille.

»Alles im grünen Bereich, soweit ich das beurteilen kann. Zur Sicherheit werden wir morgen noch einige Untersuchungen durchführen. Wie fühlen Sie sich? Können Sie sich an irgendetwas erinnern?« Der Arzt richtete eine kleine Lampe auf Channings Augen, um seine Reaktion zu testen.

Erschrocken kniff Channing sie zu und riss seinen Kopf zur Seite. Mit einer schnellen Bewegung schlug er dem Arzt die Taschenlampe aus der Hand, die im hohen Bogen durch den Raum flog.

»Excusez-moi!«

»Schon gut, bitte regen Sie sich nicht auf. Ich kann verstehen, dass Sie etwas verwirrt sind.«

»Nein, entschuldigen Sie, das wollte ich nicht.«

Der Arzt hob die Taschenlampe vom Boden auf und setzte sich auf das Bett. »Nun beruhigen Sie sich. Können Sie sich an irgendetwas erinnern? Wie heißen Sie?«

»Mein Name ist Channing McArthur.«

»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein? Wissen Sie, wo Sie wohnen oder was passiert ist?«

Channing überlegte einen kurzen Moment. Sein Kopf war leer. Immer wieder wanderte sein Name durch sein Gedächtnis, aber das war auch schon alles, mehr gab es da nicht. Nur eine endlose Leere. Er schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nein, nicht wirklich. Ich kann mich im Moment nicht genau erinnern.« Verwirrt zog er seine Augenbrauen zusammen.

»Nun, das ist nach diesem Unfall auch nicht erstaunlich. Wir machen morgen einen Bluttest und ein CT. Dann sehen wir weiter. Erholen Sie sich bis dahin, Mr McArthur.«

Der Arzt machte Anstalten, sich zu erheben, doch Channing hielt ihn am Ärmel fest, mit einer Kraft, die nicht nur ihn überraschte.

»Warten Sie, Doc, was ist mit mir passiert? Von welchem Unfall sprechen Sie?«

Der Arzt nahm das Krankenblatt zur Hand und blätterte darin herum. »Nun, Sie sind vor vierzehn Tagen gegen ein Uhr morgens bei uns eingeliefert worden. Offensichtlich hatten Sie einen Verkehrsunfall in einem Taxi. Ihr Körper hat einiges abbekommen, was erstaunlicherweise aber bereits verheilt ist. Ihre Halsschlagader wies oberhalb des Schlüsselbeins zwei Verletzungen auf, parallel nebeneinander, als wäre dort etwas eingedrungen. Sie haben viel Blut verloren, es ist ein Wunder, dass Sie das überlebt haben. Aber Ihr Körper scheint sich während des Komas erstaunlich schnell erholt zu haben. Morgen sehen wir weiter, nach den Untersuchungen kann ich Ihnen mehr sagen, okay?«

Channing brauchte einen Augenblick, um die Auskunft des Arztes zu verdauen. »Einen Unfall in einem Taxi, sagen Sie?«

»Ja, Sie waren der Fahrgast und können sich glücklich schätzen, dass jemand so mutig war, Sie aus dem brennenden Wagen zu ziehen, der Fahrer hatte nicht so viel Glück.«

Das Abendessen rührte Channing nicht an, er verspürte weder Hunger noch Durst, vielmehr machte sich eine Unruhe in ihm breit. Er konnte das, was der Arzt ihm erzählt hatte, nur schwer verdauen. Seine Versuche, sich an irgendetwas zu erinnern, scheiterten kläglich. Sein Gehirn arbeitete zwar auf Hochtouren, doch das Einzige, woran er sich erinnerte, war sein Name.

Langsam bekam er schon Kopfschmerzen, denn obwohl seine Zimmertür geschlossen war, hörte er ständiges Stimmengemurmel. Wenn er sich konzentrierte, verstand er sogar die einzelnen Worte, die gesprochen wurden. Das machte ihn verrückt und er wünschte sich, er wäre fähig, den Geräuschpegel einfach abzuschalten. Sein Versuch zu schlafen misslang, denn er war überhaupt nicht müde, und seine innere Unruhe, ein Gefühl, das er nicht außer Acht lassen konnte, machte das unmöglich. Es musste doch Hinweise auf seine Identität geben! Jemanden, der ihn vermisste!

Er stieg aus dem Bett, zuerst etwas unsicher, doch dann, als sein Gleichgewichtssinn tadellos funktionierte, ging er zum Fenster und schaute hinaus. Es war bereits dunkel, leichter Regen hatte eingesetzt. Sein Blick fiel in der Ferne auf die beleuchtete Silhouette der Space Needle.

Seattle!

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Gedächtnis hatte sich doch noch nicht gänzlich verabschiedet. Angespornt durch diesen kleinen Erfolg, setzte er sich in Bewegung und ging auf der Suche nach einem Spiegel ins angrenzende Badezimmer.

Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, kam ihm verändert vor. Seine schwarzen Haare hingen ihm strähnig in die Stirn. Sie waren um einiges länger, als er erwartet hatte. Kalte dunkelgraue Augen fixierten ihn, umgeben von einem Kranz dichter dunkler Wimpern. Er registrierte die aristokratisch geformte Nase über einem sinnlichen Mund. Volle dunkelrote Lippen und ausgeprägte Wangenknochen rundeten die Physiognomie eines überraschend gutaussehenden Mannes ab. Nur der leichte Schatten seiner Bartstoppeln störte die irritierend vollkommene Schönheit. Er fuhr sich mit der Hand über sein raues Kinn. Nun, er konnte wirklich eine Dusche und eine Rasur vertragen.

Channing drehte den Wasserhahn auf und zog das nicht gerade attraktive Krankenhaushemd über seinen Kopf. Der Anblick seines nackten Oberkörpers im Spiegel ließ ihn erstarren. Violettschwarz zog sich eine breite Tätowierung von seinem Brustbein über die Schultern seinen Rücken hinunter und endete an seinen Lenden. Wie ein endloser Fluss überzog dieses Tattoo in fortlaufenden Windungen seinen Körper. Doch bei genauer Betrachtung erkannte Channing nicht wahllose Zeichen, sondern Buchstaben, die so gezeichnet waren, dass man sie erst auf den zweiten Blick als solche erkennen konnte.

Er trat näher an den Spiegel, um das Geschriebene zu entziffern, aber spiegelverkehrt war das, was er für Schrift hielt, für ihn nicht zu entziffern.

Verwirrt betrachtete Channing sein Spiegelbild. Wie zum Teufel kam er an solch ein Tattoo? Auch die ausgeprägten Muskeln seines Oberkörpers, im Grunde genommen seines ganzen Körpers, entsprachen nicht dem, was er für durchschnittlich und normal hielt. Er hatte keine Erinnerung daran, an seiner Form gearbeitet zu haben. Auch konnte er sich absolut nicht vorstellen, dass er Stunden in einem Tattoo-Studio zugebracht haben sollte. All diese Dinge schienen gar nicht zu ihm zu passen und doch gab es sie. Warum?

Das warme Wasser tat ihm gut. Er ließ den starken Strahl über seinen Körper laufen und spürte, wie jede Faser zu neuem Leben erwachte. Je heißer er das Wasser einstellte, umso wohler fühlte er sich. Dichter Dampf breitete sich unter der Dusche und im Badezimmer aus und vernebelte ihm die Sicht. Er streckte seine langen Arme und stemmte sie gegen die Fliesen, ließ das Wasser endlos über seinen gesenkten Kopf und seinen Körper prasseln. Es fühlte sich gut an, ließ ihn sich so lebendig fühlen wie noch nie. Nichts an ihm erinnerte mehr daran, dass er erst kurz zuvor einen schweren Verkehrsunfall überlebt haben sollte.

Einige Zeit später wischte Channing den beschlagenen Spiegel frei und seifte sein Gesicht ein. Sein Körper war trotz der kalten Jahreszeit gebräunt, und als er seine Hand hob, um den Rasierer anzusetzen, trat sein Bizeps mit einer enormen Wölbung hervor. Überrascht von diesem Anblick, rutschte er mit der scharfen Klinge ab und ein kleiner Schnitt zeigte sich auf seiner Wange. Das Blut lief in einem dünnen Rinnsal von seinem Gesicht und tropfte in das Waschbecken, es hinterließ dort eine hellrote Spur, die im Abfluss versickerte.

Wieder nahm Channing diesen metallisch süßlichen Geruch wahr, er erinnerte ihn an den Geschmack in seinem Mund, als er aufgewacht war, und augenblicklich begannen seine Eckzähne zu brennen. Ein zischendes Geräusch trat aus seiner Kehle, leise, wie das Fauchen einer Katze, drang es aus seinem Mund. Seine Sicht veränderte sich merklich. Wie durch ein Röntgengerät konnte er plötzlich die Umrisse der Gegenstände erkennen, die in dem geschlossenen Kleiderschrank hinter ihm im Krankenzimmer verborgen waren. Er hob den Kopf und sah im Spiegel in das Gesicht einer unbekannten Kreatur. Dunkle Augen mit glühend silbrigen Rändern blickten ihn an, aber viel erschreckender waren die langen Reißzähne, die sich aus den Eckzähnen seines Gebisses gebildet hatten und ihm nun gierig entgegenblitzten.

Starr vor Schreck war er unfähig, sich abzuwenden. Fassungslos starrte er in den Spiegel, um erst wenige Sekunden später zu verstehen, dass er es war, den er sah. Angstvoll wich er zurück, schloss die Augen und schrie aus Leibeskräften, doch aus seinem Mund kam nur ein markerschütterndes Grollen, das die Wände erzittern ließ.

Channing widerstand dem Drang, fluchtartig den Raum zu verlassen, brauchte aber einige Zeit, bis sich sein Puls beruhigte. Schließlich öffnete er die Augen wieder und machte einen neuen Versuch, sich seinem Spiegelbild zu stellen. Sein Blick in den Spiegel zeigte diesmal ein Gesicht mit ausdrucksstarken grauen Augen und normalen Eckzähnen, selbst von der kleinen Wunde gab es keine Spur, so, als hätte es sie nie gegeben.

Kapitel 2

Leichter Nieselregen überzog den Boden im Nu mit einem feuchten Film. Schwere Wolken hingen am Himmel und drückten auf die Stimmung. Aber was konnte man von einem faden Apriltag auch anderes erwarten? Selbst in Paris blieb ein mieser Regentag ein mieser Regentag.

Sara schlenderte, bewaffnet mit einem alten Regenschirm und warmer Kleidung, die Seine auf der Île de la Cité Richtung Notre-Dame entlang. Seit genau vierzehn Tagen war sie nun schon in Paris und ihr Weg war immer derselbe: von ihrer Wohnung in der Rue de Rivoli, zwischen Louvre und Centre Pompidou gelegen, in Richtung Pont Neuf, hinüber auf die Île de la Cité, zur Notre-Dame, und über die Pont L. Philippe wieder zurück.

Dieser immer gleiche Weg gab ihr Sicherheit und Geborgenheit. Dieselbe Geborgenheit, die sie in der fremden Wohnung empfand, die sie seit ihrer Ankunft bewohnte. Obwohl Sara die Räume niemals vorher betreten hatte, hatte sie eine seltsame Vertrautheit gespürt, als sie durch die Tür trat – so, als würde jemand schützend die Arme um ihre Schultern legen.

Vielleicht war es auch das Gefühl des Unbekannten, des Verborgenen, das sie hier in Paris genießen konnte. Anders als in Seattle. Dort, wo jeder ihr Gesicht kannte, wo sie Abend für Abend im Scheinwerferlicht auf der Bühne des stadtbekannten Musicaltheaters stand. Nein, hier in Paris musste sie nicht befürchten, beim Einkaufen angesprochen und um ein Autogramm gebeten zu werden. An diesem Ort war sie sicher vor den Menschen, die ihre innere Ruhe störten und vielleicht durchschauten, wer sie in Wirklichkeit war.

Vor dem Haupteingang der Notre-Dame saß wie jeden Tag ein Maler unter seinem riesigen Regenschirm. Er hielt den Zeichenblock auf den Knien, die Finger schwarz vom Kohlestift, während er die Kirche und ihre Umgebung skizzierte. Er lächelte leicht, als er Sara erblickte, die langsam auf ihn zuschlenderte.

Sie schenkte ihm ein scheues Lächeln und hielt einen Moment inne, unschlüssig, ihn anzusprechen. Gerne hätte sie einen Blick auf seine Zeichnungen geworfen, doch im nächsten Augenblick wandte sie sich ab und schlenderte weiter.

»Kein guter Tag für einen Spaziergang.«

Die Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sara blieb stehen, unschlüssig, ob sie sich umdrehen sollte oder nicht.

Dann wandte sie sich doch um, lächelte freundlich und sagte, den Blick in die Wolken gerichtet: »Zum Malen aber auch nicht.«

Der Maler schüttelte den Kopf. »Nein, da haben Sie recht. Ich sollte mich auf kleinere Projekte konzentrieren. Möchten Sie mir nicht Modell stehen?«

Saras Augen weiteten sich erschrocken.

»Ich meine natürlich nur Ihr Porträt. Nicht weit von hier gibt es ein Bistro, ich lade Sie zu einem Kaffee ein. Und als Gegenleistung darf ich Sie malen, was halten Sie davon, Mademoiselle?«

Sara betrachtete sein freundliches Gesicht. Er war jung, Mitte bis Ende zwanzig, er hatte dunkle Haare, braune Augen, einen kleinen Kinnbart. Er hatte auffallend feingliedrige Finger und offene Gesichtszüge, die Sara zum Lächeln brachten. »Ist das Ihre übliche Bezahlung für Ihre Modelle, Monsieur ...?«

»Mein Name ist Philippe«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Enchanté.«

Sie ergriff seine Hand nur zögerlich. »Sara«, erwiderte sie seinen Gruß.

»Madame oder Mademoiselle?«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Nenn mich einfach Sara.«

»Also, Sara, was ist nun mit dem Kaffee? Begleitest du mich oder willst du dich weiter nass regnen lassen?«

Das Bistro war gut besucht, aber sie fanden in der hintersten Ecke noch einen kleinen freien Tisch. Der warme Kaffee roch verführerisch, obwohl Sara kaum daran nippte. Philippe betrachtete sie eingehend, während er in seiner Tasse rührte.

Sara war für eine Frau relativ groß. Das Auffallendste waren die langen roten Locken, die ihr zartes Gesicht einrahmten. Ihre flaschengrünen Augen leuchteten wie Smaragde. Philippe war kaum in der Lage, sich ihrer Anziehungskraft zu entziehen.

»Du hast einen süßen Akzent. Wo kommst du her? Ich tippe, aus den Staaten«, beantwortete er seine Frage gleich selbst.

»Richtig, ich bin erst seit zwei Wochen in Paris.«

»Und was treibst du so? Sorbonne?«

Sara schüttelte den Kopf, ihre roten Locken wippten dabei. »Nein, ich studiere nicht. Ich mache hier Urlaub. Einfach mal raus und abschalten.«

Philippe zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. »Ferien im April?«

Er nahm Skizzenblock und Kohlestift zur Hand.

»Ja«, nickte sie, »warum nicht? Und was machst du, wenn du nicht gerade im Regen sitzt und malst?«

Er warf ihr über den Block hinweg ein Lächeln zu und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

»Ich studiere Kunstgeschichte und fertige in meiner Freizeit Porträts an, meistens für Touristen, damit finanziere ich meinen Lebensunterhalt. Wie lange bleibst du in Paris?«

Sara zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht genau. Voraussichtlich zwei Monate.«

»Das sind aber lange Ferien.«

»Nun, es kommt ganz darauf an, wie lange man vorhat zu leben.« Sara nippte wieder an ihrem Kaffee und hielt die wärmende Tasse zwischen ihren Händen.

»Wo kommst du her? Amerika ist groß. New York? Washington?«

»Nein, aus dem Nordwesten. Seattle.«

Philippe nickte wissend, schaute aber nicht von seinem Zeichenblock auf. »Und wo wohnst du hier? Ich nehme mal an, dass es kein Hotel ist.«

Sara schien kurz zu überlegen, bevor sie antwortete. »Nein, ich habe mein Haus getauscht, für zwei Monate. Über das Internet. Ich wohne jetzt in seiner Wohnung und er in meiner.«

»Er? Das heißt, du kennst den Typen gar nicht, der bei dir wohnt?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Und du hast keine Angst, dass etwas passiert? Du bist aber ganz schön mutig.« Philippe redete, ohne Sara anzusehen.

»Warum sollte ich Angst haben? Er ist ein langweiliger Museumsangestellter. Er ist auch Amerikaner und arbeitet hier in Paris. Für zwei Monate ist er nun auf Geschäftsreise in Seattle. Ich finde diese Lösung gut. Ich habe jemanden, der auf mein Haus aufpasst und nach dem Rechten sieht.«

Nun schaute Philippe doch von seiner Zeichnung auf. »Du willst sagen, du hast ein Haus gegen eine Wohnung getauscht?«

Sara lachte laut auf. »Ja, aber nur für zwei Monate. Außerdem ist das Quartier, das ich bezogen habe, sehr schön. Der Besitzer hat einen guten Geschmack. Ich denke, es war eine ausgezeichnete Idee.« Sara schien es gar nicht zu gefallen, dass er ihr all die Fragen stellte, sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen. Eine meiner negativen Eigenschaften, immer die Klappe zu weit aufzureißen. Kannst du mir noch einmal verzeihen?« Er griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und schaute sie an.

»Oh Mann«, stöhnte Sara und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, »obwohl ich diesem Blick kaum widerstehen kann, muss ich jetzt leider los. Vielleicht sehen wir uns mal wieder.«

»Du weißt, wo ich zu finden bin, Sara.«

Sie nickte. »Salut, Philippe! Und danke für den Kaffee.«

Ohne dass er etwas erwidern konnte, war sie auch schon aus dem Bistro verschwunden. Er blieb noch eine Weile sitzen, um das Porträt auf seinem Skizzenblock zu beenden, dann fiel sein Blick auf den Tisch. Sie hatte ihren Kaffee kaum angerührt.

Wütend stapfte Sara den Weg zur Wohnung zurück. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie Philippe so viel über sich erzählt hatte. Er war ein Fremder und Unbekannten gegenüber war sie immer äußerst misstrauisch. Doch hier hatte ihr Verstand ausgesetzt. Vielleicht lag es daran, dass es ihr gutgetan hatte, einfach mal nur die Touristin zu sein und nicht der gefeierte Bühnenstar.

Vielleicht lag es auch an Philippes wunderschönen Augen, seinem verführerischen Lächeln, seiner aufrichtigen Art. Dass er eine ehrliche Haut war, hatte sie bereits gespürt, als er ihr die Hand reichte. Kein Funke von Hinterhalt oder etwas Verborgenem. Trotzdem hatte sie es für ratsam gehalten, das vertrauliche Gespräch abrupt zu beenden. Sie hatte schon zu viel verraten und wollte sich davor schützen, noch mehr von sich preiszugeben.

Der Regen hatte inzwischen nachgelassen und Sara lief mit großen Schritten in Richtung der Wohnung in der Rue de Rivoli.

Nachdenklich betrachtete Philippe die Zeichnung. Sara war wirklich wunderschön. Ihre langen Locken rahmten ihr zartes ovales Gesicht ein. Die schmale kleine Nase bildete einen feinen Kontrast zu den hohen Wangenknochen und den vollen Lippen. Ihr Teint war hell, strahlend und makellos. Philippe war fasziniert von ihrer Schönheit, gerne hätte er mehr von ihr gemalt als nur ihr Gesicht.

Langsam fuhr er mit dem Zeigefinger die zarte Linie ihres Halses entlang. Zu schön, um nur gezeichnet zu werden, dachte er nachdenklich.

Kapitel 3

Mit schnellen Schritten überquerte Channing den menschenleeren Parkplatz des Krankenhauses. Es war überrascht, mit welcher Leichtigkeit es ihm gelungen war, das Gebäude ungesehen zu verlassen.

Es hatte einige Minuten gedauert, bis er sich gefangen hatte, nachdem er sein Spiegelbild erblickt hatte. Erst nachdem er seinen Atem und Blutdruck wieder einigermaßen unter Kontrolle gehabt hatte, hatten sich die Reißzähne zurückgebildet und die dunkelgraue Farbe seiner Augen war wieder zu sehen gewesen. Diese Eigenmächtigkeit seines Körpers jagte Channing eine Heidenangst ein. Auch das schnelle Abheilen der Wunde auf seiner Wange war etwas, das ihn an seinem Verstand zweifeln ließ.

Was war zum Teufel noch mal passiert? Warum konnte er sich an nichts Wichtiges erinnern? Natürlich waren ihm die alltäglichen Dinge vertraut, wie sich zu rasieren, den Fahrstuhl zu benutzen oder ein Taxi heranzuwinken, aber Bedeutendes, wie Namen, Adressen, Begebenheiten aus seinem Leben, waren aus seinem Gedächtnis verschwunden, als wären sie mit der Entfernen-Taste gelöscht worden.

Für Channing gab es nur eines: so schnell wie möglich weg von hier. Er hatte zwar keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, aber im Krankenhaus konnte bei den Untersuchungen entdeckt werden, was aus ihm geworden war, und das war bestimmt nicht klug.

Erst musste er selbst herausfinden, was mit ihm geschehen war, dann wäre er in der Lage, die Fragen anderer zu beantworten. In dem kleinen Schrank hatte er einen Koffer gefunden, etwas ramponiert, aber sonst okay. Die Kleidung darin war unbeschädigt, ebenso wie der Laptop. Was war nur geschehen?

Die Bekleidung bestand zum größten Teil aus schwarzen Hosen, weißen Hemden und grauen Rollkragenpullis. Allesamt von edlen französischen Herstellern und teilweise maßgeschneidert.

Channing hatte sich eilig angezogen, den dunklen Mantel übergeworfen, seine Sachen gepackt und ungesehen den Flur betreten, um dann fluchtartig das Gebäude zu verlassen. Er achtete darauf, keiner der Krankenschwestern über den Weg zu laufen. Hier war es zu gefährlich für ihn. Undenkbar, wenn man seine Reißzähne entdeckte. Oder dass alle Wunden, die er gehabt haben musste, geheilt waren, ohne Spuren zu hinterlassen.

Er musste erst Antworten finden, aber das konnte er nicht hier im Krankenhaus.

Als er seinen kleinen Koffer ergriffen hatte, war sein Blick auf den Boarding Pass der United Airlines gefallen. Darunter ein Gepäckanhänger und darauf sein Name und eine Adresse. Obwohl ihm die Anschrift nichts sagte, war sie der einzige Anhaltspunkt, den er hatte.

Mit schnellen Schritten begab er sich zu einem wartenden Taxi und ließ sich nach North Beach bringen.

Die angegebene Adresse lag am Ende einer kleinen Straße, die sich an eine Bucht nahe dem Meer schmiegte. Sie führte auf eine Anhöhe, etwas abseits der übrigen Häuser, die in der Siedlung mit Strandnähe lagen. Das Gebäude war umgeben von einer Mauer, die die Sicht auf das Anwesen ziemlich einschränkte.

Der Mond stand sichelförmig am Himmel und schimmerte silbern auf dem Wasser der Bucht. Am Strand in der Ferne konnte man mächtige Baumstümpfe ausmachen, die irgendwann einmal angeschwemmt worden waren. Wie schlafende Riesen bewachten sie in dieser klaren Nacht das Ufer.

Das quadratisch gebaute Haus aus grünem Holz war auf einer großen Garage errichtet, die in die Erde hinabführte. Das weiße Tor war so breit, dass sie vermutlich vier Autos nebeneinander Platz bot. Die schwarzen Dachschindeln ragten in der Dunkelheit vor Channing auf, und er konnte erkennen, dass das über zwei Etagen gebaute Haus im Erdgeschoss von einer Veranda umgeben war.

Unschlüssig blieb er stehen, als sich das Taxi entfernte. Das Gebäude lag im Dunkeln, kein Lichtschein drang aus seinem Inneren. Alle Fenster der ersten Etage waren hinter schweren Rollläden verborgen. Um das Haus herum führte eine kurze Gasse zu einem Seiteneingang, der etwas versteckt hinter einer Efeuhecke lag.

Zielstrebig ging Channing auf die Tür zu und stieg die vier Stufen hinauf. Einer Eingebung folgend griff er über die Tür und fand, wonach er suchte: einen kleinen goldenen Schlüssel, der genau in das Schloss passte. Zögerlich betrat er das Haus. Sein Instinkt sagte ihm, dass es leer war. Er benötigte noch nicht einmal Licht, um sich umzusehen, denn obwohl es stockfinster war, erkannte er alle Umrisse so klar und deutlich, als wäre es heller Tag.

Er durchquerte die Küche und gelangte über einen kleinen Flur in das Wohnzimmer. Neben der Eingangstür gab es eine Treppe, die in die obere Etage und ebenso in den Keller führte, vermutlich in die Garage. Er ließ seinen Blick durch die Räume schweifen, in der Hoffnung, dass ihm irgendetwas bekannt vorkam.

Aber er sah sich getäuscht. Nichts deutete darauf hin, dass er schon einmal hier gewesen war. Eine innere Stimme sagte ihm jedoch, dass er an diesem Ort genau richtig war. Im Flur zu stehen und sein Gepäck und seinen Mantel abzulegen, fühlte sich an, als würde er hierhergehören. Aus Gewohnheit schaltete er das Licht an und begann, langsam im Wohnzimmer umherzuwandern. Alles, was er sah, trug deutlich die Handschrift einer Frau. Seiner Frau?

War dies das Haus, in dem er mit seiner Familie lebte? Channing schaute auf seine Hände. Am linken kleinen Finger trug er einen silbernen Siegelring, aber das musste nichts bedeuten.

Weiße luftige Vorhänge zierten die vielen Fenster und gaben dem Raum eine helle, freundliche Note. Neben der Fensterfront, die zur Straße hinausging, stand an der Wand ein altes Klavier, darauf einige gerahmte Fotos. Sie zeigten eine Frau mit flammend roten Haaren, die ihr in großen Locken über die Schultern fielen. Sie sah einfach atemberaubend aus mit ihrem hellen Teint, der wie Porzellan schimmerte. Die Augen waren grün wie das Meer an einem stürmischen Tag. Die kleine Nase kontrastierte mit ihren sinnlich vollen Lippen, die wie reife Himbeeren schimmerten.

Obwohl er keine Erinnerung an diese Frau hatte, wünschte sich Channing, sie zu kennen. Ein leises Knurren entfuhr seiner Brust, dann seinem Mund und er spürte, dass sich sein Pulsschlag beschleunigte.

Das nächste Foto zeigte die gleiche Person, nur dass die Aufnahme mehr als hundert Jahre alt zu sein schien. Die Frau blickte streng, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Der Stil ihrer dunklen und hochgeschlossenen Kleidung war der einer längst vergangenen Epoche. Sie sah der Frau mit den roten langen Haaren zum Verwechseln ähnlich, vermutlich war sie ihre Großmutter. Ein weiteres Foto zeigte wiederum die junge Frau mit einem Mann, der identisch feine Züge aufwies, nur hatte er schwarzes Haar. Er mochte höchstens zwanzig Jahre alt sein und war unverkennbar ihr Bruder: das gleiche Lächeln, dieselbe stolze Haltung.

Als Channing das Foto genauer betrachtete, durchfuhr ihn wieder dieses Wissen, das Gefühl der Verbundenheit, wie er es schon im Krankenhaus gespürt hatte, als er aus dem Koma erwacht war. Ein Luftzug umwehte plötzlich seinen Körper, so als berührte ihn die leichte Brise eines luftigen Frühlingstages. Er blickte sich um, doch er konnte nichts und niemanden entdecken.

Die Schafzimmer befanden sich im Obergeschoss. Zu seiner Überraschung las Channing an einer der Türen auf einem Briefumschlag seinen Namen. Er nahm den Umschlag an sich, der eine kurze Notiz enthielt.

Hallo, Mr McArthur! Dieses Zimmer habe ich für Sie hergerichtet. Ich hoffe, dass Sie sich in meinem Haus wohlfühlen, und wünsche Ihnen erfolgreiche Wochen in Seattle!

Unterschrieben war die Mitteilung mit S. Keane. Channing stieß die Tür auf und trat ein. Der Raum hatte eine eindeutig männliche Note. Er war spartanisch mit einem Schrank und einem großen Bett aus Ebenholz eingerichtet, dunkelgrüne Seidentapeten zierten die Wände und schwarze Samtvorhänge verbargen das einzige Fenster.

Er legte seine Sachen auf dem Bett ab und zog die Vorhänge zur Seite, um einen Blick auf das Meer zu werfen. Von hier aus konnte man sogar einen Teil der Bucht einsehen. Er stützte sich am Fensterkreuz ab und blickte eine Weile in die Dunkelheit.

Dieses Nichtwissen machte ihn verrückt. Er brauchte Antworten, und zwar schleunigst. Zwar hatte er erfahren, was mit ihm geschehen war, aber dies war nur ein kleiner Teil des Puzzles, das er zusammensetzen musste. Was war mit seinem Körper passiert? Wer war diese Frau, in deren Haus er sich befand? Auf all diese Fragen hatte er im Moment keine Antworten. Wutentbrannt schlug er mit seiner Faust so hart gegen den Fensterrahmen, dass die Scheibe klirrte.

Channing machte sich daran, seine Sachen auszupacken. Er wusste nicht, wohin, also schien es ihm zunächst das Klügste, erst einmal hierzubleiben. Schließlich musste es eine Bedeutung haben, wenn sein Name an der Zimmertür stand. Im Bad fiel ihm beim Einräumen seiner persönlichen Sachen wieder das Rasiermesser in die Hände und er betastete seine Wange, auf der keine Spur eines Schnittes mehr zu fühlen war. Nachdenklich betrachtete er das Messer. Blitzartig durchschoss ihn ein Gedanke und er fuhr mit der Klinge die Innenseite seines Unterarms entlang. Langsam und äußerst vorsichtig ritzte er die Haut ein.

Sofort quoll dunkelrotes Blut aus der kleinen Wunde. Der metallische Duft stieg ihm in die Nase und aktivierte seine animalischen Sinne. Er spürte, wie der Lebenssaft durch seinen Körper rauschte und die Reißzähne in seinem Mund wuchsen. In seiner Brust breitete sich ein lautes Grollen aus, und der Drang, es aus seiner Kehle zu lassen, wurde übermächtig.

Der Schnitt war nicht tief. Wie von Geisterhand begannen sich die Ränder anzuheben und die Wunde schloss sich langsam.

Channing gab dem Drängen nach und brüllte auf. Es war ein verzweifeltes Brüllen. Ein Brüllen der Ohnmacht und Hilflosigkeit, aber auch der Macht und Stärke.

Erschöpft ließ er sich auf dem Rand der Badewanne nieder. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte ...

Langsam begann er, an seinem Verstand zu zweifeln. So etwas gab es nur in Filmen, er hatte in Romanen darüber gelesen, aber das war immer nur Fiktion gewesen, alles war frei erfunden.

Und nun das hier? Er musste hier raus!

Mit schnellen Schritten eilte er die Stufen ins Erdgeschoss hinunter und floh durch die vordere Haustür ins Freie. Ohne innezuhalten, folgte er dem schmalen Trampelpfad, der zur Klippe führte. Kurz vor seinem Ende blieb er stehen. Mit geballten Fäusten stand er am Abgrund und schaute auf das dunkle Wasser hinunter.

Es war eiskalt, aber er spürte die Kälte nicht. Die Klippe ragte hoch über dem Meer auf und diese galt es zu überwinden, um all das Unfassbare hinter sich zu lassen.

Wie von Sinnen raufte er sich die Haare und stieß seinen Atem aus, der in kleinen weißen Wolken dem Himmel entgegenstieg, denn es war für April sehr kalt.

»Du wirst es nicht schaffen.«

»Die Frage ist doch, ob ich das überhaupt will!« Jetzt sprach er bereits mit sich selbst! Ein sicheres Anzeichen dafür, dass er dabei war, vollends den Verstand zu verlieren.

»Das meine ich nicht.«

Ein schwarzer Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Er hatte auf einem der großen Steine gesessen, die den Pfad zur Klippe säumten.

»Du wirst es nicht schaffen, dich zu töten, es sei denn, du wärst in der Lage, dir selber den Kopf abzutrennen. Doch das wird dir nicht gelingen. Also versuche es erst gar nicht. Ich habe keine Lust, deinen Arsch aus dem kalten Wasser zu fischen, bevor es ein anderer tut.«

Channing war herumgefahren, schaute dem Mann in die Augen und las darin, dass dieser noch nie etwas ernster gemeint hatte.

Sein Gesicht kam ihm bekannt vor. Er hatte es auf dem Foto auf dem Klavier entdeckt. Doch hier draußen, in seinem schwarzen Pullover, der Cargohose und den schweren Kampfstiefeln, sah der Typ älter aus als auf dem Foto. Am imposantesten waren jedoch die beiden Schwerter, die er auf dem Rücken trug.

»Lass mich in Ruhe. Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was mit mir los ist. Du solltest dich lieber vor mir in Acht nehmen«, zischte Channing ihn wütend an.

Ein leises Lachen drang aus dem Mund des jungen Mannes.

»Oh Mann, jetzt habe ich aber Angst! Du bist derjenige, der sich in Acht nehmen sollte. Aber lassen wir das. Ich bin Shia. Gehen wir zurück zum Haus, bevor uns noch jemand sieht.«

Er berührte Channing leicht an der Schulter und ging voraus. Channing folgte ihm wortlos und sah, wie die großen Schwerter das Mondlicht reflektierten.

»Du hättest die Vordertür nehmen können, sie ist nie abgeschlossen«, erklärte Shia, als er die Stufen hinaufstieg.

»Du hast mich beobachtet?« Channing schaute ihn überrascht an.

»Unabsichtlich. Ich war im Haus, als du ankamst«, sagte er knapp.

Also hatte er sich doch nicht getäuscht.

»Warum beobachtest du mich? Was weißt du über mich? Ich verstehe gar nichts mehr und brauche dringend Antworten!«

Rastlos ging Channing im Wohnzimmer auf und ab. Shia legte seine Schwerter sorgsam zur Seite. Dann nahm er ein Gürtelhalfter und ein Messer ab, das an seinem Oberarm befestigt war.

»Warum hast du dich so bewaffnet? Für den Dritten Weltkrieg?«, fragte Channing spöttisch und frustriert zugleich.

»Rede nicht über etwas, wovon du keine Ahnung hast! Also lass diesen arroganten Ton, klar?« Shia richtete seinen Blick auf ihn und Channing spürte, dass Shia das, was er gesagt hatte, ernst meinte.

Channing begann wieder aufgeregt im Zimmer auf und ab zu gehen. Dabei fuhr er sich mit einer Hand durch die langen Haare.

»Okay, sorry, Mann! Aber ich hatte heute keinen guten Tag, und wenn das der Erste von vielen war, will ich gar nicht wissen, wie die anderen aussehen werden.« Er versuchte, sich etwas zu beruhigen, und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Mit wachen Augen beobachtete er Shia dabei, wie der seine Waffen sorgfältig auf dem Esstisch ausbreitete.

»Wem gehört dieses Haus?«

»Sara.«

Mit diesem Namen konnte Channing nicht das Geringste anfangen.

»Ist das die Frau dort auf dem Foto?« Er blickte zum Klavier hinüber.

»Ja, das ist Sara. Sie ist meine Schwester und die Frau, mit der du deine Wohnung in Paris für zwei Monate getauscht hast.«

Shia hatte sich am Esstisch niedergelassen und säuberte sorgfältig seine Schwerter.

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

Shia schüttelte ruhig den Kopf. »Du kannst dich an gar nichts erinnern.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich deine Erinnerungen gelöscht habe.« Er sagte es ohne jede Regung, als würde es ihn vollkommen kaltlassen.

»Du warst das? Du bist für all das verantwortlich?«, fragte Channing. Zorn wallte in ihm auf und mit geballten Fäusten trat er einen Schritt auf Shia zu.

»Achtung, mein Freund!« Shia zeigte mit seiner Schwertspitze auf Channings Brust, »pass auf, was du sagst. Du müsstest mir eigentlich dankbar sein. Ohne mich wäre deine Asche längst in alle Richtungen verweht worden. Also mach mal halblang.«

Doch Channings Wut war noch immer nicht verraucht. Sein Blut kochte, und sein Herz begann, unregelmäßig zu schlagen. Seine Reißzähne fuhren aus und er stieß ein mächtiges Zischen aus. Dann machte er einen Satz nach vorne.

In der gleichen Sekunde, für das menschliche Auge gar nicht wahrnehmbar, sprang Shia vom Stuhl, auf dem er eben noch locker gesessen hatte. Er stieß Channing zurück gegen die Wand und zeigte ihm im Gegenzug seine eigenen mächtigen Reißzähne, die er nur Millimeter von seinem Gesicht entfernt hielt. Ein tiefes Grollen entfuhr seiner Brust und dröhnte bedrohlich, während er Channings Kinn mit dem Ellenbogen an die Wand drückte.

»Ich sage dir, wenn du Antworten willst, dann bewahre die Ruhe!«

Vollkommen irritiert von Shias Kraft und Schnelligkeit blieb Channing regungslos. Durch die Wucht des Stoßes hatte die Wand leicht nachgegeben und wies jetzt in Höhe seines Kopfes eine tiefe Delle auf.

Als sich Channings Puls normalisierte, gab Shia ihn frei und setzte sich wieder an den Tisch, um weiter seine Waffen zu säubern – so, als wäre nichts geschehen.

»Was bist du?«, stammelte Channing leise.

»Du meinst wohl, was wir sind, oder? In Griechenland nennt man uns Lamien, in China Chiang-Shih, und in Ghana würde man uns Asanbosam nennen, doch hier bezeichnet man uns ganz einfach als Vampire.«