Leben kann man nicht alleine, das ist die zentrale Botschaft der modernen Mikrobiomforschung, und wir beginnen zu begreifen, dass dieses Aufeinanderangewiesensein von Wirt und Mikroben, eine Eigenschaft des Lebens schlechthin ist, so elementar wie die Tatsache, dass Lebewesen aus Zellen aufgebaut sind.
Bernhard Kegel hatte diese neue Perspektive auf das Leben in seinem richtungsweisenden Buch ›Die Herrscher der Welt‹ anhand von tierischen und pflanzlichen Metaorganismen aller Art erläutert und illustriert. In ›Die Gesundmacher‹, ein Auszug aus ›Die Herrscher der Welt‹, konzentriert er sich nun allein auf das, was Medizin und Biologie über die Liaison zwischen Einzellern und dem Menschen herausgefunden haben.
Mit modernsten Methoden sind Wissenschaftler dabei, den Vorhang vor einem Schauspiel zu lüften, das weniger von Krankheit, Siechtum und Tod als von Gesundheit, Kooperation und Arbeitsteilung handelt.
Bernhard Kegel, geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Seit 1993 veröffentlichte er mehrere Romane und Sachbücher, zuletzt erschienen bei DuMont die Sachbücher ›Epigenetik‹ (2009), ›Tiere in der Stadt‹ (2013) und ›Die Herrscher der Welt‹ (2015). Bernhard Kegels Bücher wurden mit mehreren Publizistikpreisen ausgezeichnet. Der Autor lebt in Berlin.
DIE GESUNDMACHER
INHALT
Vorwort
Einführung
1 Mikrobenwelt – In Zeiten großer Entdeckungen
2 Hyänen, Menschen und die Macht der Düfte
3 Im Darm
4 Holobionten intern
5 In einer Welt der Holobionten
VORWORT
Im Frühjahr 2015 erschien mein Buch »Die Herrscher der Welt – Wie Mikroben unser Leben bestimmen«. Es erhielt viel Kritikerlob und war in Deutschland und Österreich für die Wahl zum Wissenschaftsbuch des Jahres nominiert.
Thema des Buches ist die Erforschung des sogenannten Mikrobioms, der Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Körper vielzelliger Lebewesen bewohnen. Geprägt wurde dieser Begriff durch den amerikanischen Molekularbiologen und Nobelpreisträger Joshua Lederberg, der nach dem Ende des Humangenomprojektes dazu aufrief, nach unserem eigenen Erbgut auch das Genom sämtlicher Mikroben zu entziffern, die an und in unseren Körpern leben, unser Mikrobiom. Nur dann, so Lederberg, sei ein wirklich umfassendes Verständnis des menschlichen Organismus möglich.
Der Kieler Zoologe Thomas C. Bosch, der kürzlich zusammen mit Kollegen aus Biologie und Medizin das erste große Forschungsprojekt zum Thema in Deutschland initiierte, formuliert es so: »Krankheit ist multiorganismisch.« Und Gesundheit natürlich auch. Denn Menschen sind keine Einzelwesen, sondern Metaorganismen oder Holobionten, die aus einem Wirt und einer großen Zahl von Mikroben bestehen. Dazu zählen vor allem Bakterien, aber auch tierische Einzeller, Pilze und Viren. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie verdeutlicht, was er damit meint. Ob es zum Ausbruch einer bestimmten Haut- und Geschlechtskrankheit kommt, hängt danach nicht allein nur vom Angriff des krankmachenden Bakteriums ab, sondern auch von der Zusammensetzung des Hautmikrobioms des Patienten. Nur wenn man das Ganze (griechisch holos) im Blick hat, den Wirt und seine Mikroben, wird ein tiefer gehendes Verständnis möglich. Die viel beschworene individualisierte Medizin der Zukunft wird daher nicht nur das Erbgut des Patienten berücksichtigen müssen, sondern auch die vielen Milliarden winziger Begleiter.
Für mich als Biologen bestand und besteht die besondere Faszination dieser revolutionären Entdeckungen in der Tatsache, dass sie alle Lebewesen betreffen. Nicht nur wir Menschen sind Metaorganismen, sondern alle Tiere und Pflanzen auf der Erde, ob groß oder klein, ob zu Lande oder im Wasser. Sie alle tragen eine spezifische Gesellschaft unsichtbarer Begleiter an und in sich, und nicht selten wären sie ohne diese Helfer gar nicht lebensfähig. Diese symbiotischen Verbindungen sind das Ergebnis einer viele Millionenjahre andauernden gemeinsamen Evolution, einer Koevolution.
Leben kann man nicht alleine, das ist die zentrale Botschaft der modernen Mikrobiomforschung, und wir beginnen zu begreifen, dass dieses Aufeinanderangewiesensein von Groß und Klein, von Wirt und Mikroben, eine Eigenschaft des Lebens schlechthin ist, so elementar wie die Tatsache, dass Lebewesen aus Zellen aufgebaut sind.
Um das zu illustrieren, wimmelt es in den »Herrschern der Welt« von Würmern aller Art, von Blattläusen, Rindern und Affen, kurz: von tierischen und pflanzlichen Metaorganismen aller Art. Es ist ein biologisches Buch und hat die gesamte Organismenwelt im Blick. Der Mensch nimmt zwar deutlich mehr Raum ein als, sagen wir, Termiten und Ameisen, aber er wird eben nur als eine Art von vielen behandelt, als Gleicher unter Gleichen.
Nun soll es Leserinnen und Leser geben, die zwar brennend an allem interessiert sind, was Medizin und Biologie über ihre Körper herausfinden, denen aber jegliches Getier gestohlen bleiben kann. Die sich nicht durch seitenlange Abhandlungen über das Innenleben von Ameisen, Bienen und Wespen kämpfen wollen, bevor sie etwas Neues über sich selbst und ihresgleichen erfahren.
Falls Sie sich zu diesen Menschen zählen, liebe Leserinnen und Leser, dann ist »Die Gesundmacher« das richtige Buch für Sie. Es ist ein Auszug aus »Die Herrscher der Welt«, enthält alle Passagen, die von uns Menschen handeln und zu deren Verständnis nötig sind, und verschont Sie mit all dem Ballast, auf den Biologen nicht verzichten zu können glauben. Denn natürlich möchte ich auch Sie für dieses Thema begeistern.
Sollten Sie am Ende Feuer gefangen haben und feststellen, dass Sie es wider Erwarten doch gern ausführlicher hätten, dass Sie verstehen wollen, wie es zu dieser seltsamen Liaison zwischen Wirt und Mikroben kommen konnte, wie deren Kommunikation abläuft und warum diese Erkenntnisse zu einem revolutionären Umdenken in den Lebenswissenschaften führen werden, wenn Sie dazu einen ausführlichen Anmerkungsapparat mit genauen Quellenangaben wünschen, dann können Sie ja immer noch zu der Langfassung »Die Herrscher der Welt« greifen. Das Original ist mittlerweile auch in einer preiswerten Taschenbuchausgabe erhältlich.
Wahrscheinlich mögen Sie keine Bakterien. Niemand mag sie. Doch ob Sie nun »Die Gesundmacher« oder »Die Herrscher der Welt« lesen, in jedem Fall empfielt es sich, gegenüber den Bakterien und den anderen einzelligen Helden, denen Sie begegnen werden, zumindest für die Zeit Ihrer Lektüre eine eher entspannt gelassene Haltung einzunehmen. Obwohl auf fast jeder Seite von ihnen die Rede sein wird, sind dies keine Bücher, die in erster Linie von Bakterien und anderen Mikroben handeln. Im Mittelpunkt steht die Verknüpfung von Mikro- und Makrokosmos, das faszinierende Miteinander von überaus versierten Einzellern und allen anderen Lebewesen einschließlich des Menschen. Mit modernsten Methoden sind Wissenschaftler dabei, den Vorhang vor einem Schauspiel zu lüften, das weniger von Krankheit, Siechtum und Tod als von Gesundheit, Kooperation und Arbeitsteilung handelt. Sie werden eine ganz andere und viel freundlichere Seite dieser kleinsten aller Lebewesen kennenlernen. Außerdem haben wir keine Wahl. Entkommen kann man ihnen nicht.
In diesem Sinne: viel Vergnügen beim Lesen, und mögen unsere Symbionten mit uns sein!
EINFÜHRUNG
Haben Sie ein Foto von Freunden oder Familienmitgliedern greifbar? Oder vielleicht eine Illustrierte, eine Programmzeitschrift? Was sehen Sie darauf?
Dumme Frage, werden Sie denken, Menschen natürlich. Vermutlich gehören diese Menschen irgendeiner sozialen Gruppe an, einer Familie, einer Peergroup, einem Volk oder einer Ethnie. Es handelt sich jedoch eindeutig um Einzelwesen, um Individuen mit bestimmten Eigenschaften, Kennzeichen und Fähigkeiten, die sie geerbt, gelernt oder auf andere Weise erworben haben.
Aus biologischer Sicht würde man sagen: Es handelt sich um Exemplare der Hominiden-Spezies Mensch (Homo sapiens sapiens). Obwohl wir es ohne technische Hilfsmittel nicht sehen können, wissen wir, dass ihre Körper aus Milliarden winziger Zellen bestehen. Diese Zellen können unterschiedlichste Gestalt annehmen und eine Vielzahl an zum Teil hoch spezialisierten Aufgaben erfüllen, sie sind aber ausnahmslos durch Teilung aus einer einzigen hervorgegangen, der befruchteten Eizelle, und daher genetisch identisch. Nach der Teilung bleiben fast alle Zellen miteinander verbunden und ordnen sich gemäß ihrem genetischen Plan und unter Einfluss der Umwelt zu einem vielzelligen, komplexen Ganzen an – dem Wunder Mensch. Alles, was sie zu leisten imstande sind, vom Verdauen der Nahrung bis zur Errichtung gigantischer Bauwerke, alle ihre Merkmale und Eigenschaften schaffen diese Wesen aus sich selbst heraus, im Zusammenspiel ihrer Zellen und in Kooperation mit anderen Einzelwesen ihrer Art.
In ganz ähnlicher Weise würden wir aber auch Tiere beschreiben, einen Hund, ein Pferd oder einen Elefanten, sogar einen Regenwurm oder einen Schmetterling. Auch sie bewerkstelligen alles, was sie können, aus eigener Kraft oder in Zusammenarbeit mit Artgenossen. Das Gleiche gilt für Pflanzen (obwohl die Verhältnisse hier komplizierter sind). Kurz: Die Tatsache, dass die meisten Organismen einschließlich des Menschen autarke Einzelwesen sind, ist für uns eine Selbstverständlichkeit – und zwar nicht nur für wissenschaftliche Laien. Die Existenz biologischer Individuen bildet die Grundlage vieler Fachdisziplinen, von der Genetik über Anatomie und Physiologie bis zur Evolutionsbiologie.
In letzter Zeit mehren sich jedoch die Zeichen, dass diese unsere Sicht auf die belebte Welt und uns selbst falsch oder zumindest in grober Weise unvollständig ist. Ein wesentlicher, ja entscheidender Teil der Realität ist unserer Aufmerksamkeit entgangen. Wie fundamental dieser Fehler war, lässt sich vielleicht erahnen, wenn man sich folgendes Bild vor Augen führt: Ein Außerirdischer beobachtet ein gähnend leeres Stadion, in dem zwei Mannschaften ein leidenschaftlich geführtes Ballspiel austragen. Nach einer Weile begreift er, worum es dabei geht: Das kleine Runde muss ins Eckige. Offenbar folgt das Ganze bestimmten Regeln, und ein schwarz gekleideter Mann mit Trillerpfeife achtet darauf, dass sie eingehalten werden. Warum wird das Spiel aber in einem riesigen Stadion ausgetragen, auf dessen Sitzreihen sich nur eine Handvoll Zuschauer verlieren, und warum abends, im Dunkeln, sodass man es mit großen Scheinwerfern aufwendig beleuchten muss? Wieso tragen die Spieler bunte Schriftzeichen auf der Brust, und warum kämpfen sie bis zum Umfallen? Niemand sieht oder hört zu. Was also sollen die vielen Werbetafeln, die sich dauernd verändern, der riesige Bildschirm, auf dem Spielszenen wiederholt werden, die Lautsprecherdurchsagen, das Feuerwerk, die wehenden Fahnen an den Masten, die Musik, für wen tanzen die jungen Mädchen? Vieles bleibt für den Alien unverständlich, und er sucht nach Erklärungen. Wird das alles veranstaltet, um die Konzentrationsfähigkeit der Spieler auf die Probe zu stellen? Oder damit die, die auf der Ersatzbank sitzen, sich nicht langweilen? Der Außerirdische weiß nicht, dass die gastgebende Mannschaft zu diesem Geisterspiel verdonnert wurde, weil es beim letzten Heimspiel zu schweren Zuschauerausschreitungen gekommen war. Vor allem ahnt er nicht, dass an diesem Spektakel nicht nur die wenigen Menschen beteiligt sind, die sich im Stadion befinden. Für ihn unsichtbar sitzen Millionen von Zuschauern in Kneipen und Wohnzimmern, um das Spiel zur besten Sendezeit an ihren Fernsehschirmen zu verfolgen. Ihnen gilt der ganze Aufwand. Sie sind die eigentlichen Adressaten. Ohne sie würde dieses Spiel so nicht stattfinden.
Bis vor Kurzem befanden sich die Biologen in einer vergleichbaren Situation. Sie sahen die bekannten Akteure auf dem Rasen, die Tiere und Pflanzen, und versuchten, die geltenden Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Sie fanden heraus, dass biologische Individuen in einem komplexen Gewebe ökologischer Wechselwirkungen leben, in einer Welt voller Artgenossen, Fressfeinde, Beutetiere, Nahrungspflanzen, Bestäuber und Parasiten, in der das Klima und die chemische Beschaffenheit von Wasser, Luft und Böden die Rahmenbedingungen setzen. Schon im 17. Jahrhundert entdeckten sie mithilfe neuartiger Mikroskope, dass über die sichtbare Welt hinaus ein Mikrokosmos existiert, in dem es von winzigen Lebewesen, von Bakterien, Algen, Pilzen und tierischen Einzellern nur so wimmelt. Anders als die Menschen vor den Fernsehern in unserer Geschichte sind diese Mikroben keine passiven Zuschauer, sondern nehmen höchst aktiv am Lebensgeschehen teil. Die Zahl der Akteure auf dem ökologischen Spielfeld wurde immer größer, und die Regeln ihres Zusammenlebens erwiesen sich als derart komplex, dass sie den Forschern erhebliches Kopfzerbrechen bereiteten.
Heute wissen wir jedoch, dass die meisten Akteure trotz immer besserer mikroskopischer Techniken weiterhin im Verborgenen agierten. Erst in den letzten Jahren begannen die Wissenschaftler, sich ihrer tatsächlichen Zahl und Bedeutung bewusst zu werden und zu verstehen, wie eng und vielfältig die Verbindungen von Tieren und Pflanzen mit den mikrobiellen Winzlingen wirklich sind. Was die Forscher zutage befördern, ist derart revolutionär, dass die prominente amerikanische Mikrobiologin Margaret McFall-Ngai bei vielen in ungläubiges Staunen verfallenden Biologen eine Art »Zukunftsschock« diagnostizierte. Der Grund: »Zu viel Veränderung in zu kurzer Zeit.« Den Biologen geht es wie dem Alien, der plötzlich die Kameras entdeckt und erkennt, dass an dem Spektakel im Stadion ein Millionenpublikum teilnimmt. Die neuen Erkenntnisse brächten große Herausforderungen mit sich, betonte jüngst ein internationales Autorenteam namhafter Forscher. Sie seien »ein Aufruf an alle Lebenswissenschaftler, ihre Sicht auf die fundamentale Natur der Biosphäre signifikant zu verändern«.
Als vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren tierisches Leben entstand, hatten Bakterien schon mindestens drei Milliarden Jahre Evolution hinter sich, genug Zeit, um Strategien für die unwirtlichsten Lebensbedingungen zu entwickeln, um vielfältige Formen des Miteinanders auszuprobieren und auf das, was noch kommen sollte, vorbereitet zu sein. Jeder Entwicklungsschritt der vielzelligen Neulinge erfolgte in einer von Bakterien beherrschten Welt, und was immer die Evolution sich für die komplexer werdenden Tiere und Pflanzen ausdachte, Bakterien und andere Mikroben waren dabei: als Nahrung, als Erreger von Krankheiten, aber auch als Partner, Helfer und Impulsgeber. In großer Zahl schlossen sie sich den neuen Wesen an und machten sich im Laufe des folgenden gemeinsamen Evolutionsweges unentbehrlich.
Nimmt man diese Überlegungen und Erkenntnisse ernst – und immer mehr Wissenschaftler tun dies –, dann müssen Genetiker, Evolutionsbiologen, Physiologen, Ökologen, Immunologen, Mediziner und Entwicklungsbiologen umdenken oder besser: noch einmal von vorn denken – und mit ihnen wir alle, ob es uns gefällt oder nicht. Nichts in der Biologie ergibt mehr Sinn ohne Berücksichtigung der Mikroben, könnte man in Abwandlung eines berühmten Zitates des Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky sagen. Viele Probleme der Lebenswissenschaften müssen neu durchdacht werden, beginnend mit einer einfachen Frage, von der wir glaubten, wir wüssten die Antwort: Was ist das eigentlich, ein Organismus?
Mikroben sind allgegenwärtig, doch lange hat sich die Wissenschaft – aus verständlichen Gründen – vor allem auf ihre Rolle als Krankheitserreger konzentriert. Symbiosen, eine Art Gegenmodell, das nicht für ein feindliches, sondern ein kooperatives Miteinander von Mikroben und anderen Lebewesen steht, galten für die Mehrzahl der Forscher als seltene Ausnahmen, und meist interessierte man sich nur für spektakuläre und ökonomisch wichtige Fälle, etwa für die Knöllchenbakterien einiger Kulturpflanzen, die einzelligen Verdauungshelfer der Kühe oder die Holz zersetzenden Untermieter der Termiten. Heute wissen wir, dass es sich tatsächlich um Ausnahmen handelt, aber nur, weil sie vergleichsweise einfach sind, mit wenigen beteiligten Organismenarten. Im Normalfall sind es nicht ein oder zwei, sondern Hunderte, Tausende oder gar, wie im Falle des Menschen, Zehntausende von bislang unbekannten Mikrobenarten, und möglicherweise leisten sie alle in einem dynamischen Miteinander einen kleinen oder großen Beitrag zu dem, was uns als scheinbar autarkes Einzelwesen gegenübertritt. Diesen Beitrag zu entschlüsseln wird eine der großen Herausforderungen der Biowissenschaften für die kommenden Jahrzehnte sein. Die Forscher sehen sich mit schwindelerregend komplexen Wechselwirkungen konfrontiert, und die Ausnahmen der Vergangenheit werden unversehens zu Modellsystemen, die Entscheidendes zum Verständnis der Zusammenhänge beitragen können.
Welchen Einfluss haben diese Winzlinge auf die Entwicklungswege der Lebewesen genommen, die nach ihnen entstanden, und welche Wirkung haben sie noch heute? Unglaublich, aber wahr: Ein Drittel der in unserem Blut zirkulierenden Stoffwechselverbindungen ist nicht-menschlichen Ursprungs. Sie stammen zum großen Teil von Körperbakterien, vor allem aus dem Darm, die ihren chemischen Einfluss auf diese Weise bis hin zu weit entfernten Organen ausdehnen, bis in die Schaltzentrale, ins Gehirn. Was bewirken diese Stoffe? Welche Informationen werden hier übermittelt, und wer ist ihr Adressat?
Eines dürfte schon jetzt klar sein: Kein Lebewesen ist mit sich allein. Für jede seiner Lebensäußerungen, jede seiner Eigenschaften und Fähigkeiten muss in Zukunft auch die Frage nach den Mikroben gestellt werden. Sichtbar wird nichts Geringeres als ein atemberaubend neues Bild von der Welt, in der wir leben. Es sieht anders aus, als wir gedacht haben. Biologische Individuen existieren nicht und haben nie existiert. Irdische Lebewesen sind in einer Weise miteinander verknüpft und verbunden, von der wir bis vor Kurzem kaum eine Vorstellung hatten. Vielleicht kommt diese Erkenntnis angesichts der enormen Herausforderungen der Zukunft gerade recht, um uns Menschen den Platz im Lebensgeschehen zuzuweisen, der uns zusteht.
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MIKROBENWELT – IN ZEITEN GROSSER ENTDECKUNGEN
Als Forscher auf der ganzen Welt sich Ende des letzten Jahrtausends daranmachten, das menschliche Genom zu entziffern, versprachen sie bahnbrechende neue Erkenntnisse über uns selbst und vor allem Heilung von den großen Geißeln der Menschheit. Zwar lässt die Einlösung der Heilsversprechen auf sich warten, die Methoden und Verfahren, die im Zuge dieses Menschheitsprojektes zur Anwendung kamen, wurden jedoch immer weiter verbessert und sind aus der biologischen Forschung nicht mehr wegzudenken. Die heute praktizierte DNA-Sequenzierung der nächsten Generation (next generation sequencing) ist ungleich leistungsfähiger als das, was den Pionieren des Humangenomprojektes zur Verfügung stand.
Kostete die erste vollständige Entzifferung eines menschlichen Erbguts noch drei Milliarden Dollar, liegt der Preis heute bei nur 5000 Dollar, und das Ganze dauert nicht mehr Jahre, sondern höchstens Wochen. Die Zahl der entzifferten Pflanzen-, Tier- und Bakteriengenome geht mittlerweile in die Tausende. »Für die ersten zwölf Genome haben wir 17 Jahre gebraucht«, sagt Peter Pohl, Geschäftsführer von GATC Biotech, des in Konstanz ansässigen Marktführers unter den Sequenzierdienstleistern in Europa, und für die nächsten 2000 Genome fünf Jahre. Und für die »nächsten 20 000 Genome werden wir keine zwei Jahre mehr brauchen, schätze ich«. Gleichzeitig erarbeitete die Bioinformatik immer bessere Software-Instrumente, um Ordnung in die ungeheuren Datenmengen zu bringen, die mit diesen Methoden produziert werden.
In nahezu allen Bereichen der Lebenswissenschaften haben sich diese Technologien zu unentbehrlichen Hilfsmitteln entwickelt, und nun sorgen sie für bahnbrechende neue Erkenntnisse, mit denen, zumindest in der Öffentlichkeit, niemand gerechnet hat. Der enorme, innerhalb nur weniger Jahre erzielte technische Fortschritt ermöglicht heute Forschungsansätze, die früher unmöglich erschienen, zum Beispiel die Metagenomik. Sie hat nicht mehr nur die Sequenzierung einzelner Genome im Blick, sondern analysiert die DNA ganzer Organismengemeinschaften. Untersucht werden die Genome aller Lebewesen, die in einer bestimmten Umweltprobe enthalten sind, in einem Liter Meereswasser, im Bodensediment eines Sees oder im Stuhl eines Menschen – eine ideale Methode zur Untersuchung von Mikrobengemeinschaften.
Früher musste man Bakterien kultivieren, um ihre Eigenschaften und Fähigkeiten untersuchen zu können. Die Forscher überführten sie aus ihrem natürlichen Lebensraum ins Labor und versuchten, die Zellen auf speziellen Nährmedien am Leben zu erhalten und, wenn möglich, zu vermehren. Mikrobiologen brachten es dabei zu einiger Meisterschaft. Schon bei den ersten metagenomischen Analysen tauchten jedoch viele DNA-Sequenzen auf, die in keiner Datenbank verzeichnet waren. Heute schätzen Experten, dass sich nicht einmal ein Prozent der Mikrobenarten kultivieren lässt. Bei einer metagenomischen Analyse werden möglichst alle Zellen, die sich in einer Umweltprobe befinden, zerstört, ihre frei gewordene DNA wird extrahiert und gereinigt und anschließend analysiert. Ob die Zellen kultivierbar sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. »Die moderne Erforschung der mikrobiellen Vielfalt«, stellt der amerikanische Botaniker und Pilzexperte Nicholas Money fest, »hat das Mikroskop durch automatische Sequenzierer ersetzt.«
Mit diesen und anderen molekularbiologischen Methoden gelingt es Forschern erstmals, einen Eindruck von der tatsächlichen Vielfalt der Mikroben zu erlangen, von ihrer atemberaubenden Omnipräsenz in Böden, in den Meeren, unter den Eismassen der Antarktis sowie in und an anderen Lebewesen. Im Gestein kilometertief unter dem Meeresboden, dem größten Lebensraum der Erde, werden nach jüngsten Schätzungen zwei Drittel der gesamten Biomasse des Planeten vermutet. Anders als von Jules Verne in seinem Roman 20 000 Meilen unter dem Meer ausgemalt, wird sie nicht von höhlenlebenden Riesenechsen und anderen Ungetümen gebildet, sondern ausschließlich von winzigen Mikroben. Und während diese »tiefe Biosphäre« die globale Verteilung von Kohlenstoff und Schwefel beeinflusst, betätigen sich Luftbewohner hoch oben in der Troposphäre, wo unsere Flugzeuge ihre Bahnen ziehen, als Klimaköche und tragen zur Wolkenbildung bei. Der Planet Erde, darüber kann kein Zweifel bestehen, ist eine Mikrobenwelt.
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Besonders drastisch fällt die Korrektur alter Vorstellungen bezüglich der Ozeane aus, dort, wo mikrobielles Leben vor drei bis vier Milliarden Jahren entstanden sein könnte. Waren vor dem Census of Marine Life, einer groß angelegten Bestandsaufnahme ozeanischen Lebens, etwa 20