image

Ewald Nowotny

GELD
UND LEBEN

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2020

www.braumueller.at

Coverfoto: © OeNB

Gewidmet meinen Enkelkindern – mit Dank für
die Gegenwart und Hoffnung für ihre Zukunft
.

INHALT

Vorwort

1.Geld und Leben – Eine Vorbemerkung

2.Frankfurter Hof, Thomas Mann-Suite. Wofür ich arbeite

3.Mein Weg zur Ökonomie – Vollbeschäftigung und Preisstabilität

4.Die Welt der Wissenschaft

5.Gedanken zu Theorie und Praxis

6.Die Welt der Politik

7.Die Welt der Banken I – Die Europäische Investitionsbank (EIB)

8.Die Welt der Banken II – Bawag-PSK

9.Die Welt der Oesterreichischen Nationalbank – Die Zeit der Finanzkrise

10.Notenbank und Bankstrukturen

11.Nationalbank von Innen

12.Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion

13.EZB und Finanzkrise

14.Die Euro-Krise

15.Die Ära Mario Draghi

16.Kontinuität und Entwicklung – Herausforderungen der Geldpolitik

17.Aus dem Leben eines EZB-Ratsmitglieds

18.Die EZB als Institution

19.Washington und Basel – IWF und BIZ

20.Corona und die Folgen – Perspektiven der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

21.Wege und Hilfen

22.Versuch eines Gesamtbildes – Weltanschauung und Lebenshaltung

Glossar

Vorwort

Das Schreiben dieses Buches war für mich ein neues und in vielen Aspekten anregendes Erlebnis. Ich habe in meinem Leben zwölf wissenschaftliche Bücher und eine große Fülle von Fachpublikationen verfasst. Das hier vorliegende Buch ist demgegenüber keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine erzählende Reflexion über die Erfahrungen, die ich in über 50 Jahren in den Bereichen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft sammeln konnte. Mein vor-berufliches Leben hinzugezählt, sind es 75 Jahre. Es ist dies ein Zeitraum mehr als dreimal so lang wie die gesamte Lebensdauer der Ersten österreichischen Republik, ein Zeitraum großer weltpolitischer und wirtschaftlicher Umwälzungen – und eine der längsten Friedensperioden, die mein Heimatland Österreich je erleben konnte. Ich bin ein Kind dieser Zeit. Vor dem gemeinsamen historischen Hintergrund haben sich die Millionen Einzelschicksale meiner Zeitgenossen jeweils unterschiedlich entwickelt, und auch dieses vorliegende Buch ist nicht als objektive Zeitzeugenschaft zu sehen, sondern als subjektive Erzählung. Ich konnte mich beim Schreiben dieses Buches auf einige Notizen und Anmerkungen stützen, die ich von Zeit zu Zeit verfasst hatte. Vieles entspringt aber meiner – wie ich beobachten musste – nicht immer historisch exakt nachvollziehbaren Erinnerung.

Aus der Vielseitigkeit meiner Lebenserfahrungen ergibt sich auch die große Bandbreite der Themen, die in diesem Buch dargestellt werden. Für mich ist es ein wesentliches Anliegen, berufliche Erfahrungen und persönliche Entwicklungen zu verbinden und Leserinnen und Lesern Bereiche außerhalb ihres gewohnten Lebenskreises nahezubringen. Ich bitte daher um Geduld und Aufnahmebereitschaft auch bei den etwas „technischeren“ Aspekten dieses Buches – letztlich geht es auch bei diesen Teilen um die Verknüpfung von historischen Entwicklungen und persönlichen Erfahrungen und Bemühungen.

Dieses Buch erscheint etwa ein Jahr nach meinem Ausscheiden als Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank und Mitglied des Rates der Europäischen Zentralbank. Damit auch nach Ende der vorgesehenen „Abkühlungs-Periode“ („cooling-off-period“) von einem Jahr. Ich habe nicht vor, diese „neue Freiheit“ für Indiskretionen zu nützen, wohl aber erlaube ich mir einige freie Gedanken hinsichtlich künftiger Herausforderungen in der Geld- und Finanzpolitik.

Das Entstehen dieses Buches war ein langwieriger, vielfach auch durch andere Verpflichtungen unterbrochener Arbeitsprozess. Ich danke allen, die mir geholfen haben, die für produktives Schreiben nötige Ruhe und Konzentration zu sichern. Dies gilt vor allem für meine liebe Frau, Ingrid Nowotny. Sie und einige andere Vertraute, haben auch Teile dieses Manuskriptes gelesen – die volle Verantwortung für sämtliche Inhalte liegt selbstverständlich bei mir. Frau Gertraud Johanna Mica hat neben ihrer beruflichen Tätigkeit in ihrer Freizeit wesentlich zur technischen Umsetzung dieses Buches beigetragen und als objektive Leserin mancher Entwürfe auch wichtige inhaltliche Anregungen gegeben. Der Verlag Braumüller, bei dem schon mein Vater publiziert hatte, hat sich für das vorliegende Buch als freundliche und effiziente Heimat erwiesen. Mein besonderer Dank gilt hier dem klugen und zuverlässigen Herrn Bernhard Borovansky und dem aufmerksamen Lektorat durch Herrn Johann Auer.

Gewidmet ist dieses Buch meinen drei Enkelkindern, denen ich in jeder Hinsicht stets Priorität einräume. Möge dieses Buch für sie eine Verbindung darstellen zwischen den vielfältigen Erfahrungen der Vergangenheit und einem hoffentlich friedvollen und erfüllten Leben in zukünftigen Jahren!

Wien, im September 2020

Ewald Nowotny

1.Geld und Leben – Eine Vorbemerkung

Geld oder Leben – muss man sich, kann man sich entscheiden? Die Frage löst sich einfach in einer Situation, die uns aus Kinderbüchern bekannt ist: Der wohlhabende Kaufmann fährt durch einen dunklen Wald – plötzlich bricht eine Räuberbande hervor: „Geld oder Leben!“ Hier ist also zu wählen zwischen zwei Gütern, wobei das arme Opfer sein Leben klugerweise als das höhere einschätzen wird. In allgemeiner Perspektive gibt es vielfach eine philosophische wie auch eine religiöse Sicht auf den Gegensatz von „Geld“ – hier als Ausdruck wirtschaftlicher Tätigkeit – und „Leben“ – hier als Bezug auf eine an nicht-materiellen Werten orientierte Lebensführung. In vielen Religionen ist das ein zentrales Spannungsverhältnis. Man denke nur an die dramatische Schilderung in den Evangelien, wo der sonst so friedfertige Jesus vor dem Tempel zu Jerusalem die Geldwechsler aus dem Tempel vertreibt und ihre Tische umstößt.

Für die meisten Menschen – und so auch für mich – geht es freilich meist nicht um die elementare Entscheidung „Geld oder Leben“, sondern um Abwägungen, um Entscheidungen unter Unsicherheit im Laufe eines Lebens. Dem entspricht der Titel dieses Buches „Geld und Leben“. Hier geht es um die Verbindung der Bereiche „Geld“ (und damit Wirtschaft) und „Leben“ im Sinne des individuellen und gesellschaftlichen Daseins. Diese Verbindung wird hier bezogen auf meine persönliche Entwicklung als Wissenschafter, Politiker und Banker. Dahinter stehen aber grundlegende Zusammenhänge des Phänomens „Geld“, die in ihrer Abstraktheit im täglichen Leben nicht bewusst und sichtbar sind. Auf einige dieser Zusammenhänge sei im Folgenden kurz eingegangen.

Es beginnt mit der banalen Frage: „Was ist Geld?“ Die Antwort der Wirtschaftswissenschaft ist – zunächst – sehr einfach: Alles was anerkannt wird, um die Geldfunktionen zu erfüllen. Diese Geldfunktionen sind zuerst die Funktion als Recheneinheit, das heißt, als Voraussetzung dafür, dass für ein Gut ein Preis genannt werden kann, hinter dem ja eine Fülle von Einzelinformationen steht. Zum Zweiten die Transaktionsfunktion, das heißt: Geld als Grundlage für wirtschaftliches Handeln zwischen den Wirtschaftssubjekten. Schließlich die Wertaufbewahrungsfunktion, die Möglichkeit, ökonomische Transaktionen über längere Zeiträume hinweg zu verschieben und damit Kreditbeziehungen aufzubauen. „Vollwertiges“ Geld muss alle diese volkswirtschaftlichen Funktionen erfüllen. Ist dies nicht der Fall, entstehen volkswirtschaftliche Fehlsteuerungen. Bei einer Hyperinflation verliert etwa Notenbankgeld seine Transaktionsfunktion – niemand ist mehr bereit, dieses „Geld“ für die Abgabe von Gütern anzunehmen, und es kommt zu einer Regression in ein System des Naturaltausches. Unter aktuellen Aspekten betrachten Notenbanken zum Beispiel Bitcoins nicht als Geld, sondern als „Spekulationsgut“. Sie sind zu unsicher, um eine Transaktionsfunktion zu erfüllen, und weisen zu große Wertschwankungen auf, um der Wertaufbewahrungsfunktion zu genügen.

Die Geschichte des Geldes ist elementar mit dem menschlichen Fortschritt verbunden. Es ist dies zuerst der lange Weg vom Tauschhandel zum Münzgeld, im westlichen Kulturraum verfügbar seit etwa 700 vor Christus in Form von Münzen aus Metall, speziell Gold und Silber. In der Antike entstand dann die Funktion der Banken beziehungsweise der Bankiers und damit die Möglichkeit, längerfristige Projekte friedlich – und nicht durch Raubzüge oder Unterdrückung – zu finanzieren. Die „Kulturrevolutionen“ des Christentums und des Islam führten dann zum Verbot, Geld gegen Zinsen zu verleihen, und damit zu einem weitgehenden Ende der Kreditwirtschaft, was wieder Jahrhunderte wirtschaftlicher (nicht notwendigerweise kultureller) Stagnation mit sich brachte. Erst die Renaissance in ihrem wichtigen Aspekt des Geldwesens schaffte wieder die Möglichkeit umfassender Kreditbeziehungen, die zum Aufbau von Handelsflotten genützt werden konnten – aber auch zur Finanzierung großer Heere. Auch diese Systeme beruhen auf Edelmetall-Grundlage, was, je nach Verfügbarkeit, zu Knappheitskrisen oder, nach dem Einströmen von Gold und Silber aus dem neu entdeckten Amerika, zu Inflationsentwicklungen führte. Die Notwendigkeit der Staatsfinanzierung führte 1668 zur Gründung der Schwedischen Riksbank, 1694 zur Gründung der Bank of England, die nun Papiergeld ausgaben, das auf Gold- und Silberdeckung beruhte. Das Ausmaß der Deckung variierte aber bald, und es begann das Zeitalter des Papiergeldes.

In Anspielung auf die Erfahrungen mit den geldpolitischen Experimenten des Ökonomen und Abenteurers John Law und der Assignatenwirtschaft der Französischen Revolution zeigt Goethe im „Faust II“ die Entstehung des Papiergeldes als ein Werk des Mephisto. Mephisto bringt den unter massiver Geldnot leidenden Kaiser dazu, „Zettel“, das heißt Papiergeld, mit folgender Erklärung zu unterschreiben: „Zu wissen sei es jedem ders begehrt: Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland. Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz, sogleich gehoben, diene zum Ersatz.“

Der kluge St. Gallener Nationalökonom Hans Christoph Binswanger hat aus dieser Schlüsselszene Goethes Sicht der Wirtschaft als einen „alchemistischen Prozess“ abgeleitet – die Suche nach dem künstlichen Gold mit anderen, modernen Mitteln.1 Üblicherweise wird die „Geld-Szene“ im „Faust“ als Warnung vor Inflation gesehen. Die Darstellung der Geldschöpfung und ihrer Wirkungen in Goethes Faust ist aus meiner Sicht aber ambivalent. Denn das dank des Vertrauens in den Kaiser (den Staat) neu geschaffene Geld führt ja tatsächlich zur Finanzierung produktiver Investitionen des nun als Unternehmer tätigen Dr. Faust: „Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.“ Dieses große Projekt Fausts scheitert zwar, aber nicht durch eigenes Versagen, sondern durch von Mephisto herbeigeführte, von außen kommende Katastrophen – die Natur als Grenze des menschlichen Strebens?

Goethe selbst hat sich ja als Berater und Finanzminister in seinem kleinen Herzogtum durchaus erfolgreich betätigt, hat sich aber auch umfassend mit den theoretischen Aspekten von „Geld“ beschäftigt, wie in einer Ausstellung und Publikation des Goethe-Hauses in Frankfurt eindrucksvoll belegt wurde.2 Und Goethe hat im „Faust“ wie stets in seinem Leben die zentrale Rolle des menschlichen Handels, der „Tat“, hervorgehoben: „Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“

Auch für die Verwendung von Papiergeld spielte im „Gold“- oder „Silber“-Standard bis zum Ersten Weltkrieg der Edelmetall-Bestand der Notenbank die entscheidende – und begrenzende – Rolle als „Deckung“ einer Währung. Wie Stefan Zweig in seinem schönen und nostalgischen Buch „Die Welt von Gestern“ beschreibt, wurde der Goldstandard als Garant der wirtschaftlichen Freiheit – jedenfalls der besitzenden Klassen – gesehen. Auch heute gibt es ja unter rechts-orientierten und „libertären“ Politikern und Ökonomen die Sehnsucht nach einem „entpolitisierten“, nicht beeinflussbaren Geldsystem auf Goldbasis. Der marktradikale Ökonom Friedrich August Hayek hat sich aus einer ähnlichen Sicht für die Aufhebung des staatlichen Geldmonopols und für den Wettbewerb privat emittierter Währungen ausgesprochen.

Tatsächlich hat die monetäre Stabilität des Systems der Goldwährungen zu einer massiven Instabilität der realen Wirtschaft geführt. Da das Geld-Angebot von den Zufälligkeiten des Gold-Angebotes bestimmt war, konnten die Notenbanken auf die realwirtschaftliche Entwicklung nicht reagieren, was sich in langen und tiefen Phasen von „Wirtschaftskrisen“ auswirkte. Wie es im Slogan einer amerikanischen Protestbewegung hieß: „Die Wirtschaft war angenagelt an ein Kreuz aus Gold.“

Der Erste Weltkrieg zeigte, dass nationalistischer Furor im Zweifel stärker ist als die besitzbürgerliche Liebe zum Gold. Dies galt für die Privatpersonen, die – mit allerdings mäßigem Erfolg – mit dem Slogan „Gold gab ich für Eisen“ aufgefordert wurden, sich von ihren Goldbeständen zu trennen. Dies galt mit nachhaltiger Wirkung aber vor allem für den Staat. Eines der ersten „Opfer“ war in allen kriegsführenden Staaten die Gold-Verankerung der jeweiligen Währung, da die gewaltigen Finanzierungserfordernisse eines Weltkriegs nur mit massiven, direkten Finanzierungen („Gelddrucken“) durch die Notenbank bewältigbar waren. Dies führte in Kriegszeiten zunächst zu einer durch Rationierung – halbwegs – zurückgestauten Inflation. Im Chaos der Nachkriegszeit brach diese Inflation aber in den Verliererstaaten in dramatischer Weise aus. Auf die bis heute wirkenden Folgen dieser Zeit, in der „Geld“ in traumatischer Form „Leben“ bestimmte, wird dieses Buch noch eingehen.

Die Nostalgie nach der „guten, alten Zeit vor dem Weltkrieg“ führte speziell bei konservativen Wirtschaftspolitikern zu den Versuchen, nach dem Ersten Weltkrieg möglichst rasch wieder zum Geldsystem des Goldstandards zurückzukehren. Der spektakulärste Versuch in dieser Richtung war die vom damaligen konservativen Schatzkanzler Winston Churchill 1925 durchgeführte Rückkehr des Britischen Pfundes zum Goldstandard. Wie von John Maynard Keynes richtig vorausgesagt,3 endete dieser politisch motivierte Versuch in einem wirtschaftlichen Desaster. Mit Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise brach die internationale Herrschaft des Goldstandards endgültig zusammen.

Das bedeutet freilich nicht, dass die „Magie des Goldes“ verschwunden ist. Ökonomisch gesehen, ist Gold heute ein – nur eingeschränkt nützlicher – Rohstoff. Keynes, wohl der bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, hat es ein „barbarisches Relikt“ genannt, das mit großer Mühe aus der Erde herausgeholt wird, um dann zum größten Teil wieder in den Kellern der Notenbanken vergraben zu werden. Aber eine jahrtausendealte Geschichte und der unzerstörbare Glanz haben dazu geführt, dass man es nach wie vor als Zahlungsmittel betrachtet, von dem man erwartet, dass es auch in Krisenzeiten akzeptiert wird. Dies galt speziell für die Generation meiner Eltern, geprägt vom Erleben mehrfacher Entwertung des staatlichen Geldes, und wirkt heute noch nach. Für mich persönlich ergibt sich hier eine spezielle Verbindung von „Geld und Leben“. Nach den Erzählungen meiner Mutter wäre ich als Baby im Nachkriegs-Wien wohl verhungert, hätte sie nicht noch ein paar Goldmünzen gehabt, die sie gegen Nahrungsmittel eintauschen konnte.

Für Notenbanken haben heute Währungsreserven in Gold (neben Währungsreserven in Devisen) nicht die Funktion einer „Deckung“ der Währung, sondern stellen ein Mittel dar, um gegen unerwünschte Abwertungen der eigenen Währung zu intervenieren. Dies gilt auch heute für Notenbanken, die ein festgelegtes Wechselkurs-Ziel verteidigen wollen – wobei Gold verkauft werden kann oder als Sicherheit für Darlehen dient. Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion, wo es ja intern keine Wechselkurse gibt und die nach außen eine Politik flexibler Wechselkurse betreibt, ist diese Funktion der Wechselkurs-Stabilisierung heute weggefallen. Die Goldreserven sind daher eher von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung, etwa als letzte Interventionsmöglichkeit bei sonstiger Unmöglichkeit, lebenswichtige Importe zu finanzieren. Gold hat dabei gegenüber Devisen als Währungsreserve den Nachteil, nicht ertragbringend zu sein, aber den Vorteil, „diskret“ und nicht den Entwicklungen eines „Leitwährungs-Landes“ – heute die USA –, ausgesetzt zu sein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es mit dem „Bretton Woods-System“ zu einem neuen Weltwährungssystem unter Dollar-Dominanz. Wie in diesem Buch dargestellt wird, endete dieses System mit der Aufhebung der Bindung des Dollar an Gold im Jahre 1971. Dem heutigen System haben Ökonomen den schönen Namen „fiat money“ gegeben – von fiat, dem lateinischen Ausdruck für „es geschehe“. Das bedeutet, Notenbanken sind in der Lage, Geld in ihrer eigenen Währung in unbegrenzter Höhe zu schaffen. Dieses Geld fließt im Wesentlichen durch Kredite an Banken (gegen adäquate Sicherheit) und den Ankauf von Wertpapieren (staatliche und zum Teil private Anleihen) in die Wirtschaft. Die gesamte Geldsumme in einer Volkswirtschaft besteht zu einem geringen Teil aus Bargeld und zum weit überwiegenden Teil aus verschiedenen Formen der Einlagen bei Banken, die dann wieder die Grundlage sind für die „Giralgeld-Schöpfung“ durch das Bankensystem.4

Die Geldschöpfung durch das Bankensystem ist direkt verbunden mit der Funktion der Kreditvergabe. Eine Bank vergibt einen Kredit – dieser stellt ein Aktivum in ihrer Bilanz dar. Gleichzeitig fließt mit der Kreditvergabe „Geld“ in Form einer Zubuchung auf ein Konto des Kreditnehmers, was sich auf der Passivseite der Bankbilanz niederschlägt. Dieses Geld kann dann vom Kreditnehmer ausgegeben werden, was wieder zu Einlagen bei dieser oder anderen Banken führt. Abhängig vom Ausmaß der „Bargeld-Abflüsse“ aus dem Bankensystem ergibt sich ein Prozess der Giralgeld-Schöpfung. Der weit überwiegende Teil der Geldmenge beruht auf der „Alchemie“ der Geldschöpfung im Zusammenhang von „Geld“ und Kredit. Der frühere Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, hat diese Dynamik eindrucksvoll analysiert und Formen einer gesamtwirtschaftlich sinnvollen Struktur des Bankensystems entwickelt, um dessen „Alchemie“ kontrollieren zu können.5

In der empirischen Erfassung von „Geld“ werden entsprechend dem Konnex zwischen Notenbank und Bankensystem aufeinander aufbauende Geldkonzepte verwendet. Der engste Geldbegriff – „M1“ – erfasst das umlaufende Bargeld (Banknoten und Münzen) und täglich fällige Bankeinlagen (Giralgeld). Das ist das sofort verfügbare Geld mit maximaler Liquidität. Je nach abnehmendem Grad der Liquidität (mögliche zeitliche Verfügbarkeit) sind dann weitere Veranlagungen (zum Beispiel Wertpapiere mit maximal zweijähriger Laufzeit) Teile einer weiter gefassten Geldmenge mit den Bezeichnungen M2 beziehungsweise M3. Die gesamte Geldmenge M3 betrug im Euroraum per Juni 2020 13.790 Mrd. Euro, wovon 9.629 Mrd. auf M1 entfielen. Davon waren wiederum „nur“ 1.297 Mrd. der Bargeldbestand („currency in circulation“), der am ehesten der unmittelbaren Vorstellung des „Gelddruckens“ entspricht. Den großen Rest von M1 stellt das jederzeit verfügbare Geld auf Girokonten dar.

Der speziell von dem einflussreichen Ökonomen Milton Friedman propagierte Ansatz des „Monetarismus“ ging aus von einem engen und stabilen Zusammenhang zwischen dem Geldmengen-Aggregat M3 und der Inflationsentwicklung. Die empirische Analyse zeigte aber, dass ein entsprechend stabiler Zusammenhang nicht gegeben ist. Die Entwicklung des Preisniveaus ist von vielen Faktoren bestimmt. Eine an der Entwicklung von M3 orientierte „Geldmengen-Regel“, wie sie viele Notenbanken in den 1970er- und 1980er-Jahren befolgten, hat sich daher als nicht erfolgreich erwiesen. Heute setzen sich die meisten Notenbanken, so auch die EZB, direkt Preisstabilität als primäre oder jedenfalls wesentliche Zielsetzung. Die Veränderungen der jeweiligen Geldmengen-Aggregate werden aber weiterhin als Teilbereich der geldpolitisch relevanten Informationen analysiert.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird freilich unter dem Begriff „Geld“ (in Österreich auch mit dem Adjektiv „geldig“) vielfach privates Vermögen insgesamt verstanden. „Vermögen“ setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen, wobei die statistische Erfassung schwierig und oft unvollständig ist, wie auch in einer Erhebung der Oesterreichischen Nationalbank für das Jahr 2018 betont wird.6 Gemäß dieser Studie beträgt das Gesamtvermögen der österreichischen privaten Haushalte inklusive privater Organisationen ohne Erwerbszweck 1.591 Mrd. Euro. Davon entfallen 877 Mrd. auf Immobilien (Bauten, Grund und Boden) und 689 Mrd. auf das Geldvermögen. Davon wieder stellen Einlagen bei Banken mit 258 Mrd. den größten Bestandteil dar, andere Komponenten sind Anteile an Unternehmen, Lebensversicherungen etc. Auf Bargeld entfallen 24 Mrd. Der bei Weitem größte Teil dieser Vermögenswerte wird nicht von der Notenbank „geschaffen“, praktisch alle Komponenten werden aber von Maßnahmen der Geldpolitik der Notenbanken zumindest mitbeeinflusst. Das gilt etwa für die Entwicklung der Inflationsraten in der Wirtschaft insgesamt und im Speziellen der Preise für Immobilien und Wertpapiere.

Zentral für jedes Wirtschaftssystem ist demnach das Vertrauen in ein verantwortungsbewusstes Handeln der Notenbanken und die Existenz ergänzender Sicherheitsvorkehrungen gegen Missbrauch. Dem entspricht eine ordnungspolitische Grundlage, in der Notenbanken als vom Staat unabhängige Institutionen geschaffen wurden, denen die demokratisch legitimierte Gesetzgebung klare Ziele vorgibt. In der deutschen, auf die EZB übertragenen Tradition ist dieses Ziel die Preisstabilität, in der amerikanischen Tradition, der auch das frühere österreichische Nationalbank-Gesetz entsprach, das „duale Mandat“ von Preisstabilität und hoher Beschäftigung.

Technisch erfolgt das unmittelbare Schaffen von Notenbank-Geld weit überwiegend im unbaren Bereich über Zuschreibung auf Konten bei der Notenbank, wobei nur der öffentliche Sektor und der Bankbereich berechtigt sind, solche Konten zu unterhalten.7 Der weitaus geringere – in der Öffentlichkeit mit „Gelddrucken“ verbundene – Teil der Geldversorgung erfolgt in der Form von Geldscheinen oder Münzen. Hier wird freilich die „Magie“ des Geldes in besonderer Weise sichtbar. Um es am Beispiel der Oesterreichischen Nationalbank zu illustrieren: Die von der hauseigenen Banknotendruckerei gedruckten Geldscheine lagern im Keller der Nationalbank als Papier mit dem schönen Namen „streng verrechenbare Drucksorten“. Erst wenn dieses Papier die Notenbank verlässt, wird es zu Geld. Die Alchemisten hatten versucht, aus Blei Gold zu machen. Wir machen aus Papier Geld – Geld, mit dem man die Produkte der realen Wirtschaft kaufen kann, Geld, das damit wesentliche Teile des „Lebens“ bestimmt.

Bei all den technischen und ökonomischen Aspekten der täglichen Geld- und Bankpolitik, über die dieses Buch berichtet, war ich mir als Wissenschafter wie als Banker dieser „magischen Aspekte“ der Geldschöpfung bewusst und habe dies als große Verantwortung empfunden. Wenn ich im 41. Stock des EZB-Gebäudes am runden Tisch des EZB-Rates saß und hinter den großen Fenstern der Sonnenuntergang über Frankfurt zu sehen war, habe ich diese Runde des EZB-Rates als eine Art „Alchemisten-Runde“ empfunden, versammelt im Bemühen um Erkenntnisse und Rezepturen für eine gute und sichere Entwicklung des Geldsystems – mit Wirkung auf das Leben Hunderter Millionen Menschen. Aber auch moderne Alchemisten brauchen manchmal Ruhe und Orientierung. Darüber gleich mehr …

1Hans Christoph Binswanger: Geld und Magie – Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust. Murmann Verlag, Hamburg 2009.

2Vera Hierholzer, Sandra Richter (Hrsg.): Goethe und das Geld – Der Dichter und die moderne Wirtschaft (mit Beiträgen unter anderem von Jean-Claude Trichet und Otmar Issing). Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt 2012.

3John Maynard Keynes: The Economic Consequences of Mr. Churchill. In: The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. IX. Macmillan, London 1971.

4Für einen gut erklärten Überblick siehe Rudolf Trink: Mein Geld: Woher es kommt – Wohin es geht. Echomedia Verlag, Wien 2009. Für eine anregende, literarische Einführung: Hans Magnus Enzensberger: Immer das Geld! Ein kleiner Wirtschaftsroman. Suhrkamp, Berlin 2015.

5Mervyn King: The End of Alchemy: Money, Banking, and the Future of the Global Economy. W. W. Norton & Company, New York 2016.

6OeNB: Einkommen, Konsum und Vermögen der Haushalte. Sonderheft „Statistiken“, April 2020.

7Es gibt aktuell auch Überlegungen über die Ausgabe von e-money oder Cyber-money durch Notenbanken, was technisch die Möglichkeit eröffnen würde, dass jeder Bürger, jede Bürgerin im Hoheitsbereich der entsprechenden Notenbank ein Konto direkt bei der Notenbank halten könnte. All dies ist freilich mit vielen offenen, rechtlichen und ökonomischen Fragen verbunden.

2.Frankfurter Hof, Thomas Mann-Suite. Wofür ich arbeite

Nach langen und oft mühsamen Sitzungen in der Europäischen Zentralbank war mein Refugium meist das altehrwürdige Hotel Frankfurter Hof. Ich schätze dieses solide und gut geführte Hotel. Vom ersten Augenblick an war mir besonders die bequem eingerichtete Bibliothek sympathisch, ebenso die „Autoren-Bar“, ein traditionelles Zentrum der Frankfurter Buchmesse. Etwas provokant fand ich, dass vor dem Hotel regelmäßig ein Bentley mit Kennzeichentafel der berüchtigten Schweizer Steueroase Zug parkte.

Im Lauf der vielen Jahre hatte sich eine vertraute Beziehung mit manchen der freundlichen und aufmerksamen Mitarbeiter ergeben. Im Besonderen galt dies für den legendären Concierge Jürgen Carl. Ich hatte auch sein sympathisches Buch „Der Concierge: Vom Glück, für andere da zu sein“ gelesen, ihn darauf angesprochen, und so entstand ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Dies führte dann auch dazu, dass er mich von Zeit zu Zeit, wenn sie gerade frei war, als „Upgrading“ in der Thomas Mann-Suite des Hotels einquartierte. Die Thomas Mann-Suite, inzwischen durch Renovierungen nicht gerade verbessert, bestand aus mehreren großen Räumen mit Blick auf den schönen Vorplatz des Hotels (und den eindrucksvollen Turm der Commerzbank), möbliert im „Wirtschaftswunder-Stil“ der 60er-Jahre und versehen mit einer Bibliothek, in der selbstverständlich sämtliche Werke des von mir hoch verehrten Thomas Mann vertreten waren. Man konnte sehr gut das Lob Thomas Manns in einem Brief an seinen Bruder nachvollziehen. Dieser Brief, der in Faksimile im Eingangsraum zu lesen war, war, vielleicht mit kleinen Abstrichen, auch für mich gültig: „Was ein wirkliches Grand Hotel ist, habe ich erst in Frankfurt wiedergesehen, im ‚Frankfurter Hof‘. Da weiß man doch, wofür man zahlt, und thuts mit einer Art Freudigkeit.“

In diesen stimmungsvollen Räumen, in die ich mich nach den Sitzungen der EZB zurückziehen konnte, entstand die Absicht, ein Buch zu schreiben, das nicht vom Zwang zu Objektivität und Wissenschaftlichkeit geprägt ist, sondern in dem ich mir ein subjektives Erzählen, ein gemütliches Erinnern erlaube. Also kein weiteres Buch der von ehemaligen Notenbankern und Politikern gern gepflegten Serie „Wie ich die Welt/Europa/den Euro rettete“ – was in meinem Fall auch nicht sehr glaubwürdig wäre. Es ist einfach ein Bericht aus einem arbeitsamen Leben. Ich schöpfte dabei aus dem seltenen Glück, in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens Erfahrungen sammeln zu können – als Wissenschafter, als Politiker und als Banker im nationalen wie im internationalen Rahmen.

Meine Freude, in der Thomas Mann Suite zu logieren, beruhte auf meiner lebenslangen Verbundenheit mit dem Werk und der Persönlichkeit von Thomas Mann. Mein Lieblingsbuch ist der „Zauberberg“. Wenn ich Entspannung suche, lese ich mit immer neuem Vergnügen seine Novellen. Das Leben und Werk von Thomas Mann ist der Weg vom Beobachter des Bürgerlichen über den dummen Nationalismus hin zu einem kultivierten, aber wo erforderlich, auch kämpferischen, bürgerlichen Demokraten – wie ich es sehe: zu einer weltoffenen, sozialdemokratischen Perspektive. Dies ist verbunden mit seiner Bewunderung für das Wirken von Franklin Delano Roosevelt, dem er wohl in seiner „Josephs-Trilogie“ ein Denkmal gesetzt hat.

Heute gehört Thomas Mann zu den Autoren, die bekannt, aber kaum mehr im geistigen Leben präsent sind. Seine Sprache ist der Generation meiner Kinder und erst recht meiner Enkelkinder nicht mehr nahezubringen – und damit leider auch nur mehr sehr schwer der Geist einer kultivierten, aufgeklärten und verantwortungsbewussten „bürgerlichen Sozialdemokratie“. Er ist von seiner Geisteshaltung eng verbunden mit dem großen Ökonomen John Maynard Keynes, der mich nicht nur als Wirtschaftstheoretiker entscheidend beeinflusst hat, sondern als Verkörperung einer Lebenshaltung, die für Werte des Humanismus einsteht. Dies im Gegensatz zur sozial-darwinistischen Grundhaltung des wirtschaftlichen Liberalismus, wie er von Friedrich August von Hayek und den Anhängern der heutigen „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“ vertreten wird – wobei sich dies sehr unterscheidet von den „klassischen Vertretern“ der „Österreichischen Schule“, wie den eminenten Ökonomen Carl Menger, Eugen Böhm von Bawerk und Friedrich Wieser. Als „Entsprechung“ zu meinen Leitbildern Thomas Mann und John Maynard Keynes habe ich in meinem Lebensweg zwei Persönlichkeiten gefunden, die mir unmittelbar Vorbild und Lehrer wurden: Als Politiker Bruno Kreisky und als Ökonom Kurt W. Rothschild – zu beiden später mehr.

Ich hatte als Student lange briefliche, etwas verspielte Diskussionen mit einem Freund, der in Berlin studierte, bei denen es um eine Gegenüberstellung von Thomas Mann und Bertolt Brecht ging. 1968 besuchte ich diesen Freund in Berlin, der in einer Kommune in einem abbruchreifen Haus in einer ehemals eleganten Wohnung lebte, wo aber der Fußboden im großen „Berliner Zimmer“ schon so schief war, dass ein Sessel, wenn man aufstand, hinunterrutschte. Ich hatte für die politischen Anliegen der Studentenbewegung viel Sympathie, war aber von der hemmungslosen Emotionalität und dem für mich „sehr deutschen“, autoritären Verhalten abgestoßen. Erst später habe ich auch für Bertolt Brecht Verständnis und Sympathie gefunden und entdeckt, wie viel Menschlichkeit hinter seinem Zynismus steckt. Als ich dann bei einem Besuch im Berliner Brecht-Haus in der Chausseestraße 125 entdeckte, dass seine aus Wien stammende Frau Helene Weigel für den Brecht’schen Frühstückstisch schönes österreichisches Augarten-Porzellan verwendete, war ich mit Brecht vollends versöhnt. Sein Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ möge ein Leitmotiv dieses Buches sein. Geht es doch darum, wie sehr auch der Erfolgreiche aufgebaut und umgeben ist von den Mühen vieler Menschen.

Bertold Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Und das mehrmals zerstörte Babylon,

Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern

Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?

Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war,

Die Maurer? […]

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte

Untergegangen war. Weinte sonst niemand?

[…]

So viele Berichte, So viele Fragen.

Die hier zentrale Frage ist die nach der sozialen Einbindung von Arbeit, nach der gesellschaftlichen Struktur, in der und für die wir arbeiten. Ich werde in einem späteren, abschließenden Kapitel auf das weite Feld von Lebensanschauung und Lebenshaltung noch speziell eingehen. Im Folgenden möchte ich meine ganz persönliche Befindlichkeit darstellen – in welchem Umfeld und wofür ich arbeite.

Bei der in Umfragen gern gestellten Frage nach der persönlichen Identität ist meine Antwort die Reihenfolge Österreicher, Europäer, Weltbürger. Mein zentraler Bezugs- und Erfahrungsbereich ist zweifellos Österreich, wo der größte Teil meiner Familie lebt, wo ich aufgewachsen bin und wo ich berufliche und politische Verantwortung übernommen habe. Im Rahmen dieser österreichischen Identität gibt es freilich wieder eine Vielzahl regionaler Identitäten, in meinem Fall Wien und Oberösterreich. Ich bin in Wien in einer, wie es so schön heißt, „gutbürgerlichen“ Familie aufgewachsen. Insgesamt ein intellektuell vielfach durchaus progressives, arbeitsames und kulturell aktives Milieu, in dem ich mich ohne Anstrengung und Widerstand entwickeln konnte. Es war eine geistig anregende, sozial aber weitgehend in sich geschlossene Welt mit der Gefahr einer zu frühen und zu leichten Zufriedenheit.

Linz war dann meine Rettung. Wie ich später noch detaillierter schildern werde, hatte ich das Glück, als Assistent von Prof. Kurt Rothschild am Aufbau einer völlig neuen Hochschule, der heutigen Johannes-Kepler-Universität, mitzuwirken. Eine – kluge – Bedingung dafür war, dies nicht als Reisender zu machen, sondern nach Linz zu übersiedeln. Das hatte zunächst die positive Folge, dass meine Frau und ich sehr jung heirateten. Wir beide kannten in Linz zunächst niemanden und hatten dann die Chance, unser Leben selbstständig und mit eigenem Einsatz einzurichten. Es war eine sehr andere Welt, die sich in vielem von unserem wohlgepolsterten Dasein in Wien unterschied, und die einem auch half, Härte und Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wir haben uns in dieser neuen, selbst erarbeiteten Welt sehr wohl gefühlt und als Zeichen der Dankbarkeit unserem in Linz geborenen Sohn den Namen des oberösterreichischen Landespatrons, Florian, gegeben. Inzwischen sind wir nach Wien zurückgekehrt. Wir sind Oberösterreich und seinen Menschen aber weiterhin durch einen Wohnsitz verbunden.

Bei der Frage, wofür und für wen ich arbeite, ist ein breiter politischer und philosophischer Hintergrund zu sehen, auf den ich später eingehen werde. Ganz unmittelbar und persönlich ist die Antwort aber: mitzuhelfen an der Arbeit für ein erfülltes und sicheres Leben der „einfachen“, arbeitsamen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Ich schätze und bewundere die Personen, die sich um soziale Randgruppen und um spezielle Notfälle kümmern. Mein persönliches, fachliches und emotionales Engagement gilt aber der „Mitte der Gesellschaft“, den Menschen, deren Arbeit und Lebensführung zentral ist für ein stabiles und sozial gerechtes Gemeinwesen. Das Schicksal dieser Menschen ist wieder in großem Maß verbunden mit Sicherung und Ausbau der wirtschaftlichen und sozialen Perspektiven einer demokratischen Gesellschaft. Es sind diese Menschen wie der Arbeiter, der aus dem Mühlviertel zur Voest pendelt, die alleinerziehende Angestellte im Architekturbüro, der aus bosnischer Familie stammende Monteur bei der Linz A.G., der Lehrling bei den ÖBB, die Wiener Geschäftsfrau von türkischer Herkunft, der Bäckermeister im Burgenland, der Polizist in Tirol und die vielen anderen, die in ironischer Herablassung speziell von Intellektuellen oft gerne mit dem zweifelhaften Klischee der „anständigen Menschen“ versehen werden. Diese Herablassung wird dann von „populistischen“, das heißt konkret: ewig-gestrigen, engstirnigen Gruppierungen, genutzt, um einen Gegensatz zwischen „Volk“ und „Eliten“ zu konstruieren. Nun gibt es zweifellos ökonomische und zum Teil auch kulturelle Interessenskonflikte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Aber es ist ein Grundelement einer humanistisch orientierten Politik, solche Interessenskonflikte in demokratisch geregelten Bahnen und nicht durch das Aufschaukeln von Ressentiments und Vorurteilen auszutragen. Es ist für eine Gesellschaft von zentraler Bedeutung, einen grundsätzlichen Konsens über gegenseitigen Respekt, sozialen Zusammenhalt und gegen Ausgrenzung zu sichern und konkret zu leben. Für mich persönlich jedenfalls stehen hinter diesen Menschen der Mitte der Gesellschaft Menschen, die ich schätze und für die ich arbeite, jeweils ganz spezifische Personen, mit denen ich im persönlichen, oft freundschaftlichen Kontakt stehe.

Natürlich ist mir bewusst, dass es eine Vielzahl anderer Bereiche gibt, die politisches Handeln und wissenschaftliche Analyse erfordern, und ich habe mich für viele dieser Bereiche auch engagiert. Aber der emotionale Bezugspunkt meines Handelns ist diese Gruppe „einfacher“, aber leider, wie die Geschichte zeigt, unter Umständen verführbarer Menschen in meiner österreichischen Heimat. Eben weil ich deren Interessen im Auge habe, weiß ich auch, dass das Schicksal dieser Menschen in einem Ausmaß, das ihnen oft gar nicht bewusst ist, von äußeren, internationalen Entwicklungen abhängt. Und das ist meine wesentliche Motivation für mein Engagement auf europäischer und internationaler Ebene.

Mein Engagement für ein vereintes Europa entstand zunächst aus dem Bewusstsein, dies sei der beste – ja der einzige – Weg zur dauerhaften Sicherung von Frieden in Europa. Ich wurde 1944 geboren und habe noch Erinnerungen an ein Wien voller Ruinen, ausgebombter Häuser, an Erzählungen von Not und Gefangenschaft. Es ist für meine Generation ein besonderes – und nicht selbstverständliches – Glück, in einer gefahrvollen Welt in ungestörtem Frieden leben zu können, und mein größter Wunsch ist es, dass auch künftigen Generationen dieses Glück zuteilwird.

Den emotionalen Bezug zu einem vereinten Europa gewann ich erstmals mit 18 Jahren. Ich hatte bei einem Aufsatzwettbewerb des Europarates den ersten Preis für Österreich gewonnen und konnte mit den Preisträgern aus acht anderen europäischen Staaten einen Sommer lang durch Europa fahren. Das Zusammenleben in dieser kleinen europäischen Gruppe, das gemeinsame Erleben der Vielfalt und der Gemeinsamkeiten Europas hat mich bleibend geprägt. Ich habe mich daher schon seit Studententagen auch institutionell-politisch für ein gemeinsames Europa eingesetzt, und es ist mir eine große Freude, nun in meiner wohl letzten öffentlichen Funktion als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik wirken zu können. Persönlich habe ich es stets als intellektuell und emotional bereichernd empfunden, in einer europäischen Institution wie der Europäischen Investitionsbank und speziell in der Europäischen Zentralbank zu wirken und so in der Praxis gemeinsame Arbeit für Europa zu erleben. Für kein Anliegen habe ich als Politiker so intensiv gearbeitet, wie für ein positives Ergebnis bei der Volksabstimmung 1994 für einen Beitritt Österreichs zur Europäischen Union.

Der Aspekt der „Weltbürgerschaft“ ist für mich differenziert zu sehen. Es gibt zweifellos eine Verantwortung aus der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Für die Mehrzahl der Menschen – und so auch für mich – kommt es bei der Konkretisierung dieser Verantwortung freilich zu Abstufungen nach emotionaler, räumlicher und geistesgeschichtlicher Nähe. Als Ökonom sehe ich die gewaltige ökonomische und politische Dynamik der Globalisierung – sowohl in Bezug auf ihre Chancen wie in Bezug auf ihre Herausforderungen – und ich bin bemüht, mitzuarbeiten an den Bestrebungen, für die Europäerinnen und Europäer eine positive Mitwirkung an dieser Dynamik zu erreichen. Von der menschlichen und politischen Seite her sehe ich die bereichernden Aspekte dieser Globalisierung im Zusammenkommen interessanter und international offener Menschen mit unterschiedlichem historischem Hintergrund, aber vereinbarer Werteorientierung. Es ist dies ein „Weltbürgertum“ auf der Basis einer gemeinsamen Sicht der Welt im Sinne von Aufklärung und gegenseitiger Achtung.

Ich habe dagegen erhebliche Probleme mit jenem Teil der Menschheit, der leider – noch? – in unterschiedlichen Formen beherrscht ist von religiöser und gesellschaftlicher Intoleranz und von Gewaltbereitschaft. Ich fühle mich aber auch fremd gegenüber manchen Mitgliedern jener strahlenden Managerklasse der Welt der kommerziellen Globalisierung, ausgebildet in exzellenten internationalen Schulen, durch zum Teil absurde Überzahlung ausschließlich gebunden an die Interessen ihrer multinationalen Dienstgeber. Diese „Multis“ sind ihre Heimat, und von diesen werden sie mit Absicht zu jeweils nur zeitlich begrenzten Aufenthalten in die jeweiligen „Gastländer“ geschickt. Zeitlich begrenzt um zu verhindern, dass sie sich mit den Interessen der jeweiligen Bevölkerung verbinden. Es ist dies das alte britische Kolonialprinzip der Verhinderung „to go native“, das zur Schaffung einer hochqualifizierten, bestens „vernetzten“, international völlig mobilen „Söldnertruppe des Kapitalismus“ führt.

Eine solche Perspektive ist freilich deutlich zu unterscheiden von der „Internationalität der Intellektuellen“, der ich mich voll zugehörig fühle. Die Internationalität der Intellektuellen habe ich am schönsten in meinen Erfahrungen als Wissenschafter, aber auch im Bereich internationaler Institutionen erlebt. Gute Wissenschaft muss international offen sein. Ich habe es stets als Privileg empfunden, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, habe wesentliche Anregungen meines Lebens von Studienaufenthalten und Gastprofessuren an europäischen und außereuropäischen Universitäten empfangen und hier auch viele persönliche Freunde gefunden. Entsprechend sehe ich es auch als Verpflichtung, für die weltweite Freiheit dieser „Republik des Wissens“ – der „République des Lettres“ zu kämpfen – eine Freiheit, die immer wieder durch autoritäre Regimes bedroht ist. So war ich zur Zeit des kommunistischen Regimes in Osteuropa bemüht, von Österreich aus Kontakte für ein offenes, kritisches Denken mit Angehörigen dortiger Universitäten zu halten. Auch heute bemühe ich mich als Präsident der Bruno Kreisky Stiftung für Menschenrechte gemeinsam mit meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, bedrohten Intellektuellen zumindest kleine materielle und symbolische Hilfe zu leisten. Ich bin ein großer Bewunderer der ja vielfach angefeindeten, von George Soros initiierten und finanzierten Open Society Foundation. Im Sinne von Karl Popper, der auch für mich eine intellektuelle Leitfigur ist, wird hier nachhaltige, konkrete Arbeit für die Freiheit des Geistes geleistet. Wie wichtig dies nach wie vor selbst in Staaten der Europäischen Union ist, zeigt der tapfere Kampf der Central European University, die ich bei ihrem vom autoritären Orban-Regime erzwungenen Umzug von Budapest nach Wien nach Kräften unterstütze.

3.Mein Weg zur Ökonomie – Vollbeschäftigung und Preisstabilität

Geboren in Wien im Kriegsjahr 1944, konnte ich die folgenden Jahrzehnte des Friedens und des wachsenden Wohlstandes in Europa erleben. Die Familie meines Vaters hatte sich nach der Liquidierung der familieneigenen Bank zu einer noch immer wohlhabenden, aber wirtschaftlich extrem vorsichtigen „Hofratsfamilie“ entwickelt. Die Familie meiner Mutter war eine Offiziersfamilie. Mein Großvater, der viel älter war als meine Großmutter und den ich nie kennenlernte, wurde als Sohn des Leibarztes von Feldmarschall Radetzky noch in der Festung von Verona geboren, meine Mutter in einer requirierten Villa in Belgrad, wo mein Großvater als Offizier im Ersten Weltkrieg diente. Nach seinem Tod war meine Mutter stets auf Stipendien angewiesen, was zu einer manchmal extrem starken Leistungsorientierung führte, die mich zweifellos auch deutlich beeinflusst hat. Meine Schwester und ich wuchsen in einer Welt der klassischen Bildung und Kultur auf, die geprägt war vom Prinzip „mehr sein als scheinen“ und von Misstrauen gegenüber der Welt der Wirtschaft. Mein früh gewecktes Interesse für wirtschaftliche Zusammenhänge kam von außen und wurde von der Familie zuerst mit Misstrauen, später mit leicht ironischer Toleranz betrachtet.

Entscheidend waren hier zwei Onkel mit sehr unterschiedlicher Lebenserfahrung. Der eine war von extremer Korrektheit, in führender Position in einer internationalen Unternehmensgruppe tätig und wollte mich zu einem Schweizer Banker bestimmen. In diesem Sinn schenkte er mir zu meinem 15. Geburtstag ein Abonnement eines Schweizer Börsendienstes mit dem schönen Namen „Der Zürcher Trend zum Wochenend“. Verbunden war dies mit der Übergabe eines kleinen Aktiendepots, gemeinsam mit dem starken Rat, die darin enthaltenen Nestlé-Aktien nie zu verkaufen – ein Rat, den ich an meinen Sohn weitergegeben habe.

Der andere Onkel war das schwarze, aber eher „goldene“, Schaf der Familie. Seine Mutter entstammte einer sehr reichen Fabrikantenfamilie, er selbst wurde früh ein eher romantischer Linker, kämpfte zeitweise im Spanischen Bürgerkrieg und baute nach dem Zweiten Weltkrieg rasch wieder ein großes Vermögen auf. Er wohnte in einer prächtigen Villa in Döbling, fuhr riesige amerikanische Autos, war aber – wie er mir stets betonte – von der Instabilität des kapitalistischen Systems überzeugt. Dies äußerte sich eigenartigerweise darin, dass er in seiner Villa hinter jedem Bild Wandtresore voller Gold hatte. In der Tat kam es 1971 nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zu einem massiven Anstieg des Goldpreises. Allerdings hatte mein Onkel nach einer Steuerprüfung bereits 1970 den größten Teil seiner Goldbestände verkaufen müssen – was ihn in seiner Sicht der Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems nur bestärkte.

Beide Onkel hatten je eine Tochter, aber keine Söhne, und wollten mich wohl entsprechend dem Geist der Zeit in ihrem Sinne formen – was ihnen nur in sehr geringem Maß gelang. Denn im Laufe meines Studiums erwachte meine Liebe zur Wissenschaft, und ich habe bei keinem meiner Onkel das geistige und materielle Erbe angetreten. Wohl aber entstand durch diese frühe Exponiertheit gegenüber unterschiedlichen wirtschaftlichen Lebensformen eine Vertrautheit mit interessanten Bereichen des wirtschaftlichen Lebens, insbesondere auch ein lebenslanges Interesse an dem Verfolgen und Interpretieren des Börsengeschehens, das ich stets analytisch hinsichtlich seiner Finanzierungsfunktion und nicht ideologisch betrachtete. Damit ergab sich wohl auch eine gewisse unmittelbare empirische Fundierung, die vielleicht stärker ist als bei manchen meiner Fachkollegen.

Mein nachhaltiges Interesse an gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen entwickelte sich jedenfalls aus politischen, historischen und gesellschaftlichen Perspektiven. Bis heute ist dabei für mich im besonderen Maß die Auseinandersetzung mit dem Faschismus prägend, speziell in seinen schrecklichen Ausprägungen in Österreich. Ich hatte von meinen Eltern schon früh über die Gräuel der Nazi-Zeit erfahren, eine tiefe emotionale Betroffenheit erlebte ich aber vor allem, als ich in den frühen 70er-Jahren in den USA lebte und dort Emigranten aus Österreich traf, die bereit und interessiert waren, einem jungen Österreicher ihre Erfahrungen weiterzugeben.