Ein Roman
von
Sandra-Maria Erdmann
0187/543567 Morgen im Freibad? Flori
Seufzend berühre ich die mit blauem Kuli auf die Ecke eines Mathe-Arbeitsblattes gekritzelten Zeilen. Dein Timing hätte nicht schlechter sein können. Den Ausflug ins Freibad kann ich vergessen! Heute Nacht fahren wir, wie jedes Jahr zu Beginn der Sommerferien, in unsere zweite Heimat und bis gestern habe ich mich darauf wie verrückt gefreut. Frankreich. Die Bretagne. Perros-Guirec. Dort gibt es Omilis weltbeste Crêpes und sechs Wochen Surftraining im Atlantik mit meinem Onkel Chris. Aber mit Floris Nachricht hat sich die kribblige Vorfreude in Luft aufgelöst.
Er hat mir die Nachricht nach der Zeugnisausgabe zugesteckt, bevor ich mit Merle in den Bus gestiegen bin. MIR. Unfassbar. Bisher ist das nur einem passiert. Leon. Dessen attraktives Äußeres von seinem schrecklich fiesen schwarzen Inneren ablenken sollte. Ich bin letzten Herbst so verknallt in ihn gewesen, dass ich erst gemerkt habe, dass er mich verarscht, als meine mit Herz-Emoticons vollgestopften Chatverläufe in den Klassengruppen der Schule aufgetaucht sind. Der Ruf als Lachnummer hängt an mir wie Fischstäbchengeruch, auch nachdem Leon die Schule verlassen musste, weil er beim Gras-Dealen erwischt worden ist.
Flori ist nicht so. Oder doch? Es klingt eigentlich verdächtig, wenn sich der hotteste Typ der Schule mit MIR treffen will. Wäre ich ein normales Mädchen, gäbe es da wohl nicht viel einzuwenden, aber ich bin Caro Dumont. Ich stehe meist mit fünf oder sechs anderen Mädchen aus meiner Stufe an der „Mauer der Blümchen“, wie die buntbemalte Betonwand auf unserem Schulhof seit einem Kunstprojekt der Siebtklässler genannt wird. Dort versuchen die ungestylten Außenseiter heil über die große Pause zu kommen, ohne Aufsehen zu erregen. Für mich ein Ding der Unmöglichkeit, wenn gefühlt die halbe Schule über mich herzieht oder ihre blöden Witzchen darüber reißt, dass ich Profisurferin werden möchte. Naja, und dass mein Name in Kombination mit meinen Lieblingsklamotten seit der fünften Klasse für Gesprächsstoff sorgt – geschenkt. Ich liebe meine übergroßen Karo-Hemden, weil ich mit ihnen meinen kaum vorhandenen Busen und die viel zu muskulösen Oberschenkel verbergen kann.
Ich stopfe Floris Zettel in die Hosentasche zurück. Ob er mich wirklich mag oder auch nur versucht auf der Karriereleiter der Schulmobber an die Spitze zu gelangen, werde ich vorerst wohl nicht herausfinden.
Meine Suchanfrage spuckt ein siebenminütiges Video zum Thema »Haare selber schneiden« aus. Die Frau im Bild befestigt das Haargummi einen Fingerbreit über der Nasenspitze und schneidet. Soll ich das wirklich auch versuchen? Meine von Papa geerbten bretonischen Drahtborsten gehen mir schon lange auf die Nerven. Die liegen nie, wie sie sollen, und nach dem Schwimmtraining brauchen sie ewig zum Trocknen. Ich binde sie vor der Stirn zu einem Pferdeschwanz zusammen und setze die Schere an. Jetzt oder nie! Meine Nackenhaare stellen sich auf. Das Knirschen der Schere ist fast so gruselig wie das Geräusch kratzender Fingernägel an der Tafel. Strähne für Strähne fallen die Haare in die Badewanne und hinterlassen einen dunkelbraunen Teppich auf der weißen Keramik. Mit ernstem Blick in den Spiegel löse ich den Haarstummel vor der Stirn auf. Jetzt fallen sie knapp über die Schulter, wie im Video versprochen. Ich kann nicht verhindern, dass ich dieser neuen Caro im Spiegel zulächele. Geht doch! So kurz trocknen sie auch besser und Maman braucht keine Angst haben, dass ich nach einer Surfrunde an einer Erkältung sterbe.
Ein Videoanruf von Merle unterbricht meine peinlichen Versuche, vor dem Spiegel verführerisch zu posen. Ich nehme den Anruf an. »Hey Sonnenschein.«
»Hallo Süße.« Merle streicht ihre blonden Lillifee-Locken aus dem Gesicht und lächelt in die Kamera. »Alles gut?«
»Hier«, ich halte das Display so vor den Kopf, dass sie die schulterlangen Haare sehen kann, »was hältst du von meiner Sommer-Frisur?«
»Uih! Selbst geschnitten?«
»Per DIY-Video. Gar nicht mal so schlecht, oder?«
»Ich finde eh, dass dir lange Haare nicht stehen. Jetzt fehlt dir nur noch 'ne epische Protest-Farbe. Wie wäre es mit grün?«
»Was gefällt dir an meiner Haarfarbe nicht?« Ich ziehe mir eine Strähne vor die Augen. Eine Mischung aus Straßenköterblond und Milchkaffee.
Merle zuckt mit den Schultern. »Die Farbe ist lahm. Vielleicht kannst du deine Haare etwas aufhellen, dann siehst du gleich viel ... interessanter aus.«
»Du spinnst! Für so einen Kram gebe ich bestimmt kein Geld aus.«
Merle zieht eine Grimasse. »Das ist ja genau dein Problem. Aber egal! Was gibt’s Neues von der bretonischen Front?«
»Leider nichts. Wir fahren heute Nacht los. Wie immer. Daran wird nicht gerüttelt.« Ich rutsche mit dem Rücken die Badezimmertür hinab. »Ich erwarte ja noch nicht mal, dass wir in den Ferien ganz zu Hause bleiben. Wenn wir nur einen oder zwei Tage später losfahren würden, wäre das Meer immer noch da. Und Papas Familie. Und seine alten Freunde. Und Maman könnte sich mehr Zeit beim Packen lassen und würde nicht die Hälfte vergessen. Und ich hätte wenigstens einen Tag mit Flori im Freibad.«
»Das tut mir voll leid.«
»Und dann habe ich vorgeschlagen, in diesem Jahr mal ein paar Tage früher heimzufahren, aber das hat sie sofort abgeschmettert. Sie sagt, sie brauche die Zeit in Perros, weil sie sich nur dort erholen könne, weit weg von allem. Was ich auch verstehen kann. Ach Mann, das ist alles –«
»Voll blöd.«
»Sowas von!«
»Dann schreib Flori wenigsten schnell 'ne Nachricht.«
Ich lache auf. »So wie beim letzten Mal? Nein danke.«
»Leon war ein Idiot! Aber diesmal geht es um Flori. Der coolste Typ der Schule, süß, hilfsbereit und gutaussehend. Ich verstehe immer noch nicht, warum er keine Freundin hat ... Und genau dieser Typ gibt dir seine Nummer, damit du ihn anschreibst, weil er einen fetten Crush auf dich hat.« Sie klimpert mit den Augen und wirft mir einen Kussmund zu.
»Als ob!« Das habe ich bei den ersten Nachrichten von Leon auch gedacht, bevor sein wahres Gesicht zum Vorschein kam.
Merle pustet eine Haarlocke aus ihrem Gesicht. »Was denn sonst! Schließlich hat er dir den blauen Sirup ganz unabsichtlich absichtlich übers T-Shirt geschüttet. Bei einer solch ausgeklügelten Aktion kann es sich nur um die Tat eines wahnsinnig verliebten Prinzen handeln, der keine andere Möglichkeit gesehen hat, mit dir in Kontakt zu kommen.«
»Das war ein Unfall.«
»Und meine Fünf in Französisch ist eigentlich eine verkleidete Eins.« Sie grinst frech. »Oh Süße, er ist garantiert total verknallt in dich. Hast du das T-Shirt noch?«
Ich nicke. »Das kommt in die Flori-Gedenkkiste.«
»Die, wo schon der Keks drin liegt, den er in der Cafeteria vergessen hat?« Merle hält sich die Nase zu.
»Der war doch eingepackt.« Ich erinnere mich genau an den Tag. Flori ist von dieser Zehntklässlerin mit der schiefen Nase belagert worden. Als sich unsere Blicke ganz zufällig getroffen haben, hat er die Hand gehoben und mir zugelächelt. Ich treffe ihn oft im Freibad. Während ich meine Bahnen ziehe, hat er das Nichtschwimmerbecken im Blick.
Merle kichert. »Menno! Ich wäre so gern bei eurem ersten Date dabei.«
»Vergiss es«, rutschen mir die Worte schärfer heraus, als beabsichtigt. Kein Kerl, der halbwegs klar denken kann, widersteht dem Charme meiner besten Freundin. Auch Flori nicht. Merle ist der Schwarm aller Jungs in der Schule, kann die Anzahl an Verehrern kaum an zwei Händen abzählen. Auch wenn sie es abstreitet, Merle scheint eine Art geheime Superkraft zu besitzen, die den Jungs den Verstand raubt. Leider habe ich die nicht, darum ist die Sache mit Flori und der Telefonnummer quasi sowas wie das achte Weltwunder. Schnee im Sommer. Schokofondue zum Frühstück … etwas in jener Kategorie.
»Keine Angst, ich rühre deinen Kerl nicht an.« Merle hebt zwei Finger. »Ich schwöre bei allen meinen Nagellackfläschchen.«
»Sonst muss ich dir auch leider die Freundschaft kündigen.« Ich versuche, so ernst wie möglich zu gucken. »Für immer und ewig. Das ist fast so lang wie sechs Wochen Bretagne. Ich weiß nicht, ob ich das ohne dich aushalte.«
»Keine Sorge. Ich passe in der Zwischenzeit auf, dass deinem Flori niemand zu nah kommt.«
Es klopft gegen die Tür. »Caro, bist du immer noch im Badezimmer?«
»Sorry Merle, ich muss noch packen.«
»Sei tapfer, Süße. Und schreib Flori unbedingt an. Ihr müsst in Kontakt bleiben, damit er dich nicht vergisst!« Sie wirft mir eine Kusshand durchs Handy zu und legt auf.
Das sagt sie so leicht. Sie hat ja auch nichts zu verlieren.
Maman öffnet schwungvoll die Badezimmertür. »Caro! Dein Koffer steht immer noch im –« Sie wirft einen entsetzen Blick auf die Schere in meiner Hand. Ihre Augen werden kugelrund. »Was machst du hier?«
»Ich habe meine Haare geschnitten.«
»Aber warum? Du hast so lange gewartet, bis sie gewachsen sind, und jetzt schneidest du sie schon wieder ab?« Ungläubig schüttelt sie den Kopf, greift nach der Schere. »Mit einer Papierschere?«
»Eine Papierschere? War mir gar nicht aufgefallen. Funktioniert trotzdem.«
Maman hebt eine Strähne und überprüft die Schnittstellen. »Aber Caro, du warst so hübsch mit langen Haaren.«
Ich zucke mit den Schultern und hole tief Luft, schlucke meinen Kommentar aber sofort hinunter, um keinen Streit heraufzubeschwören. Die kurze hitzige Diskussion beim Mittagessen hat gereicht, um meine Ferienfreude bereits vor dem Start zu trüben. Es gibt Dinge, bei denen Maman genauso störrisch ist wie Onkel Chris, dem sie genau diese Eigenschaft vorwirft. Dabei ist er nur konsequent in der Erfüllung seiner Träume. Warum will sie das nicht einsehen?
Maman verschränkt die Arme vor der Brust und legt den Kopf schräg. »Deine Haare abzuschneiden, weil du sauer auf uns bist - ist das nicht ein bisschen übertrieben?«
»Quatsch! Ich mach das nicht deshalb.« Na vielleicht ein bisschen. Maman hat mich überredet, meine Haare wachsen zu lassen, damit ich endlich wie ein Mädchen aussehe, die Jungs von mir Notiz nehmen und ich aufhöre zu jammern, dass ich mit fünfzehn immer noch ungeküsst bin. Aber wozu muss ich jetzt wie ein Mädchen aussehen, wenn Flori in Köln ist und ich elfhundert Kilometer weit von ihm entfernt? Wenn ich schon sechs Wochen in der Bretagne bin, dann kann ich mich auch voll und ganz auf mein Training konzentrieren. Und ob Flori mich nach den Ferien noch anguckt, hängt garantiert nicht an meiner Frisur.
Maman streichelt mir lächelnd über die Haare. »Aber es sieht süß aus. Eine richtig niedliche Sommerferien-Frisur.«
Ich ziehe den Kopf weg. »Die ist nicht niedlich, sondern praktisch zum Surfen.«
»Du willst dir also wieder die Knochen brechen? Ich dachte, das hätten wir endgültig hinter uns.«
»So ein Fehler passiert nicht wieder, keine Sorge.« Nach einem üblen Sturz im letzten Jahr, bei dem ich mir die Hüfte geprellt und zwei Rippen gebrochen hatte, war mein Board in zwei Teile zersprungen. Mamans Erleichterung war spürbar. Sie hat gedacht, dass ich nach diesem Unfall vom Surfen geheilt bin. Als ob mich ein kleiner Unfall vom Surfen abhält. Dann könnte ich ebenso gut mit der Schule aufhören. Glücklicherweise hat Maman nach Omas Schlaganfall alle Hände voll zu tun gehabt, sodass ihr meine heimlichen Trockentrainingsübungen gar nicht aufgefallen sind. Dieses Jahr bin ich mental vorbereitet und körperlich fit. Chris hat mir zum Geburtstag ein supersüßes Video geschickt, in dem er ein schickes Shortboard* mit einer überdimensionalen roten Schleife in die Kamera gehalten hat. Maman hat das Geschenk gelassen zur Kenntnis genommen. Für sie ist mein Surftraining in den sechs Wochen Perros pro Jahr wahrscheinlich das kleinere Übel, solange ich nicht, wie mein Onkel, die Schule abbreche und auf der ewigen Suche nach der perfekten Welle ziellos umherziehe. Wenn sie wüsste, welchen Vorschlag Chris mir gemacht hat, um meinem Traum einen Schritt näher zu kommen.
»Du weißt, was ich vom Surfen halte«, entgegnet sie, ohne mich anzuschauen. »Und davon, dass Chris dich da immer weiter hineinzieht.«
»Ich surfe nicht, weil Chris mir das sagt, sondern weil ich es liebe, eins mit dem stärksten Element der Welt zu sein. Es ist das pure Glück, die Wellenenergie unter dem Brett zu spüren und in der Lage zu sein, diese zu beherrschen.«
»Genau das meinte ich mit HINEINZIEHEN. Du klingst schon genau wie er.«
»Woher willst du das wissen? Ihr habt bestimmt seit zehn Jahren kein Wort miteinander gewechselt.«
Maman übergeht meinen Einwand durch hartnäckiges Schweigen, während sie die auf dem Boden aufgetürmten Handtücher faltet. »Lass uns nicht streiten. Dein Koffer steht immer noch im Flur, Schatz. Außerdem habe ich vorhin mit Omili telefoniert. Sie macht morgen Crêpes zum Mittagessen.«
»Ich fang gleich an zu packen«, murmele ich. Die Aussicht auf Omilis Crêpes ändert auch nichts an der Tatsache, dass ich mich wirklich gern mit Flori im Freibad verabredet hätte. Ich greife in die Hosentasche. Floris Zettel vermittelt mir für einen winzigen Augenblick das Gefühl inniger Verbundenheit. Gut, ich sehe ihn vielleicht in den nächsten sechs Wochen nicht, aber ich habe seine Telefonnummer.
»Und pack das Shirt mit dem blauen Fleck ein. Ich wasche das Ding dann in Perros. Wenn wir das über sechs Wochen hier liegen lassen, kommen Ameisen in deinen Schrank. Die riechen Zuckerwasser auf hundert Kilometer Entfernung. Und Ameisen in der Wohnung finde ich schlimmer als deine Surfbegeisterung.«
»Sehr witzig!« Alles in mir weigert sich, dieses Shirt in die Wäsche zu geben. Was, wenn der Fleck verblasst und alle meine Erinnerungen an Flori sich verlieren? Ich brauche diesen Fleck als Andenken an den legendärsten Tag EVER. Weil er auf lange Zeit der einzige Tag bleiben wird, an dem Flori und ich face-to-face miteinander gesprochen haben. Ich male ein unsichtbares Herz auf die Fensterscheibe.
»Jetzt pack deinen Koffer, Schatz, damit wir das Auto beladen können, sobald Papa aus dem Altenheim zurück ist.« Hinter Maman fällt die Badezimmertür ins Schloss.
Ich hätte jetzt gern abgeschlossen, um ungestört ein bisschen an Flori zu denken, aber alle Schlüssel im Haus sind vor Nico, meinem kleinen Bruder, versteckt. Ich zerre Floris zerknitterte Nachricht aus der Hosentasche und küsse die Buchstaben auf dem Papier. »Für dich hätte ich sogar freiwillig auf Surfstunden verzichtet, und die sind mir verdammt viel wert. Damit du’s weißt.«
Es regnet, als Papa mitten in der Nacht das Auto mit den restlichen Taschen belädt. Merle hat beschlossen, die ganze Nacht mit mir wachzubleiben, um mich bei den elf Stunden Autofahrt mental zu unterstützen. Kurz hinter Lille antwortet sie nicht mehr, dabei liegen noch mehr als acht Stunden Fahrt vor uns.
Mit Kopfhörern auf den Ohren zappe ich durch meine Depri-Playlist und denke an Flori. Er ist zwei Stufen über mir, kommt nach den Ferien in die zwölfte Klasse, hat einen Motorroller und die schönsten blauen Augen, in die ich jemals schauen durfte. Beim Schulfest vor einigen Tagen haben wir zusammen am Cocktailstand bedient. Er hat mir Sirup übers T-Shirt gekippt. Ein himmelblauer Unfall. Nachdem er sich tausendmal entschuldigt hat, wollte er es sogar waschen. Aber das wäre wirklich zu weit gegangen. Und dann hat er mir heute seine Telefonnummer zugesteckt. Es kribbelt in der Bauchmitte, sobald ich daran denke.
Nach dem Kofferpacken habe ich Floris Nummer ins Handy gespeichert und den Zettel in meiner Flori-Gedenkbox eingelagert. Soll ich ihm schreiben? Vielleicht wartet er morgen im Schwimmbad auf mich? Und wenn ich dann nicht komme, wird er ... Nein! Wie sieht das denn aus, wenn ich ihm sofort zurückschreibe? Den Fehler habe ich einmal gemacht. Leons Kumpels lachen immer noch über mich, wenn ich den Schulflur entlangkomme. Und die Aktion ist fast ein Jahr her. Diesmal muss ich es richtig machen. Ich schließe die Augen und beschwöre Floris Gesicht herauf: Die wunderbar leuchtend blauen Augen und sein Grübchen am Kinn, das sich verstärkt, sobald er lacht. Ich stelle mir vor, wie wir Hand in Hand im Freibad liegen und schlafe glücklich lächelnd ein.
In Caen wechselt Papa mit Maman den Platz am Steuer. Wir haben mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht und vor uns geht die Sonne langsam auf. Einzelne Nebelschwaden hüllen uns ein, versperren die Sicht auf die endlosen Weiten der Normandie. Papa schaltet das Radio ein, sucht seinen Lieblingssender und brummt leise vor sich hin. Die ersten französischen Klänge switchen in meinem Hirn die Sprache um, so als wäre ich nie weg gewesen. Neben mir schnarcht Nico. Der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken und ich versuche ihn vorsichtig zurück aufs Kissen zu drücken. Vergebens. Immer wieder sackt er nach vorn. Dann bleib halt so.
Zwei Stunden später erreichen wir unseren Lieblingsrastplatz mit Blick auf den Mont-Saint-Michel. Papa streckt sich, hält die Nase in die Luft und atmet tief durch. »Voilà! Wir haben es fast geschafft.«
Ich ziehe die Strickjacke fester um die Schultern. Der Wind fegt kühl über die angrenzenden Salzwiesen. Maman wirft Nico einen Fußball zu, den er sofort über den Rastplatz dribbelt und mit voller Absicht in meine Richtung schießt. Ich halte die Hände schützend vors Gesicht. Der Ball landet im Gebüsch.
»Kannst du nicht aufpassen?«
»Tschuldigung.« Er streckt mir die Zunge raus und steuert auf die Kletterweide am anderen Ende des Rastplatzes zu. Den Ball lässt er im Gebüsch liegen.
Siebenjährige Brüder sind nerviger als jede Hustenbazille!
Ich nehme Papa den Frühstückskorb ab. »Müssen wir auf der Fahrt eigentlich immer diesen Rentner-Sender France bleu hören? Davon fallen mir die Ohren ab.«
Papa lacht. »Sei froh, dass deine Mutter das Radioprogramm nicht bestimmt, ma puce, sonst müssten wir uns wahrscheinlich irgendein Violinkonzert anhören.«
»Okay, France bleu ist toll«, pflichte ich ihm grinsend bei. Mamans Vorliebe für Klassik wäre während einer elfstündigen Autofahrt nicht auszuhalten.
»Ich wusste, wir verstehen uns. Jetzt hol deinen Bruder vom Baum runter, damit wir frühstücken können.«
Gegen Mittag erreichen wir Perros-Guirec, oder Perros, wie die Einheimischen die idyllische Küstenstadt an der rosa Granitküste liebevoll nennen. Papa lässt die Fensterscheiben hinunter und die warme Sommerluft hinein. Das Glitzern des Wassers, der salzige Geruch des Meeres, das Kreischen der Möwen - alles ist so vertraut. In den Sommermonaten bevölkern Touristen die Cafés am Straßenrand, der Miniaturhafen mit den Tretbooten wimmelt von Besuchern und ein Spaziergänger huscht mit einem Baguette unterm Arm vor unserem Auto quer über die Straße. Im Sommer lässt sich nicht ausmachen, wer zu den wenigen Einwohnern der Stadt gehört und wer hier Urlaub macht. Gleich hinter dem Kreisverkehr schlängelt sich die Küstenstraße den Felsenberg hinauf, bieten einen traumhaften Blick über das azurblaue Meer. Eingerahmt von duftenden Hortensienhecken reihen sich historischen Villen aus rosa Granitsteinen aneinander. Und am Horizont schaukeln Fischerboote vor der Pirateninsel, wie Nico die unbewohnte Île Tomé nennt, die in der Bucht vor Perros aus dem Wasser ragt. Sie ist unter der Wasseroberfläche fast vollständig von Felsen umgeben, so wie der komplette Küstenstreifen an der Côte de Granit Rose.
In der Nähe vom Plage de Trestraou, dem längsten und wohl schönsten Sandstrand in Perros, lebt Omili, die Mutter meines Vaters. Sie vermietet Ferienwohnungen, einige mit Blick aufs Meer. Als Kind hat Maman hier im Urlaub mit ihren Eltern gewohnt und später dann Omilis Sohn geheiratet. Praktisch für die jährliche Urlaubsplanung.
Omili steht an der Straße und winkt. Sie trägt ein knielanges, ärmelloses Kleid, ihre dunklen Haare werden vom Wind zerzaust. Ich umarme sie bei der Begrüßung länger als gewöhnlich. Sie riecht vertraut nach Marmelade und salziger Meeresluft.
»Du bist wieder gewachsen. Eine richtige Dame ist aus dir geworden.« Sie streichelt meine Wange. »Deine Frisur ist hübsch.«
»Findest du?«
Omili umarmt mich ein weiteres Mal. »Ja. In diesem Sommer werden wir auf dich aufpassen müssen.«
Ich schweige. Warum soll ich ihr anvertrauen, dass bisher noch keinem aufgefallen ist, dass ich hübsch bin? Keinem, außer Flori. Vielleicht. Aber der ist nicht hier und ich bin nicht bei ihm und am Ende der Ferien wird sich zeigen, ob er mich immer noch mag. Doch das Ende der Ferien liegt in hoffnungslos weiter Ferne. Je länger ich darüber nachdenke, desto schwerer wird mein Herz. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in Perros jemals Heimweh nach Köln hatte.
Mein Handy vibriert.
Merle: Bin mit Tim und Lisa in der City. Der schicke Berliner soll doch unsere Stadt lieben lernen.
Ich: Und dich.
Der arme Tim. Kurz vor den Sommerferien ist er von Berlin nach Köln umgezogen und Merle hat die Jagd auf sein Herz eröffnet. Mit all ihren weiblichen Waffen. Nur Tim scheint davon unbeeindruckt.
Merle: Warum auch nicht? Er ist doch zuckersüß!!!
Ich: Sowas von ... gar nicht! Niemand kommt an Flori dran!
Merle: Aber von dem muss ich die Finger lassen, also bleibt mir nur die Chance mich an Tim ranzuschmeißen.
Ich: Weiß er das schon?
Merle: Ich glaube nicht ... hihi ... aber, ich werde ihn schon rumkriegen. Gehen gleich zum Dom.
Ich: Hoch?
Merle: Klar!
Ich: Hast du die passenden Schuhe an? Oder läufst du die fünfhundertdreiunddreißig Stufen in Pumps hinauf?
Merle schickt ein Selfie. Kurzer Jeansrock, Top, darüber die Jeansjacke, die wir vor den Ferien in einem Secondhand-Shop gekauft haben, und die rosafarbenen Glitzer-Ballerinas, von denen Merle beim letzten Einkaufsbummel zwei fette blutige Blasen bekommen hat.
Ich: Dann viel Erfolg.
Ich schüttle den Kopf. Mit Turnschuhen wäre der Weg auf den Turm bestimmt angenehmer. Aber Merle ist eben Merle. Und sie fehlt mir jetzt schon.
Merle: Hier schau mal. An was erinnert dich die Farbe?
Merle hat blauen Nagellack gekauft und vom Fläschchen ein Bild geschickt.
Ich: An das Meer?
Merle: Du spinnst. Die Farbe erinnert an Floris Augen und du ziehst jetzt los und kaufst dir auch ein Fläschchen blauen Nagellack, damit du an ihn denken kannst.
Merle ist so süß! Moment. Floris Augen?
Ich: Warum hast DU dir den Nagellack dann gekauft?
Merle: Warum wohl? Tim hat mindestens genauso schöne blaue Augen wie dein Prinz.
Klar. Was sonst? Merle hat eine neue Nummer eins gefunden. Hoffentlich merkt Tim bald, dass Merles Liebes-Rangliste sehr instabil ist und er schneller im Abseits landen kann, als ihm lieb ist.
Aber Merle hat recht. Vielleicht gehe ich auch gleich in die Stadt und hole mir ein Nagellackfläschchen. Am besten in schwarz. Das passt zu diesem quälenden Heimwehgefühl.
Nach dem Mittagessen räumt Papa das Auto leer. Mein Skatebord lehnt bereits an der Veranda. »Ich geh kurz nachschauen, ob das Meer noch da ist«, rufe ich Richtung Terrasse. Schnell weg. Wer weiß, ob Maman mir Nico aufs Auge drückt. Den kann ich nicht gebrauchen, weil ich ein bisschen leiden muss. Und so etwas macht man am besten allein. In Gedanken bin ich an jenem Ort, an dem ich jetzt gern wäre. Köln. Ich, anstatt von Lisa und Tim mit Merle unterwegs. Nicht in der City, sondern im Freibad. Dort hätte ich Flori gesehen, ihn vielleicht sogar in ein Gespräch verwickelt. Hinterher hätte er mich auf ein Eis eingeladen und zum Abschied geküsst. Diese Tagträume sind extrem ... unrealistisch. Niemals hätte ich den Mut aufgebracht, Flori in ein Gespräch zu verwickeln. Wahrscheinlich hätte ich irgendwann angefangen, wirres Zeug zu labern. Hinterher hätte ich Merle beim Retten der Situation zugeschaut und mich über meine eigene Dummheit geärgert.
Ich steuere auf den Drogeriemarkt zu. Soll ich wirklich? In der hinterletzten Reihe stehen die Nagellackfläschchen. Daneben all die sonstigen Kosmetikartikel, die bei Merle auch herumstehen und für die man Abitur braucht, um zu verstehen, zu welchem Anlass welche Creme benutzt wird. Farbe an den Fußnägeln lasse ich mir gefallen. Meist probiere ich die Sorten, die Merle kauft, die ihr aber nach einem Probedurchlauf in der Schule nicht mehr zusagen. Knallrot. Türkis. Lichtgrün. Für die Füße reicht es. So viel Geld für Zeugs, das man sich irgendwo hinschmiert, pudert oder klebt, ist bei mir die absolute Verschwendung. Maman sähe zwar gern, dass ich mein Zimmer mit Kosmetikartikeln dekorieren würde, anstelle des ganzen Surfzubehörs. Sie will einfach nicht einsehen, dass die beste Schminke im Wasser nichts taugt und verlaufende Wimperntusche als Pandamaske echt unsexy wirkt. Dann lieber ungeschminkt.
Ich greife das Fläschchen mit dem schwarzen Nagellack, drehe es zwischen den Fingern hin und her, stelle es aber wieder zurück. Vielleicht sollte ich doch blau nehmen. Schnell kontrolliere ich Merles Bild. Azurblau oder was steht da? Wie Floris Augen. Nein! Ich will nicht permanent daran erinnert werden, dass ich Floris Augen in diesen Sommerferien nicht sehen werde. Also doch dieses grottige Ich-bin-gefrustet-Schwarz, um meine Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen? Schwarze Fußnägel erwecken den Eindruck, einem wäre etwas mit voller Wucht auf die Zehen gefallen.
Ich scanne die einzelnen Farben ab. Rosa geht gar nicht. Alle Nuancen von Blau sind ausgeschlossen. Rot - zu extravagant und Grün sieht nach verfaulten Füßen aus. Ich greife das neonorangefarbene Fläschchen. Miese Stimmung lässt sich auch mit Orange vertreiben. Die Farbe schreit förmlich nach Protest. Mein erstes Nagellackfläschchen. Ich bin gespannt, was Merle dazu sagt.
Ich bezahle an der Kasse und steige dann grinsend aufs Skateboard. Im Slalom lasse ich mich von der Straße hinunter zum Strand treiben. Ich hätte meine Sonnenbrille mitnehmen sollen. Auf einer Bank mit Blick auf den Plage de Trestraou pinsle ich meine Fußnägel ein und knipse ein Bild für Merle.
Ich: Was sagst du?
Neonorange. Meine Sommerferien-Protestfarbe. Maman wird es leider lieben, weil es mich für einen kurzen Moment in die Tochter verwandelt, die sie gern hätte.
Merle: Die Farbe brauche ich auch.
Ich: Dann kauf sie dir doch. Was macht Tim?
Merle: Der hat gerade meinen Smoothie bezahlt.
Ich: Und? Seid ihr schon zusammen?
Merle: Quatsch! Wo denkst du hin. Tim ist anders.
Ich: Blind?
Er muss blind sein, sonst hätte er sich längst Hals über Kopf in sie verliebt, in ihre Lillifee-Locken, das süße Stupsnäschen und die hübschen mandelförmigen Augen. Dann hätte er ihr nicht nur den Smoothie ausgegeben, sondern die halbe Welt zu Füßen gelegt.
Merle: Er braucht vielleicht ein bisschen länger. Morgen gehen wir ins Freibad. Dann muss er sich in mich verlieben. Ich ziehe den rosafarbenen Bikini an.
Ich: Den Hauch von Nichts? Dann kann er wirklich nicht mehr anders. Wenn er danach nicht verliebt ist, ist er entweder wirklich blind oder schwul.
Merle: Niemals! Der ist garantiert nicht schwul!!!
Ich: Dann hast du Flori heute nicht gesehen?
Merle: Nein. Wenn er mir morgen über den Weg läuft, grüße ich ihn von dir. Hat er sich gemeldet?
Der Platz neben mir auf der Bank wird von einer Frau mit drei Strandtaschen in Beschlag genommen. Seufzend stellt sie ihre Last dicht neben mir ab. Ich rücke ein Stück von ihr weg.
Ich: Ich habe ihn noch nicht angeschrieben.
Merle: WAS???
Ich weiß, ich bin ein Feigling. Was, wenn er mich gar nicht mag? Wenn er mir seine Nummer nur gegeben hat, damit er sich über mich lustig machen kann? So wie Leon.
Merle: Schreib ihn auf jeden Fall an. Schicke ihm ein Bild vom Strand. Irgendwas. Sonst denkt er, du magst ihn nicht ...
Ich: Soll ich wirklich?
Merle: Auf jeden!
Merle hat gut reden. Sie ist hübsch und witzig und kein bisschen verklemmt. Sie ist genau das Gegenteil von mir. Treffe ich auf einen Jungen, den ich mag, fange ich an zu stottern und wirres Zeug zu labern.
Ich: Ich weiß nicht ...
Merle: Was soll ich bloß mit dir machen???? So kriegst du nie einen ab! Denk dran, du wolltest nicht ungeküsst sterben.
Danke auch! Der Sand auf den Stufen zum Strand hinunter knirscht unter meinen Schritten. Blasse Urlauber liegen auf bunten Tüchern, einige haben Sonnenschirme und hindern diese mit Steinen am Davonfliegen. Auf den Trampolinen vom Strandclub üben einzelne Jugendliche Saltos. Ich schlängle mich rechts an den Handtuchplätzen vorbei.
In der Nähe des Volleyballfelds lasse mich in den Sand plumpsen. Das sind doch Sylvie und Manon? Die Zwillinge spielen mit zwei braungebrannten Strandboys Volleyball. Die Jungs tragen neonorangefarbene Badehosen.
Ich muss kichern und schiele auf meine frisch lackierten Fußnägel. Ich habe die beiden im letzten Jahr kennengelernt. Sie haben auf dem Zeltplatz unweit vom Plage de Trestraou gecampt. Ab und zu bin ich bei ihnen gewesen, um meinem Bruder zu entkommen.
Die beiden haben mich noch nicht bemerkt. Manon spielt in einem Zweierteam zusammen mit einem blonden Typen, der Flori ähnelt. Ihr Blick verfolgt energisch den Ball, ihre Bewegungen sind katzenhaft und treffsicher. Ihre Schwester bildet das Team mit einem großen dunkelhaarigen Kerl, dessen Frisur an einen Hund erinnert. Vergeblich schiebt er die Haare aus dem Gesicht, die ihm der Wind immer wieder vor die Augen weht. Irgendwie ganz niedlich.
Sylvie trägt einen giftgrünen Bikini, bei dem ein einzelnes Wort zu viel der Beschreibung wäre. Sie kann so etwas tragen, ohne sich am Strand als Witzfigur zu blamieren. Leider hilft ihr das gute Aussehen nicht bei der Annahme des Schmetterballs, den der Blonde ihr um die Ohren schießt. Ich höre sie kichern, während sie über das Spielfeld tänzelt, mit ihrem knallgrünen Hinterteil wackelt und ihrem Spielpartner einen schmachtenden Blick zuwirft. Wie Merle. Ich muss grinsen. Ob sie Tim mittlerweile um den Finger gewickelt hat? Ich mache ein Foto von Sylvie und schicke es Merle.
Ich: Die Farbe würde dir auch stehen.
Merle: Grün? Spinnst du? Außerdem finde ich den Kerl daneben viel interessanter. Kannst du den nochmal heranzoomen?
Ich: Du bist ja witzig!
Der Kerl mit der Hundefrisur wirft Manon den Ball zu, den sie geschickt annimmt und zu ihm zurückspielt. Eigentlich juckt es mir in den Fingern. Zu gern würde ich eine Runde mitmachen und ganz tief in mir macht sich ein seltsames Gefühl breit. Ich habe die zwei echt ein wenig vermisst. Schnell verdränge ich diesen Augenblick der Schwäche, versuche ein mürrisches Gesicht aufzusetzen. Wenn man miese Stimmung verbreiten will, dann muss man mit dem entsprechenden Gesichtsausdruck beginnen. Mundwinkel runter und die Augen gelangweilt zusammengekniffen. Ich kontrolliere den Gesichtsausdruck mit der Selfie-Funktion meines Handys. Naja. Ein Anfang.
Manon bringt den Ball ins Spiel. Sylvie nimmt an, befördert ihn direkt ins gegnerische Feld. Oh man, wie blöd. Die Chance nutzt jetzt der Blonde, springt hoch, fängt den Ball in der Luft ab und schmettert ihn zurück auf Sylvie. Kreischend reißt sie die Arme hoch, lenkt den Ball ins ... aua, verdammt ... doch nicht auf mich! Verflixt, meine Nase. Meine Nase!
Rot läuft mir das Blut zwischen den Fingern hindurch und tropft in den Sand.
»Désolé.« Sylvie schlägt sich die Hand vor den Mund und fällt vor mir in den Sand. »Oh Caro, das tut mir so leid!« Hinter ihr taucht der Dunkelhaarige auf, dann sehe ich einen blonden Kopf und Manons rundes Gesicht.
»Das wollte ich nicht, mon amie«, jammert sie und umarmt mich hektisch.
Das Blut tropft auf meine nackten Oberschenkel.
»Ich brauche ein Taschentuch«, murmle ich. Mit dem Handrücken wische ich die rotbraunen Flecke über meine helle Haut. Die Frau auf dem Strandlaken neben uns reicht mir ein Stück Küchenpapier. Blitzartig färben es die Blutstropfen dunkelrot. Besser die Augen schließen.
»Warte, ich hole dir ein Kühlpack«, höre ich eine dunkle Jungenstimme und sehe den Kerl mit der Hundefrisur aus dem Augenwinkel im Slalom um die Strandbesucher herumrennen. Ich brauche sowas nicht, will ich ihm hinterherrufen, aber Sylvie drückt meinen Kopf wieder hinunter, bevor ich überhaupt zu Wort komme. »Unten lassen!«
Ich gehorche, während Sylvie unaufhörlich auf mich einredet und mir über den Kopf streichelt. Ich ziehe ihn weg, bin doch kein kleines Kind mehr. Kann ich jetzt wieder hochgucken? Als ich es versuche, drückt Sylvie mich wieder hinunter. Mit geschlossenen Augen zähle ich bis zwanzig.
»Hier, das wird dir helfen.« Im selben Moment spüre ich ein Kühlpack im Nacken. In der neonorangefarbenen Badehose stecken zwei braune Beine mit kräftigen Waden.
»Danke.« Schnell die Augen schließen. Hundefrisur und braune Beine - dieses Bild wird mich für immer verfolgen.
»Kannst es nachher im Strandclub abgeben«, sagt er.
Ich nicke und blinzle Sylvie von der Seite an. »Du kannst echt immer noch nicht Volleyball spielen.«
»Nicht so viel reden, Süße. Warte lieber, bis die Blutung aufgehört hat.«
Vorsichtig hebe ich den Kopf. Das Kühlpack rutscht mir den Rücken hinunter. »Und? Schlimm?«
Sylvie reißt die Augen auf, schürzt die Lippen, schüttelt dann aber den Kopf. »Könnte schlimmer aussehen.«
»Braucht ihr hier noch Hilfe?«, fragt die dunkle Jungenstimme, die zu den braunen Beinen in den orangefarbenen Shorts gehört.
»Nein. Geht schon mal weiterspielen. Wir kommen gleich nach«, antwortet Sylvie.
Die beiden Typen ziehen ab. Irre ich mich, oder hat sich der Dunkelhaarige gerade umgedreht und mir mitfühlend zugelächelt? Quatsch! Unter dem Schlag hat wahrscheinlich auch mein Urteilsvermögen gelitten.
»Die Nase ist jedenfalls gerade«, bemerkt Manon trocken.
»Vielen Dank für diese aufmunternden Worte.« Ich halte meine Hand auf. »Hast du noch ein Tuch?«
Sylvie legt das heruntergefallene Kühlpack zurück in meinen Nacken und schüttelt den Kopf. »Warum sitzt du hier eigentlich still und heimlich, statt zu uns rüberzukommen?« Dabei heben sich ihre geschwungenen Augenbrauen vorwurfsvoll.
Sie ist wirklich genau wie Merle! Ich muss schmunzeln. »Ich habe eure Volleyball-Künste beobachtet. Aber da ist noch viel Luft nach oben.«
Sie nimmt mich in den Arm. »Geht es denn? Hoffentlich wird das nicht blau. Wäre echt blöd ...« Ihr Blick wandert zu den beiden neonorangefarbenen Badehosen-Typen, die wieder auf dem Spielfeld stehen und sich den Ball gegenseitig zuspielen.
»Warum?«
Sie lacht auf. »Ach klar, ich habe ja ganz vergessen, dass du dich nur für dein Surfbrett interessierst. Ich würde mich mit einer blauen Nase nicht unter die Leute trauen.«
Manon, die bisher nur still neben mir gesessen hat, stupst mich an und zeigt auf ihre Zwillingsschwester. »Sie geht sogar geschminkt ins Bett, damit sich der Kerl in ihrem Traum nicht erschreckt.«
Manon hält mir eine Faust entgegen, die ich grinsend abchecke. »Geht aber wieder. Wird schon nicht so schlimm aussehen. Außerdem brauchst du dann keine Angst vor Konkurrenz zu haben.« Ich nicke in Richtung der beiden Badehosen-Jungs.
Sylvie drückt mich. »Dann verzeihst du mir?«
»Natürlich. Aber ich muss mir das Blut aus dem Gesicht waschen. Kommst du kontrollieren, ob hinterher alles weg ist?«
Sylvie zieht mich hoch und tänzelt voraus.
Die Sprungtürme stehen bis zur Hälfte im Wasser. Die Flut rollt mit kräftigen Wellen an und Kids mit Luftmatratzen und Body-Boards* lassen sich von ihnen ans Ufer tragen. Eigentlich die perfekte Zeit zum Surfen. Am unteren, unbewachten Strandabschnitt biegen sich zwei Fahnen im Wind, die den Surfschülern anzeigen, in welchem Bereich sie sich im Wasser aufhalten dürfen. Von hier aus kann ich nicht erkennen, ob Chris unter dem Strohhut steckt oder einer der anderen Surflehrer der Schule.
Ich tauche die Hände ins Wasser, schaufle es mir ins Gesicht und wische die rote klebrige Masse aus Mund und Nase. Blutgeschmack ist widerlich und ich unterdrücke den Würgereiz. »Wie sieht es aus?«
Sylvie hebt einen Daumen. »Mit ein bisschen Make-up sieht man bestimmt nichts. Hast du Lust eine Runde mitzuspielen?«
Kopfschüttelnd trockne ich die nassen Hände an den Shorts ab. »Ich wollte gleich mal rüber zur Surfschule, vielleicht ist mein Onkel da und hat Zeit für 'ne Runde. Nimmst du in diesem Jahr auch Stunden?«
Sylvie deutet auf die Jungs in den neonorangefarbenen Badehosen. »Vielleicht bekomme ich ja Privatunterricht von den beiden Hübschen da drüben.«
Ich schaue hinüber. Dieses Mal irre ich mich nicht: Der dunkelhaarige Badehosen-Typ hat mir tatsächlich zugelächelt.