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Noch nie war für uns Menschen der Begriff Entschleunigung so wertvoll und gleichzeitig so erstrebenswert, wie dies in der heutigen Zeit der Fall ist.
Entschleunigung ist nichts anderes als die gezielte und damit bewusst vorgenommene Verlangsamung von Handlungs-, Informations- und Energieströmen.
Eine Verlangsamung scheint jedoch für immer mehr Menschen immer weniger infrage zu kommen. Um ein soziales, gesellschaftliches und berufliches „Überleben“ gewährleisten zu können, setzen wir Menschen auf völlig gegenteilige Mechanismen. Wir entschleunigen nicht, wir beschleunigen!
Dafür gibt es eine ganze Menge scheinbar guter Gründe: Menschen, die sich nicht an einer Beschleunigung beteiligen, werden schnell mit Vorurteilen konfrontiert. Eigenschaften wie faul, träge, bequem, lustlos, gleichgültig, altmodisch oder interessenlos werden häufig mit Entschleunigung gleichgesetzt. Stattdessen sind die deutlich wohlklingenderen Begriffe wie fleißig, strebsam, tüchtig, aktiv, dynamisch oder tatkräftig vornehmlich unter der Bezeichnung Beschleunigung zu finden. Erster und Bester zu werden, ist ja auch deutlich erstrebenswerter, als Letzter und damit der vermeintlich Schlechtere zu sein. Es sind zudem die Nebenwirkungen unserer modernen, digitalen Welt, die einen erheblichen Beschleunigungsaspekt beinhalten. Ein von Hand geschriebener Brief benötigt einen vergleichsweise hohen zeitlichen Aufwand, bis er geschrieben und verschickt wird, beim Adressaten ankommt, von diesem dann beantwortet und wieder zurückgesendet wird. Es vergehen mindestens zwei bis drei Tage für einen einzigen Informationsaustausch. Digital benötigen wir für einen vergleichbaren Informationsaustausch häufig nur wenige Minuten. Genau aus diesem scheinbaren Vorteil ergibt sich letztlich ein unbestreitbarer Nachteil. Der Informationsaustausch schnellt quantitativ derart in die Höhe, dass wir mittlerweile völlig zu Recht von einer Informationsflut im digitalen Zeitalter sprechen müssen. Diese Flut an Informationen strömt vergleichsweise oberflächlich durch das menschliche Gehirn und beschäftigt es in permanenter Weise. Und obwohl unser Gehirn in der Regel über eine ganz gute selektive Fähigkeit verfügt, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, läuft es den ganzen Tag über auf Hochtouren.
Und was passiert in der Nacht? In der nächtlichen Ruhezeit arbeitet unser Gehirn weiter und verarbeitet fleißig die Geschehnisse, sortiert sie und archiviert sie in wichtigere und in weniger wichtigere „Schubladen“.
© Anna Auerbach/Kosmos
Harmonische Zweisamkeit, außerhalb jeglicher Terminplanung, gilt als einer der Grundsteine in Sachen Lebensqualität.
Das Gehirn des modernen Menschen leistet auf der einen Seite Unglaubliches, auf der anderen Seite kann es aber bei der massenhaften Verarbeitung von Informationen quasi „verlernen“, dass es auch mal Pausen braucht.
Pause bedeutet Abschalten und Abschalten wiederum ist mit Ruhe verbunden.
Schlaflose Nächte bei immer mehr Menschen zeigen deutlich, wie fatal sich mittlerweile fehlende Ruhe und damit auch fehlende Entschleunigung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirken können.
Laut dem DAK-Gesundheitsreport von 2017 sind seit 2010 die Schlafstörungen bei Berufstätigen in Deutschland im Alter zwischen 35 und 65 Jahren um 66 Prozent angestiegen. Mittlerweile geht man sogar davon aus, dass rund 80 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland mehr oder weniger schlecht schlafen.
Das ist eine wahre Aussage, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Wenn unser Gehirn aber nicht mehr in der Lage sein sollte, den Dauerbetrieb unserer Gehirnzellen auf Ruhe zu schalten, müssen wir lernen, Ruhe neu zu programmieren. Beispielsweise durch erzwungene und terminlich verbindliche kleine Auszeiten, die wir – gegen unseren eigentlichen Willen – regelmäßig in das Alltagsgeschehen einfließen lassen. Diese Auszeiten können in wunderbarer Weise auch bei den gemeinsamen Aktivitäten mit unseren Hunden erfolgen.
Das Ihnen vorliegende Buch soll einen Beitrag dazu leisten, sich selbst und auch dem dazugehörenden Vierbeiner durch entschleunigende Aktivitäten zu mehr innerer Ruhe und damit zu einer höheren Lebensqualität zu verhelfen.
Ihr/Ihre
Thomas und Ina Baumann
Wundern Sie sich bitte nicht, wenn im ersten Kapitel weniger der Hund, als vielmehr der hinter dem Hund stehende Mensch in den Fokus tritt. Ein Mensch ist kaum dazu fähig, seinen unruhigen bzw. nervösen Vierbeiner zu mehr innerer Ruhe und Gelassenheit zu bewegen, wenn er nicht selbst mit gutem Beispiel vorangehen kann.
Erfolgreiche Hundetrainer, die viel mit verhaltensauffälligen Hunden zu tun haben, wissen es schon lange: Es ist deutlich weniger sinnvoll, Energien und Kompetenzen ausschließlich in das Training mit dem Hund zu investieren, als geschickt in das Denken und Handeln des Hundehalters einzugreifen.
Ein Hundetrainer muss den passenden „Schlüssel“ und damit den erfolgreichen Zugang zu einer Verhaltensänderung beim Hund suchen, finden und letztlich auch bereitstellen. Diesen „Schlüssel“ kann er nur finden, wenn er seinen Fokus in erster Linie auf das Verhalten des Menschen und dann erst auf das Verhalten des Hundes richtet.
Am Ende ist es ja immer (!) der Hundehalter, der diesen „Schlüssel“ einsetzen muss, um den häufig verschlossenen Zugang zu seinem Vierbeiner erfolgreich öffnen zu können.
Ganz gleich, wie viel Hundetrainer am Verhalten des Hundes eines Kunden persönlich ändern können, es werden weder Zuverlässigkeit noch Beständigkeit in Sachen Verhaltensänderungen erreichbar werden. Um wirklich erfolgreich zu sein, muss der mit dem Hund zusammenlebende Mensch in der Lage sein, die erarbeiteten Trainingspläne zielgerichtet umzusetzen. Eine weitgehende Souveränität und damit innere Ruhe und Gelassenheit gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen, wenn ein Hundehalter das Verhalten seines Vierbeiners langfristig und nachhaltig verändern möchte. Die Vermittlung dieser Eigenschaften sind für einen modernen Hundetrainer wesentlich erfolgsbestimmender, als der geschickte Umgang mit dem Hund des Menschen.
Der Zugang zum Hund führt immer über den passenden Schlüssel, den der Mensch finden muss.
© Anna Auerbach/Kosmos
Der Mensch – und damit der Halter des Hundes – muss überwiegend im Fokus eines Hundetrainers stehen.
Wir nähern uns zunehmend der Zehn-Millionen-Marke, wenn wir über die Anzahl der in Deutschland lebenden Hunde sprechen.
Dieser enorme Zuwachs an sogenannten Familienhunden führt u.a. zu der Frage, ob das moderne und vor allem enge Zusammenleben von Mensch und Hund mit einer Zunahme an Verhaltensauffälligkeiten bei Hunden in Verbindung gebracht werden kann? Die Beantwortung dieser Frage kann gleich sechsmal mit JA erfolgen:
JA, weil das Zusammenleben zwischen Mensch und Hund durch die immer engere soziale Verbundenheit auch konsequenterweise mehr soziale Reibung aufweist. Die allermeisten unserer Hunde leben heute – glücklicherweise – nicht mehr im Zwinger oder in einer Scheune, sondern wohlbehütet und unmittelbar mit ihren Menschen zusammen. Dadurch entstehen allerdings auch mehr Reibungspunkte zwischen Hund und Mensch, als dies früher der Fall war.
JA, weil viele Menschen das Verhalten ihrer Hunde nicht wirklich verstehen und dadurch vieles fehlinterpretieren. Selbst die konstruktive Aggression bei Streitigkeiten zwischen zwei Hunden wird häufig als Tabu betrachtet und strikt unterbunden. Dass aber Aggressionsverhalten ein Kernmerkmal der sozialen Kompetenz darstellt, wird dabei einfach übersehen.
© Anna Auerbach/Kosmos
Der Hund ändert sein Verhalten nur, wenn der Mensch seines ändert.
JA, weil die Angst des Menschen vor Auseinandersetzungen mit dem Hund dessen soziale Entwicklung einschränkt. Hunde werden häufig nicht mehr erzogen. Stattdessen werden mit jeder Menge Tricks und „Tauschgeschäften“ reglementierende Handlungen am Hund vermieden und sogar tabuisiert. Doch konstruktiv gestaltete Auseinandersetzungen zwischen zwei Beziehungspartnern sind für die Beziehungsqualität elementar! Wir Menschen streiten auch mit unseren zweibeinigen Beziehungspartnern und haben im Rahmen dieser Auseinandersetzungen gelernt, unsere Positionen im Streitgespräch so zu vermitteln, dass sie durch unseren Partner zumindest respektiert werden. Umgekehrt haben wir auch gelernt, dass wir die Positionen unseres Partners zu respektieren haben. Nur so geht Beziehung! Viele unserer vierbeinigen Sozialpartner zeigen in dieser Hinsicht Beziehungsdefizite, weil der Mensch sich nicht (zu-)traut, seine Position im begründeten Einzelfall gegenüber dem Hund souverän durchzusetzen.
JA, weil der Mensch noch immer nicht weiß, dass Hunde zwischen 16 und 18 Stunden am Tag Ruhe haben sollten. Galten noch vor 20 Jahren sehr viele verhaltensauffällige Hunde als unterfordert, treffen wir heute auf eine überwiegende Anzahl problematischer Hunde, die offensichtlich als überfordert gelten müssen. Ein Hundehalter hat kaum ein schlechtes Gewissen, wenn er seinem Vierbeiner den ganzen Tag über vermeintlich Gutes tut, indem er ihn permanent beschäftigt und nicht nur damit ständig auf Trab hält. Das schlechte Gewissen ist aber sofort gegenwärtig, sollte mal – aus welchen Gründen auch immer – ein Spaziergang mit dem Hund ausfallen. Viele Zweibeiner müssen da einfach umdenken.
JA, weil Hunde immer aktiv glücklich sein müssen und bloße Zufriedenheit als nicht ausreichend angesehen wird! Viele Menschen scheinen an einem aktiven Hund viel mehr Freude zu haben, als an einem zufrieden herumliegenden Vierbeiner.
JA, weil vor allem der ideologische Methodenstreit in der Hundeerziehung wenig nützlich ist und viel verwirrt! Hier treffen wir auf deutliche Parallelen zur Kindererziehung, bei der ja auch unterschiedliche Erziehungsstile ohne klares Ergebnis seit vielen Jahren diskutiert werden.
© Anna Auerbach/Kosmos
Ein mit seinem Mensch sozial verbundener Hund …
© Anna Auerbach/Kosmos
… hat vor allem dann eine hohe Lebensqualität, …
© Anna Auerbach/Kosmos
… wenn „sein“ Mensch weitestgehend authentisch ist.
Dann wäre da noch der alltägliche Stress. Er gilt als der hauptsächliche „Killer“ unserer Lebensqualität. Dabei ist ja Stress an sich nichts Schlimmes, vorausgesetzt, die Dosis stimmt. Zu viel Stress jedoch verhindert emotionale Zufriedenheit, lässt uns nicht wirklich zur Ruhe kommen, sorgt für Schlaflosigkeit und macht uns letztlich sogar organisch krank. Da geht es unseren vierbeinigen Sozialpartnern keineswegs besser als uns Menschen.
Einfach gar nichts mehr tun, um dem Stress aus dem Weg zu gehen, funktioniert allerdings ebenso wenig – weder bei einem Mensch, noch bei einem Hund. Denn auch Untätigkeit kann Stress auslösen, weil aktives Tun notwendig ist, um innere Zufriedenheit und damit Lebensqualität zu erreichen. Wir brauchen Stress zudem für den Erhalt unseres Organsystems. Nichtstun ist damit nicht gut und zu viel tun ist auch nicht gut. Emotionale Zufriedenheit und damit hohe Lebensqualität ist deshalb nur möglich, wenn sich ein Mensch in ausreichender Weise Zeit für sich selbst nehmen kann. Raus aus dem Hamsterrad und rein in die „meditative Hängematte“. Kraft und Gelassenheit schöpfen und dann – warum nicht – wieder rein ins Hamsterrad.
Die gemeinsame Zeit mit dem Hund, außerhalb des Hamsterrades, zählt zu den besonders schönen Momenten im Leben.
In diesem Buch geht es vor allem darum, mögliche Wege aufzuzeigen, die dazu beitragen können, unseren vierbeinigen Sozialpartnern ein schönes und harmonisches Leben zu gestalten. Ein Leben, das nicht durch Aktionismus, Hektik und Stress geprägt wird. Ein Leben, bei dem stattdessen bereichernde Elemente wie innere Ruhe, Gelassenheit und vor allem Zufriedenheit im Mittelpunkt stehen. Dass dabei weniger im Ergebnis mehr sein kann, kann man oftmals schon nach sehr kurzer Zeit am Verhalten unserer Vierbeiner deutlich erkennen.
Doch genauso wie wir Menschen uns immer wieder zwingen müssen, unsere lebensbereichernden Auszeiten auch wirklich zu beanspruchen, müssen wir unter Umständen auch unseren nervösen bis „überdreht“ wirkenden Vierbeiner zu Beginn eines Auszeit-Trainings ebenfalls verpflichten, zur Ruhe zu kommen. Nicht unerheblich ist dabei die Gewissheit, dass die Beziehungsqualität zwischen Mensch und Hund mittel- und langfristig optimiert wird. Dabei ist gegenseitiges soziales Vertrauen das Fundament.
Der erste Schritt auf dem Weg in ein glückliches Zusammenleben zwischen Mensch und Hund besteht allerdings in der nicht immer einfachen Aufgabe umzudenken und den Blickwinkel dabei zu verändern. Die wirklich wertvollen Inhalte des Lebens dabei zu erkennen, zu selektieren und gemeinsam mit dem Hund zu erleben, wird die Lebensqualität von Mensch und Hund gleichermaßen erhöhen.
© Anna Auerbach/Kosmos
Nach vielen Jahren unseres Trainings mit Menschen und deren Hunden steht für uns zweifelsfrei fest: Um als sogenannter Hundetrainer erfolgreich sein zu können, muss man zunächst den Menschen erreichen und – bei gegebener Notwendigkeit – dessen Verhalten verändern. Danach erst sollten methodische Konzepte im Sinne einer Trainingsplanung erfolgen.
Doch daraus ergeben sich gewisse Schwierigkeiten, denn der hinter seinem Hund stehende Mensch ist heutzutage durch einen stressproduzierenden gesellschaftlichen Wandel unverkennbar belastet und in vielen Fällen auch persönlich negativ betroffen. Und dass Stress ab einer gewissen Dosis nicht nur betroffen, sondern sogar krank machen kann, ist hinlänglich bekannt. Das Wörtchen STRESS dürfte in unserer Gesellschaft wohl innerhalb der sprachlichen Anwendung in der Häufigkeit eine Spitzenposition einnehmen. Vor allem in der Hundehaltung und im Hundetraining wird fast schon inflationär von diesem Begriff Gebrauch gemacht. Leider ist der Begriff Stress gedanklich sehr stark mit negativen Emotionen verknüpft und nur so ist das Bestreben erklärbar, Stress immer wieder aus dem Weg zu gehen. Ein falscher Gedanke! Stress ist – abhängig von dessen Dosis und Zeitdauer – nicht nur gesund, sondern sogar lebensnotwendig. Ohne Stress wären wir Menschen weder lebens- noch überlebensfähig. Stress ist ein wichtiges Lebenselixier, das uns von der Geburt bis zum Eintritt des Todes ständig begleitet.
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Gelingt es dem Trainer, das Verhalten des Zweibeiners zu beeinflussen, sind Trainingserfolge meist nur eine Frage der Zeit.
Eine der einfachsten Definitionen für Stress: Ein innerer Belastungszustand des Körpers, hervorgerufen durch äußere und oder innere Einflüsse, auch Stressoren genannt.
Stress kann somit durch Einflüsse aus der uns umgebenden Umwelt entstehen. Ein lauter Knall, ein aufziehendes Gewitter oder der grimmige Blick eines Mitmenschen.
Stress kann aber auch und vor allem durch unsere Gedanken entstehen, ganz ohne unmittelbare Einflüsse von außen. Die Sorge um unsere Gesundheit – auch wenn wir in diesem Augenblick gesund sind. Die Gedanken an Armut oder Arbeitslosigkeit – obwohl wir in diesem Augenblick materiell gut versorgt sind und einem Beruf nachgehen.
STRESS EVOLUTIONSBIOLOGISCH ERKLÄRT
Verhaltens- oder evolutionsbiologisch lässt sich Stress jederzeit erklären. So war es in früheren Zeiten überlebenswichtig, dass unser Körper bei Erkennen einer Gefahr möglichst schnell eine Gegenmaßnahme ergreifen konnte – meist war dies eine Vorbereitung auf Flucht, Angriff oder Verteidigung. In der Stressreaktion stiegen durch das Ausschütten von Stresshormonen Puls und Blutdruck, die Muskeln spannten sich an und in Sekundenbruchteilen stand dem Körper dadurch wichtige zusätzliche Energie zur Verfügung. Damit war auch schon damals Stress lebens- und überlebenswichtig.
Der moderne Mensch hat in einer mittlerweile veränderten Lebensform ein anderes Stresssystem entwickelt als seine Urahnen (siehe Info). Körperlicher Kampf, Flucht oder auch Verteidigung der eigenen Unversehrtheit sind in hochzivilisierten Gesellschaften nur noch selten notwendig.
In unserer Gesellschaft wird Ausstieg mit Stillstand gleichgesetzt – und wer stehen bleibt, scheint verloren zu sein!
Und dennoch empfindet der Mensch in sehr vielen Situationen des Lebens Stress. Die Verarbeitung von Stress ist dabei in unserer heutigen Zeit ein gravierendes Problem. Der psychisch „aufgeladene“ Mensch hat kein ursprüngliches Ventil mehr, der innere Druck kann nicht oder nicht ausreichend abgeleitet werden und so kommt es im Körper bzw. im Kopf zu einem dauerhaften Alarm- bzw. Belastungszustand.
Wenn man dann noch weiß, dass Stress eigentlich nur im Kopf des Menschen stattfindet, wird schnell erklärbar, warum sich unsere moderne Gesellschaft so intensiv mit Themen wie Depression oder Burn-out zu beschäftigen hat. Erschreckend viele Menschen befinden sich in einem Hamsterrad oder auch Teufelskreis in Sachen Stress, aus dem sie oftmals aus eigener Kraft nicht mehr herauskommen.
Seelische und auch organische Erkrankungen, deren Ursachen in einem mangelhaften Anpassungssystem für Stress zu finden sind, nehmen permanent zu.
Dass sich die Wissenschaft bis heute nicht einig ist, ob es Stress nur in negativer oder auch positiver Form geben kann, mag manche Menschen verwirren. Das liegt ganz einfach daran, dass ein Teil unserer Wissenschaftler bestimmte Zustände im menschlichen Organismus erst dann als Stress bezeichnen, wenn sich dadurch negative Folgen oder gar Schädigungen ergeben. Sie bewerten Stress damit ausschließlich negativ. Für sie gibt es keine negative oder positive Bezeichnung, denn Stress wird generell als negativ angesehen.
Andere wiederum teilen Stress in zwei Sparten auf: Sie sprechen über positiven Stress, der in der Fachliteratur auch Eustress genannt wird, und über negativen Stress, Disstress genannt.
„Dis“ ist eine lateinische Vorsilbe und bedeutet „schlecht“. Disstress ist aufgrund der hier zu erwartenden negativen körperlichen, geistigen und seelischen Folgen für den Betroffenen in einem Übermaß belastend und kann letztlich eine schädigende Wirkung aufweisen.
Eustress hingegen ist von einer griechischen Vorsilbe abgeleitet. „Eu“ ist die Bezeichnung für „gut“. Diese Art von Stress wird zunächst nicht als Belastung empfunden. Es handelt sich dabei meist um Einflüsse, die als besonders erregend empfunden und mit großer Leidenschaft ausgeführt werden. Hier kann Stress belebend wirken und die Leistungsfähigkeit sogar erhöhen. Aber übersteigt die jeweilige Erregung bzw. Erwartungshaltung ein bestimmtes Maß, kann auch aus Eustress Disstress werden.
Wir müssen uns in der Praxis und damit beim täglichen Umgang mit unseren Hunden tatsächlich sowohl mit Disstress (negative Form) als auch mit Eustress (positive Form) befassen, denn – wie wir gleich noch erfahren werden – ist das eine oftmals mit dem anderen eng verbunden. Und das nicht nur bei unseren Hunden, sondern auch bei uns Menschen!
© Anna Auerbach/Kosmos
So schön beutebezogene Objektspiele – hier mit einem Ball – für Mensch und Hund sein mögen, …
© Anna Auerbach/Kosmos
… bei exzessiver und damit maßloser Anwendung sind negative Stressrisiken unbestreitbar.
Wechsel von Eustress und Disstress
Zunächst dürfen wir davon ausgehen, dass positiver Stress tatsächlich gesund ist.
Im Fußballstadion: Ein sehr gutes Beispiel dafür ist das prall gefüllte Fußballstadion, in dem sich Tausende von Menschen unmittelbar vor Anpfiff eines Spiels in riesiger Vorfreude bzw. Erregung befinden. Im Spielverlauf kommt es bei erfolgreichen Aktionen auf dem Spielfeld zu extremen Glücksmomenten, unter deren Einflüsse Menschen aufspringen, begeistert die Arme nach oben reißen und lautstark jubeln. Dabei werden sogenannte Glückshormone ausgeschüttet, die letztlich zu einem berauschenden Zustand führen können. Wenn wir diesen Zustand im Körper nicht als Stress bezeichnen, übersehen wir auch die sehr enge Verbindung, die sich zwischen Eustress und Disstress herstellen lässt. Es fällt ein Tor, die Menschen jubeln begeistert! Das Tor wird aberkannt und Wut und Zornesröte verdrängen in Sekundenschnelle den schönen Augenblick zuvor. Aus Eustress wird Disstress.
Hier wird einem schnell klar, dass es tatsächlich eine enge Verbindung zwischen beiden Stressformen gibt, denn bedingt durch den positiven Stress befindet sich der Organismus des Menschen ohnehin schon in höchster Erregung. Kommt es dann noch zusätzlich zu negativen Einflüssen, verstärkt die bereits bestehende hohe Erregung das Gefühl von Wut und Zorn ganz erheblich. Der schnelle, fast übergangslose Wechsel von Eustress zu Disstress – oder auch umgekehrt – belegt, wie eng beide Bereiche miteinander verbunden sein können.
Der Lottoschein: Ein völlig anderes Beispiel kann ein Lottoschein mit sechs Richtigen sein. Die innere Erregung nach Bekanntgabe steigt ins Unermessliche, der Körper „bebt“, die Hände zittern, der Jubel kennt keine Grenzen. Doch je mehr wir den Organismus in die Erregung treiben, umso enttäuschter und verbitterter sind wir nach Bekanntwerden der Tatsache, dass wir vergessen haben, den Lottoschein abzugeben.
Nehmen wir nun einmal ein typisches Beispiel aus dem Mensch-Hund-Alltag dafür, wie schnell bei einem Hund der Wechsel vom positiven zum negativen Stress im Einzelfall erfolgen kann.
© Anna Auerbach/Kosmos
Hier sind ruhige Phasen sehr wichtig, um die innere Balance zu halten.
Ole ist ein sogenannter Balljunkie. Ballspielen ist seine extreme Leidenschaft. Sieht er den Ball, steigt seine Erwartungshaltung ins Unermessliche! Sein Körper ist extrem angespannt, die hinteren Gliedmaßen zittern, die Pupillen sind angesichts der Erregung geweitet. Zufällig nähert sich in diesem Augenblick ein weiterer Hund dem Geschehen an. Ole sieht dessen Annäherung und in Bruchteilen von Sekunden wird seine positive Erwartungshaltung in frustrative Energie (der andere Hund kann Konkurrent werden) umgewandelt, die zu einem aggressiven Angriff auf den Artgenossen führt. Ole fügt eigentlich keinem Hund ein Leid zu, eigentlich. Doch unter dem Einfluss der extrem stimulierenden Erwartungshaltung kommt es augenblicklich zu einem Wechsel von der positiven in eine ausgesprochen negative Stimmung, die letztlich zu aggressiven Handlungsweisen führt.
Bei Ole und vielen weiteren Hunden, die man zutreffend mit dem Begriff „Balljunkie“ verbindet, kommt noch ein weiterer wichtiger Umstand dazu. Versucht man einen Balljunkie Tag für Tag bis zur körperlichen Erschöpfung quasi müde zu spielen, können mittel- und langfristig genau diese Erschöpfungszustände ebenfalls zu einer Schädigung des Körpers durch Überbeanspruchung führen. Obwohl scheinbar gar nichts Negatives passiert. Das zeigen übrigens unsere Praxiserfahrungen anhand der immer wieder festgestellten, reduzierten Lebenserwartung vieler Balljunkies. Das permanente Bedienen der suchtfördernden Leidenschaft über Jahre hinweg, betreibt Raubbau an Körper und Geist dieser Hunde! Damit kann auch ausschließlich positiver Stress mittel- und langfristig negative Formen annehmen. Allzu viel ist ungesund und das gilt damit auch für den positiven Stress.
Das Ganze geht allerdings auch anders herum, vom Negativen zum Positiven, wie wir am nächsten Beispiel sehen werden.
Doch so wie ein positiver Stress auch negative Seiten aufweisen kann, müssen wir uns keinesfalls bei negativem Stress nur mit den Nachteilen beschäftigen. Wie bekanntermaßen jede Medaille zwei Seiten hat, so hat auch der negative Stress zwei Seiten, eine positive und eine negative. Wenden wir uns in diesem Zusammenhang zunächst der allgemein bekannten Seite des negativen Stresses zu.
© Atelier Krohmer
Negative Auswirkungen von Stress auf den Organismus
Stress ist durchaus gefährlich und auch heimtückisch. Manche Menschen leiden unter Stress und erkennen selbst beim Vorhandensein gesundheitlicher Beschwerden nicht wirklich, dass deren Auslöser ganz einfach unter dem Begriff Stress zu finden ist.
Man kann die negativen Wirkungen von Stress durchaus mit dem tropfenden Wasserhahn vergleichen. Wassertropfen, die immer wieder kurzzeitig auf eine Betonfläche fallen, können dem Beton kaum etwas anhaben. Doch wie uns schon das Sprichwort „Steter Tropfen höhlt den Stein“ lehrt, ist bei einer mittel- und langfristigen Belastung des Betonbodens die aushöhlende Wirkung der Wassertropfen unverkennbar.
Wenn wir wissen, dass es zwischen Mensch und Hund eine Stimmungsübertragung gibt, kann man sich gut vorstellen, dass ein ständig gestresster Mensch sein persönliches Stressverhalten früher oder später auch auf den mit ihm zusammenlebenden Sozialpartner Hund überträgt.
Das ist zunächst nichts Neues und dennoch führt diese Erkenntnis gleichzeitig zu der Gewissheit, dass eine harmonisch ausgerichtete Mensch-Hund-Beziehung nur dann mit Lebensfreude und Zufriedenheit verbunden sein kann, wenn vor allem ein ständig gestresster Mensch bereit ist, sich selbst zu verändern. Viele Hundetrainer wissen deshalb ganz genau, dass sie beispielsweise beim Umgang mit verhaltensauffälligen Hunden den Schwerpunkt ihrer Arbeit nicht auf den Hund, sondern auf den Menschen zu setzen haben. Nur so lässt sich im modernen Hundetraining ein erfolgreiches Wirken generieren. Genau diese Hundetrainer sind in gewisser Hinsicht auch erfolgreiche „Psychologen“, wenn es ihnen gelingt, Menschen in ihrem Denken und Handeln beim Umgang mit dem Hund positiv zu verändern.
Belastenden Stress beim Menschen erkennen, beurteilen und auf sein Stresssystem Einfluss nehmen, ist viel wichtiger, als jedes funktionale Training am Hund.
© Anna Auerbach/Kosmos
Eines von vielen Stress-Gesichtern bei einer Hundehalterin, die sich der bevorstehenden Hundebegegnung mit Besorgnis ausgesetzt sieht.
Stressvermeidung
Stressvermeidung verhindert positive Wirkung von Stress!
Bitte kommen Sie jetzt aber keinesfalls auf die Idee, ständig einen Plan zur Stressvermeidung zu entwickeln. Allein der ständige Zwang, sich jederzeit Stress unbedingt entziehen zu wollen, erzeugt erheblich mehr Stress, als ein kluges Stressmanagement zu entwickeln. Warum es nicht gut sein kann, im Leben ständig auf Stressvermeidung zu setzen, wird schnell erkennbar, wenn wir uns einmal die positiven Aspekte von Stress genauer ansehen.
© Atelier Krohmer
Positive Auswirkungen von Stress auf den Organismus
Stress ist ein lebenswichtiges Elixier, das als unverzichtbar gelten muss. Der richtige Umgang mit negativem Stress ist weitaus wichtiger als jeglicher Versuch, ihn permanent zu umgehen. Stressmanagement bringt unser Leben viel besser in eine wichtige Balance als jeglicher innere Zwang zur permanenten Stressvermeidung.
Es gibt zwei wichtige Faktoren, die mitbestimmen, wie gefährlich sich Stress auf einen Organismus auswirkt. Das ist zum einen die Intensität der sogenannten Stressoren und die Dauer von deren Einwirkungen. Hinzu kommt bei der Stressbeurteilung noch der Umstand der jeweiligen Stressresistenz, die ein Mensch hat oder auch nicht. Eine weitere wichtige Aussage betrifft übrigens wieder Mensch und Hund gleichermaßen: Es gibt aktive und passive Stresssysteme!
Fingerabdruckgleich hat jedes Individuum, ganz gleich ob Mensch oder Hund, sein eigenes, einzigartiges Anpassungssystem in Sachen Stress. Im Grunde kann man – vereinfacht gesehen – zwei gegensätzliche Verhaltensmuster erkennen, wenn man Stressverhalten zu beurteilen hat. Es handelt sich dabei um die aktive – und gegenteilig um die passive – Form von Stressreaktionen.
Beim aktiven Stresssystem zeichnet sich das Individuum durch eine vergleichsweise hohe Handlungsaktivität aus. Bei uns Menschen ist das beispielsweise an hektischer Unruhe, wildem Gestikulieren, lautstarkem Protestieren oder Brüllen, bis hin zu sogenannten Kontrollverlusten (die Reaktionen werden nicht mehr bewusst gesteuert) zu erkennen.
Beim passiven Stresssystem hingegen sind nach außen erkennbare Handlungen reduziert oder überhaupt nicht erkennbar. Jemand, der bei Stressaufkommen quasi sprichwörtlich „alles in sich hineinfrisst“ oder „in sich zusammenfällt“ und nach außen keine oder nur wenig Handlungsaktivität zeigt, dem ist das passive Stresssystem zuzuschreiben.
Wenn sich beispielsweise zwei Menschen eingeschlossen in einem festsitzenden Fahrstuhl befinden und befürchten müssen, lange Zeit darin gefangen zu bleiben, ist bei beiden Personen mit Stressaufkommen zu rechnen. Während jedoch der eine in dieser Stresssituation panikartig mit Fäusten und Füßen gegen die Fahrstuhlwand schlägt, tritt und laut um Hilfe ruft, sitzt der andere zeitgleich in gekrümmter Körperhaltung, den Kopf auf den Knien liegend, verloren wirkend und depressiv anmutend auf dem Fahrstuhlboden. Beide Menschen stehen unter vergleichbar hohem Stress und beide Menschen gehen völlig gegensätzlich damit um.
© Anna Auerbach/Kosmos
Die Gegensätzlichkeit eines aktiven bzw. passiven Stresssystems: Während dieser Hund sogenannten Stressoren aktiv handelnd begegnet, …
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… wirkt sich hier Stress eher lähmend auf die Reaktionen dieses Hundes aus. Bei ihm spricht man deshalb von einem passiven Stresssystem.
Warum ist diese Unterteilung so wichtig?
Nun, weil Menschen mit einem aktiven Stresssystem von ihren Hunden völlig anders wahrgenommen werden, als Menschen mit einem passiven Stresssystem. Und so ist es auch naheliegend, dass ein Hund sein eigenes Verhalten dem Verhalten seines Menschen in Stresssituationen entweder anpasst oder – im Gegenteil – versucht, dieses Verhalten zu kompensieren, um einen gewissen Ausgleich zu erzielen. Beide gegensätzlichen Verhaltensmuster – angepasst oder kompensierend – können sehr gut an zwei praxisorientierten Kurzbeispielen vorgestellt werden.
Frau Müller bezeichnet sich selbst als eher zurückhaltende und unsichere Person. Geht sie mit ihrem Mischling Max spazieren, fürchtet sie sich vor entgegenkommenden Hunden, weil Max erst kürzlich auf dem Spaziergang von einem für ihn fremden Artgenossen gebissen wurde. Kommt nun ein Hund entgegen, wirkt sie stressbedingt wie gelähmt (passives Stresssystem). Sie bleibt dann quasi handlungsunfähig stehen und hofft, dass nicht wieder etwas passiert. Max passt sich umgehend diesem Verhalten an und verkriecht sich bei gekrümmter Körperhaltung hinter dem Körper seines Frauchens. So verharren beide, bis der entgegenkommende Hund vorbeigeführt wird und zum Glück nichts passiert ist.
Frau Kaufmann bezeichnet sich ebenfalls als zurückhaltende und unsichere Person. Sie geht mit ihrem Mischling Moritz spazieren, fürchtet sich – genau wie Frau Müller – vor entgegenkommenden Hunden, weil auch Moritz kürzlich auf dem Spaziergang von einem für ihn fremden Artgenossen gebissen wurde. Kommt nun ein Hund entgegen, bleibt auch sie handlungsunfähig stehen (passives Stresssystem). Moritz hingegen versucht nun, dieses passive Verhalten zu kompensieren (auszugleichen), und dies tut er an straffer Leine mit protestierenden Angriffshandlungen auf den entgegenkommenden Hund. Frau Kaufmann berichtet später, dass er dieses Verhalten nur bei ihr zeige, bei anderen Familienmitgliedern hingegen verhalte er sich viel zurückhaltender.
Zwei Beispiele aus der Praxis, die deutlich machen, dass Hunde in irgendeiner Art das Stressverhalten ihrer Menschen reflektieren. Und das kann im einen Fall angepasst bzw. nachahmend oder auch kompensierend bzw. mit gegenteiligem Verhalten geschehen. Genauso reflektieren auch Hunde das aktive Stresssystem ihrer Menschen, indem sie sich nachahmend und damit angepasst oder auch gegenteilig kompensierend im Verhalten zeigen. Dabei ist vollkommen klar, dass Stimmungsübertragungen von Menschen auf ihre Hunde durch die charakterliche Individualität der Vierbeiner (Alter, Rasse, Geschlecht, Lebenserfahrungen) ganz erheblich mitbestimmt wird. Dennoch wird sich jeder Hund in irgendeiner Form am Stressverhalten seines Besitzers orientieren.
Nicht nur aus diesem Grund muss sich jeder Hundehalter darüber im Klaren sein, dass sich das Verhalten seines Vierbeiners in Stress- und Konfliktsituationen ganz erheblich am eigenen (Stress-)Verhalten orientiert. Deshalb ist zunächst wichtig, genug Transparenz zum eigenen Verhalten zu erlangen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wir werden noch Wege aufzeigen, wie gut und effektiv man über eine zielgerichtete Veränderung persönlicher Verhaltensweisen nachhaltig Einfluss auf unerwünschte Verhaltensweisen seines Hunde nehmen kann (siehe hier und hier).
© Anna Auerbach/Kosmos
Der Stress dieses Hundes überträgt sich auf den Zweibeiner und umgekehrt. Ein Teufelskreis, aus dem viele Hundehalter ohne Hilfe nicht mehr herauskommen.
Charly steht knurrend mit gesträubtem Nackenfell am Gartentor. Da kommt bei leichtem Nieselregen ein „komischer“ Mensch, in der Hand einen aufgespannten Regenschirm, auf sein Grundstück zu. Je näher dieser kommt, umso mehr Unruhe macht sich in Charly breit. Er verstärkt sein drohendes Knurren, beginnt aggressiv zu bellen und mittlerweile sträubt sich sein Fell nicht nur im Nacken, sondern verteilt über den gesamten Rücken.
Charly ist definitiv gestresst, denn er rechnet mit einem fremden Eindringling. Doch plötzlich spricht ihn der vermeintlich Fremde an – und das mit der Stimme seines Herrchens. Charly ist mehr als erleichtert und schreit förmlich seine Freude über die Heimkehr seines Besitzers aus sich heraus. Herrchen gelingt es nach Betreten des Grundstückes nicht einmal mehr, Charly am Anspringen zu hindern, obwohl ihm das eigentlich schon erfolgreich abgewöhnt wurde. „So hat der sich ja noch nie gefreut“, kommentiert Charlys zwischenzeitlich aus dem Haus kommendes Frauchen das Geschehen.
Angesichts der sehr negativen Gefühlswelt, in der sich Charly anfangs befand, erlebt er nun die Erleichterung und Freude mit einer viel höheren Intensität, als das ohne vorherigen Stress der Fall gewesen wäre.
Um in unserer modernen, extrem hektisch und schnelllebig gewordenen Gesellschaft bestehen oder gar erfolgreich sein zu können, muss jeder Mensch auf seine Art die Ärmel hochkrempeln und eine leistungsorientierte Ausrichtung einnehmen. Erfolg hat immer etwas mit Leistung zu tun und jede Leistung wird in unserer Gesellschaft mit der Leistung anderer verglichen.
Um bei einem entsprechenden Leistungsvergleich gut abschneiden zu können, muss jeder von uns möglichst besser sein, als irgendein anderer, Arbeitsergebnisse schneller und gründlicher liefern, die Karriereleiter höher steigen und anderen gegenüber möglichst immer einen Schritt weiter voraus sein. Das ist das logische Prinzip einer Leistungsgesellschaft, in der wir uns nun einmal alle befinden.
Die zu erwartenden Vorteile sind nicht von der Hand zu weisen: Wer anderen voraus ist, lebt zunächst deutlich komfortabler und das gleich auf mehreren Ebenen. Auf materieller Ebene kann er sich mehr leisten als andere. Mehr Geld, mehr Wohnkomfort, besseres Auto, schickere Kleidung und viele weitere materielle Vorteile. Mental wird dem erfolgreichen (Leistungs-)Menschen Anerkennung, Achtung, Respekt und Bewunderung zuteil. Neid und Missgunst spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Sehr viele Menschen streben in unserer Gesellschaft sowohl mentalen als auch materiellen Reichtum an. Nur so ist ja auch die Gesellschaft erklärbar, in der wir heute leben.
Dabei werden Hektik und Stress scheinbar billigend in Kauf genommen. Viele Menschen haben oftmals das Gefühl, nicht mehr zu leben, sondern gelebt zu werden. Hinzu kommt, dass sehr viele leistungs- und erfolgsorientierte Menschen auch Hunde haben! Und in diesem Zusammenhang können sich durchaus erste und dabei auch ernste Schwierigkeiten im Zusammenleben zwischen Mensch und Hund ergeben.
Das globale Leistungsprinzip, in dem die meisten Menschen leben, hinterlässt selbstverständlich seine Spuren. Und zudem steht die, wenn auch provokante, so doch berechtigte Frage im Raum, warum sich eine leistungsorientierte Gesellschaft mittlerweile in Sachen Hund auf die 10-Millionen-Marke zubewegt?
Im Kern ist doch der Gedanke naheliegend, dass sich die Anschaffung eines Hundes auf die persönlichen Leistungsprozesse eines Menschen hinderlich auswirkt. Wenn man ohnehin für nichts mehr wirklich Zeit hat, was soll dann noch ein Hund im Haushalt?
In der Tat schaffen sich viele Menschen einen Hund an, um vor allem eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Das Bedürfnis nach Ablenkung, nach (erzwungenen) Auszeiten, nach sozialer Nähe, nach Kompensationen im hektischen Alltagstreiben. Dass allerdings auch ein Hund Bedürfnisse haben könnte, die über das Fressen und Saufen, Spazierengehen und Schlafen hinausgehen, wird oft viel zu wenig berücksichtigt. Glaubt man den Aussagen vieler kompetenter Beobachter und Fachleute im Hundewesen, wissen viele Menschen vor der Anschaffung nicht, was die Haltung eines Hundes überhaupt bedeutet. Stellvertretend möchten wir hier die Aussage der renommierten und von uns geschätzten Verhaltensforscherin und Hundekennerin Dr. Dorit Feddersen-Petersen aus dem Jahr 2014 wiedergeben, in der sie die bestehenden Probleme in der Beziehungskiste Mensch/Hund trefflich beschreibt: „Es steckt dahinter, dass in sehr, sehr vielen Hund-Mensch-Beziehungen eine ganz starke Naturentfremdung vorhanden ist, dass viele Menschen nicht wissen, was ein Hund überhaupt ist. Sie finden einen Hund schön, holen ihn sich ins Haus, weil so ein Hund womöglich gut zum Mobiliar oder zum Auto passt – vielfach ist es ja tatsächlich so. Oder sie vermenschlichen einen Hund sehr konsequent und sagen: 'Ich mag die Menschen nicht mehr, ich hole mir jetzt einige Hunde, mit denen ich zusammenleben möchte.' Und das, obwohl diese Menschen von Hunden und deren Bedürfnissen überhaupt keine Ahnung haben. Das sind dann vielfach auch Hunde, die besondere Ansprüche haben, wie z.B. Laufhunde oder Jagdhunde oder Schutzhunde, die wirklich eine sehr gute Erziehung brauchen. Es ist vielfach so grotesk, wie Hunde gehalten werden, dass man sich fragt, wieso eigentlich nur so wenig passiert. Es kommt sehr, sehr häufig vor, dass ein Hund gar nicht erzogen wird und stattdessen im Stile von Laisser-faire mit ihm umgegangen wird. Es kommt auch sehr häufig vor, dass Hunde sozial verkommen, was ebenfalls ganz, ganz schlimm ist: Sie werden alleine gelassen, häufig zu mehreren, und man macht nur ab und zu etwas mit ihnen.“
© Anna Auerbach/Kosmos