Inhalt

  1. Cover
  2. Weitere Titel der Autorin
  3. Über dieses Buch
  4. Über die Autorin
  5. Titel
  6. Impressum
  7. Zitat
  8. April 2012, Montagmorgen
  9. April 1982
  10. Die Nacht von Montag auf Dienstag
  11. Mai 1989
  12. Dienstagvormittag
  13. Juni 1989
  14. Dienstagnachmittag
  15. Die Nacht von Dienstag auf Mittwoch
  16. Juni 1989
  17. Mittwochvormittag
  18. August 1995
  19. Mittwochnachmittag
  20. August 1995
  21. Mittwochabend
  22. August 1995
  23. Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag
  24. Donnerstagmorgen
  25. Donnerstagvormittag
  26. Donnerstagnachmittag
  27. Die Nacht von Donnerstag auf Freitag
  28. Freitagvormittag
  29. Freitagnachmittag
  30. Freitagabend
  31. Samstagvormittag
  32. Samstagnachmittag
  33. Samstagabend
  34. Sonntagvormittag
  35. Sonntagnachmittag
  36. Montagvormittag
  37. Montagnachmittag
  38. Montagabend
  39. Die Nacht von Montag auf Dienstag
  40. Dienstagmorgen
  41. Dienstagnachmittag

Weitere Titel der Autorin

Das Haus der Schmerzen

Du bist ganz allein

Und raus bist du

Falsch gespielt

Vergessen wirst du nie

In deinen eiskalten Augen

Über dieses Buch

In Stockholm werden mehrere Katzen getötet – und niemand in Kommissar Sjöbergs Team ahnt, zu welchem Albtraum sich diese Meldung entwickeln wird. Doch als den Ermittlern klar wird, dass derselbe Täter auch eine angesehene Stockholmer Psychologin ertränkt hat, ist dies erst der Anfang einer brutalen Mordserie. Kurz darauf wird ein Mann in den Tod gestoßen. Die Spur führt in beiden Fällen in die familiäre Vergangenheit der Opfer. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn der Mörder hat sein nächstes Opfer bereits im Visier …

Über die Autorin

Carin Gerhardsen, geb. 1962, ist in Katrineholm aufgewachsen und lebt nun in Stockholm. Vor dem internationalen Durchbruch als Autorin arbeitete die Mathematikerin mit großem Erfolg in der IT-Branche. Mit der Serie um Kommissar Conny Sjöberg erlangte die Schwedin Carin Gerhardsen ihren internationalen Durchbruch: Die Schweden-Krimis wurde in über 25 Sprachen übersetzt, jedes Buch erreichte Platz 1 der schwedischen Bestseller-Charts.

C A R I N G E R H A R D S E N

BLUTS
BANDE

Aus dem Schwedischen von
Thorsten Alms

S C H W E D E N - K R I M I

Gebrochen flieht die Welle von dem Strand,
Schneeweiße Wasserlilien hängen noch im Sand,
Zeugen von der Tiefe Rätselhaftigkeit.

Carl Snoilsky

April 2012, Montagmorgen

Ihr Leben war stets von Wasser umgeben gewesen, dachte Lillemor. Von Katzen und von Wasser. Katzen im Wasser. Tote Katzen, Tod im Wasser. Warum das so war, konnte sie nicht genau sagen, aber sie erinnerte sich daran, wie es angefangen hatte. Und jetzt lag sie direkt am Wasser und lauschte dem friedlichen Gluckern der Wellen am Bootsrumpf. Das wohlbekannte Geräusch dieses mächtigen Elements, das ihr eigenes Leben bestimmt und das vieler anderer dabei zerstört hatte.

Rickes zum Beispiel. Der neugierige braune Burmakater mit den Bernsteinaugen, der sich vom Stadtteil Aspudden bis zu einer Regentonne im Aprilvägen im Stadtteil Midsommarkransen hatte locken lassen, in der er schließlich ertränkt wurde.

Und auch das seines Besitzers. Ein pensionierter Gießer, der seinen Augenstern jeden Tag kurz vor dem Schlafengehen hinausließ, weil er es mit seinem Rollator nicht schaffte, mehr als einmal am Tag das Haus zu verlassen. Ein Mann, der schon vorher einsam genug gewesen war, der jetzt aber auch den letzten Rest Liebe verloren hatte, den das Leben ihm hatte bieten können.

Nein, die Gründe dafür, dass es sich so entwickelt hatte, waren Lillemor immer noch nicht ganz klar. Aber an den Anfang erinnerte sie sich so genau, als wäre es erst gestern gewesen. Es begann an einem Frühlingstag vor fast genau dreißig Jahren.

April 1982

Es war einer dieser strahlend schönen Frühlingstage, an denen die Waldböden von Buschwindröschen überschwemmt waren, die Vögel wie besessen zwitscherten und das Sonnenlicht überall glitzerte, weil alles noch feucht war von dem Schnee, der gerade erst geschmolzen war. Lillemor war sechs Jahre alt. Sie saß auf ihren Handschuhen auf dem kalten Fels und knabberte Kekse. Wafers, wie Mama sie nannte. Zwei Waffeln, die von einer dünnen Schicht Zitronencreme zusammengehalten wurden. Mama hatte in der Frühlingswärme die Jacke ausgezogen, sich daraufgesetzt und den Blick auf das sich leicht kräuselnde Wasser gerichtet, während sie mit der Hand über ihren wachsenden Bauch streichelte. Tor jagte dem abgehärteten Kater hinterher, der geduldig versuchte, seinen Schwanz aus dem festen Griff des Vierjährigen zu befreien.

»Lass Trisse jetzt in Ruhe, Tor«, sagte Mama müde. »Er möchte lieber auf Lillemors Schoß liegen und sich sonnen.«

Lillemor war eigentlich gar nicht ihr richtiger Name. In Wirklichkeit hieß sie Freja, aber das wusste kaum jemand. Stattdessen wurde sie Lillemor genannt, »Kleine Mama«. Alle sagten, dass sie wie ein Abbild ihrer Mutter sei, und dazu noch so vernünftig, dass sie auf ihren kleinen Bruder aufpassen konnte, als wäre sie seine Mutter. Ein beflissenes Kind, dachte sie als Erwachsene über die kleine Lillemor. Altklug und beflissen. Eine Petze, fand Tor. Aber Lillemor wollte ihm nichts Böses, sie übernahm einfach nur die Verantwortung für sein Wohlbefinden und für das ihrer Mutter.

Tor hörte nicht, sondern verfolgte den langmütigen Hofkater weiter. Mama seufzte hörbar und kam mühevoll auf die Beine. Lillemor vermutete, dass sie Tor einfangen wollte, und stand kurzerhand selbst auf, um ihr zu helfen.

»Ich gehe mal kurz hinter den Busch«, sagte Mama und deutete mit einer Geste auf die Buschwindröschen.

»Was willst du da?«, fragte Lillemor.

»Pinkeln. Ich behalte euch aber die ganze Zeit im Auge.«

Sie drehte sich um und ging. Lillemor folgte ihr mit dem Blick und würde sich für immer daran erinnern, wie ihre Mutter, leicht verdeckt von einem Weidenbusch, in die Hocke ging und sie aus einem Meer aus weißen Blüten anlächelte. Es war doch ein Lächeln?

»Geh zu Lillemor, Tor, dann bekommst du etwas Süßes!«, rief sie.

»Ich will nichts Süßes«, antwortete der Junge unbeschwert, immer noch im Galopp hinter dem Kater auf dem Felsen her.

»Wafers!«, versuchte Lillemor. »Ich habe Wafers und etwas zu trinken. Komm doch mal.«

Tor bemühte sich nicht einmal, darauf zu antworten, sondern machte einen Hechtsprung in Richtung des Katers und landete direkt auf ihm. Trisse zappelte und versuchte sich loszureißen, aber der Vierjährige war stark und hartnäckig, hatte die Arme um ihn geschlungen und dachte gar nicht daran, ihn loszulassen. Bald hatte er sich mit dem wütenden Tier in den Armen hingestellt.

»Er wird dich kratzen«, ermahnte ihn Lillemor. »Du tust ihm weh.«

Was stimmte, denn der Kater fauchte und zeigte die Zähne, während er in einer Art Würgegriff vor Tors Brust hing und seine Hinterbeine in der Luft baumelten.

»Er soll baden«, sagte Tor und ging mit entschlossenen Schritten die rutschigen Felsklippen hinunter.

»Nein, Tor, das will er nicht! Geh nicht bis zum Wasser runter, das dürfen wir nicht!«

»Ich will ja nicht baden«, antwortete Tor ungerührt, mittlerweile ganz nah am Wasser. »Trisse kann ja Katzenschwimmen.«

Und dann schickte er das Tier mit aller Kraft, die ein Vierjähriger aufbringen kann, auf eine kurze Luftreise in das kalte und dunkle Wasser.

»Mama!«, rief Lillemor. »Mama! Tor hat Trisse ins Wasser geworfen!«

Wo ihre Mutter sich in diesem Augenblick befand und was sie darauf antwortete, hörte Lillemor nicht. Der Kater landete seltsamerweise mit den Pfoten voran und mit dem Kopf Richtung Ufer an der Stelle, wo der Fels im Wasser versank. Dort waren die Steine nass und uneben, und seine erste Berührung mit der Oberfläche sah schmerzhaft aus. Trisse unternahm einen erbärmlichen Versuch, auf den Felsen zurückzuspringen. Vielleicht war eines seiner Beine bei der Landung oder schon während der unbarmherzigen Behandlung davor verletzt worden; vielleicht war die Klippe zu glitschig oder das Wasser schockartig kalt. Sie wusste nicht, woran es lag, aber die ganze Bewegung war kraftlos, und er schien zu resignieren, als er hilflos nach hinten rutschte, hinein in das unwirtliche Wasser.

Lillemor stiegen die Tränen in die Augen, als sie zusah, wie der geliebte Kater im Wasser verschwand. Für einen Moment überlegte sie, zum Ufer zu laufen und zu versuchen, ihn zu erreichen, aber jetzt hörte sie hinter sich das Stampfen von Gummistiefeln auf feuchter Erde und wusste, dass Mama auf dem Weg war, die Situation in Ordnung zu bringen.

»Mama!«, schrie sie aus vollem Hals. »Trisse!«

Worte, die sie immer und immer wieder rief, während ihre Mutter über die Felsen rannte und der Kater wieder an der Wasseroberfläche auftauchte. Nur ihretwegen stürzte sich ihre Mutter wagemutig die glatten Felsen hinunter, um ihr geliebtes Haustier zu retten, das würde Lillemor niemals vergessen. Auch nicht, wie die Hoffnung in ihr aufflammte, als der Kater fauchend wieder auftauchte, während ihre Mutter wie ein Geschoss das letzte Stück bis zum Wasser zurücklegte. Nein, erst später verstand Lillemor, dass diese letzte und gefährlichste Etappe den Felsen hinunter keine Absicht gewesen war, sondern dass sie ausgerutscht sein musste. Als Mama mit den Füßen voran ins Wasser tauchte, dachte Lillemor, dass ihre Mutter eine Heldin war, die sich sogar ins eiskalte Wasser stürzte, damit Lillemor endlich aufhören konnte zu weinen. Bei dem dumpfen Schlag, mit dem der Kopf gegen den Fels schlug, hoffte Lillemor nur, dass es nicht allzu sehr wehtat, und betete zu Gott, dass Trisse nur noch ein einziges Mal an die Wasseroberfläche käme, damit Mama ihn einfangen konnte. Trisse schaffte es, aber Mama tat komischerweise nichts, um ihn zu erreichen. Sie trieb mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, ein Stückchen vom Ufer entfernt, während der Kater endgültig unter der Wasseroberfläche verschwand.

Tor stand mittlerweile ruhig und schweigend ganz nahe am Wasser und beobachtete seine Mutter, während sie sank. Lillemor sah nach dem Kater. Als ihr aufging, dass auch ihre Mutter in der Tiefe verschwand, war es schon zu spät. Lillemor sank heulend auf die Klippe und schlang die Arme um die Knie, sah immer noch auf das Meer, als würde sie auf ein Wunder hoffen. Tor stand regungslos etwas versetzt vor ihr und tat dasselbe. Vermutete sie. Denn nach einer Ewigkeit drehte er sich um und sagte mit einem Blick, der nichts anderes als Abscheu zeigte:

»Petzen ist dumm!«

Eine Wahrheit, die sie für den Rest ihres Lebens mit sich tragen würde. Wenn es denn eine Wahrheit war – es kam darauf an, was man daraus machte. Aber dass es riskant war, sich zu verplappern, würde sich noch mehr als einmal zeigen. Das erste Mal an diesem hinreißend schönen Apriltag.

Die Nacht von Montag auf Dienstag

»Kein Problem, ich bin auf dem Weg vom Training nach Hause … Die haben rund um die Uhr geöffnet. Ich … Na klar, ich kümmere mich drum … Am Samstag? Das schaffe ich leider nicht. Ich arbeite den halben Tag, und dann bin ich eingeladen zum … Aha? Nein, nicht diese Kajsa … Tatsächlich? Wie lustig! Helena und ich haben ihn letzte Woche gesehen … Nein, das war eher letztes Jahr zu Weihnachten … Jeden zweiten Dienstag …«

Sie drehte sich um, während sie weitersprach, und sah, dass der Mann verschwunden war. Er musste nach rechts in den Lotterivägen abgebogen sein, was ihr die Möglichkeit gab, einen Augenblick stehen zu bleiben. Erst als sie sich vergewissert hatte, dass sie nicht beobachtet wurde, hörte sie auf zu sprechen, stellte die Sporttasche auf den nassen Asphalt und steckte das Handy wieder in die Tasche. Sie erlaubte sich, eine Weile durchzuatmen, die Schleierwolken vor dem Halbmond über Hägerstensåsen zu betrachten und die Einsamkeit zu genießen. Ganz im Gegensatz zu den meisten Situationen in ihrem Leben war sie ihr in diesem Moment willkommen. Obwohl die Nacht kalt war, hing der Frühling in der Luft, und der Wind führte all die Düfte der Natur mit sich, die so lange geschlummert hatten. Aber zu dieser Jahreszeit erwachte nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen fanden langsam aus ihrem Winterschlaf. Bald war es wieder Zeit für Verabredungen in sommerlichen Kleidern mitten in Stockholms unzähligen Straßenrestaurants. Aber für sie brachte dies nichts Gutes mit sich. Sie hatte ja niemanden, mit dem sie über einen Cafétisch hinweg in der Nachmittagssonne Vertraulichkeiten austauschen konnte.

Sie nahm einen neuen Anlauf, hängte sich die schwere Tasche über die andere Schulter und setzte sich in Bewegung. Sie überquerte den verlassenen Sparbanksvägen und ging wieder ein Stück zurück, bog nach rechts in den offensichtlich wohlhabenden Bezirk um den Förskottsvägen ab und betrachtete die dreistöckigen Häuser auf beiden Straßenseiten, während sie weiterging. Alte Mietshäuser, die in Eigentumswohnungen verwandelt worden waren, mit rot oder gelb verputzten Fassaden und abwechselnd grünen und roten Balkons. Die Lichter waren bereits überall gelöscht, mit Ausnahme der einen oder anderen Nachtlampe. Ungefähr wie erwartet also, wenn man bedachte, dass es drei Uhr nachts war, eine Zeit, zu der die meisten in einem solchen Wohngebiet angesichts des folgenden Arbeitstags im Bett lagen und schliefen. Wachsam ging sie zwischen zwei Häusern auf der linken Seite der Straße hindurch. Der Hof war hübsch und aufgeräumt mit einem geharkten Kiesgang zur Eingangstür hin, Tonnen für die Mülltrennung, Berberitzensträuchern und Rasenflächen. Sie schlich sich weiter zu der kleinen Waldpartie hinter den Häusern, sah sich um – nichts Lebendiges in Sicht. Und dort, an der Giebelseite eines der Häuser, fand sie, was sie gesucht hatte. Dicht an der Ecke, unter einem Fallrohr, das ein paar Meter über dem Boden endete, stand eine voluminöse Regentonne aus Plastik, die beinahe bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt war. Sie stellte ihre Sporttasche ab und ließ ihren Blick ein letztes Mal nach rechts und links schweifen, bevor sie sich bückte und den Reißverschluss so weit aufzog wie möglich. Als sie die zwei Plastiktüten aufgeknotet hatte, steckte sie die Hände hinein, zog das Tier vorsichtig heraus und legte es neben der Tasche auf den Boden. Behutsam streichelte sie das schwarze Fell, bevor sie die Katze hochhob und sie vorsichtig über den Rand der Regentonne hängte, mit dem Gesicht und den weißen Vorderpfoten im Wasser.

»Vergib mir, kleine Miezekatze«, flüsterte sie, »aber du wirst nichts spüren.«

*

Gisela Bohn war wie gewohnt sehr früh aufgewacht. Es war schon viele Jahre her, dass sie einmal nach vier Uhr morgens aufgestanden war. Sie war sich nicht ganz im Klaren darüber, ob es an dem Schleudertrauma lag, das sie erlitten hatte, oder daran, dass sie einfach zu viel des Elends dieser Welt auf ihren Schultern tragen musste. Vermutlich war es eine Kombination aus beidem. Dieser ständige, bohrende Schmerz im Nacken und im Rücken und das menschliche Leiden, das in der Klinik von einem Klienten nach dem anderen auf ihr abgeladen wurde. Aber sie hatte sich längst von dem Gedanken verabschiedet, mehr als vier Stunden pro Nacht schlafen zu können, und nutzte die unvergleichliche Ruhe der frühen Morgenstunden stattdessen dazu, ein langes, heilendes Bad zu nehmen und die latenten Sorgen mit einem guten Buch zu verdrängen. Es gab nichts Schlechtes, was nicht auch etwas Gutes mit sich brachte. Wegen ihrer anteilnehmenden Art war sie eine hoch geschätzte Psychologin und wegen ihres Engagements und ihres geringen Ruhebedarfs eine sehr geschätzte Babysitterin für die einzige Tochter ihrer einzigen Tochter.

Saga war fünf Jahre alt und jetzt für einige Tage im Einfamilienhaus ihrer Großmutter in Svedmyra, während die Eltern ihren zehnjährigen Hochzeitstag in New York feierten. Sie war ein lebhaftes und neugieriges Kind, das gegen sieben Uhr abends völlig erledigt ins Bett fiel. Danach schlief sie mehrere Stunden ruhig, aber in den frühen Morgenstunden träumte sie am intensivsten, und es konnte passieren, dass sie im Schlaf sprach. Nicht selten setzte sie sich im Bett auf und konnte dann wohl artikulierte Sätze formulieren, die gleichzeitig einen vollkommen unzusammenhängenden Wortsalat bildeten. In ihrer Eigenschaft als Psychologin und Großmutter hatte Gisela möglicherweise einen Vorteil, aber nicht einmal ihr gelang es, mehr als winzige, zusammenhängende Fragmente herauszuhören.

Dieses Mal war Saga seltsamerweise schon vor Mitternacht unruhig geworden, hatte sich im Bett hin und her geworfen, während die Worte förmlich aus ihr herauspurzelten. Gisela hatte immer wieder nach ihr gesehen, und einmal hatte das Mädchen mitten auf dem Boden des Gästezimmers gestanden und mit einem scheinbar bewussten Blick wild gestikuliert, während sie entweder mit sich selbst, mit ihrer Großmutter oder mit einer imaginären dritten Person etwas verhandelte, was unmöglich zu deuten war. Gisela betrachtete das Spektakel mit gemischten Gefühlen. Natürlich war es ein lustiger Anblick, aber es ging auch immer mit einem gewissen Unbehagen einher, wenn man mit Menschen zu tun hatte, die sich außerhalb ihres eigenen Selbst befanden. Und in diesem Fall musste Gisela wohl auch einen Teil der Schuld auf sich nehmen. Sie hatte einen alten Kinderbuchklassiker herausgesucht und der Enkeltochter vor dem Einschlafen »Harold und die Zauberkreide« von Crockett Johnson vorgelesen. Ein großartiges kleines Bilderbuch aus den Fünfzigerjahren, das in der ganzen Welt geliebt wird. Sie selbst öffnete es mit einer gewissen Hassliebe, damals wie heute. Es war zwar ein Meisterwerk, aber war es auch ein Kinderbuch? Na ja … Sie selbst hatte es immer für ziemlich schrecklich gehalten. Mitten in der Nacht aufzuwachen und sich in eine vollkommen leere Welt hinauszubegeben, bewaffnet allein mit einem Stück Kreide – konnte das etwas anderes sein als ein Albtraum? Eine Sichtweise, für die ihr nie Verständnis entgegengebracht wurde, weder von Kindern noch von Erwachsenen. Erst jetzt vielleicht, falls die kleine Saga möglicherweise ihre Auffassung teilte.

Darüber dachte Gisela nach, als sie kurz vor vier endgültig aufstand. Saga, die schließlich bei ihr im Bett gelandet war, schlief jetzt ganz ruhig, und Gisela hatte die vage Hoffnung, dass es trotz – oder vielleicht auch wegen – der unruhigen Nacht noch eine Weile dauern würde, bis das Mädchen aufstand. Ihr selbst fiel es schwer, dieses verdammte Harold-Gefühl abzuschütteln. Das Gefühl, dass sie allein in einer großen und fremden Welt war – womit sie sich eigentlich wohlfühlte, vielleicht nicht tagsüber, aber während dieser gesegneten Morgenstunden. Aber jetzt war sie mit dem Gefühl erwacht, sich selbst in Harolds Welt zu befinden, mit den leeren Straßen zwischen den unbewohnten Hochhäusern und den unheimlich wirkenden Bäumen im kalten Licht des Mondes.

Leise schlich sie sich aus dem Zimmer, um Saga nicht zu wecken, ließ die Tür aber einen Spalt offen, damit sie sie hören konnte, wenn etwas sein sollte. Im Stockfinstern tapste sie die Treppe hinunter, durch den Flur und das Wohnzimmer bis in die Küche. In dem schwachen Licht, das von der Straßenbeleuchtung durch das Fenster fiel, sah der Raum farblos aus. Die Kiefernholzstühle am Küchentisch wirkten mit ihren geraden, hohen Rücken irgendwie autoritär und verurteilend, die Spüle hatte verschwommene Konturen, so dass man sie für ein Tier halten konnte, das dort lag und ihr auflauerte. Die Ecke neben dem Küchenfenster lag in vollständiger Dunkelheit. Der Zeitungskorb auf dem Boden und das Wandregal mit den Kochbüchern flossen zu einer kompakten und bedrohlichen Gestalt zusammen. Gisela Bohn hatte keine Angst vor der Dunkelheit, aber die unruhige Nacht und die schreckliche Welt, die der kleine Harold mit seiner Kreide anschaulich gemacht hatte, hatten ihre immer wieder unterbrochenen Träume geprägt und sich in ihr festgesetzt. Sie befand sich allein in einem Universum aus Leere und Schatten, und dieses Gefühl mochte sie überhaupt nicht. Als sie gerade das Licht über der Arbeitsplatte anschalten wollte, hörte sie ein Geräusch aus dem Wohnzimmer. Oder kam es aus dem Flur?

Es kam natürlich von oben. Sagas Schlaf war gestört worden, als Gisela das Schlafzimmer verlassen hatte – das Mädchen vermisste sicherlich die Wärme und die Gegenwart der Großmutter. Ohne Licht zu machen, verließ Gisela die Küche und ging durch das Wohnzimmer in den Flur. Sie warf einen Blick auf die Haustür, doch die war geschlossen, und alles sah in Ordnung aus. Als sie nach dem Treppengeländer griff und den Fuß auf die erste Stufe setzte, hörte sie erneut dieses Geräusch, diesmal kam es von hinten, bildete sie sich ein. Sie drehte sich um, doch ihre Augen konnten nichts anderes erkennen als das gewohnte Bild. Sie ließ ihren Blick vom Flur in die Dunkelheit des Wohnzimmers wandern. Dachte, dass es nur eine Sache gab, die schlimmer war, als allein in einer öden Welt zu sein: das mulmige Gefühl, nicht allein zu sein. Sie blieb eine Weile regungslos stehen und hielt die Luft an. Keine Bewegung, keine Geräusche. Doch, da war es wieder. Aber dieses Mal war sie sicher, dass das Geräusch aus dem Obergeschoss kam. Als ihr Blick auf die kleine Schattengestalt am oberen Ende der Treppe fiel, zuckte sie zusammen.

»Was machst du, Oma?«, fragte die kleine Saga.

Blöder Harold, dachte Gisela. Nie wieder.

»Bist du wach, mein kleiner Schatz? Das ist viel zu früh für dich.«

»Ich habe etwas gehört.«

»Das war ich. Ich wollte mich in die Badewanne legen«, antwortete Gisela und ging die Treppe hoch.

»Ist es noch Nacht?«

»Ja, es ist immer noch Nacht. Und du musst noch schlafen, damit du in ein paar Stunden ausgeruht zum Kindergarten gehen kannst.«

»Warum machst du das dann nicht?«

»Wenn man älter wird, schläft man nicht mehr so lange. So ist es einfach.«

Sie streichelte das vom Schlaf zerzauste Haar ihrer geliebten Enkeltochter und schob sie sanft ins Schlafzimmer und zurück ins Bett, in der Hoffnung, dass es gut genug war, auch wenn sie selbst nicht mehr darin lag.

»Kochst du jetzt Kaffee, Oma?«

»Nicht jetzt sofort, aber …«

»Doch, bitte.«

»Warum?«

»Es riecht so gut.«

»Und dann kannst du besser einschlafen?«

»Mhm.«

»Eine Tasse Kaffee wäre jetzt tatsächlich nicht verkehrt.«

Gisela küsste die Kleine auf die Stirn, saß noch eine Weile auf der Bettkante und streichelte ihre Wange, bis ihre Atemzüge tiefer wurden. Dann schlich sie sich wieder aus dem Zimmer und ging hinunter in die Küche, wo sie zuerst die Lampe über der Arbeitsplatte und dann die Kaffeemaschine einschaltete. Die Tasse Kaffee konnte warten, bis sie fertig gebadet hatte, aber sie konnte durchaus nachvollziehen, dass der Duft allein schon die Welt zu einem besseren Ort machte. Geblendet von der Küchenbeleuchtung ging sie mit einem leichten Schaudern in den Flur zurück, dieses Mal mit etwas schnelleren Schritten. Sie zeichnete einen langen, geraden Weg, damit sie sich nicht verirren konnte, dachte sie, während sie sich zwang, auf ihrem Weg am Wohnzimmer vorbei keine nervösen Blicke nach rechts oder links zu werfen. Auch in der Dunkelheit des Flurs sah sie sich nicht um, als sie die Tür zum Badezimmer im Erdgeschoss öffnete. Sie schaltete die Deckenbeleuchtung ein, beugte sich zum Badewannenhahn und drehte ihn auf. Die angespannte Stille wurde vom alles übertönenden Geräusch des brausenden Wassers unterbrochen. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Bild von sich selbst in Form einer weiblichen Strichfigur mit einem Stück Kreide in der Hand, wie sie zwei zylinderförmige geometrische Figuren vor einem weißen Hintergrund zeichnete. Davon gingen viele schnell gezogene Striche in verschiedene Richtungen aus. Strahlen. Licht. Darunter eine Anzahl waagerechter Linien, die von senkrechten gekreuzt wurden: Quadrate in einem einfachen Karomuster. Kacheln, weiße Kacheln. Und dann, vor diesem Hintergrund, ein Rechteck mit deutlicher markierten Konturen. Ein liegendes Rechteck aus weißen Kacheln vor weißen Kacheln. Am einen Ende eine Figur, die wie ein umgedrehtes »L» mit rundlichen Ecken aussah, aus denen Strahlen strömten. Mehr Licht? Nein, Wasser. Und was dann?

Neonröhren. Weiß gekachelte Pritschen vor weißer Kachelwand. Wasserhahn. Alles in Weiß mit roten Details. Was dann?

Ein Obduktionstisch.

Reiß dich zusammen. Eine normale Badewanne in einem gewöhnlichen Badezimmer. In die sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht hineinlegen wollte.

Der beinahe ohrenbetäubende Lärm, mit dem das Wasser in das Emaillebecken rauschte, hallte zwischen den Wänden. Gisela stand auf, und damit das Mädchen nicht wieder aufwachte, schloss sie die Tür zum Badezimmer, während sich die Wanne füllte. Das Geräusch zerrte auf eine Weise an ihren Nerven, die sie nicht gewohnt war. Sie schienen blank zu liegen, und Gisela wollte, dass dieses Geräusch endlich vorbei war. Doch sie riss sich zusammen und ertrug den Lärm. Die Unlust. Zog sich das Nachthemd und die Unterhose aus, faltete beides zusammen und legte den kleinen Stapel ordentlich auf die Bank. Sie stellte sich vor den Spiegel und betrachtete eine etwas faltige Einundsechzigjährige. Ein bisschen zu mager, ein bisschen zu blass, mit deutlichen Spuren, die davon zeugten, dass sie zu lange allzu großen Belastungen ausgesetzt gewesen war. Sorgfältig kämmte sie ihr langes, graues Haar, das zu färben sie sich standhaft geweigert hatte, seit es vor vielen Jahren seinen Glanz und seine dunkelbraune Farbe verloren hatte. Mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung fasste sie es schließlich in einer Hand zusammen und knotete es mit der anderen zu einem dicken und perfekt geformten Dutt oben auf dem Kopf. Anschließend reinigte sie die Bürste mit der linken Hand und warf eine Handvoll Haare in die Toilette. Mittlerweile war die Wärme in der Badewanne auf das gewünschte Niveau gestiegen.

Sie drehte den Hahn zu, öffnete die Badezimmertür und lauschte. Kein Laut war zu hören; die Enkeltochter schien dort oben endlich zur Ruhe gekommen zu sein. Ganz gleich, ob jetzt der Duft des Kaffees die Ursache dafür gewesen war oder eher die Erschöpfung nach einer anstrengenden Nacht. Gisela ließ die Tür einen Spalt offen und stieg – nach wie vor mit einem unbestimmten Gefühl des Unbehagens und einem ganz deutlichen Gefühl der Verlassenheit – über die Badewannenkante und setzte die Füße in das warme Wasser. Sie ging in die Hocke, hielt sich an den Kanten fest und ließ sich vorsichtig in die Wanne sinken, damit die Haut sich an die hohe Temperatur gewöhnen konnte. Sie holte tief Luft, atmete langsam aus und schloss für eine Weile die Augen, während der Schmerz in ihrem Nacken nachließ.

Sie öffnete die Augen wieder, als das Schloss klickte.

Zwischen ihr und der geschlossenen Tür stand plötzlich eine ältere Version ihrer selbst. Das war ihr erster Gedanke. Der zweite war, dass die schwarz gekleidete Frau mit den langen grauen Haaren eine furchteinflößende Hexenmaske trug. Die Angst packte sie, schnürte ihr die Kehle zu, sodass ihr Atem stockte. Mit aufgerissenen Augen saß Gisela wie versteinert in der Badewanne, ohne einen Ton herausbringen oder einen Gedanken fassen zu können. Nachdem eine gefühlte Ewigkeit vergangen war, machte die unheimliche Gestalt einen Schritt in ihre Richtung. Gisela rührte sich nicht vom Fleck. Ein weiterer Schritt, und sie war vollkommen gelähmt. Erst beim dritten und letzten Schritt begannen sich ihre Gedanken zu sortieren.

Sie würde sterben.

Gisela war sich jetzt vollkommen im Klaren darüber, dass ihre letzte Stunde geschlagen hatte. Das Einzige, was sie vor sich hatte, war ein schrecklicher und qualvoller Tod, und die kleine Saga würde diejenige sein, die sie fand. Und diese entsetzliche Erkenntnis brachte ihren Körper dazu, aus dem gelähmten Zustand zu erwachen, brachte Gisela dazu, sich mit aller Kraft aus der Wanne zu stemmen. Aber die eingedrungene Frau war schon über ihr. Zwei schwere Hände landeten auf ihren Schultern, und sie war vollkommen chancenlos, als sie in die Wanne zurückgedrückt wurde. Sie bekam keinen Laut heraus, bevor sie wieder auf dem Rücken lag, und kräftige Hände, die auf ihrem Brustkorb lagen, sie unter Wasser drückten. Zuerst versuchte sie sich freizustrampeln, aber ihre verzweifelten Versuche waren hoffnungslos, weil der ganze Oberkörper unter Wasser gedrückt wurde. Schließlich ergab sie sich, erlaubte es ihrem Körper aufzugeben und umarmte den kommenden Tod. Und erst jetzt, als das Leben aus ihr herauszurinnen begann und das Wasser still über ihr lag, sah sie das Lächeln.

Gisela Bohn war sehr müde, und die Sicht durch das Badewasser war verschwommen, aber in den Augen des Todes spielte zweifellos ein spöttisches Lächeln.

*

Als Saga den Fuß auf die oberste Stufe setzte, hörte sie, wie unten die Badezimmertür geschlossen wurde. Sie hatte wohl noch eine Weile geschlafen, obwohl es sich nicht so anfühlte, und während der Zeit hatte ihre Oma fertig gebadet. Schade. Saga hatte eigentlich fragen wollen, ob sie gemeinsam baden könnten. Während sie vorsichtig nach unten ging – mit jedem Schritt immer nur eine Stufe und die Hand am Geländer, damit sie nicht in der Dunkelheit stolperte – hörte sie Omas Schritte von unten. Wie sie vom Badezimmer durch den Flur ging und den Schlüssel von der Kommode nahm, bevor sie zur Haustür ging. Saga vermutete, dass sie die Zeitung holen wollte, wie sie es immer tat. Als sie den Fuß der Treppe erreicht hatte und mit ihren nackten Füßen auf dem kalten Steinboden stand, konnte sie ihre Oma in der dunklen Ecke vor der Tür stehen sehen. Ihr langes Haar, das in dem Lichtstreifen, der durch das kleine Fenster in der Haustür hereinfiel, ein bisschen aufleuchtete.

»Ist jetzt schon Morgen, Oma?«, fragte Saga. »Müssen wir los zum Kindergarten?«

*

Noch eine ruhige Nacht ging zu Ende. Es war nach wie vor beinahe windstill, und nur wenn eines der wenigen nachtaktiven Fahrzeuge vorbeituckerte, schaukelte das Boot ein wenig und verursachte ein quietschendes Geräusch in der Vertäuung.

Lillemor wusste nicht, ob sie das Wasser liebte oder hasste. Es hatte ihr sehr wehgetan, erschreckte sie aber nicht im Geringsten. Im Wasser fühlte sie sich unsterblich. Dass sie früh erfahren hatte, welche Kräfte das Wasser haben konnte, schreckte sie nicht ab, es forderte sie nur zum Kampf heraus. Sie würde niemals diesem Element zum Opfer fallen; dagegen konnte man sich wehren. Man hielt sich von ihm fern, wenn es bedrohlich war, und wenn einem das nicht gelang, sollte man gut vorbereitet sein. Und sie hatte geübt. Sie hatte geübt, schnell zu schwimmen, weit zu schwimmen und vor allen Dingen: unter Wasser die Luft anzuhalten. Als Kind hatte sie Geschichten über Perlentaucher in südlichen Gefilden gehört, die länger als sieben Minuten unter Wasser bleiben konnten. In diesen sieben Minuten tauchten sie darüber hinaus in große Tiefen hinab und wieder hinauf, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Sie selbst hatte es nie in die Tiefe gezogen, es ging ihr nur um die Zeit. Ihr primäres Ziel bestand darin, länger unter Wasser zurechtzukommen als alle anderen. Vielleicht nicht gerade im Vergleich mit den Perlentauchern in der Südsee, aber zumindest, wenn es die Leute in ihrer Umgebung betraf.

Schon bald nachdem sie Waise geworden war, begann sie zu trainieren. Mit dem Bild ihrer Mutter vor Augen erreichte sie schnell eine Minute, bald auch zwei. Als sie die Dreiminutengrenze erreichte, gelang es ihr, diese noch ein bisschen weiter zu dehnen, aber mit drei Minuten und zwanzig Sekunden gab sie sich schließlich zufrieden. Keiner der anderen kam auch nur in die Nähe dieser Zeiten, und das Wasser war ein mächtiger Freund geworden, der ihr niemals schaden würde.

Mittlerweile hatte sie insgesamt eine etwas reifere Einstellung gegenüber Gefahren, aber die Faszination, die das Wasser in ihr auslöste, wollte niemals vergehen. Sowohl als Kind als auch als Erwachsene konnte sie stundenlang dasitzen und aufs Meer hinausstarren, auf einen von Stockholms Wasserarmen, einen kleinen Binnensee, einen Fluss oder einen plätschernden Bach.

Sie musste plötzlich wieder an die Katzen denken, worauf sich ihr Magen verkrampfte. Die erste Katze war in Västberga zu Hause gewesen und hieß Pascal. Er war ein grau gestreifter norwegischer Bauernkater gewesen, der sehr gesellig und an das Leben im Freien gewöhnt gewesen war. Seine Besitzerin war eine alleinerziehende dreifache Mutter, deren Mann erst vor Kurzem bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war. Die drei Töchter, die alle noch im Kindergartenalter waren, waren außer sich vor Trauer. Erst hatten sie ihren Vater verloren, und jetzt war ihre Katze zuerst misshandelt und dann in einem Blumenkübel am Bäckvägen in Hägerstensåsen ertränkt worden. Lillemor litt mit der Familie, aber was hätte sie tun sollen? Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Aber im frühen Sommer des Jahres, in dem sie dreizehn geworden war, hätten Dinge anders laufen müssen, das war ihr mittlerweile klar.

Lillemor hatte keinen Vater, bei dem sie nach dem Tod der Mutter hätte wohnen können. Sie war groß genug, um zu begreifen, dass es natürlich irgendwo einen Vater geben musste, aber wer es war, das war ein Geheimnis, das die Mutter mit ins Grab genommen hatte. Ebenso, wer der Vater des Kindes in ihrem Bauch war. Zumindest Lillemor wusste es nicht. Tor dagegen hatte einen Vater. Nicht auf dem Papier, aber Mama hatte ihm erzählt, dass er Yngve hieß und keine Kinder mochte. Dass er ein Arschloch war und keine Verantwortung übernehmen wollte, dass er gar nicht nett zu ihr und auch nicht nett zu Tor gewesen war. Es wäre besser, keinen Vater zu haben als diesen verdammten Yngve. Soll er doch in der Hölle verrotten.

Es gab unterschiedliche Höllen. Eine von ihnen war zu Hause bei Tante Nettan, wo Tor und Lillemor als Pflegekinder untergebracht wurden, nachdem ihre Mutter ertrunken war. Tante Nettan war mit Onkel Örjan verheiratet, der Seemann war und nur selten nach Hause kam. Aber wenn er zu Hause war, dann für eine längere Zeit, in der er sich eigenen Aktivitäten widmete oder aber überhaupt nichts tat. Wenn Lillemor ihn sah, saß er meistens vor dem Fernseher, mit den Füßen auf dem Tisch und einem Bier in der Hand, völlig uninteressiert an allem, was mit Hausarbeit oder Familienleben zu tun hatte. Tante Nettan und Onkel Örjan hatten zwei Kinder, Björn und Fredrik. Sie waren Zwillinge und im selben Alter wie Tor. Darüber hinaus waren alle drei Klassenkameraden und wurden mehr oder weniger als Drillinge betrachtet. Die Jungen teilten sich ein Zimmer; die Zwillinge schliefen in einem Etagenbett und Tor auf einer Matratze auf dem Boden. Es konnte Stunden dauern, bis sie am Abend zu Ruhe kamen, und Lillemors Zimmer lag direkt daneben. Dort lag sie und fühlte sich einsam und ausgeschlossen, während sie ihren Gesprächen zuhörte, bis sie einschlief. Sie musste mit ansehen, wie sich ihr geliebter Bruder immer mehr in Richtung der Zwillinge orientierte und immer weniger ihr eigener Bruder war. Aber sie konnte ja eigentlich keine Ansprüche stellen an ein Kind, das keine Eltern mehr hatte und als Vierjähriger zur Waise geworden war. Er passte sich sehr viel besser an die Umstände an, als sie selbst dies konnte, und Lillemor konnte nicht anders, als ihn dafür zu bewundern. Er wuchs und nahm immer mehr Platz ein, steckte sich sein Revier in der neuen Familie ab, und niemand schien etwas dagegen zu haben. Er war einer von ihnen – sie war und blieb eine Fremde. Ein Eindringling. Ein ungebetener Gast, der seinen Platz nicht kannte, sondern immer nur forderte und forderte.

Lillemor weinte sich in den ersten Jahren ein ums andere Mal in den Schlaf. Sie vermisste ihre Mutter und das Leben, das sie geführt hatten, bevor der Unfall alles auf den Kopf gestellt hatte. Aber sie machte nicht Tor für das verantwortlich, was passiert war, dieser Gedanke wäre ihr nie gekommen. Er war nur ein lebhaftes Kind, das nicht über die Konsequenzen seines Handelns nachdenken konnte, selbst wenn sie schrecklich waren. Allerdings verletzte es sie, wenn er auf Aufforderung der Zwillinge immer wieder erzählte, wie es zu dem Unfall ihrer Mutter gekommen war. Wenn er es auf irgendeine Weise wieder einmal schaffte, die Schuldfrage in Lillemors Richtung zu drehen. Klar konnte das Katzenvieh schwimmen, das konnte Tiger ja auch. Genau wie alle anderen Katzen, soweit es die Intelligenzija im Jungenzimmer wusste. Wäre die Petze Lillemor nicht gewesen, wäre es nie so schlimm geworden. Typisch Mädchen, wegen des kleinsten Mists nach Mama zu rufen. Seht, was dann passiert ist. Wenn man petzt, kann das Schlimmste passieren. Jemand kann sterben. Katze, Mensch oder beides.

Jungs seien eben Jungs, meinte Tante Nettan, als Lillemor sich über die Herzlosigkeit der Jungen beklagte. Und hätten sie nicht vielleicht auch recht? Petzen sei eben unanständig. Und sie sei eben die kleine Kopie ihrer Mutter, Lillemor. Mit kaum verhohlener Verachtung spuckte Nettan den Namen aus. Übereifrig und quengelig – das sei Lillemor eben –, und sie heule wie ein altes Scheunentor. Dabei sei sie doch jetzt ein großes Mädchen. Mit den kleinen Jungs sei es etwas anderes. Von ihr werde einfach mehr erwartet, das sei doch nicht so seltsam? Und überhaupt solle sie froh sein, dass sie hier überhaupt wohnen dürfe, das sei ja auch nicht selbstverständlich. Ein bisschen Dankbarkeit in Form von Hilfsbereitschaft und besserer Laune wäre angebracht, statt dieser hinterlistigen Miene und dieser schrecklichen, manipulativen Art, die sie an den Tag lege. Petzen sei ungehörig, und jetzt habe sie es schon wieder getan. Ob sie denn nichts gelernt habe! Bald würde wahrscheinlich der arme Tiger den Löffel abgeben, so wie Lillemor die ganze Zeit herumlief und alle verpetzte.

Tante Nettan wusste gar nicht, wie recht sie damit hatte.