ALLTAG WAR GESTERN
WIE DAS CORONA-VIRUS
UNSER LEBEN AUF DEN
KOPF STELLT
Paperback ISBN |
978-3-347-10983-4 |
Hardcover ISBN |
978-3-347-10984-1 |
e-book ISBN |
978-3-347-10985-8 |
© 2020 Kurt Bauer
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
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Liebe Leserin! Lieber Leser!
Mein Name ist Bauer Kurt. Für mich ist die Corona-Krise etwas ganz Großes. Die Welt steht still. Das kleine Corona-Virus macht es möglich. Ich bin 73 Jahre alt und gehöre zur Risikogruppe. Vieles habe ich schon erlebt, aber das nicht. Ich sage ganz ehrlich, ich bin fasziniert von dem Virus. Klein, unsichtbar, und doch steht jetzt die Welt still.
Ich mache das, was die Politik vorgegeben hat. Ich bin zu Hause geblieben und habe mir einen neuen Alltag geschaffen. Ich habe mich entschleunigt und begonnen, Tagebuch zu schreiben. Manchmal hielt ich dabei Zwiesprache mit der Natur. Dieses kleine Ding aus der Natur erzählt uns ganz große Sachen. Es will gehört werden.
Ich bin Filmemacher. Die Corona-Krise hat mich immer wieder mit Erinnerungen in Berührung gebracht, mit Erlebnissen, die ich gefilmt und in meinem Archiv wiederentdeckt habe. Die Filme werden im Buch vorgestellt, Sie können sie auf meinem YouTube Kanal „Kurt Bauer Film“ kostenfrei ansehen. Ich stelle Ihnen die Filme am Ende des Buches vor.
In diesem Buch erzähle ich, von meinen Erlebnissen und Erfahrungen während der Corona-Krise.
Herzliche Grüße,
Kurt Bauer
Tagebucheintragung 07.03.2020
EINFÜHRUNG
Ab Dezember 2019 hatte ich mit Interesse das Auftauchen des Corona-Virus und seinen Verlauf verfolgt. Im Jänner 2020 war ich in engem Austausch mit Dr. Peter Körner, einem Mediziner, der die Entwicklung der Epidemie verfolgte und mich an den Ergebnissen seiner Recherchen teilhaben ließ. Mein Interesse war geweckt. Da das Geschehen weit weg war, verschwendete ich nicht einen Gedanken daran, dass ich je davon betroffen sein könnte. Ich recherchierte über den Vogelgrippe-Virus und setzte mich mit Dr. Körner allgemein über Seuchen, Pandemien und die Verbreitung von Viren auseinander.
In meiner Tätigkeit als DOKU-Filmemacher und TV-Reporter hatte ich die Idee, eine Sendung zum Corona-Virus und dessen Ausbreitung in mehreren Folgen aufzunehmen. Ich lud also Dr. Peter Körner ein, die erste Sendung „Corona-Virus – COVID-19“ mit mir zu gestalten, und wir setzten das auch um. Mittlerweile verfolgte ich über die Medien die Ausbreitung des Virus in China, und im weiteren Verlauf in verschiedenen anderen Ländern, bis hin zu seinem Auftreten in Italien. Ich las Zeitung, sah mir die Berichte im Fernsehen an und widmete den Reaktionen der österreichischen Bundesregierung meine volle Aufmerksamkeit. Das bewegte mich dazu, mich für eine weitere TV-Sendung vorzubereiten. Dabei arbeitete ich Fragen, die sich mir gestellt hatten, mit Dr. Peter Körner1 durch, die wir in der Sendung beantworten wollten. Ich führte in der Sendung das Interview (I = Interviewer), Dr. Körner war mein Interviewpartner (IP).
I: Wie können sich die Zuschauer vor diesem Virus schützen?
IP: Es gibt mehrere Maßnahmen, aber die allerwichtigste ist, sich die Hände mit Seife zu waschen, mehrmals am Tag, und danach gut abzutrocknen. Die Mensch-zu-Mensch-Übertragung läuft sehr wahrscheinlich über eine Tröpfcheninfektion und Kontakt mit kontaminierten Händen ab. Mit anderen Worten, angehustet zu werden und Händeschütteln, das ist zu vermeiden.
I: Was ist ein Virus?
IP: Ein Virus ist ein „Fast-Lebewesen“. Viren bestehen also nicht aus lebendigen Zellen, wie zum Beispiel wir Menschen oder Bakterien oder Tiere. Viren sind eher „Strukturen, die dem Leben nahestehen“. Diese neuen Viren brauchen nämlich eine geeignete lebende Wirtszelle, die sie infizieren können. Dort können sie sich vermehren und ausbreiten. Viren können sich auch verändern. Sie sind zur Evolution fähig.
I: Was ist ein Corona-Virus?
IP: Das Corona-Virus gehört zu der Familie der Corona-Viren. Und diese ist seit den 1960er Jahren bekannt. Corona-Viren können sowohl Menschen als auch Tiere infizieren und unterschiedliche Erkrankungen verursachen. Die häufigsten Erkrankungen, die durch Corona-Viren verursacht werden, sind Erkrankungen der Atemwege. Diese reichen von banalen Symptomen bis hin zu MERS (Middle East Respiratory Syndrome) oder SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom). Letztere wurden aber durch andere Corona-Viren verursacht, das aktuelle Virus aus China ist neu. Übrigens, Corona-Viren heißen so, weil ihre Struktur unter dem Elektronenmikroskop der Korona der Sonne ähnelt.
I: Seit wann gibt es Menschen, die mit dem neuen Corona-Virus infiziert sind?
IP: Rückblickend muss man sagen, dass die erste Person, die mit dem neuen Corona-Virus infiziert war, sich bereits Anfang Dezember 2019 bei einer gesundheitlichen Einrichtung gemeldet hatte.
I: Wie wird das neue Corona-Virus übertragen?
IP: Von Tier zu Menschen sowie von Menschen zu Menschen. Die Tier-zu-Mensch-Übertragung läuft vermutlich über Kontakt zu kontaminierten Tieren, kontaminierten Oberflächen und über Berührung mit tierischem Kot. Die Mensch-zu-Mensch-Übertragung läuft, wie schon gesagt, sehr wahrscheinlich über eine Tröpfcheninfektion und Kontakt mit kontaminierten Händen.
I: Wie lange ist die Inkubationsdauer des neuen Virus?
IP: Die Inkubationszeit beträgt sehr wahrscheinlich 10 bis 14 Tage. Das bedeutet, dass es Personen gibt, die bereits infiziert sind, aber noch keine Symptome zeigen.
I: Was sind die Symptome einer Erkrankung mit dem neuen Virus?
IP: Die Symptome sind Fieber, Husten, Kurzatmigkeit und Atembeschwerden. Aber einige wenige hatten nur Magen-Darm-Symptome, wie Durchfall. Und man geht davon aus, dass einige Patient*innen eventuell gar keine Symptome entwickeln, obwohl sie infiziert sind.
I: Gibt es eine Impfung gegen das neue Virus?
IP: Nein, es gibt keine Impfung gegen das neue Virus. Aber gute Nachrichten. Es gab damals nach der SARS-Epidemie eine ausgezeichnete Grundlagenforschung für eine Impfung. Da SARS auch durch ein Corona-Virus verursacht wurde, allerdings ein anderes als das heutige, gibt es nun eine gute wissenschaftliche Basis. Viele Wissenschaftler*innen erwarten, dass es innerhalb von drei Monaten eine Impfung gegen das neue Virus geben wird.
I: Was ist die Standardbehandlung bei einer Infektion mit dem neuen Corona-Virus?
IP: Diese Behandlung gleicht den Maßnahmen, die Sie von einer Erkältung kennen: Viel Bettruhe und viel trinken, entweder Wasser oder Tee. Darüber hinaus gibt man in schweren Fällen in Krankenhäusern Sauerstoff. Dieser unterstützt die erschwerte Atmung. Es gibt also keine spezifische Behandlung einer Infektion mit dem neuen Corona-Virus, sondern nur die bisherige unterstützende Behandlung wie bei vielen anderen Virus-Infektionen auch. Während der Patient sich in Bettruhe befindet und viel trinkt, und wenn nötig mit Sauerstoff unterstützt wird, kann das Immunsystem des Patienten mit dem Virus fertigwerden.
I: Sind China bzw. Österreich auf eine Verbreitung des neuen Virus vorbereitet?
IP: China hat viel getan, für meinen Geschmack viel zu viel, inklusive die De-facto-Quarantäne von 60 Millionen Menschen und einem Verbot von Handel mit lebenden Tieren, leider nur bis auf Weiteres. Ob diese beiden und viele weitere Maßnahmen der chinesischen Regierung greifen werden, ist noch nicht hundertprozentig klar. Aber China ist aktiv und auf einem korrekten Weg.
Österreich hat, wie mehrere andere Länder, schon einige Vorbereitungen zustande gebracht. So haben die Krankenhäuser in Stadt und Land Salzburg beispielsweise bereits Pläne bezüglich der erforderlichen Maßnahmen, falls diese Infektionen exponentiell zunehmen würden. Auch der öffentliche Gesundheitsdienst wird laufend auf dem aktuellen Erkenntnisstand gehalten, um, falls sich die Situation verschlechtern sollte, die geeigneten Maßnahmen treffen zu können.
Bei einem Verdachtsfall muss die betreffende Person einer Labor-Diagnostik zugeführt werden, und die Kontaktdaten der weiteren Personen im selben Haushalt werden erhoben. Diese werden dann kontaktiert, falls die Erkrankung mit dem neuen Corona-Virus bestätigt werden sollte.
I: Wer würde in Österreich in Quarantäne kommen?
IP: Personen, bei denen der Verdacht einer Erkrankung besteht oder bei denen die Erkrankung bereits bestätigt wurde, können, je nachdem wie schwer der Verlauf der Erkrankung ist, entweder zu Hause abgesondert oder in einem Krankenhaus isoliert werden, bis sie wieder gesund sind.
Am 7. Februar 2020 hatten wir die Sendung in der „Sprechstunde“ im FS1-Studio aufgezeichnet. Am nächsten Tag gingen wir auf Sendung, wir bekamen große Zustimmung.
1 Informationsstand vom 13. März 2020
Tagebucheintragung 13.03.2020
DER STILLSTAND DER WELT
Wenn mir jemand vor drei Wochen gesagt hätte, dass sich am 13. März 2020 mein Leben auf den Kopf stellen werde, hätte mir das nur ein Lachen gekostet. Aber so geht es derzeit sicher vielen Menschen. Bis hierher hatte ich eine gesunde Distanz zum Geschehen. Diese Distanz begann nun zu bröckeln.
In den Schlagzeilen der Krone und der Salzburger Nachrichten war Folgendes zu finden: Corona-Virus in Italien als „dunkelste Stunde“: Revolten in Gefängnissen; - Corona-Virus: Konzerte, Reisen oder Schule: Was wird abgesagt?; - Universitäten und Schulen werden in Österreich ab Montag geschlossen; - Merkel zu Corona-Virus: „Wir sind gewillt, alles zu tun, was notwendig ist“; - Kanzler Kurz schließt die Grenzen zu den Nachbarländern; - 504 bestätigte Fälle in Österreich, 6 genesen, 1 Todesfall, 6.582 getestet. Stand: 13. März 2020, 14.00 Uhr; - Risikogruppen: Es sind vor allem ältere Menschen ab 60 und Personen mit schwachem Immunsystem und schweren Vorerkrankungen gefährdet, schwerer an Covid-19 zu erkranken als junge und gesunde Menschen.
Als weitere Beiträge finde ich: Fußballmatches werden (noch) vor menschenleeren Hallen ausgetragen. - Flüge werden eingestellt. - Menschen können nicht mehr in ihre Heimat zurück, weil es keine Reisemöglichkeit mehr gibt. - Regale in den Supermärkten zunehmend leer. - Quarantäne in Österreich. - Das alles stürzt auf mich ein, als ich die Zeitungen lese. Nüchtern und emotionslos stelle ich fest, dass sich hier etwas ereignet, das ich zuvor noch nie erlebt habe.
Ein lebendiger gesellschaftlicher Organismus wird Schritt für Schritt abgeschaltet. Die Folge ist Stillstand und Leere. Die gesamte Gesellschaft geht in einen Ruhemodus. Einen Nicht-Begegnungszustand. Abstand verhindert die weitere Ausbreitung des Corona-Virus. Weil das, so sagt man, die einzige Möglichkeit ist, das Corona-Virus an seiner Verbreitung zu hindern. Einige lebenswichtige Funktionen in dem gesellschaftlichen Organismus bleiben aufrecht. Supermärkte sind geöffnet und immer wieder wird betont, dass es genug Nahrungsmittel gebe und keine Hamsterkäufe notwendig seien. Hier zeigt sich, dass es eine Gegenkraft gibt. Angst und Panik machen sich breit. Hamsterkäufe werden wider alle Vernunft getätigt, und enormer Unsinn wird in den sozialen Medien verbreitet.
Auch für die Einreise nach Österreich gibt es neue Bestimmungen: Alle Menschen, die nach Österreich hereinkommen, müssen ihre Bereitschaft bekunden, sich 14 Tage lang in häusliche Quarantäne zu begeben. Es heißt: „Wenn Sie Fieber oder andere Symptome haben, gehen Sie nicht zum Arzt und auch in keine Ambulanz, sondern rufen Sie bitte die Nummer 1450 (telefonische Gesundheitsberatung) an. Hier bekommen Sie Hilfe und Auskunft. Ein Ärzteteam kommt dann zu Ihnen, um festzustellen, ob Sie mit Corona-Virus infiziert sind.“
Die wichtigste aller Hygienemaßnahmen ist Händewaschen. Immer und immer wieder wird wiederholt: Gründlich Händewaschen! Das alles spielt sich vor meinen Augen im Fernsehen ab und hat etwas von einer Fiktion an sich. Es ist nicht meine Realität.
Erst als ich dann in den Supermarkt einkaufen gehe, keinen Parkplatz finde und vor leeren Regalen stehe, wird mir bewusst, dass das, was ich aus den Medien kenne, real ist. Es ist keine Fiktion mehr, es ereignet sich jetzt und hier. Und das fährt mir in den Magen. Habe ich bisher so etwas wie eine neutrale Zone um mich gehabt, merke ich nun, dass meine Distanz bröckelt und ich mehr und mehr in dem Geschehen mittendrin bin. Unangenehm, ziemlich unangenehm fühlt sich das an.
Um 14.30h treten Bundeskanzler Kurz, Gesundheitsminister Anschober und Innenminister Nehammer vor die Presse, um die nächsten Maßnahmen im Kampf gegen das Corona-Virus bekanntzugeben. Der Kanzler sagt: „Um die Verbreitungskurve des Corona-Virus zu verflachen, Zeit zu gewinnen und unsere betagten Mitbürger*innen zu schützen, treten ab Montag folgende Maßnahmen in Kraft: Ab Montag schließen Bars, Restaurants und Geschäfte jeweils um 15 Uhr. Supermärkte, Apotheken, Spitäler, Banken und Drogerien bleiben offen. Schulfrei ist ab Montag. Bitte bleiben Sie vernünftig. Um unsere betagten und älteren Mitbürger*innen zu schützen, ist es notwendig, auf die Begegnung von Omas und Opas mit ihren Enkelkindern zu verzichten. Bitte keine Kinderbetreuung durch die Großeltern, denn sie sind die größte Risikogruppe. Schützen wir sie. Auch Sie selbst werden aufgefordert, Ihre Sozialkontakte zu reduzieren, als Selbstschutz. Denn das Virus hat die Eigenschaft, bei schweren Vorerkrankungen in allen Altersgruppen möglicherweise ein Multiorganversagen hervorzurufen. Ältere brauchen besonderen Schutz! Jetzt ist der Zusammenhalt der Generationen gefragt!“
Der Rest verschwimmt vor meinen Augen. Ich bin immens erschüttert. Mir rinnen die Tränen über die Wangen. Ich bin 72 Jahre alt. Ich bin Filmemacher, Autor und habe eine Redaktion im FS1 TV-Sender Salzburg. Rundherum bin ich gut ausgelastet und habe viele gute Kontakte und schöne Aufgaben.
Das alles ändert sich heute. Ich gehöre zur Risikogruppe. Was mich unmittelbar trifft, ist: Der Staat schützt mich. Ich werde mich auch schützen, für meine Frau, meine Kinder und meine Enkelkinder. Ich erlebe mich heruntergebremst. Stillstand. Alles steht.
Der Rest des Nachmittags gehört der Gestaltung und Organisation der nächsten Zeit. Soweit man sie überblicken kann. Mit meiner Frau und meinem Sohn, der mit uns lebt, machen wir Pläne, und wir organisieren unser Leben. Was muss noch alles gekauft werden? Apotheke, Arztbesuch und Gespräche mit Nachbarn und Projektpartnern. Ich schreibe E-Mails und beende laufende Projekte, telefoniere mit Kolleg*innen, sage Vereinbarungen ab. Freunde, Freundinnen und unsere Kinder sind uns dankbar, dass wir unseren Selbstschutz ernst nehmen. Der Rest des Abends ist voll mit Sondersendungen über die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus.
Eines ist mir klar, wir sind in einer Situation, die wir noch nie gehabt haben. Ein kleiner Virus, der die Welt anhält und mir das Fürchten lehrt. Denn ich wusste nicht, wie verletzlich ich bin.
Tagebucheintragung 15.03.2020
DAS HERZSTÜCK
Am nachfolgenden Morgen. Die Nacht war, … naja, ich habe ziemlich geschwitzt und meinen Pyjama zweimal umgezogen, weil er durchnässt war. Vieles ist mir durch den Kopf gegangen. Was wird sein, wenn …. Aber ich fühle mich erstaunlich gut ausgeschlafen.
Ich habe einmal von einem Experten gelesen, dass alt sein keine Frage der Jahre sei, sondern der Einstellung zum Leben. Wesentlich sei nicht so sehr die Frage „Wie lange lebe ich?“, sondern „Was hält mich lebendig, und wofür brenne ich?“. Leidenschaft ist mein Markenzeichen. Ich bin leidenschaftlich gerne Filmemacher. Die Fülle meiner Erlebnisse und Erfahrungen, bedingt durch meine Filmarbeit in Indien, Nepal, Ungarn und Rumänien sowie durch meine Reisetätigkeit in die Türkei, nach Amerika, und Ägypten, macht mich satt und zufrieden. Es ist für mich eine ungeheure Einschränkung, dass ich nicht weiß, ob einige Reisen, die ich im Juli und Oktober machen wollte, möglich sein werden. Dass ich nicht einfach meinen Sohnes Johannes, seine Frau und ihre Tochter Lilli in Linz besuchen kann. Obwohl wir das momentan ganz gut mit dem Handy und seiner Videofunktion kompensieren. Lilli liebt es leidenschaftlich, mit der Kamera zu telefonieren. Diese Art der Kommunikation klappt auch mit meiner Tochter Sarah in der Stadt Salzburg sehr gut. Schwerer wiegt, dass einige Filmaufnahmen, die schon von langer Hand vorbereitet waren, vom Corona-Virus „abgemurkst“ wurden. Das tut mir weh.
Aufgaben wie Ordnung zu schaffen und manches durchzumustern, werden ihren Platz finden. Naja, aber das ist irgendwie öde, es entfacht meine Leidenschaft nicht. Der Idee der Verlangsamung des Lebens kann ich nicht viel abgewinnen. Dass die Sicherung meines Lebens und das meiner Frau und meines Sohnes an erster Stelle steht, ist mir klar. Aber dann? Dann stehe ich da und schaue beim Fenster hinaus?
Zum alten Eisen zähle ich mich noch lange nicht, und ich habe mich entschieden, meiner „häuslichen Quarantäne“ aktiv zu begegnen.
Nach einem morgendlichen Frühstück mit weichem Ei, Schwarzbrot, Frischkäse und dem ausgiebigen Studium der Tageszeitung ist mir klar, dass das Zu-Hause-Bleiben ein national angesagtes Programm für die nächsten drei Wochen sein wird. SCHÜTZ DICH, BLEIB ZUHAUSE! Zunehmend wird mir bewusst, dass ich in nächster Zeit eine Menge Zeit zur Verfügung haben werde. Meine Frau hat schon verkündet, dass sie einen gründlichen Wohnungsputz machen wird, und dann stehen ja einige Dinge im Garten an. Bei mir sieht das anders aus.
Was mir auffällt, ist, dass im gegenwärtigen Moment klare Handlungsstrukturen im staatlichen Ablauf umgesetzt werden. Damit bin ich einverstanden. Wir sind das „Team Österreich“, wie der Innenminister Karl Nehammer zu sagen neigt. Eines habe ich verstanden, dass mir auf Grund meines Alters eine Rolle zugewiesen wurde, nämlich die des Stubenhockers! Meine erste Idee war, mich beim Zivildienst zu engagieren. Als ich das meinem erwachsenen Sohn Bernhard erzählte, meinte er knapp: „Du bleibst daheim, Papa!“ - „Zu alt?“ fragte ich. „Nein“, sagt er, „Risikogruppe!“ Fazit: Stubenhocker und Risikogruppe.
Normalerweise neige ich dazu, beim Filmen mitten im Geschehen zu sein. Letztes Jahr im Oktober war ich Nagpur, Indien2, wo ich unter anderem in den Slums filmte und mittendrin war. Es war eine heftige Erfahrung. Der Schmutz, das Elend und die Menschen, die diesen Bedingungen ausgesetzt sind, setzten mir heftig zu. Aber in keinem Fall hatte ich Angst davor, mich mit irgendetwas anzustecken.
Dieses Mal gehöre ich zur Risikogruppe, und zum Selbstschutz bin ich in häuslicher Quarantäne. Gut, ich bin natürlich Realist und weiß, dass ich mir nichts Gutes tue, wenn ich mich nicht daran halte. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren bei mir ein Diabetes Typ 2 festgestellt wurde, wodurch ich zusätzlich zu den besonderen Risikogruppen zähle. Dann fällt mir noch ein, dass ich früher immer wieder eine Lungenentzündung hatte, was meine Beunruhigung noch erhöht. Risiko für Risiko türmt sich aufeinander und ich sehe mich im Geiste schon an einem Multiorganversagen sterben. Es ist so etwas wie eine vorgezeichnete innere Realität, der ich mich nicht entziehen kann. Ziemlich deprimierend. Gut, dass ich rechtzeitig eine Patientenverfügung gemacht habe.
Ich entschließe mich, eine langjährige Freundin anzurufen und ihr von meinem Dilemma zu erzählen. Dass ich zum nutzlosen Daheimbleiben verurteilt bin und ohnehin ganz sicher eine Covid-19-Infektion nicht überleben werde, und zwar wegen eines Multiorganversagens. Ich gehe davon aus, ein wenig Mitgefühl und Anteilnahme zu erhalten. Aber es kommt anders. Nach der Schilderung meiner Lage habe ich noch keinen Atemzug gemacht, als Christine schon durch das Telefon faucht: „Spinnst du jetzt völlig? Du weißt NICHTS! Sorry, aber warum wirfst du dein Leben schon im Kopf weg? Das nennt man self-fulfilling-prophecy. Du warst in den Slums ohne Gummihandschuhe und Desinfektionsmittel. Ohne Schutz. Jetzt ist das anders. Ersten schützt du dich, und zweitens weißt weder du noch ich, wie sich die Infektion bei dir auswirken würde. Stell dir vor, man kann sie auch überleben! Und übertreibe ja nicht mit deinen Vorerkrankungen. Du hast 17 Kilo abgenommen und deinen Blutzucker schon über lange Zeit hinweg im Normbereich gehalten. Die letzten fünf Jahre hattest du gar nichts an der Lunge, bis auf ein bisschen Reizhusten ab und zu. Du bist fit und aktiv, und nichts weist darauf hin, dass du demnächst das Zeitliche segnest. Ja, natürlich kannst du theoretisch am Corona-Virus auch sterben. Aber es ist nicht die einzige und nicht die wahrscheinlichste Option. Was in dir gerade grassiert, ist ein anderes `Virus`, nämlich das des irrationalen Denkens!“ - Ich bin platt! Warum faucht sie mich so an? Es ist eben, wie es ist! Oder doch nicht? Zaghaft mache ich noch einen Versuch und will mich durch die Statistiken absichern, die ich aus den Medien parat habe. „Ab 70 Jahren sollen zirka 30 Prozent der Erkrankten …“ – Ich werde unterbrochen: „Seit wann unterwirfst du dich einer Statistik? Und dann noch dazu, um die Aussage gegen dich zu richten? Und was ist mit den anderen 70 Prozent, die wieder genesen?“ - Endlich löst sich bei mir der Panzer der negativen Vorstellungen, ich fühle mich wachgerüttelt. Christine hat recht, das ist ein völlig verrücktes Denken. Das passt im Grunde nicht zu mir, kritisches Denken ist eigentlich meine Stärke. Ich distanziere mich entschieden von der Fiktion der self-full-filling-prophecy und atme erleichtert auf.
Nach dem Telefonat lese ich die Zeitung weiter und muss schmunzeln, als ich auf einen Bericht des Robert-Koch-Instituts stoße, das herausgefunden hat, dass stabile Zuckerwerte bei Diabetes mellitus Typ 2, wie sie bei mir vorliegen, kein Risiko für einen schweren Verlauf einer Corona-Infektion bedeuten. Das entspannt mich.
Zudem habe ich eine neue Idee. Da ich derzeit keinen DOKU-Film machen kann, könnte ich doch ein DOKU-Buch schreiben. Meine Begeisterung ist entfacht. Noch dazu ist mir ja das Handwerkzeug der Schriftstellerei nicht fremd. Ich spiele in Gedanken: Ich könnte ein DOKU-Tagebuch schreiben, wie das Corona-Virus mein Leben, mein Umfeld, meine Beziehungen in der Familie und mit Freunden verändert. Ich würde das Virus in den Blick nehmen und erzählen, was es alles bewirkt, statt gebannt wie eine Maus vor der Schlange zu stehen.
Ich setze mich also mit meiner Buch-Idee näher auseinander. Wird der Stoff für eine Geschichte reichen? Ich will keine Aufzählungen machen, die niemanden interessieren. Drifte ich ab in das Ereignislose? Was ist, wenn es nichts zu erzählen gibt? Mein Anspruch ist, von dem zu berichten, wo niemand hinschaut. Ich merke, dass ich derzeit noch keine Orientierung habe. Was bewegt mich selbst dabei, und wie stehe ich diese Zeit durch, oder auch nicht?
Das Buchprojekt macht für mich plötzlich Sinn und hat etwas Kribbliges. Die Idee elektrisiert mich. Wenn es nicht klappt, kann ich ja einfach aufhören. Solange ich es nicht veröffentliche, weiß niemand davon, so lasse ich mir eine Hintertüre offen. Ich entscheide mich, das DOKU-Tagebuch zu schreiben.
Tagebucheintragung 21.03.2020
Heute hatte ich keinen guten Morgen. Um 6: 00 Uhr kam unsere schwarze Katze ins Bett und stakste auf mir herum. Ich reagierte nicht. Die Katze stolzierte quer über das Bett zu meiner Frau, um dort das Gleiche zu tun. Normalerweise ist unsere Katze weich, sanft und anschmiegsam, aber in Ausnahmefällen, wie heute, ging sie mir auf die Nerven, und ich erlebte ihre Annäherungsversuche als Herumtrampeln. Ich reagierte nicht, zog mir die Decke über den Kopf und hoffte, dass sie aufgibt. Also wandte sie sich mit aller Konsequenz meiner Frau zu und machte deutlich, was sie wollte. „Steh auf, gib mir etwas zu fressen, mach dann die Türe auf und lass mich hinaus!“ Irgendwann, nachdem ich mich ausreichend lange totgestellt hatte, stand meine Frau Ingrid verärgert auf. Sie schimpfte, fragte mich ungehalten, warum ich tat, als ob mich das nichts anginge, und kümmerte sich dann um Sunny, so heißt unsere schwarze Katze. Im Nachhinein muss ich sagen, dass sie recht hatte.
Wie gesagt, ich hatte keinen guten Morgen, und Sunny hatte meine Laune auch nicht verbessert. Ich entschied mich, endlich aufzustehen.
Ich habe mir ein Morgenritual zurechtgelegt. Aufstehen, duschen gehen, rasieren mit Steppen. Das muss man sich so vorstellen: Ich habe einen Stepper, den ich benütze, während ich mich etwa fünf Minuten lang rasiere. Es ist wie Stiegen steigen. Das klappt hervorragend. Danach mache ich noch einige gymnastische Übungen, um den Körper in Schwung zu bringen, Kniebeugen und Anderes. Anschließend kommen Frühstück und Zeitunglesen an die Reihe. Und danach entscheide ich meist erst, was ich an diesem Tag machen möchte.
Ich genieße mein Frühstück und bekomme Erstaunliches zu lesen. Die Kanäle in Venedig sind wieder sauber, unzählige Fische tummeln sich darin. Delphine sollen in Sardinien wieder zu sehen sein. In China hat die Smogbelastung abgenommen, und die Menschen brauchen keine Staubmaske mehr. Corona lässt Mutter Natur aufatmen!
Daneben gibt es erschütternde Nachrichten über die Verbreitungszahlen des Virus COVID-19 in Italien, Spanien und jetzt auch bei den Briten.
Eine Krone-Meldung schlägt bei mir ein: Todernst ist die Lage nicht nur in Italien, sondern auch bei uns. Christian W. (50), ein bislang kerngesunder Manager in der Nähe von Wien, erzählt von seinem zweiwöchigen Kampf mit seiner Corona-Virus-Infektion. „Man kämpft, bekommt keine Luft, es fühlt sich an, als ob der Brustkorb brennt. Husten, husten und wieder husten. Im Spital keine Gesichter, nur Masken. Man stirbt alleine, weil dich niemand besuchen darf. Ich Zimmer daneben musste ich den Todeskampf eines Patienten mitanhören: Zwei Tage Stöhnen, dann hat er aufgegeben …“. Am Sonntag wird der Mann aus dem Spital entlassen. Er ist auf dem Weg der Besserung, aber noch sehr geschwächt.
Ich bin geschockt.
Dennoch, es gibt auch Zeichen der Hoffnung. Die Kurve der Neuinfizierten in Österreich flacht ab. Mit heutigem Datum von 40 auf 21 Prozent. Bei 3.611 Covid-19-Infizierten gibt es 16 Todesfälle. Erstaunlich wenig. Nahezu niemand aus der Risikogruppe. Anders in Italien und Spanien.
Ich nehme die Quarantäne zu Hause als Chance und werde heute an meinem Buchprojekt „Als die Welt stillstand“ weiterarbeiten. Mittlerweile ist mir klar, dass das Buchschreiben einem „Marathonlauf“ ähnelt. Wie bei den Filmen beginne ich auch hier mit dem Materialsammeln, Sichten und Auswählen. Ich erzähle alles aus meiner Perspektive. Wie eben auch beim Filmen. Das ist mein Markenzeichen. Allerdings wiegt das Buchprojekt die Verluste der Filmarbeit nicht auf. Ich sitze am Trockenen. Das Corona-Virus stellt mein Leben auf den Kopf. Einsam fühle ich mich derzeit nicht, aber leer.
17.0 Uhr. Wir, das sind meine Frau, mein Sohn Bernhard und ich, machen etwas Uraltes. Etwas, das lange in Vergessenheit geraten ist und das wir vor vielen Jahren, als die Kinder noch klein waren, leidenschaftlich gemacht haben. Spielen! Wir wählen „Das Neue Alpen DKT“, eine Variante des DKT mit Finten und Überraschungen. Diese Spielart mildert den kapitalistischen Gedanken deutlich. Das Ende ist nicht dann, wenn man pleite ist, sondern wenn man die Schuldscheine, die man zu Spielbeginn bekommt, so schnell wie möglich an die Bank zurückverkaufen kann.
Ich bin richtig gespannt, wie es uns geht und stelle fest, dass es uns gefällt. Morgen spielen wir wieder. Ein schöner Zeitvertreib, und das ist das Gebot der Stunde. Das ist ausbaufähig.
2 Den Film „ARMUT IST BESIEGBAR – Wege aus Diskriminierung und Sklaverei in Indien“ können Sie auf Kurt Bauer Youtube Kanal sehen. (Siehe Filmliste am Ende des Buches.)