Über das Buch

Insbesondere dort, wo Polizei- und Sozialarbeit zusammenkommen, setzt Lana Atakisieva sich ein. Wo Menschen manchmal mit den besten Absichten Straftaten begehen.
Ihre persönlichen Erfahrungen als junge Migrantin in Deutschland haben sie sensibilisiert für die individuellen Lebensrealitäten, mit denen sie tagtäglich in der Polizeiarbeit konfrontiert wird. Die Polizistin erzählt bewegend von ihren spannendsten Einsätzen, aber auch von ihrer Familiengeschichte.

Lana Atakisieva

Nachtschicht in Neukölln

Eine Polizistin erzählt

hanserblau

Inhalt

Prolog

1    Das gelobte Land

2    Die Nacht und die Straße

3    Eine andere Welt

4    Gefangen

5    Fifty-fifty

6    Toilettenterror

7    Verboten

8    Nirvana

9    Ein Verdacht

10    Die Entscheidung

11    Aus dem Fenster

12    Hinter der Fassade

13    Eine heimliche Katastrophe

14    Stark bleiben

15    Der Mann mit dem Messer

16    Trotzdem

17    »Ich bin Ghetto«

18    Die Neue

19    Vaterliebe

20    Eine von uns

Epilog

Danksagung

Für meine Eltern und meine Schwester Sevana

Prolog

»Wir kommen jetzt rein«, sagt Ferhat. Er klingt sehr entschieden. Tobias, Sema und Julian tauschen Blicke aus. »Achte auf das Mädel in der Küche«, flüstert Tobias mir ins Ohr, und dann gehen wir rein.

Jetzt sehe ich sie. Sechzehn oder siebzehn, ein zartes Gesicht, kein Kopftuch auf den schwarzen Haaren. Das verwundert mich nicht, die Familie hat nicht mit Besuch gerechnet, schon gar nicht mit fünf Polizistinnen und Polizisten. Der Vater wollte uns erst gar nicht reinlassen, weil seine Frau und Tochter ihre Köpfe nicht bedeckt hielten, wie es sich eigentlich gehört, wenn fremde Männer sie sehen. Er hat uns auch gebeten, die Schuhe auszuziehen, so ist es in vielen muslimischen Haushalten, um den Boden, auf dem gebetet wird, sauber zu halten. Wir müssen unsere Stiefel allerdings anbehalten, um jederzeit einsatzbereit zu sein.

Das Mädchen verschwindet fast hinter dem breiten Rücken des Vaters und gibt keinen Ton von sich. Aber ich sehe ihre Augen und bin sofort alarmiert — die pure Angst. Sie sieht aus, als würde sie im nächsten Moment umkippen. Ihr Vater steht vor ihr wie eine Mauer.

»Wir möchten gerne kurz mit Ihrer Tochter sprechen«, sage ich.

»Warum? Ihr geht es gut. Ich verstehe nicht, was das soll.« Maximale Härte liegt plötzlich in seiner Stimme.

Doch die junge Frau, die den Notruf gewählt hat, hat dem Kollegen gesagt, sie fürchte um ihr Leben — und jetzt sind wir hier, um unseren Job zu machen.

»Wir möchten uns einfach vergewissern, dass alles in Ordnung ist«, erkläre ich dem Mann, der in T-Shirt und Pluderhose vor mir steht. Mir fällt ein, dass ich ihn erst letztens gesehen habe. Er war einer der Beteiligten eines Verkehrsunfalls, den ich aufgenommen habe. Nach einigen Jahren auf diesem Abschnitt sehe ich oft Gesichter, die ich schon kenne, Menschen, denen ich bereits begegnet bin. Er spricht perfekt Deutsch.

Die Kollegen unterhalten sich mit ihm. Sema schließt die Küchentür und lächelt das Mädchen an, wir setzen uns. Meine türkische Kollegin hat warme braune Augen, und obwohl die Uniform, die Schutzweste, die Pistole und der Rettungsmehrzweckstock, auch Tonfa genannt, nicht gerade flauschig wirken, strahlt sie Freundlichkeit aus. Sie hat die Gabe, dass Menschen sich in ihrer Anwesenheit sicher fühlen und ihr vertrauen. Manche denken, als Polizistin müsste man übermäßig ernst und streng sein, gerade als Frau, aber das stimmt nicht. Vertrauen und Mitgefühl wirken wie ein beruhigender Zaubertrank.

»Setz dich erst mal hin«, sage ich zu dem Mädchen. »Du erzählst uns, was los ist, und wir tun unser Bestes, um dir zu helfen.«

Sie hört endlich auf zu zittern und schaut mich an. »Bitte schreiben Sie keine Anzeige gegen meinen Vater«, fleht sie.

»Das kann ich dir leider nicht versprechen, denn das hängt davon ab, was passiert ist. Wir sind hier, um dir zu helfen«, erkläre ich. »Du hängst sehr an deinen Eltern, oder?«

Sie schluchzt und nickt.

Ich stehe auf. Einer der Küchenschränke ist geöffnet. Die Gläser sind fein säuberlich nach Art und Größe geordnet. In dieser Küche liegt nirgendwo ein Staubkörnchen herum. Kurz denke ich daran, dass vermutlich die Mutter und die Tochter hier für Ordnung sorgen.

Ich nehme ein Glas, drehe den Wasserhahn auf, befülle es und stelle es vor dem Mädchen ab. Sie trinkt zwar einen Schluck, aber sie sagt nichts. Ihr Gesicht verzieht sich und sie legt eine Hand auf ihren Magen, atmet stoßweise. Es ist nicht zu übersehen, dass sie Schmerzen hat.

»Ist etwas mit deinem Magen?«, frage ich.

Sie nickt.

»Hast du das öfter?«

Sie nickt wieder.

»Warst du mal beim Arzt?«

Jetzt schüttelt sie den Kopf.

»Meine Eltern haben nie Zeit, und alleine darf ich nicht.«

Draußen vor der Küchentür höre ich die Stimmen meiner Kollegen, die beruhigend auf ihren Vater einwirken. Seine Worte verstehe ich nicht, aber sein Ärger ist nicht zu überhören. Aber ich bleibe in der Küche, ich will hier nicht weg, bevor ich weiß, warum seine Tochter so viel Angst hat.

Plötzlich sprudelt es aus ihr heraus: »Ich kann einfach nicht mehr. Ich habe gar kein Leben. Ich muss alles machen, was mein Vater sagt. Vor zwei Wochen hat er mir verboten, weiter zur Schule zu gehen.«

Sie sei eine gute Schülerin, auf dem Gymnasium in der zwölften Klasse. Biologie und Chemie seien ihre Lieblingsfächer. Wenn sie es sich aussuchen könnte, würde sie Medizin studieren. Aber nun dürfe sie nicht mal mehr das Haus ohne die Begleitung ihres Bruders verlassen. »Ich darf überhaupt nichts. Ich darf keine normale Musik hören. Nur islamische Lieder.«

Ich weiß genau, wovon sie spricht. Eine Tante von mir lebt so, sie ist nach Istanbul gezogen. Nach diesen Wertvorstellungen ist Fernsehen Sünde, Popmusik ist Sünde, und wenn sie einem Mann in die Augen schaut, dann gilt das erst recht als Sünde. Es ist der strenge Glaube und kein Kind kann sich dem entgegenstellen. Ganz egal, ob die Familie in Istanbul oder in Berlin-Neukölln lebt.

»Und was ist heute passiert, warum hast du uns angerufen?«

»Meine Mutter hat herausgefunden, dass ich Facebook und TikTok auf dem Handy habe. Sie wird es meinem Vater sagen, und dann …«, sie schluchzt verzweifelt. »Mein Vater wird mich umbringen. Wegen der Schande.«

Sema schaut mich besorgt an. Wir wissen beide, dass das Mädchen tatsächlich in Gefahr sein könnte. Eine Frau darf die Ehre der Familie nicht beschmutzen. Wenn sie es tut, kann das ihren Tod bedeuten. Bei Ehrenmorden geht es oft um Beziehungen. Aber auch dann, wenn ein Mädchen lediglich ein paar Apps auf dem Handy hat, können die Konsequenzen für sie dramatisch sein.

»Wenn du sagst, dass dein Vater dich umbringt, müssen wir dich mitnehmen. Verstehst du?«

»Aber … Ich kann doch nicht weg«, sagt das Mädchen und schaut uns verzweifelt an.

»Unter diesen Umständen können wir dich nicht hierlassen. Wir bringen dich vorübergehend zum Jugendnotdienst, dann wird das Jugendamt eingeschaltet. Da gibt es Menschen, die dir helfen werden. Wenn du hier wirklich in Gefahr bist, darfst du keinen Kontakt mehr zu deiner Familie haben.«

Sie senkt den Kopf, eine seidige Haarsträhne streift ihre Wange und eine Träne tropft auf den Küchentisch.

Ich weiß, wie groß ihr Kummer in diesem Moment sein muss, und denke daran, wie ich damals von meinen Eltern weggegangen bin — heimlich, um aus der Enge und Strenge auszubrechen. Ich denke daran zurück, wie schwer es mir gefallen ist, weil ich meine Eltern über alles liebe. Mein Vater hätte mir nie ein Haar gekrümmt, aber ich war neunzehn und habe es nicht mehr ertragen, zu keiner Party gehen zu dürfen. Ich denke an dieses Gefühl, das ich hatte, weil für mich vieles verboten war, was für die Mädchen aus meiner Klasse ganz normal war. Nicht mal einen Freund durfte ich haben. Ich wollte einfach nur dazugehören. Damals hatte ich wirklich Angst, dass Freiheit in meinem Leben bloß ein Wort bleiben würde. Ich verstehe, was in dem Mädchen vorgeht, das mir hier gegenübersitzt, und ich lese in Semas Gesicht, dass auch sie mitfühlt.

»Mein Vater will mich verheiraten, aber dann habe ich einen Ehemann, den ich nicht liebe und alles ist genauso wie jetzt. Ich werde kein eigenes Leben haben, und ich werde nie glücklich sein. Dann bin ich zwar weg von meinen Eltern, aber was bringt mir das, wenn ich tun muss, was mein Mann sagt?«

Auch diese Gedanken kann ich nachvollziehen. So wie es momentan aussieht, werden wir das Mädchen mitnehmen müssen. Die Situation in der Wohnung lässt sich ausgesprochen schwer einschätzen.

»Was wird passieren, wenn du bleibst?«

»Ich weiß es nicht, ich habe solche Angst.«

»Und wenn wir dich mitnehmen?«

»Mein Vater wird ausrasten. Mein Bruder auch.«

Ich muss gar nicht mit meiner Kollegin reden, ein Blick genügt und ich weiß, dass wir dasselbe denken. Das Mädchen ist total verängstigt und kann ihr Problem nicht allein lösen. Damit steht unsere Entscheidung fest, wir werden sie mitnehmen und müssen darauf vorbereitet sein, dass Vater und Bruder sich dem widersetzen werden. Sema nickt mir zu und informiert die Kollegen im Flur. Wir fordern Verstärkung an. Fünf Minuten später trifft eine weitere Funkwagenbesatzung ein. »Meine Tochter, meine Tochter!«, schreit die Mutter verzweifelt. Dann wirft sie sich auf die Knie und umklammert die Beine der Siebzehnjährigen.

Die Tür des Kinderzimmers geht auf und zwei Mädchengesichter schauen mit erschrockenen Augen dabei zu, was vor sich geht. Die beiden Kleinen sind höchstens sechs Jahre alt.

»Abla, geh nicht, bitte geh nicht!« Die kleinen Schwestern weinen bitterlich und flüchten sich in die Arme ihrer Mutter. Der Vater möchte zu seiner großen Tochter, er macht einen Schritt auf uns zu, aber das können wir nicht riskieren und die Kollegen müssen ihn zurückhalten.

Ich sehe, dass auch er weint. Ich bin überrascht: Er ist nicht wütend, sondern tieftraurig. Seine Tochter, die er liebt, die jahrelang getan hat, was er von ihr verlangte, hat die Polizei gerufen. Seine Tochter ist bereit, der Familie den Rücken zu kehren. Diese Erkenntnis scheint in diesen Sekunden einzusickern. Ich kann ihm ansehen, wie groß der Schmerz ist.

Das Mädchen, ihre kleinen Schwestern und ihre Mutter umklammern einander schluchzend. Ich fühle mit dieser Familie, das Ganze ist ein furchtbares emotionales Chaos. Die Tradition von Generationen löscht man nicht mit einem Gespräch aus.

Wir reden mit dem Vater, der Mutter, dem Mädchen und schließlich vereinbaren wir, dass das Mädchen kurzfristig mit zum Jugendnotdienst kommt. Dann soll in Ruhe entschieden werden, wie es weitergeht.

Im Streifenwagen sitze ich neben ihr und spüre, dass sie wieder zittert. Wir fahren zum Polizeiabschnitt. Hier in Berlin ist das die Bezeichnung für eine Dienststelle, die man woanders Polizeiinspektion nennen würde. Ich nehme das Mädchen mit in einen separaten Raum, damit wir ein bisschen Ruhe haben. Ein Kollege kümmert sich um die Schreibarbeit und tätigt ein paar Anrufe, bevor wir uns wieder in den Wagen setzen und weiter zum Jugendnotdienst fahren. Es ist kurz nach vier am Nachmittag. Mein letzter Tagesdienst in dieser Woche, morgen habe ich Nachtschicht.

Vor uns an der Ampel röhrt ein aufgemotzter weißer AMG-Mercedes. Die Gehwege sind voller Menschen. Ein hippes junges Pärchen geht Hand in Hand vorbei an ein paar Frauen mit Kopftüchern, die Einkäufe und quengelnde Kinder nach Hause tragen. An einer Fassade voller Plakate und Graffiti lehnt mit halb geschlossenen Lidern ein Obdachloser, dem gleich die leere Wodkaflasche aus den Fingern gleitet. Wir fahren vorbei an Handyläden und einem leerstehenden Gebäude, dessen riesige Fensterfronten jetzt mit dunkler Folie verklebt sind. Am Platz vor dem Rathaus, wo wie jeden Tag Männer in Grüppchen zusammensitzen, schießen ein paar Touristinnen und Touristen Fotos.

Das Mädchen neben mir schaut aus dem Fenster, und ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt etwas von dem Neuköllner Mischmasch wahrnimmt, der dieses Viertel so besonders macht. Sie sieht erschöpft aus, aber das Zittern hat aufgehört.

»Ich glaube, ich habe das Richtige getan«, sagt sie leise. »Danke, dass ihr mir geholfen habt. Ohne euch hätte ich das nicht geschafft.«

Ich lächle sie an. Ich bin froh, dass sie sich mit ihrer Entscheidung wohlfühlt. Zumindest in diesem Moment. Wie es am nächsten Tag weitergeht, weiß niemand.

»Schau mal, das ist meine Dienst-E-Mail«, sage ich. »Schreib mir, wenn du Fragen hast oder irgendein Problem, ja?« Das biete ich nicht sehr oft an, denn wir haben so viel zu tun, dass es einfach nicht möglich ist, persönlichen Kontakt zu halten. Wir sind Schutzpolizistinnen und -polizisten, wir sind häufig mit dem Funkstreifenwagen im Einsatz. Bei manchen Einsätzen ist höchste Eile geboten. In diesen Fällen fahren wir mit eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn zum Einsatzort. Immer wieder haben wir mit unterschiedlichen Menschen zu tun. Wir sehen sie nur für Momente oder für wenige Stunden. Was danach mit ihnen passiert, erfahren wir häufig nicht. Aber ich möchte, dass dieses Mädchen weiß, dass da jemand ist, an den sie sich wenden kann, wenn sie nicht weiterweiß.

Beim Jugendnotdienst öffnet uns ein älterer Herr und nimmt das Mädchen freundlich in Empfang. Sie wird hungrig und müde sein und er wird sich um sie kümmern. Mein Kollege und ich bleiben stehen, bis die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen ist.

Zurück auf dem Abschnitt wartet auf uns die Schreibarbeit, die nicht liegen bleiben sollte. An manchen Tagen sitze ich Stunden am Computer, manchmal nur Minuten, manchmal ist gar nichts zu schreiben. Man weiß nie, was die Einsätze erfordern.

»Du hattest die Situation gut im Griff, Lana«, lobt Ferhat. »Wie du mit ihr gesprochen hast! Zu meiner Tochter dürftest du nicht kommen. Die muss religiös aufwachsen.« Er zwinkert mir zu. Wir lachen. Alle wissen, dass er niemals so streng mit seinen Kindern wäre.

»Wie hast du es hingekriegt, dass das Mädchen am Ende mitgekommen ist?«, fragt Tobias.

»Ich habe ihr erzählt, wie das bei mir war, als ich in ihrem Alter war. Dass auch ich meine Eltern verlassen musste.«

Tobias sieht mich erstaunt an. Wir kennen uns noch nicht so lange, er weiß nur, dass ich aus Aserbaidschan komme, viel mehr nicht, und ich sehe ihm an, dass er auf einmal ganz viele Fragen hat.

»War es bei dir echt genauso?«

»Nicht ganz«, sage ich. »Aber meine Eltern waren auch streng, und irgendwann habe ich es da nicht mehr ausgehalten.«

1    Das gelobte Land

Als ich nach Deutschland kam, war ich gerade fünfzehn Jahre alt geworden. Es war ein strahlender Tag, an dem ich meine Heimat verließ. Das blauweiß lackierte Flugzeug schimmerte in der Sonne. Die Luft war klar und trocken, der Himmel überirdisch blau. Ich war furchtbar aufgeregt. Die erste Flugreise meines Lebens, bisher waren wir in den Ferien immer nur mit dem Bus an den Strand gefahren, zu den Wellen des Kaspischen Meeres, das nur eine Viertelstunde von unserem zu Hause entfernt lag.

Meine Mutter, meine Schwester Sevana und ich standen auf dem Rollfeld und warteten darauf, dass sich die vielen Beine vor uns die Gangway hochschoben. Sevana war sechzehn. Wir hatten uns Highheels angezogen und zu unseren Röcken Oberteile aus Samt — fein gemacht wie für eine Hochzeit, doch wir waren auf dem Weg nach Deutschland, weil unsere Mutter krank war. So krank, dass sie hier in Baku sterben würde.

»Ihr müsst jetzt für sie da sein«, hatte mein Vater gesagt, als wir uns verabschiedet haben. »In Berlin gibt es gute Ärzte, die werden ihr helfen.«

Nachdem der Zustand meiner Mutter wenige Wochen vor der Abreise erneut so dramatisch gewesen war, dass sie auf die Intensivstation verlegt werden musste, hatten meine Eltern die Entscheidung getroffen, dass meine Mutter nach Deutschland reisen müsse. Da gab es eine Bekannte, die uns besucht hatte. Eine Aserbaidschanerin, die schon in jungen Jahren nach Deutschland ausgewandert war. Sie hatte versprochen, meinen Eltern zu helfen. Alles, was sie von diesem Land erzählte, klang unheimlich verlockend. Es gäbe Menschen, die nicht arbeiteten, aber ordentlich Geld von der Regierung bekämen. Die, die arbeiten, würden außerordentlich gut verdienen. Es gäbe hervorragende Schulen. Genauso die Krankenhäuser, und Ärztinnen und Ärtze behandelten jeden, egal ob arm oder reich. Sie sprach von einem Gesundheitssystem, das die Kosten übernehme. Niemand in Deutschland müsse seinen letzten Cent für Behandlungen opfern. Dort könnte meine Mutter vielleicht geheilt werden. Und mein Vater müsste nicht mehr jeden Arztbesuch, jeden Krankenhausaufenthalt teuer bezahlen, wie es hier in Baku der Fall war, seitdem ich denken kann. Das war unsere Hoffnung.

Im Flugzeug war es angenehm kühl. Es roch nach Kunststoff und Parfüm. Eine Stewardess mit perfektem Make-up begrüßte uns lächelnd. Ich fand sie unglaublich elegant. Sie sah für mich nach großer weiter Welt aus. Es fühlte sich prickelnd an, aber nur für einen Moment. Dann stöhnte meine Mutter leise auf. »Ich muss mich setzen«, und sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich kurz nicht auf sie geachtet hatte.

»Gleich, Mama«, sagte ich und führte sie zu dem Sitz, auf den die Stewardess wies.

Meine Mutter hat Diabetes. Früher hatte sie als Krankenschwester gearbeitet, aber das konnte sie seit Jahren nicht mehr tun. Meine Schwester und ich wussten, dass meine Mutter Zuckerlösung trinken sollte, wenn sie sich schlecht fühlte. Wie viel, wussten wir jedoch nicht. Es gab in Baku keine Messgeräte, mit denen Mama zu Hause oder unterwegs feststellen konnte, wie hoch ihr Blutzucker war. Jedes Mal, wenn sie ihren Zucker messen wollte, musste sie zum Arzt oder ins Krankenhaus fahren. Durch die Krankheit sind ihre Augen über die Jahre immer schlechter geworden. Meine Mutter wusste, wenn sie leben wollte, musste sie endlich eine vernünftige medizinische Behandlung bekommen. Das war ihr vollkommen klar, sie hatte schließlich selbst eine medizinische Ausbildung.

Mein Vater blieb in Baku zurück, um zu arbeiten. Also war die Entscheidung gefallen, dass meine Schwester und ich gemeinsam mit Mama nach Deutschland gehen sollten. Es zählte nicht, dass wir unsere Freundinnen und Freunde und die vielen Cousinen und Cousins zurücklassen mussten. Alleine würde meine Mutter es nicht schaffen.

Mein Vater war Goldschmied und in Aserbaidschan war das ein sehr guter Beruf, schließlich wurde sehr viel geheiratet. Zur Tradition zählt dabei, dass die Gäste dem Brautpaar Goldschmuck schenken. Mein Vater hatte also ein sicheres Einkommen, es würde reichen, dachten wir; wir ahnten damals alle nicht, was uns in Deutschland wirklich erwarten würde. Die Versprechungen der Bekannten hielten meine Eltern allerdings damals schon für übertrieben.

»In Deutschland ist alles viel teurer«, hatte meine Mutter prophezeit, als wir unsere Koffer gepackt haben. »Wir werden da nichts mehr kaufen können.«

Nach sieben Stunden und einem Zwischenstopp in Istanbul stiegen wir in Berlin aus dem Flugzeug. Der Flughafen kam mir kleiner vor als der in Baku, der Himmel grauer, aber immerhin war es auch hier warm. Als wir das Flughafengebäude durch die Glastüren verließen, sah sich meine Mutter suchend um. Die Bekannte hatte versprochen, uns abzuholen. Es wimmelte von hektischen Männern in grauen Anzügen, die ihre Rollkoffer zu hellgelben Taxis zogen. Eine Frau stieg aus einem schwarzen Mercedes und winkte uns zu.

»Hallo, hier bin ich!« Unsere Abholerin Leyla. In einem eigenen Auto, und noch dazu einem Mercedes! In Baku sah man nie Frauen am Steuer. Ihr Wagen hatte sogar eine Klimaanlage. Meine Schwester und ich kniffen uns vor Freude gegenseitig in die Arme, während wir über eine Autobahn glitten wie auf Schienen, an wirklich modernen und schönen Häusern vorbeifuhren und schließlich in eine Allee einbogen, die von Villen und Bäumen gesäumt war. Das hier ist also Berlin, dachte ich. Was für eine Stadt.

»Willkommen im Grunewald«, sagte unsere Bekannte, lächelte und öffnete die Tür ihrer Wohnung.

Alles war großzügig und hell. Ihre beiden Töchter waren jünger als wir, vielleicht acht und zehn, aber sie trugen Markenjeans und hatten riesige Kinderzimmer mit Unmengen an Spielzeug. An den Wänden hingen Poster. So etwas hatten wir in Baku gar nicht. Ich musste an die kargen Wände unserer alten Wohnung denken, an den hellblauen Teddy, der so ziemlich mein einziges Spielzeug war. Wow, dachte ich. Wow. Hier war wirklich alles anders. Wir waren im gelobten Land angekommen.

»Heute melden wir euch bei der Schule an«, kündigte unsere Gastgeberin eines Morgens an. »Und dann zieht ihr in eure neue Wohnung. Ich habe was in Zehlendorf für euch gefunden.«

Wir hatten keine Ahnung, wo Zehlendorf sein könnte, wir waren schließlich erst ein paar Tage in der Stadt. Außerdem hatten wir keine Möbel, aber sie versprach, uns welche zu besorgen. Für ein bisschen Geld, sie würde tun, was sie könne. »Ihr braucht ja alles!«, seufzte sie, und es klang, als würde das ein Vermögen kosten.

Wir mussten auch die Medikamente für meine Mutter zahlen, meine Mutter und Leyla waren gemeinsam beim Arzt gewesen und hatten ein Rezept für Insulin bekommen. Die Bekannte hatte es in der Apotheke abgeholt. Das Präparat war zwar sehr teuer, aber seitdem Mama es spritzte, ging es ihr viel besser.

Wir wussten damals noch nicht, dass die Krankenkasse solche Kosten übernahm. Ich war erleichtert über ihren sich bessernden Zustand. Unser Leben schien sich zum Guten zu wenden, und ich hoffte, dass wir uns gut einleben würden. Aber vor einer Sache hatte ich ziemliche Angst, und das war die Schule. Ich konnte ja kein Wort Deutsch.

»Wie sollen wir bloß da hinfinden?«, fragte ich Sevana, als wir Tage später im Bus saßen. Meine Schwester zuckte genervt mit den Schultern.

»Du hast doch die Adresse, frag halt irgendjemanden«, sagte sie, obwohl sie genau wusste, dass ich die Antwort sowieso nicht verstehen würde, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten würde, dass ich mich verständlich machen könnte.

Ich starrte auf den Zettel, den ich in der Hand hielt. Leistikow-Oberschule. Aussteigen U-Bahn-Haltestelle Krumme Lanke!!! Mit drei Ausrufezeichen. Die Bekannte hatte uns erzählt, dass wir auf eine Hauptschule gehen würden. Hauptschule, versteht ihr? Wie Hauptsache, das Wesentliche, das Rückgrat des deutschen Schulsystems —was richtig Gutes. Dass es in Wirklichkeit anders ist, ganz unten — das verstanden wir erst viel später.

»Guck mal, die kann uns bestimmt den Weg zeigen!«, sagte Sevana und winkte einem Mädchen zu, das uns entgegenkam. Braids, ein nettes Grinsen, ungefähr so alt wie wir.

»Äh … Schule«, sagte ich, machte ein ratloses Gesicht und hob die Hände. Das Mädchen lachte, bestimmt hatte ich etwas falsch ausgesprochen, aber sie machte ermutigende Handzeichen.

Eine ältere Frau auf dem Fahrrad überholte uns.

»Guten Morgen, Maria!«, rief sie dem Mädchen zu.

»Frau Walden. Lehrerin!«, sagte Maria erklärend. Sevana und ich schauten fasziniert zu, wie Frau Walden ihr Rad abstellte. Eine Frau auf einem Fahrrad! Sevana und ich hatten nie Radfahren gelernt. Das war nichts für Mädchen und Frauen. Sie fuhren einfach nicht Fahrrad — so kannten wir es. Einmal hatte unser Vater uns Inlineskates mitgebracht. Aus Russland. Sie machten furchtbar laute Geräusche, weil die Rollen aus ganz einfachem Plastik waren. Aber ein Fahrrad? Undenkbar.

Der Schulhof war voll, laut und chaotisch. Sevana zupfte an meinem Ärmel und flüsterte: »Hast du das gesehen?«

Ich fand alles, was ich sah, total irre. Wie diese Mädchen aussahen! Bauchfrei — und sie hatten Jeans an, die so tief auf der Hüfte saßen, dass man einfach alles sehen konnte, bei einer schaute sogar ein Stück von ihrem Spitzenhöschen hervor. In unserer alten Schule in Baku mussten wir schwarze Kleider mit weißen Schürzen tragen. Die hatten wir im Handarbeitsunterricht selbst genäht. Und jetzt das hier! Die Mädchen waren sogar geschminkt. Mit Lippenstift. Das hätte unsere Mutter uns niemals erlaubt. Wir durften uns nicht einmal die Augenbrauen zupfen. Das war nur den Verheirateten erlaubt. Schon als Kind erkannte ich auf der Straße an den Augenbrauen, ob eine Frau ledig oder verheiratet war.

In der Förderklasse, wo wir in Marias Schlepptau hinfanden, sahen die Kinder anders aus. Sie zeigten nicht ganz so viel Haut wie die deutschen Mädchen. Ein paar Jungs aus Angola im farbenprächtigen Hip-Hop-Style. Mädchen in T-Shirts mit Glitzeraufdruck, sie kamen aus Russland. Ich hörte es sofort, weil Russisch die erste Fremdsprache in unserer Schule in Baku war, ein Relikt aus der Zeit, als Aserbaidschan zur Sowjetunion gehörte. Und mittendrin saßen wir, in unseren schimmernden Samthosen aus Baku und dazu ausrangierten langärmligen Hemden, die uns unsere Gastgeberin gegeben hat, weil wir viel zu wenig warme Sachen hatten.

Sie hatte uns mit lauter ollem Kram ausstaffiert. Auch die Möbel, die wir bekommen hatten, waren wackelig und rochen muffig. Die Bettwäsche war so alt, dass man nicht genau sagen konnte, ob das Muster rosa Blumen oder rosa Elefanten darstellen sollte. Aber unsere Mutter meinte, es würde alles entsetzlich viel kosten hier in Deutschland, wir sollten dankbar sein. Sie musste der Bekannten Hunderte von Euro geben und danach hatten wir gerade mal das Nötigste.

»Lana!« Die Lehrerin. Sie sprach ausgerechnet mich an. Ich starrte auf ihre Lippen, aber ich verstand kein Wort. Es war doch unser erster Tag! Wieso dachte sie, dass ich etwas verstehe?

Die Lehrerin legte ein Blatt mit einer Liste vor mir hin. Sevana und ich versuchten ratlos, es zu entziffern.

»Sprecht ihr Russisch?«, fragte das Mädchen neben uns. »Ich kann es euch übersetzen.«

Hefte, Taschenrechner, Pausenbrote und eine Trinkflasche, Stifte, Radiergummi, Sportsachen, Turnschuhe in einem Extra-Turnbeutel. Lauter Dinge, die wir in der Schule brauchen würden. Ich fand es erstaunlich, was da alles draufstand. Sogar frische Unterhosen für nach dem Sport wurden mit aufgelistet und sollten wir dabeihaben. Ich fragte mich, ob wir uns das alles leisten könnten, denn uns war natürlich inzwischen klar geworden, dass hier das Geld nicht auf den Bäumen wächst, aber offenbar wurde erwartet, dass wir alles kauften.

Um Viertel nach eins warteten wir mit einer Horde Schülerinnen und Schülern auf den Bus. Rückblickend war der Tag gar nicht so schlecht gewesen. Maria hatte uns die ganze Schule gezeigt. Wir hatten uns mit Englisch und Händen und Füßen verständigt, was ziemlich lustig war.

Wir stiegen an der Mitteltür ein. Es war eng, ein paar Jungs drängelten sich unsanft an uns vorbei. Auf einmal flog ich einen halben Meter nach vorn und landete an Sevanas Rücken. Jemand hatte mich ziemlich kräftig geschubst. Ich drehte mich um. Ein kräftiges Mädchen, das etwa einen halben Kopf größer war als ich, kaute mit offenem Mund Kaugummi. Ob sie mich geschubst hatte? Ich sagte lieber nichts und hoffte, dass es ein Versehen war. Sevana und ich gingen nach oben und ließen uns auf zwei der vorderen Plätze plumpsen. Ich mochte die Aussicht in den Doppeldecker-Bussen, mit denen wir schon ein paar Mal unterwegs gewesen waren. Das Kaugummi-Mädchen hatte sich zum Glück ganz weit nach hinten zu ihren Freundinnen gesetzt, aber sie tuschelten und schauten uns grimmig an.

»Ey … du Scheiß-Ausländer«, brüllte das Kaugummi-Mädchen plötzlich. »Was glotzt du so?«

Ich verstand, dass sie mir nichts Nettes zurief. »Scheiße« hatte ich sehr schnell aufgeschnappt, alle sagten es, dauernd. Und Ausländer waren wir auf der Behörde, wo unsere Mutter mit uns zur Anmeldung gegangen war. Scheiß-Ausländer hieß nichts Gutes. Das Mädchen und ihre Freundin standen auf und kamen nach vorn.

»Raus aus Deutschland, ihr Schlampen!«, rief die Schubserin und manövrierte viel schneller, als ich es ihr in dem vollen Bus zugetraut hätte, auf uns zu. Dann schlug sie mit den flachen Händen auf mich ein. Ich hob meine Arme vors Gesicht, um die Schläge abzuwehren. Hinter mir schrie Sevana und hinter dem großen Mädchen, das auf mich eindrosch, kreischte ihre Freundin.

Auf einmal hörte die Angreiferin auf zu schlagen. Ich nahm meine Deckung runter und sah, dass eine ältere Frau das Mädchen sehr energisch am Arm gepackt hatte. Wow, dachte ich, ist die mutig! Zwei weitere Frauen waren aufgestanden und redeten lautstark auf das Mädchen ein. Die eine klang streng, die andere beruhigend. Eine andere Frau kam zu mir und fragte, ob ich okay sei. »Okay« verstand ich. Ich hatte wahnsinniges Herzklopfen und die Stelle an meiner Schulter, an der mich der erste Schlag getroffen hatte, schmerzte. Aber ich nickte. Die Frau machte trotzdem ein besorgtes Gesicht. Sie sagte einen Satz, in dem ein Wort vorkam, das ich kannte: Polizei.

Sevana und ich schüttelten den Kopf. Bloß keine Polizei, das fehlte uns noch. So viele Menschen in Baku hatten immer wieder davon geredet, dass man am besten das Weite suchen solle, wenn irgendwo Polizistinnen und Polizisten auftauchen. Ich habe nie verstanden, warum das so war, aber ich erinnerte mich deutlich an die eindringlichen Warnungen. Manchmal würden sie einen auch ins Gefängnis stecken, einfach so. Ich hatte keine Ahnung, wie das hier in Deutschland war. Ob wir nicht noch mehr Ärger bekommen würden, wenn die Polizei käme. Auf jeden Fall wollte ich nicht, dass meine Mutter mitkriegte, was hier passiert war. Sie würde sich furchtbare Sorgen um uns machen.

Ich lehnte meinen Kopf an Sevanas Schulter und weinte. In Baku hatten sie alle so ehrfürchtig über dieses wunderbar sichere Deutschland geredet, es klang, als gäbe es hier weder Gewalt noch Straftaten. Mein Vater, der als junger Sowjet-Soldat in Dresden stationiert gewesen war, schwärmte davon, dass man sogar Fahrräder einfach stehen lassen konnte, ohne sie abzuschließen. Von wegen, dachte ich. Sicherheit? Eine Illusion.

In diesen ersten Wochen in Berlin spielte sich unser Leben hauptsächlich an vier Orten ab. Da war ein Discounter, unsere Anlaufstelle nach der Schule. Dort kauften wir die günstigsten Würstchen im Glas oder Schokopudding mit Sahne und aßen sie zu Mittag, weil unsere Mutter oft zu erschöpft war, um zu kochen.

Der zweite Ort war unsere Zweizimmerwohnung in Zehlendorf.

Der dritte war natürlich die Schule. Maria wurde unsere Freundin. Wir waren froh, sie zu haben, und zum Glück waren auch die Mitschülerinnen und Mitschüler in der Förderklasse in Ordnung. Auf dem Schulhof ging es ziemlich übel her. Die Schülerinnen und Schüler aus den anderen Klassen prügelten sich dauernd. Aber wir aus der Förderklasse standen zusammen wie eine Herde Tiere, in der die Älteren den Jungtieren Schutz gewähren, und weil die Angolaner in unserer Klasse sehr muskulös und kampfbereit aussahen, wagten sich die Schlägerkids an unsere Gruppe nicht heran.

Der vierte Ort war die Wohnung von Leyla, unserer Bekannten, im Grunewald. Hauptsächlich fuhren wir hin, weil unsere Mutter uns darum bat. Sie sagte uns immer wieder, wie dankbar wir sein müssten, weil Leyla uns half. Die Besuche bei ihr waren als Verabredungen mit den Töchtern getarnt. Sie endeten jedoch zuverlässig damit, dass wir dort aufräumten. Weil es unhöflich wäre, der Bekannten diese kleine Bitte abzuschlagen.

Manchmal war Besuch bei der Bekannten, ein Freund der Familie, ein blonder Deutscher. Ich fand, er hatte ein kluges Gesicht und er war freundlich und sprach mit uns, als wären wir erwachsen. Ich bewunderte ihn. Er war ein ranghoher Polizeibeamter beim Landeskriminalamt und er machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich Bilder von einer Lana in Polizeiuniform vor meinem inneren Auge sah. Ich dachte damals, dass dies auf jeden Fall eine Fantasie bleiben würde, denn in der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, wären meine Eltern und ein zukünftiger Ehemann sicher nicht damit einverstanden. Daneben würde ich als Aserbaidschanerin, die der deutschen Sprache nicht mächtig war, niemals angenommen werden.

Wenn wir abends heimkamen, machten wir unsere Hausaufgaben. Abwechselnd setzten wir uns an den Kiefernholzschreibtisch und schrieben unsere Hefte voll.

Sevanas Ding war das nicht. Sie zeichnete für ihr Leben gern, sie wollte unbedingt Mode entwerfen. Die Ränder ihrer Schreibhefte waren voller Zeichnungen von grazilen Models in unterschiedlichen Outfits. Models mit ovalen Gesichtern, riesigen Augen und Lippen, die wunderschön geschminkt waren. Das war es, was meine Schwester interessierte, aber es gelang mir trotzdem, sie zum Lernen zu überreden. Wir beide wollten gute Schülerinnen sein, um unseren Vater, der in Baku hart für uns arbeitete, stolz zu machen.