Wolfram Eilenberger

Feuer der Freiheit

Die Rettung der Philosophie
in finsteren Zeiten
1933–1943

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © Sotheby’s/akg-images, Gaston La Touche, Feu d’artifice sur Paris

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96460-8

E-Book: ISBN 978-3-608-12037-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
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Für Venla und Kaisa,
Frauen auf dem Weg

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen …

Johann Wolfgang von Goethe,
»Prometheus« (1789)

Fool me once, fool me twice
Are you death or paradise?

Billie Eilish, »No Time To Die« (2020)

I. Funken

1943

Beauvoir ist in Stimmung, Weil in Trance,
Rand außer sich und Arendt im Alptraum

Das Projekt

»Warum überhaupt beginnen, wenn man doch wieder innehalten muß?«[1] Für einen Anfang nicht übel. Genau davon sollte der Essay handeln: von der Spannung zwischen der Endlichkeit des eigenen Daseins – und der offensichtlichen Unendlichkeit dieser Welt. Schließlich drohte dieser Abgrund bereits nach kurzem Nachdenken jeden Plan, jeden Entwurf, jedes selbst gesteckte Ziel dem Absurden preiszugeben. Und zwar ganz egal, ob es nun darin bestand, gleich den gesamten Erdball zu erobern oder nur den eigenen Vorgarten zu pflegen.[2] Letztlich lief es auf dasselbe hinaus. Wenn schon niemand anderes, so würde die Zeit selbst das erschaffene Werk dereinst nichten und für ewig vergessen machen. Gerade so, als ob es nie gewesen wäre. Ein Schicksal, so sicher wie der eigene Tod.

Warum also überhaupt etwas tun und nicht vielmehr nichts? Oder, besser gleich in Form einer klassischen Fragetriade: »Welches ist des Menschen Maß? Welche Ziele kann er sich setzen, und welche Hoffnung darf er hegen?«[3] Ja, das trug. Das war sie, die gesuchte Struktur!

Von ihrem Ecktisch im zweiten Stock des Café Flore sah Simone de Beauvoir den Passanten nach. Da liefen sie. Die anderen. Jeder und jede ein eigenes Bewusstsein. Unterwegs mit ihren ganz eigenen Ängsten und Sorgen, Plänen und Hoffnungen. Genauso wie sie auch. Als nur eine unter Milliarden. Ein Gedanke, der ihr jedes Mal wieder einen Schauer über den Rücken jagte.

Beauvoir hatte sich mit der Zusage nicht leichtgetan. Was nicht zuletzt an der von Jean Grenier als Herausgeber gewünschten Thematik lag. Für einen Sammelband zu den bestimmenden geistigen Strömungen der Gegenwart wollte er von ihr einen Text über »den Existentialismus«.[4] Dabei hatten weder Sartre noch sie diesen Begriff bislang für sich beansprucht. Er war eine jüngere Erfindung des Feuilletons, nichts weiter.

Die Ironie der Themenstellung war damit schwer zu überbieten. Denn wenn es überhaupt ein Leitmotiv gab, das ihren und Sartres Weg in den vergangenen zehn Jahren bestimmt hatte, so lag dies in der konsequenten Weigerung, freiwillig in Schubladen zu kriechen, die andere bereits für sie entworfen hatten. Genau diese Art der Revolte war der Kern ihres Projekts gewesen – war es bis heute.

Beste Jahre

Sollten die anderen es ruhig »Existentialismus« nennen. Sie würde den Begriff bewusst vermeiden. Und stattdessen als Autorin einfach das tun, was sie seit den ersten Einträgen in ihre Jugend-Tagebücher am liebsten tat: sich möglichst konzentriert den Fragen widmen, die sie in ihrem Dasein umtrieben – und deren Antwort sie noch nicht kannte. Seltsamerweise waren es noch immer dieselben. Allen voran die Frage nach dem möglichen Sinn ihrer eigenen Existenz. Sowie die Frage nach der Wichtigkeit anderer Menschen für das eigene Leben.

Nie zuvor allerdings hatte Beauvoir sich in diesem Nachdenken so sicher und frei gefühlt wie jetzt, im Frühling des Jahres 1943. Auf dem Höhepunkt eines weiteren Weltkriegs. Inmitten ihrer besetzten Stadt. Trotz Essensmarken und Versorgungsengpässen, trotz chronischen Kaffee- und Tabakentzugs (Sartre war mittlerweile so verzweifelt, dass er jeden Morgen auf dem Boden des Flore herumkroch, um Stummel des Vorabends einzusammeln), trotz täglicher Kontrollschikanen und Ausgangssperren, trotz der allgegenwärtigen Zensur und deutschen Soldaten, die sich selbst hier, im Montparnasse, mit immer größerer Schamlosigkeit in den Cafés tummelten. Solange sie nur genug Zeit und Ruhe zum Schreiben fände, war auch weiterhin alles andere zu ertragen.

Zum Herbst würde ihr erster Roman bei Gallimard erscheinen.[5] Ein zweiter lag fertig in der Schublade.[6] Auch ein Theaterstück[7] war gut im Werden. Nun sollte der erste philosophische Essay folgen. Sartres 1000-seitiges Werk »Das Sein und das Nichts« lag ebenfalls zum Druck beim Verlag. Binnen Monatsfrist würde sein Drama »Die Fliegen« am Théâtre de la Cité Uraufführung feiern. Sein bisher politischstes Stück.

In Wahrheit war all dies die geistige Ernte eines gesamten Jahrzehnts, in dessen Verlauf sie und Sartre miteinander tatsächlich einen neuen Stil des Philosophierens geschaffen hatten. Sowie – weil das eine nun einmal untrennbar mit dem anderen einherging – neue Arten und Weisen, ihr Leben zu führen: privat, beruflich, literarisch, erotisch.

Noch während ihres Philosophiestudiums an der École Normale Supérieure – Sartre lud sie zu sich ein, um sich Leibniz erklären zu lassen – hatten die beiden einen Liebespakt der besonderen Art geschlossen: Sie hatten einander unbedingte geistige Treue und Ehrlichkeit versprochen – bei gleichzeitiger Offenheit für weitere Anziehungen. Absolut notwendig füreinander würden sie sein, gern zufällig auch für andere. Eine dynamische Dyade, in der sich nach ihrem Willen die ganze weite Welt spiegeln sollte. Zu immer neuen Anfängen und Abenteuern hatte dieser Entwurf sie seither getragen: von Paris bis nach Berlin und Athen; von Husserl über Heidegger bis Hegel; von Traktaten über Romane zu Theaterstücken. Von Nikotin über Meskalin zu Amphetamin. Von der »kleinen Russin« über den »kleinen Bost« bis zur »ganz kleinen Russin«. Von Nizan über Merleau-Ponty zu Camus. Er trug sie noch immer, ja trug sie fester und bestimmter denn je (»Eine Liebe zu leben bedeutet, sich durch sie auf neue Ziele hin zu entwerfen«).[8]

Ihr Wochendeputat (maximal 16 Stunden) als Philosophielehrende erledigten sie mittlerweile ohne größeres Engagement. Anstatt sich an den Lehrplan zu halten, ließen sie ihre Schüler nach kurzen Eingangsreferaten frei miteinander diskutieren – immer ein Erfolg. Es deckte die Rechnungen. Zumindest einen Teil davon. Schließlich hatten sie nicht nur für sich selbst aufzukommen, sondern noch immer für weite Teile ihrer »Familie«. Auch nach fünf Jahren in Paris stand Olga mit ihrer Karriere als Schauspielerin erst in den Startlöchern. Der kleine Bost schaffte es als freier Journalist ebenfalls kaum über die Runden, und Olgas jüngere Schwester, Wanda, suchte weiterhin verzweifelt nach etwas, das ganz und gar zu ihr passte. Allein Natalie Sorokin, als jüngster Neuzuwachs, stand fest auf eigenen Füßen: Gleich zu Kriegsbeginn hatte sie sich auf das Stehlen von Fahrrädern spezialisiert und betrieb seither einen gut organisierten – von den Nazis offenbar geduldeten – Schwarzmarkthandel immer breiteren Sortiments.

Die Situation

Die Erfahrungen des Krieges und der Okkupation hatte sie noch einmal enger zusammenwachsen lassen. Gerade in den vorangegangenen Monaten hatte ihr Zusammenleben, wie es Beauvoir als eigentlichem Familienoberhaupt schien, richtig zu sich gefunden. Ein jeder genoss seine Rolle, ohne auf diese reduziert zu bleiben. Jeder kannte seine Ansprüche und Rechte, ohne allzu starr darauf zu beharren. Sie waren jeder für sich glücklich, aber gemeinsam trotzdem nicht langweilig.

Die bevorstehende Urteilsverkündung beunruhigte Beauvoir deshalb nicht allein um ihrer selbst willen. Seit mehr als einem Jahr waren die Schnüffler der Vichy-Behörden mit ihrer Untersuchung zugange. Mehr zufällig hatte Sorokins Mutter in einer Schublade eine intime Briefkorrespondenz ihrer Tochter mit deren damaliger Philosophielehrerin gefunden. Daraufhin hatte sie eigene Nachforschungen angestellt und war mit dem Material schließlich zu den Behörden gegangen. Das Vorgehen, so ihre Klage, sei offenbar immer das gleiche: Zunächst freunde sich Beauvoir mit den sie bewundernden Schülerinnen oder Ex-Schülerinnen privat an, verführe sie dann sexuell und leite sie nach einiger Zeit gar an ihren langjährigen Lebenspartner, den Philosophielehrer und Literaten Jean-Paul Sartre, weiter. Ins Zentrum der Ermittlungen rückte damit der Tatbestand »Ermunterung zu ausschweifendem Verhalten«[9], womit Beauvoir bei einer etwaigen Schuldigsprechung Konsequenzen drohten, von denen der bleibende Entzug ihrer Lehrerlaubnis noch die leichteste sein würde.

Fest stand bisher nur, dass Sorokin, Bost und Sartre bei ihren Vorladungen dichtgehalten hatten. Außer den besagten, nicht letztschlüssig inkriminierenden Briefen an Sorokin, gab es zudem wohl keine direkten Beweise. Dafür gewiss jede Menge Indizien, die den Schnüfflern des Pétain-Regimes ein ausreichend präzises Bild davon vermittelten, auf welcher Seite des politischen Spektrums Beauvoir als Lehrkraft wohl einzuordnen war – und wofür sie mit ihrer gesamten Existenz einstand.

Anstatt in Wohnungen, lebten sie seit Jahren gemeinsam in Hotels des Montparnasse. Dort tanzten und lachten, kochten und tranken, stritten und schliefen sie miteinander. Ohne äußeren Zwang. Ohne letzte Regeln. Und vor allem auch – soweit es eben möglich war – ohne falsche Versprechen und Verzichte. Konnte nicht schon ein einfacher Blick, eine lose Berührung, eine gemeinsam durchwachte Nacht der mögliche Funke in das Feuer eines abermals erneuerten Lebens ein? Sie wollten es glauben. Ja, soweit es Beauvoir und Sartre betraf, war der Mensch überhaupt nur als Anfänger wirklich bei sich.

Man kommt nie irgendwo an. Es gibt nur Ausgangspunkte, Anfänge. Mit jedem Menschen bricht die Menschheit von neuem auf. Und daher findet der junge Mensch, der seinen Platz in der Welt sucht, diesen zunächst nicht und fühlt sich deshalb verlassen …[10]

Das war eben auch eine Weise zu erklären, weshalb sie Olga, Wanda, den kleinen Bost und Sorokin einst unter ihre Fittiche, aus der Provinz zu sich nach Paris genommen, sie dort gestützt, gefördert und finanziert hatten. Um diese jungen Menschen von ihrer offenbaren Verlassenheit in die Freiheit zu führen. Sie zu ermuntern, sich ihren eigenen Platz in der Welt zu schaffen, anstatt einfach einen schon bereitgestellten einzunehmen. Dies geschah aus einem Akt der Liebe heraus, nicht der Unterwerfung, des lebendigen Eros, nicht der blinden Ausschweifung. Einem Akt, bei welchem die Menschlichkeit gewahrt blieb. Denn: »Der Mensch ist nur, indem er sich selbst erwählt; wenn er es ablehnt, sich zu erwählen, vernichtet er sich.«[11]

Todsünden

Sofern es gemäß ihrer neuen Philosophie überhaupt etwas gab, das den nach dem Tod Gottes frei gewordenen Platz der »Sünde« einnehmen konnte, war es die willentliche Verweigerung eben dieser Freiheit. Genau diese selbst verschuldete Vernichtung galt es um jeden Preis zu vermeiden. Sowohl für sich selbst wie für andere. Sowohl privat wie politisch. Und zwar im Hier und Jetzt, im Namen und als Feier des Lebens selbst. Und nicht etwa, wie es der mutmaßliche »Existentialist« Martin Heidegger von der deutschen Provinz aus zu lehren schien, im Namen eines »Seins zum Tode«. »Das menschliche Sein existiert in der Gestalt von Entwürfen, die nicht Entwürfe auf den Tod sind, sondern auf bestimmte Ziele hin. … Man ist also nicht zum Tode.«[12]

Das einzige Sein, das demnach zählte, war das Sein dieser Welt. Die einzig tragenden Werte waren diesseitige Werte. Ihr einzig wirklich tragender Ursprung der Wille eines freien Subjekts zum Ergreifen seiner Freiheit. Das war es, was es eigentlich hieß, als Mensch zu existieren.

Exakt auf diese Form des Existierens, auf deren Vernichtung und Auslöschung, hatten es Hitler und die Seinen abgesehen. Genau dies war ihr Ziel gewesen, als sie vor drei Jahren auch über Beauvoirs Land hergefallen waren – um nach ihrem Endsieg über die gesamte Welt noch dem letzten verbliebenen Menschen auf Erden genau vorzuschreiben und aufzuzwingen, wie er seinen Essay zu schreiben oder auch nur den Vorgarten zu pflegen habe.

Nein, sie hatte wahrlich Besseres zu tun, als sich um das Urteil dieser faschistischen Spießer zu kümmern. Sollten sie ihr die Lehrerlaubnis nur entziehen! Sie würde sich schon aus eigenen Stücken neu zu entwerfen wissen! Vor allem jetzt, wo sich viele Türen gleichzeitig zu öffnen schienen.

Die Moral

Beauvoir war voller Vorfreude auf die Diskussionen. Am Abend würde es zur Generalprobe von Sartres jüngstem Stück gehen. Danach, wie immer, auf die Piste. Auch Camus hatte sein Kommen angekündigt. War sie ihren Gedanken bislang richtig gefolgt, eröffneten diese gar die Möglichkeit einer neuen Bestimmung des Menschen als handelndes Wesen. Und zwar eine, die weder wie bei Sartre letztlich inhaltsleer war noch wie bei Camus notwendig absurd bleiben musste. Mit ihrem Essay würde sie eine weitere Alternative aufzeigen. Einen eigenen, dritten Weg.

Soweit sie sah, wäre das Maß genuin menschlichen Handelns demnach durch zwei Extreme von innen heraus begrenzt: zum einen durch das Extrem totalitärer Übergriffigkeit, zum anderen durch dasjenige absolut asozialer Selbstbescheidung. Konkret gesprochen, fand es sich also zwischen dem notwendig einsamen Ziel nach Eroberung der gesamten Welt sowie dem ebenso einsamen Bestreben nach Kultivierung des nur eigenen Vorgartens. Schließlich gab es, man musste ja nur aus dem Fenster blicken, auch noch andere Menschen als einen selbst. Deshalb hatten sich auf dieser Basis auch die Ziele moralischen Engagements zwischen nur zwei Extremen zu halten: dem des selbstentleerten und notwendig ungerichteten Mitleids für alle anderen leidenden Menschen auf der einen und der ausschließlichen Sorge für rein private Belange auf der anderen Seite. Als Szene des wirklichen Lebens: »Eine junge Frau ärgert sich, weil ihre Schuhe Löcher haben, durch die das Wasser eindringt. Indessen weint vielleicht eine andere über die Greuel der chinesischen Hungersnot.«[13]

Beauvoir hatte diese Situation sogar einst selbst erlebt. Die junge Frau mit den Löchern in den Schuhen war sie selbst gewesen (besser gesagt: eine frühere Version ihrer selbst). Die weinende andere aber ihre damalige Kommilitonin Simone Weil. Nie wieder hatte sie seither einen Menschen getroffen, der spontan in Tränen ausbricht, weil sich irgendwo in fernen Weiten eine Katastrophe ereignet, die rein gar nichts mit dem eigenen Leben zu tun zu haben schien. Diese andere Simone in ihrem Leben, sie war ihr noch immer ein Mysterium.

Beauvoir hielt inne, sah auf die Uhr. Es war Zeit. Schon morgen früh würde sie ins Café Flore zurückkehren, um von neuem über ihr Rätsel nachzudenken.

Die Mission

Genau wie Simone de Beauvoir ist auch besagte Simone Weil zu Beginn des Jahres 1943 fest entschlossen, radikal neue Wege einzuschlagen. Der Ernst der Situation lässt ihr keine andere Wahl. Schließlich ist sich die 34-jährige Französin in diesem Frühling gewisser denn je, einem Feind gegenüberzustehen, der selbst das größte zu erbringende Opfer rechtfertigt. Für einen tief religiös durchdrungenen Menschen wie Weil besteht dieses Opfer nicht etwa darin, das eigene Leben zu geben, sondern ein anderes zu nehmen.

»Wenn ich bereit bin«, notiert sie in ihr Denktagebuch dieses Frühlings, »im Falle strategischer Notwendigkeit Deutsche zu töten, dann nicht, weil ich ihretwegen gelitten habe. Nicht weil sie Gott und Christus hassen. Sondern weil sie die Feinde aller Nationen der Erde sind, einschließlich meiner Heimat, und weil man sie unglücklicherweise, zu meinem größten Schmerz, zu meinem äußersten Bedauern, nicht daran hindern kann, Böses zu tun, ohne eine gewisse Anzahl von ihnen zu töten.«[14]

Von New York aus, wohin sie ihre Eltern auf der Flucht ins Exil begleitet hat, besteigt sie Ende Oktober 1942 einen Frachter nach Liverpool, um sich in England den Streitkräften des Freien Frankreich unter Leitung von General Charles de Gaulle anzuschließen.[15] Nichts ist Weil in diesen kriegsentscheidenden Wochen und Monaten schmerzhafter als der Gedanke, sich fern der Heimat, fern ihres Volkes zu finden. Direkt nach ihrer Ankunft im Londoner Hauptquartier setzt sie die dortigen Entscheidungsträger deshalb von ihrem brennenden Wunsch in Kenntnis, eine Mission auf französischem Boden zu erhalten, um dort, wenn nötig, für ihr Vaterland den Märtyrertod zu sterben. Gerne als Fallschirmspringerin – die betreffenden Handbücher habe sie eingehend studiert. Oder auch als Verbindungsagentin zu den Kameraden vor Ort, von denen sie einige persönlich kenne, da sie die Jahre zuvor in Marseille für die katholische Widerstandsgruppe der Christlichen Zeugen aktiv war. Am liebsten aber an der Spitze einer von ihr eigens ersonnenen Spezialmission, die sich ihrer festen Überzeugung nach als kriegsentscheidend erweisen könnte. Weils Plan besteht in der Aufstellung eines Sonderverbands französischer Frontkrankenschwestern, die ausschließlich an gefährlichsten Orten eingesetzt werden, um direkt in der Schlacht Erste Hilfe zu leisten. Die dafür notwendigen medizinischen Kenntnisse habe sie sich über entsprechende Rot-Kreuz-Kurse in New York angeeignet. An vorderster Front könne dieses Spezialkommando viele wertvolle Leben retten, erklärt Weil, und legt den anwesenden Mitgliedern des Leitungsstabs zur Unterstützung ihrer Einschätzung eine Liste ausgewählter chirurgischer Fachpublikationen vor.

Der eigentliche Wert des Kommandos aber bestünde in dessen Symbolkraft, in dessen spirituellem Wert. Wie jeder Krieg, fährt sie wie beseelt fort, sei auch dieser zunächst ein Krieg der Geisteshaltungen – und damit einer des propagandistischen Geschicks. Gerade in diesem Bereich aber erweise sich der Feind den eigenen Kräften bislang in bösartigster Weise überlegen. Man denke nur an Hitlers SS und den Ruf, der ihr mittlerweile europaweit vorauseile:

»Die SS-Leute bringen perfekt den Geist Hitlers zum Ausdruck. An der Front verfügen sie … über den Heroismus der Brutalität … Wir können und müssen aber beweisen, dass wir eine andere Art von Mut besitzen. Der ihre ist brutal und niedrig, er geht aus dem Willen zur Macht und Zerstörung hervor. Da wir andere Ziele haben, geht unser Mut auch aus einem ganz anderen Geist hervor. Kein Symbol kann unseren Geist besser zum Ausdruck bringen als der hier vorgeschlagene Frauenverband. Das bloße Beharren gewisser Dienste der Menschlichkeit inmitten der Schlacht, auf dem Kulminationspunkt der Barbarei, wäre für diese Barbarei, zu der sich der Feind entschieden hat und zu der er auch uns zwingt, eine eklatante Herausforderung. Die Herausforderung wäre umso schlagender, als diese Dienste der Menschlichkeit von Frauen erfüllt würden und von mütterlicher Zuwendung umhüllt wären. Die Frauen wären zwar nur eine Handvoll und die Zahl der Soldaten, um die sie sich kümmern könnten, wäre verhältnismäßig klein, aber die moralische Wirksamkeit eines Symbols bemisst sich nicht nach deren Quantität … Es wäre die schlagendste Darstellung der beiden Richtungen, zwischen denen die Menschheit sich heute entscheiden muss.«[16] Wieder einmal in der Geschichte des Landes, erklärt Weil, also gelte es dem Geist der Idolatrie eine authentische Form des Glaubens rettend entgegenzusetzen. Kurz und gut, was ihr vorschwebe, sei eine Art weibliche Anti-SS im Geiste der Jungfrau von Orléans: Der Plan liege bereits schriftlich ausgearbeitet vor. Als Simone Weil ihn Maurice Schumann persönlich überreicht, verspricht er seiner einstigen Kommilitonin in die Hand, ihn de Gaulle zum Entscheid vorzulegen. Und geleitet sie persönlich hinaus zu ihrer Kasernenunterkunft.

Wie von Schumann erwartet, benötigt de Gaulle keine drei Sekunden, um »Kommando Krankenschwester« abschließend zu bewerten. »Aber, sie ist verrückt!«[17] Weshalb auch jede andere Art von Einsatz auf französischem Boden, kommt man überein, in Weils Fall absolut ausgeschlossen sei. Viel zu gefährlich. Man müsse sie ja nur einmal ansehen. Abgemagert bis auf die Knochen, ohne Brille faktisch blind. Schon rein körperlich würde sie den Belastungen nicht gewachsen sein. Von den geistigen gar nicht zu reden.

Bei aller Eigenwilligkeit des Auftritts, gibt Schumann zu bedenken, sei Weil ein Mensch von höchster Integrität und vor allem einzigartigem Intellekt: Abschluss in Philosophie an der Pariser Eliteuniversität École Normale Supérieure, fließend mehrsprachig, mathematisch hochbegabt, mit langjähriger Erfahrung im Journalismus und der Gewerkschaftsarbeit. Diese Fähigkeiten gelte es zu nutzen.

Anstatt direkt an der Front für ihre Ideale sterben zu dürfen, wird Weil von ihren Oberen deshalb mit einer Spezialmission ganz anderer Art versehen: Für die Phase nach dem Sieg über Hitler sowie der folgenden Machtübernahme durch die Exilregierung soll sie Pläne und Szenarien für den politischen Wiederaufbau Frankreichs entwerfen.

Tief enttäuscht, indes ohne offene Widerrede, nimmt sie die Aufgabe an, verschanzt sich in einem eigens für sie zur Schreibstube umfunktionierten Hotelzimmer in der Hill Street 19 – und macht sich an die Denkarbeit.

Inspiriert

Es dürfte in der Geschichte der Menschheit wenige Individuen gegeben haben, die in der Spanne von knapp vier Monaten geistig produktiver waren als die philosophische Widerstandskämpferin Simone Weil in diesem Londoner Winter des Jahres 1943: Sie schreibt Traktate zur Verfassungslehre und Revolutionstheorie, zu einer politischen Neuordnung Europas, eine Untersuchung zu den erkenntnistheoretischen Wurzeln des Marxismus, zur Funktion der Parteien in einer Demokratie. Sie übersetzt Teile der »Upanischaden« aus dem Sanskrit ins Französische, verfasst Abhandlungen zur Religionsgeschichte Griechenlands und Indiens, zur Theorie der Sakramente und der Heiligkeit der Person im Christentum sowie, unter dem Titel »Die Verwurzelung«[18], einen 300-seitigen Neuentwurf der kulturellen Existenz des Menschen in der Moderne.

Wie auch ihr »Plan für einen Verbund von Frontkrankenschwestern« durchschimmern lässt, macht Weil die eigentliche Not der Stunde im Bereich des Ideellen und Inspirativen aus. Als Ursprungskontinent gleich zweier Weltkriege binnen nur zweier Jahrzehnte, so ihre Analyse, leide Europa bereits seit längerem unter einer verheerenden Aushöhlung seiner kulturell wie politisch einst tragenden Werte und Ideale. In Wahrheit, lässt sie den militärischen Leitungsstab der französischen Résistance zum Februar in einer gleichnamigen Eingabe wissen, ist dieser Krieg »ein Krieg der Religionen«.[19]

Europa bleibt im Zentrum des Dramas. Von dem Feuer, das Christus zur Erde warf und das vielleicht das des Prometheus war, sind einige glühende Kohlen in England geblieben. Das hat das Schlimmste verhindert … Wir sind verloren, wenn nicht aus diesen Kohlen und Funken, die auf dem Kontinent glimmen, eine Flamme hervorgeht, die Europa erleuchten kann. Wenn wir nur durch Amerikas Gelder und Fabriken befreit werden, fallen wir auf die eine oder andere Weise in eine Form der Knechtschaft zurück, die der heutigen gleicht. Vergessen wir nicht, dass Europa nicht von Horden unterjocht wurde, die von einem anderen Kontinent oder vom Mars kamen, und dass es nicht ausreichen würde, sie zu verjagen. Europa leidet an einer inneren Krankheit. Es bedarf der Heilung … Die unterjochten Länder können dem Sieger nur eine Religion entgegensetzen … Die feindlichen Verbindungslinien … brächen zusammen, wenn sich das Feuer eines wirklichen Glaubens auf diesem gesamten Gebiet ausbreiten würde.[20]

Um diesen Heilungsprozess zunächst militärisch, dann auch politisch wie kulturell auf den Weg zu bringen, müsse dem Kontinent deshalb eine neue »Inspiration eingehaucht«[21] werden – nach Weil insbesondere aus den Textens Platons sowie des Neuen Testaments. Denn wer wahre Heilung wolle, habe sich gerade in finsterster Zeit an Quellen zu halten, die nicht nur von dieser Welt seien.

Allen voran gelte dies für ihr Heimatland Frankreich, das als Ursprungsland des Freiheitsschubs von 1789 unter allen Krieg führenden Nationen geistig am tiefsten gefallen sei. Im Sommer 1940, binnen nur weniger Wochen annähernd kampflos von Hitlers Truppen unterworfen, bleibe es zu seiner Befreiung nun auf fremde Hilfe angewiesen und habe als Volk jeden tragenden Glauben an sich verloren. Es zeige sich derzeit mit anderen Worten denkbar tief in dem wichtigsten und tiefsten aller menschlichen Seelenbedürfnisse erschüttert: eben dem nach »Verwurzelung«.

Die Verwurzelung ist wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. Es zählt zu denen, die sich nur sehr schwer definieren lassen. Der Mensch hat eine Wurzel durch seinen wirklichen, aktiven und natürlichen Anteil am Dasein eines Gemeinwesens, in dem gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Vorahnungen der Zukunft am Leben erhalten werden. Natürlicher Anteil heißt: automatisch gegeben durch den Ort, die Geburt, den Beruf, die Umgebung. Fast sein gesamtes moralisches, intellektuelles und spirituelles Leben muss er durch jene Lebensräume vermittelt bekommen, zu denen er von Natur aus gehört. … Eine militärische Eroberung bringt jedes Mal eine Entwurzelung mit sich … Wenn aber der Eroberer in dem Territorium, das er in Besitz genommen hat, ein Fremder bleibt, wird die Entwurzelung für die unterworfene Bevölkerung zu einer beinahe tödlichen Krankheit. Sie erreicht die höchste Stufe bei Massendeportationen, wie in dem von Deutschland besetzten Europa …[22]

So weit die Lageeinschätzung Simone Weils als eigens eingesetzter philosophischer Vordenkerin des Schattenkabinetts von General de Gaulle im Frühjahr 1943. Als Jüdin geboren, indes seit Jahren tief christlich gestimmt, dient ihr diese Analyse eines spirituellen Defizits am eigentlichen Grund des mörderischen Geschehens als Quelle ihrer geradezu übermenschlich anmutenden Gedankenproduktion.

In Trance

Wie in Trance lässt sie in diesen Monaten die gesamte Breite ihres einzigartigen Geistes aufs Blatt fließen. Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ohne ausreichend zu schlafen. Und vor allem auch, wie bereits die Jahre zuvor, ohne ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen. In ihr Londoner Denktagebuch notiert sie: »Aber so wie die allgemeine und dauernde Lage der Menschheit in dieser Welt aussieht, ist es vielleicht immer Betrug, sich satt zu essen. (Ich habe ihn oft begangen)«.[23]

Am 15. April 1943 findet der Rausch ein abruptes Ende. Weil kollabiert in ihrem Zimmer und verliert das Bewusstsein. Erst nach Stunden wird sie von einer Kameradin entdeckt. Wieder bei sich, verbietet Weil ihr indes kategorisch, einen Arzt zu rufen. Noch immer hat sie die Hoffnung auf einen Kampfeinsatz nicht ganz aufgegeben. Stattdessen ruft sie direkt bei Schumann an, der ihr auf Nachfrage mehrmals versichert, noch sei über einen Einsatz in Frankreich nicht endgültig entschieden – somit im Prinzip noch alles möglich. Vor allem bei gewiss zügiger Genesung. Erst darauf lässt sich Weil ins Krankenhaus abholen.

Geistesschwach

Hätte sich die New Yorker Schriftstellerin und Philosophin Ayn Rand eine weitere Verkörperung all jener Werte ausdenken wollen, die ihrer Überzeugung nach verantwortlich für die Katastrophen des Weltkriegs waren, keine Kandidatin wäre geeigneter gewesen als die real existierende Simone Weil in London. Tatsächlich scheint Rand in diesem Frühling 1943 politisch nichts verheerender zu sein als die Bereitschaft, das eigene Leben im Namen einer Nation zu opfern. Moralisch nichts fataler als der Wille, zunächst und vor allem den anderen beizustehen. Philosophisch nichts abwegiger als blindes Gottvertrauen. Metaphysisch nichts verwirrter als das Streben, handlungsleitende Werte in einem Reich jenseitiger Transzendenz zu verankern. Existentiell nichts verrückter als persönliche Askese zur Rettung der Welt.

Exakt diese Haltung und die sie leitende Ethik sind der eigentliche Feind. Sie gilt es zu überwinden und bedingungslos zu bekämpfen, wo immer sie sich zeigen. Keinen Schritt weit durfte diesem Irrationalismus nachgegeben werden. Auch nicht, schon gar nicht in Fragen des eigenen Überlebens.

Wie Rand in zehn Jahren freier Autorenexistenz schmerzhaft gelernt hatte, waren dies gerade in den USA letztlich geschäftlichen Fragen. Weshalb sie in einem Brief vom 6. Mai 1943 an ihren Lektor Archibald Ogden auch wie nie zuvor in deren Korrespondenz schäumt: »Vertrauen … Vertrauen, ich weiß nicht einmal, was dieses Wort bedeutet. Wenn Du damit Vertrauen (faith) im religiösen Sinne meinst, also im Sinne eines blinden Akzeptierens und Annehmens, dann vertraue ich tatsächlich in nichts und niemanden. Habe es niemals getan und werde es niemals tun. Das Einzige, woran ich mich halte, sind mein Verstand und Fakten«, legt Rand die eigentlichen Grundlagen ihres Weltzugangs frei. Und wendet sie Ogden gegenüber sogleich auf ihre ureigensten Interessen an: »Welche objektiven Anhaltspunkte bestehen derzeit hinsichtlich der Befähigung des Verlagshauses Bobbs-Merrill, mein Buch erfolgreich zu vermarkten? Wem genau sollte ich da vertrauen? Und auf welcher Grundlage?«[24]

Sieben Jahre hat sie an diesem Roman gearbeitet. Ihre gesamte Lebensenergie und Kreativität, vor allem aber ihre Philosophie in dieses Werk gelegt. Und nun soll »The Fountainhead« (dt. »Die Quelle«/»Der Ursprung«) vom Verlag in den ohnehin allzu spärlichen Anzeigen als Liebesgeschichte im Architektenmilieu beworben werden. Nicht einmal die Tatsache, dass die Autorin des Buches eine Frau und kein Mann ist, vermag dessen Presseabteilung bislang erfolgreich zu kommunizieren: »Bei dem Vertrauen, das man solchen Mitarbeitern entgegenbringen soll, kann es sich ganz offensichtlich nur um das Vertrauen eines Geistesschwachen handeln. … Ist das wirklich die Art von Vertrauen, die Du von mir erwartest?«[25]

Eine rhetorische Frage, ganz offenbar. Rand war in ihrem Leben bereits für fast alles gehalten worden. Nie aber für geistesschwach. Vielmehr war jedem, mit dem sie sprach, bereits nach wenigen Minuten klar, es mit einem Intellekt von einzigartiger Klarheit und nicht zuletzt Kompromisslosigkeit zu tun zu haben. Das grundlegend zu lösende Problem in dieser Welt stellte für sie demgemäß auch nicht ihre eigene Existenz dar, sondern diejenige all der anderen. Nicht, was ihre Mitmenschen so dachten und taten, war für Rand dabei das eigentlich Rätselhafte, sondern weshalb sie es taten: Warum konnten sie nicht einfach stringent denken und vor allem handeln? Was genau hinderte all die Menschen daran, stets ihrem je eigenen, rein faktenbasierten Urteil zu folgen? Ihr gelang es doch auch.

Unverschämt