Weihnachtszauber in Hopewell
Das Weihnachtswunder von Pleasant Sands
Bei einer Immobilienauktion entdeckt Liz das Haus »Angels Rest«. Die Pension gehörte ihren bereits verstorbenen Großeltern. Früher war es immer Liz’ Traum, das Angels Rest eines Tages zu übernehmen. Von ihren Emotionen übermannt, gibt sie ein Angebot ab und erhält das Haus. Zurück in ihrer Heimatstadt muss sie jedoch feststellen, dass es inzwischen ziemlich heruntergekommen und völlig verwahrlost ist. Als wäre Weihnachtsmagie im Spiel, steht plötzlich Innenarchitekt Matt vor ihr, mit dessen Hilfe sie beginnt das marode Gebäude zu restaurieren. Was sie nicht weiß: Matt hatte schon vor Jahren ein Auge auf sie geworfen, doch dann hat Liz die Stadt verlassen. Die beiden verstehen sich prächtig und es beginnt zu knistern. Doch dann geschieht ein Unglück, und die Pensionseröffnung steht auf der Kippe. Jetzt kann nur noch ein Weihnachtswunder helfen.
Die USA-Today-Bestsellerautorin Nancy Naigle schreibt Kleinstadt-Liebesgeschichten mit ganz viel Herz. Sie lebt in North Carolina und verbringt ihre Freizeit mit dem Schreiben von romantischen Liebesromanen, dem Sammeln von Antiquitäten und macht hin und wieder gerne auch mal einen Wellnesstag.
NANCY NAIGLE
Ein
Weihnachts-
engel für die
Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Michaela Link
Deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2019 by Nancy Naigle
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Christmas Angels«
Published by arrangement with St. Martin’s Publishing Group. All rights reserved.
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Publishing Group durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.
Für diese Ausgabe:
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eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-0345-1
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Möge das Funkeln der Feiertage dir Glück und Lachen bringen und dein Herz mit strahlenden Augenblicken füllen, die ewig andauern.
Ich wünsche dir und den Menschen, die du liebst, frohe Weihnachten und tägliche Doppeldosen Glück.
Alles geschieht nach dem Zeitplan unseres Lebens, und jeder Mensch ist anders.
Die Worte ihres Großvaters hallten in ihrem Kopf wider, wie sie es so oft taten, obwohl er schon lange tot war. Liz Westmoreland hatte ihr ganzes Leben nach dieser Philosophie gelebt. Wenn es eines gab, das Pop ihr beigebracht hatte, dann dies: Man hetzte nicht durchs Leben oder versuchte, ihm eine Ordnung aufzuzwingen.
»Dinge geschehen, wenn sie geschehen sollen«, pflegte Pop ihr ins Gedächtnis zu rufen, wenn sie sich darüber beschwerte, dass der Sommer zu schnell vorüberging oder ein Angelausflug nicht schnell genug begann. Es schien, als sei ihre ganze Kindheit eine Lektion in Geduld gewesen. Ganz gleich, ob es ein verbranntes Blech Zimtplätzchen oder ein gebrochenes Herz war, Pop gab immer den gleichen Rat, und Gram wiederholte seine Worte. Sie waren ein Herz und eine Seele. Immer. Würde Liz jemals wieder eine Heirat in Erwägung ziehen, dann nur, wenn ihr eine Beziehung versprochen würde, wie ihre Großeltern sie geführt hatten.
Geduld hatte Liz auch in ihrem Berufsleben geholfen und ihr den Ruf als eine der besten Projektmanagerinnen in der PROEM Service Group eingetragen, wo sie für Geschäftseröffnungen für die feinsten Ketten auf der ganzen Welt verantwortlich war. Tag für Tag wurden Geduld und Planung von ihr verlangt, und sie leistete in beiden Punkten Herausragendes. Was von Vorteil war, denn das Projekt des neuen Kunden McKinley stand vor dem Aus, als PROEM sie bat, einzuspringen und zu zaubern, damit das Unternehmen finanziell wieder auf die Beine kam und rechtzeitig öffnen konnte. Mithilfe ausgewählter, kurzfristig verfügbarer Dienstleister hatte sie den Zeitverzug wieder wettgemacht, und der Laden eröffnete pünktlich genau heute vor vier Wochen. Die Postproduktionsphase war vorüber, und Liz war so weit, den Abschlussbericht vorzulegen, aus dem hervorging, dass sie nicht nur den Auftrag erfüllt, sondern die gesetzten Ziele sogar übertroffen hatte.
Das wäre geschafft!
Sie lächelte zufrieden, als sie mit dem Finger über die Tastatur strich und dann auf Enter klickte, um die E-Mail mit den Abschlussdokumenten abzuschicken. Für einen Moment ruhte ihr Blick auf der E-Mail, die Peggy, ihre Chefin, an diesem Morgen ausgedruckt und auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. McKinley war so glücklich über das Ergebnis, dass das Unternehmen bereits zwei neue Geschäftseröffnungen bei ihnen gebucht hatte. Unten auf den Ausdruck hatte Peggy gekritzelt: »Gut gemacht. Vielen Dank!«
Liz drehte einen weißgoldenen Seeigelanhänger zwischen den Fingern. Den Luxus dieser Kette hatte sie sich am Eröffnungstag zur Erinnerung an das Projekt gegönnt. Während der Zeit an der schönen Küste von South Carolina, wo sie für McKinleys Geschäft gearbeitet hatte, hatte sie den Strand dort neu schätzen gelernt.
Draußen vor ihren Bürofenstern herrschte graues Regenwetter. Der ganze Staat North Carolina wurde heute völlig durchnässt. Auf der Autobahn herrschte mörderischer Verkehr. Hier gab es keinen Ozean, nur ein Meer von Autos, die durch den Regen krochen. Den Verkehr hatte sie kein bisschen vermisst.
Der Sommer war nur noch eine nebelhafte Erinnerung unter dem herbstlichen Blätterwerk, das jetzt unter dem Gewicht der Regentropfen glitzerte. Die bunten Blätter bewiesen, dass die Zeit nicht stillgestanden hatte, während sie in das McKinley-Projekt vertieft gewesen war.
Sie klickte auf das Lesezeichen auf ihrem Computer und rief die Frühstückspensionen im Südosten auf, die aktuell zum Verkauf standen. Es war ihre Lieblingsbeschäftigung, diese hübschen Häuser zu betrachten, um einen klaren Kopf zu kriegen. Ein paar Minuten, in denen sie sich vorstellte, ihr Job wäre es, Menschen in einem entzückenden Gasthaus irgendwo in den Bergen zu bewirtschaften, genügten, um die langen Stunden auszugleichen, in denen sie Patzer und Budgetüberschreitungen in Projekten behob.
Seit sie denken konnte, hatte Liz davon geträumt, in die Fußstapfen ihrer Großeltern zu treten und deren Gasthaus zu führen, Angels Rest, doch stattdessen war sie hier gelandet. Nicht dass sie sich darüber beklagte. Sie hatte sich ein Eckbüro und ein sechsstelliges Jahresgehalt erarbeitet, und da ihr kaum eine freie Minute blieb, hatte sie eine Menge Geld beiseitelegen können, um diesen Traum eines Tages wahr zu machen. Kein riesiges Problem, wirklich nicht, aber an manchen Tagen zweifelte sie daran, wie sie irgendwann die Zeit dafür finden sollte.
Ein zweifaches Klopfen an ihrer Tür riss sie aus ihrem Tagtraum.
»Danke fürs Ausborgen.« Dan, ein guter Freund von ihr, stand in der Tür und war im Begriff, den Schüsselanhänger für ihren Range Rover quer durch den Raum zu werfen.
Sie sprang auf, um den Schlüssel aus der Luft zu fangen. »Gern geschehen. Haben deine Kunden das perfekte Haus für ihre goldenen Jahre gefunden?« Dan borgte sich ihren Wagen immer, wenn seine Kunden Senioren waren, die es nicht schafften, in seinen übergroßen Suburban zu klettern. Als er das Ding gekauft hatte, hatte sie ihm prophezeit, dass der Wagen für einen Makler nicht besonders praktisch sei, aber sie hatte ihm den Wagen nicht ausreden können. Also bat er sie gelegentlich, für einen Tag die Autos zu tauschen. Wozu hat man Freunde?
»Gut gefangen. Wir haben ein Angebot für eine der neuen Eigentumswohnungen im Stadtzentrum gemacht. Sie waren begeistert.« Dan rieb sich die Hände. »Sie mussten sich nur drei Wohnungen anschauen, bevor sie sich entschieden haben.« Er riss die Faust hoch. »Verkauft!« Sein vor der Zeit ergrautes Haar ließ ihn älter aussehen, als er war. Wahrscheinlich nahmen die Leute deshalb an, er hätte mehr Erfahrung, als tatsächlich der Fall war. In Momenten wie diesem und wenn er seine Mätzchen machte, die eher zu einem Mann von unter dreißig passten, trat sein echtes Alter zutage.
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Ein guter Tag, trotz des Regens.« Er schaute aus dem Fenster, dann zuckte er die Achseln. »Ich muss mich beeilen. Ich zeige heute Abend jemandem aus der Chefetage der Bank of America einige Objekte.« Er drehte sich um und lehnte sich zurück. »Wenn ich früh fertig bin, werde ich etwas von Jebs Grill mitbringen. Ich zeige meinem Kunden ein Haus ganz in der Nähe. Abgemacht?«
»Ich dachte, du hättest heute Abend ein Date mit LeighAnn.«
»Ihr ist beruflich etwas dazwischengekommen, daher habe ich diese Hausbesichtigungen für heute Abend ausgemacht. Wir gehen stattdessen morgen aus.«
»Okay. Klingt gut.« Aber er hatte ihr Büro bereits verlassen. Es spielte keine Rolle. Er tauchte ohnehin so ziemlich immer in ihrem Haus auf, wenn es ihm passte, und damit war sie einverstanden. Er war irgendwie der Bruder, den sie nie gehabt hatte. Ein guter Freund, aber manchmal auch eine ziemliche Nervensäge.
Gerade als sie sich wieder hingesetzt hatte, kam Peggy herein. »Bereit, auf den Abschluss des McKinley-Projekts anzustoßen?«
»Oh ja!« Liz lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ich habe gerade meine Berichte abgeschickt. Ich bin offiziell mit allem durch.«
»Du hast deine Sache großartig gemacht. Vielen Dank, dass du das Projekt übernommen hast, obwohl es ein solches Schlamassel war.«
»Du kennst mich. Ich mag Herausforderungen.«
»Das stimmt.« Peggy spähte über den Schreibtisch hinweg zu Liz’ Computer. »Und woran arbeitest du gerade?«
»Ich habe nur einem kleinen Tagtraum nachgehangen, wegen dieser Frühstückspension, die zum Verkauf steht.« Sie drehte ihren Bildschirm so, dass Peggy ihn sehen konnte. »Schau dir dieses Haus an. Ist es nicht ein Traum?«
»Ganz zauberhaft. Ich könnte eine Woche dort verbringen.«
»Ich auch.« Dieses Haus war erheblich eleganter als das, was Liz vorschwebte, aber eines Tages würde sie die perfekte Pension zum perfekten Preis finden. »Ich träume immer noch davon.«
»Warum solltest du davon träumen, all das hier aufzugeben?« Peggy breitete die Arme aus. »Ich meine, du willst das Chaos gegen Ruhe und Frieden eintauschen? Bist du verrückt?«
»Vielleicht, aber eines Tages möchte ich mich einzig vom Glück eines wunderschönen Sonnenaufgangs überwältigen lassen, statt von pausenlosen Meetings, die mir meine letzte Hoffnung auf einen guten Tag rauben.« Sie und Peggy hatten schon früher Tagträumen von weniger stressigen Jobs nachgehangen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass das auf Peggys Seite nur Gerede war. Sie dagegen würde es eines Tages wahr machen. »Klingt das nicht paradiesisch?«
»Das tut es.« Peggy stützte sich auf den Schreibtisch. »Keine Ahnung, wann ich mir das letzte Mal die Zeit genommen habe, mir einen Sonnenaufgang anzusehen. Wir fahren nächste Woche in Boone Ski. Dann werde ich es mir auf jeden Fall vornehmen … wenigstens einmal.«
Das klang wunderbar. Sie konnte es nicht erwarten, das Gleiche zu tun. »Ich liebe Boone. Es ist nicht weit entfernt von dem alten Landhaus meiner Großeltern.«
»Findest du, dass es noch zu früh ist, um Weihnachtsschmuck aufzuhängen?«
Sie hatten noch nicht einmal Thanksgiving gefeiert, das erst nächste Woche war. »Meine Großeltern haben immer schon im Oktober angefangen, alles weihnachtlich zu schmücken. Es war ein ziemliches Spektakel. Die Leute sind von weit her gekommen, um es sich anzusehen. Dieser Ort war … magisch.« Sie spürte, wie der verbliebene Stress von dem McKinley-Projekt von ihr abfiel. Gedanken an Angels Rest hatten immer diese Wirkung auf sie. »Pop und Gram haben immer eine große Sache daraus gemacht, nach Boone zu fahren, um bei Boonies Kekse zu kaufen.«
»Boonies hat die besten Zimtplätzchen.« Peggy legte sich eine Hand auf den Bauch. »Ich bekomme Hunger.«
»Die Zimtplätzchen meiner Großmutter waren noch besser, und ich habe ihr Rezept. Das ist so ziemlich das Einzige, was ich backen kann. Ich werde dir welche machen.« Sie konnte das buttrige Zimtaroma dieser Kekse, die in der Küche des Hauses in den Bergen gebacken wurden, beinahe riechen.
»Worauf wartest du?«
»Auf Zeit, und wie der Zufall es will, habe ich davon im Moment jede Menge. Ich werde dir ein paar Kekse backen.« Sie richtete den Blick wieder auf ihren Computerbildschirm und fügte sehnsüchtig hinzu: »Ich kann es nicht erwarten, das perfekte Gasthaus zu finden und in die Fußstapfen meiner Großeltern zu treten.«
Peggy lachte. »Ich kann direkt vor mir sehen, wie du in deinem Haus mit einem Teller voller Kekse herumläufst und Gäste willkommen heißt. Warum nimmst du dir nicht den Tag frei und fährst hinaus, jetzt, da das Projekt endgültig abgeschlossen ist? Nimm dir auch morgen frei und gönn dir ein langes Wochenende. Wir werden erst nach den Feiertagen neue Projekte zuteilen.«
Liz nahm sich niemals frei, doch diesmal hatte sie kein Projekt, an dem sie arbeiten musste, und sie hatte noch jede Menge alten Urlaub. »Das klingt tatsächlich gut. Ich habe mit meinen Weihnachtseinkäufen noch nicht mal angefangen.« Sie zog die untere Schublade ihres Schreibtisches heraus und griff nach ihrer Handtasche. Momentan mochte sie ihre Feiertage am liebsten schlicht, daher brauchte sie nicht viel einzukaufen, nur für die wenigen Leute hier im Büro, aber es wäre schön, sich zu Hause ein wenig zu entspannen. Sie konnte beides tun. »Ich werde dich beim Wort nehmen.«
»Wunderbar. Viel Spaß.« Peggy ließ sie wieder allein.
Liz verließ ihr Büro kurz darauf. Im Aufzug auf der Fahrt nach unten erstellte sie im Geist eine Liste der Läden, in denen sie auf dem Heimweg vorbeischauen konnte.
In den Pfützen trieben rote und goldene Blätter auf dem Parkplatz. Sie zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und stapfte durch den eiskalten Regen.
Dankbar, wieder im Trockenen zu sitzen, schlug sie die Autotür hinter sich zu. »Puh.« Sie hatte an der Glatteiswarnung der Meteorologen für diese Woche gezweifelt, doch die Temperaturen konnten wirklich nicht weit über dem Gefrierpunkt liegen.
Sie drückte auf den Zündknopf. Aus der Lüftung schlug ihr kalte Luft entgegen, und am unteren Rand des Armaturenbretts las sie in Leuchtschrift die Worte: DREISSIG MEILEN RESERVE.
»Wirklich, Dan?« Warum machst du das immer, noch dazu an einem Regentag. Das war ein weiterer Grund, warum sie niemals mehr als Freunde sein würden. Er trieb sie in den Wahnsinn mit seiner Nachlässigkeit. Warum war es so schwer zu respektieren, dass sie immer einen mindestens halb vollen Tank haben wollte?
Sie fuhr vom Parkplatz, hielt an der ersten Tankstelle an, und während das Benzin in den Tank floss, grummelte sie vor sich hin. Der scharfe Wind riss ihr die Kapuze herunter und wehte ihr lange Haarsträhnen ins Gesicht. Bis der Tank voll war, fror sie bis auf die Knochen.
Von ihrer Begeisterung darüber, frühzeitig aus dem Büro gekommen zu sein und noch shoppen gehen zu können, war nichts mehr übrig, als sie sich wieder hinters Steuer setzte. Sie strich sich ihr feuchtes Haar hinter die Ohren und fuhr direkt nach Hause.
Dort schälte sie sich aus ihrem nassen Mantel und hängte ihn zum Trocknen in die Dusche. Nachdem sie die Post überflogen hatte, warf sie die Werbung in den Mülleimer in der Küche. Dann stutzte sie und holte eine bunte, übergroße Postkarte wieder heraus.
Auf einer Seite der Karte war ein Dutzend Häuser abgebildet. Es waren Immobilien, die versteigert werden sollten, und ein Gebäude in der unteren rechten Ecke sah ähnlich aus wie das Gasthaus ihrer Großeltern in Antler Creek. Ihrem Lieblingsort auf der ganzen Welt.
Liz holte ihren Laptop, legte ihn auf die Kücheninsel und tippte die Webadresse der Auktionsfirma in den Browser, bevor sie sich auf einen der handgewebten Rattanbarhocker mit hoher Rückenlehne gleiten ließ. Auf dem Auktionsportal waren mehrere Objekte in den Blue Ridge Mountains aufgelistet.
Sie brauchte nur einige wenige Klicks, um die Informationen über das Anwesen auf der Karte aufzurufen. Es hatte große Ähnlichkeit mit Angels Rest, aber bei näherer Betrachtung ähnelte es ihm überhaupt nicht mehr. Das Gasthaus ihrer Großeltern war ein echtes Holzrahmenhaus gewesen. Das Gebäude auf der Liste sah nur aus wie ein Blockhaus. Davon gab es heutzutage jede Menge. Außerdem war es nur ungefähr halb so groß. Die Ähnlichkeit der beiden Häuser war reines Wunschdenken gewesen.
Sie überflog die anderen Angebote. Im Gegensatz zu den Immobilien auf der Seite der Frühstückspensionen, um die sich für gewöhnlich ihre Tagträume drehten, wurden all diese Objekte versteigert, und die Eröffnungsgebote waren äußerst angemessen. Ihre Aufregung wuchs, als sie über weitere beeindruckend aussehende Häuser in den Blue Ridge Mountains stolperte.
Sie scrollte nach unten und sah sich die lange Liste von Häusern an, die versteigert wurden. Dort las sie sich durch, was erforderlich war, um ein Gebot abzugeben. Es war machbar. Das Pech eines anderen konnte ihr Gewinn sein.
Noch aufgeregter über die Möglichkeit, ein solches Haus zu kaufen, klickte sie zurück zu der Liste von Immobilien.
Eins der Häuser erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie zoomte das Bild heran.
Noch mehr Wunschdenken? Oder könnte dieses tatsächlich …?
Sie machte einen Doppelklick auf das Bild und vergrößerte den Ausschnitt.
Diese Haustür war unverwechselbar. Ein Stich durchzuckte sie vom Herzen bis in die Finger, als sie das nächste Bild vergrößerte. Irgendjemand hatte diese Tür für sie von Hand geschnitzt, als Gegenleistung für irgendetwas anderes. Pop hatte immer irgendwelche Dinge erschachert. Sie war dreizehn gewesen in dem Sommer, als er die Tür eingebaut hatte.
Das Haus war überwuchert und brauchte definitiv liebevolle Pflege, aber das ließ sich leicht in Ordnung bringen. Liz schluckte ihre aufgewühlten Gefühle herunter, als das vertraute Bild deutlicher denn je Erinnerungen hervorrief. Auf der Luftaufnahme konnte sie erkennen, dass die beiden Hütten und die alte Scheune hinterm Haus ebenfalls noch da waren.
Da kam Dan nach Hause. »Ich hätte gedacht, dass ich vor dir hier sein würde. Du bist früh zu Hause.« Er trat aus der Garage durch die Tür.
»Ja.« Sie hörte nur halb zu, weil ihr Blick auf dem Verkaufsdatum landete. Morgen? Wenn sie ihren Traum wahr werden lassen wollte, musste sie in aller Eile eine Menge Arbeit erledigen.
»Meine Kunden haben den Termin wegen des Regens auf morgen verlegt, aber ich habe trotzdem etwas vom Grill mitgebracht.«
»Danke. Das klingt gut.« Liz stand von ihrem Stuhl auf und ging durch den Raum, um ihm zu helfen. »Was weißt du über den Kauf von Immobilien bei Auktionen?«
»Du meinst, außer der Tatsache, dass du bekommst, wofür du bezahlst, und dass es normalerweise jede Menge Probleme damit gibt?« Er packte das Essen aus einer großen Papiertüte aus. »Oder dass du im Voraus planen musst, wenn du dich wirklich auf ein zu versteigerndes Objekt stürzen willst.« Er legte bedächtig Servietten neben das Plastikgeschirr und die Saucen. »Du musst alles gut organisiert und vorbereitet haben. Und wenn du eine Immobilie kaufen willst, solltest du das über mich abwickeln. Egal, ob es regnet oder die Sonne scheint, im Gegensatz zu meinen Kunden heute Nachmittag, die wegen des Regens abgesagt haben. Ich hasse Regen.«
Er konnte über das Wetter jammern, so viel er wollte, nichts würde ihre Stimmung trüben. »Zufällig ist dies das beste Wetter, um seine Schäfchen ins Trockene zu bringen«, entgegnete Liz. »Zufällig eignet sich dieser Tag perfekt dafür, alles in trockene Tücher zu bekommen.«
Liz bedeutete Dan, ihr zur Kücheninsel zu folgen. »Sieh dir das mal an. Ich bin mir sicher, dass das das alte Haus meiner Großeltern ist.«
»Du bist wie lange nicht dort gewesen? Zwanzig Jahre?« Dan zog den Computer näher heran und betrachtete das Objekt.
»Vielleicht so um die fünfzehn.«
»Nett. Ja. Warte. Was denkst du?« Dan hob den Blick und legte den Kopf schräg. »Du ziehst doch nicht ernsthaft in Erwägung …«
»Ich habe mein ganzes Leben lang darauf gewartet. Angels Rest gehört praktisch mir.« Vor Aufregung überschlugen sich ihre Worte. »Also, wie mache ich das mit der Versteigerung?«
»Überhaupt nicht.« Er schloss den Deckel des Computers und reichte ihr ein Grillsandwich. »Nicht ohne dir vorher den Zustand des Hauses anzusehen und dich davon zu überzeugen, dass du dir nicht etwas kaufst, das mit altem Pfandrecht belastet ist.«
»Dafür ist keine Zeit. Es wird morgen versteigert. Ich habe mir die FAQs durchgelesen, und es sieht nicht allzu kompliziert aus. Aber ich brauche einen Kapitalnachweis von meiner Bank, bevor ich ein Gebot abgeben kann.«
»Du willst ungesehen auf dieses Haus bieten? Ich rate davon ab, Liz. Das ist schlicht und einfach verrückt.« Dan fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Du redest immer davon, dass Situationen ein ›Zeichen‹ seien; nun, vielleicht ist das hier ein Zeichen, dass du ein und für alle Mal von dieser verrückten Idee ablassen solltest.«
»Nein. Es ist kein Zeichen, davon abzulassen. Dass ich es ausgerechnet an dem Tag entdecke, bevor Angels Rest versteigert wird, ist ein Wink mit dem Zaunpfahl.« Sie rutschte näher an Dan heran und öffnete den Laptop wieder. »Sieh dir die Fotos hier an. Es sieht gar nicht so schlecht aus. Okay, es ist überwuchert, aber das ist rein äußerlich.«
»Fotos können zahlreiche Probleme verbergen. Sehr teure Probleme, und die Tatsache, dass nur insgesamt drei Fotos da sind, ist ein Warnsignal, vor allem da nur eins das Haus selbst zeigt. Das andere ist eine Luftaufnahme. Du hast keine Ahnung, wie es drinnen aussieht.«
»Es ist rustikal. Es ist ein Holzhaus, was kann da schon schiefgehen?«
»Termiten?«
Dan hatte nicht unrecht. »Nun, das Ding steht immer noch.«
»Das kannst du unmöglich wirklich wissen, ohne mit einem Profi hinzugehen, der das alles überprüft.« Dan lehnte sich an die Theke. »Warum bist du so versessen darauf? Du bist gut in dem, was du tust. Du hast ein tolles Leben hier. Warum zum Kuckuck solltest du in die Berge ziehen?«
»Ich war schrecklich gern bei meinen Großeltern. Die Berge sind wie alte Freunde für mich. Die Natur. Die Stille. Ich dachte immer, ich würde Zimmer vermieten, damit die Gäste die Gegend dort genauso genießen können wie Gram und Pop. Es war ein schönes, angenehmes Leben.«
»Du würdest dich dort oben zu Tode langweilen. Keine Geschäfte. Wahrscheinlich kein Pizzaservice. Und du liebst Pizza.«
»Ich kann mir meine Pizza selbst machen.«
Dan legte den Kopf schräg.
»Ich könnte es lernen.«
»Du liebst deinen Job.«
»Ich würde nicht sagen, dass ich ihn liebe. Ich bin gut darin. Sollte ich mich langweilen, könnte ich immer noch einige Projekte bearbeiten. Ich liebe diesen Ort. Das ist der Grund, warum ich so lange so hart gearbeitet und Geld gespart habe. Jeden Bonus, jede Gehaltserhöhung – ich habe alles in diesen Traum investiert.«
Dan verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ist also der Grund, warum ich dich im vergangenen Jahr nicht dazu bewegen konnte, ein neues Haus zu besichtigen?«
»Genau. Ich habe es dir gesagt. Ich habe hier alles, was ich brauche. Ich habe Geld für ein neues Haus gespart.« Sie zog die Brauen hoch. »Das richtige Haus. Das, an dem mein Herz hängt, seit ich denken kann.«
»Aber eine Frau in deiner Position sollte in einem viel hübscheren Haus in einer viel besseren Gegend der Stadt wohnen. Vielleicht wärest du glücklicher hier, wenn …«
»Es gibt weder an diesem Haus noch an meinem Viertel etwas auszusetzen. Noch an Angels Rest.«
»Das habe ich auch gar nicht gesagt. Dein Haus wird sich leicht verkaufen lassen, aber ich habe einfach nicht gedacht, dass es dir wirklich ernst ist mit einem Haus in den Bergen.«
»Du hörst mir nie zu.« Was in Ordnung war, wirklich. Wenn sie ein Paar gewesen wären, wäre das etwas anderes, aber so war ihre Beziehung nicht.
»Doch, ich höre zu. Irgendwie jedenfalls. Ich schätze, ich habe einfach nicht zwei und zwei zusammengezählt.«
»Nun, mach vier draus und hilf mir, ja?«
Er reichte ihr einen Teller mit Grillfleisch, Kohl, gebackenen Bohnen und Maisbrot. »Weißt du, wie viel Arbeit ein solches Haus machen kann?«
»Ich kann Urlaub nehmen während der Renovierung. Es wird gar nicht so anders sein als das, was ich ohnehin Tag für Tag tue, aber statt ein riesiges Einzelhandelsgeschäft zu eröffnen, werde ich ein Gasthaus eröffnen. Ich kann von dort aus Aufträge übernehmen und für eine Weile beides machen, bis ich mir eine feste Kundschaft aufgebaut habe.«
»Du hast wirklich gründlich darüber nachgedacht.«
»Ich träume schon seit Jahren davon, Dan.« Sie ging mit ihrem Teller ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. »Du verstehst es einfach nicht. Meinen Großeltern hat dieses Gasthaus auf dem Berghang von Antler Creek gehört. Wie groß ist die Chance, dass ich es am Abend vor seiner Versteigerung entdecke?«
Er setzte sich in einen Sessel und balancierte seinen Teller auf den Knien. »Eins zu einer Million, da bin ich mir sicher.«
»Richtig. Jeden Sommer«, sprach Liz weiter, »sind Gäste nicht nur nach Antler Creek gekommen, sondern in die Pension meiner Großeltern, um zu angeln und im Freien zu essen, und jeden Winter sind sie zum Skifahren und über die Weihnachtstage gekommen. Die Pension war bekannt für die schönste Weihnachtsbeleuchtung der Gegend. Man konnte die Lichter bis hinunter ins Tal sehen. Die Menschen sind von weit her gekommen.« Im Geiste war sie wieder dort, warm eingemummt und aufgeregt, während die Menschen zusammenströmten. »Es gab Kutschfahrten auf den Berg, um die Lichter aus der Nähe zu sehen. Gram hat für Besucher heiße Schokolade gemacht und ihre Kekse, die sie nach ihrem Geheimrezept gebacken hat. Ich habe dabei geholfen. Es war zauberhaft.«
Dan holte sein Handy hervor und begann zu tippen. »Und heute beläuft sich die Bevölkerungszahl in Antler Creek auf elfhundertneunundzwanzig, während es vor fünfundzwanzig Jahren zwölfhundertvierunddreißig waren.«
Es hatte also kein großes Wachstum gegeben. Das waren nur die Dauereinwohner. »Eine stabile Bevölkerung«, argumentierte sie.
»Eine stagnierende.«
»Es geht nicht um die Bevölkerung. Oder vielleicht doch. Antler Creek ist malerisch. Es ist der perfekte Ort, um sich zu entspannen. Ich war schrecklich gern dort.«
»Das ist lange her, Liz. Und du warst seit Jahren nicht wieder da. Was sagt das wohl aus?«
Sie schloss den Mund. Das war ein triftiges Argument. »Es hat mir ein wenig das Herz gebrochen, dass meine Großeltern es aufgegeben haben. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich es einmal von ihnen übernehmen würde.«
»Was sollen denn deine Gäste mit ihrer Zeit anfangen, wenn sie bei dir wohnen?«
»All die Dinge, die sie früher getan haben. Die Natur genießen. Fliegen fischen. Antiquitäten ansehen. Zum Wasserfall wandern. Pop hat fast jede Woche Wander- und Angelausflüge geführt.« Bin ich wirklich mutig genug, um das zu tun?
»Ich schätze, den Wasserfall gibt es immer noch«, sagte er. »Willst du mit Fremden Wanderungen durch den Wald machen? Das klingt nach vorprogrammierter Katastrophe.«
»Warum nicht? Und das Fliegenfischen am Bach war im Sommer wunderbar. Ich war sogar ziemlich gut darin.«
Er seufzte. »Du weißt, dass ich nicht ins kalte Wasser waten und angeln werde, richtig?«
Sie zuckte die Achseln. Hier ging es nicht um sie beide. Das wusste er ebenfalls. »Du kannst mich besuchen. Ich verspreche, dass es WLAN geben wird.«
Er zog die Mundwinkel herunter, wie er es immer tat, wenn er enttäuscht war.
»Freu dich doch für mich«, sagte sie. »Bitte.«
Dan holte tief Luft. »Ich halte es immer noch nicht für eine gute Idee, aber wenn du es durchziehst, sei vorsichtig. Der Verkauf ist an Ort und Stelle gekauft wie gesehen – also, wenn du die Auktion gewinnst, hast du es am Hals, selbst wenn es ein Haufen termitenverseuchter Müll ist.«
»Ich habe es gehört. Du hast deine Argumente vorgebracht, aber ich habe es auch am Hals, wenn es genau so ist, wie ich es in Erinnerung habe, und das wäre großartig.« Sie grinste so breit, dass ihre Wimpern ihre Haut kitzelten.
»Ich fahre morgen Abend nach Denver zur Hochzeit meiner Cousine«, sagte Dan. »Kann ich dich wirklich nicht dazu überreden, mich zu begleiten? Es wird eine tolle Party und ein langes Wochenende voller Spaß. Könnte dir eine sechsstellige Summe sparen.«
Sie hatte die Einladung schon vor Wochen abgelehnt. »Nein, danke. Ich muss hier einiges erledigen, das in den vergangenen Monaten liegen geblieben ist, als ich in South Carolina gearbeitet habe.« Liz atmete tief durch, kreuzte die Finger und hielt sie hoch. »Oder ich könnte die Besitzerin eines neuen Hauses werden.«
Dan verdrehte die Augen und stopfte sich den letzten Rest Grillfleisch in den Mund. »Ich komme am Dienstag zurück. Halt mich auf dem Laufenden.«
Am nächsten Morgen war Liz auf der Bank gewesen, hatte ihren Kapitalnachweis eingereicht, ihre Einträge auf dem Auktionsportal fertiggestellt, und es blieb nur noch wenig Zeit, bevor die Auktion begann.
Genau wie Dan hatte der Bankangestellte ihr einen kritischen Vortrag darüber gehalten, bei einer Auktion einen Besitz zu erwerben, ohne ihn vorher gesehen zu haben. Zu erwähnen, dass sie als Kind dort jeden Sommer und jeden Winter verbracht und ein gutes Gefühl in dieser Sache hatte, konnte seine Bedenken nicht zerstreuen. Für ihn mochte es sich nach einem spontanen Kauf angehört haben, doch sie hatte sich das hier seit Jahren gewünscht, hatte darauf gehofft und dafür Pläne geschmiedet. Es war gewiss Bestimmung. Die Bedenken des Bankers spielten keine große Rolle. Es war ihre Entscheidung und ihr Geld, und sie hielt den Kapitalnachweis in der Hand. Sie hatte alles, was sie brauchte.
Der Gedanke daran, in diesem Jahr Weihnachten in Angels Rest zu verbringen, ließ ihr Herz tanzen. Vielleicht würde sie sogar ihre Eltern dazu überreden können, zu Besuch zu kommen, statt die Feiertage irgendwo in tropischer Wärme zu verbringen, wie sie es seit einigen Jahren taten.
Fünf Minuten bis zum Beginn der Versteigerung, zeigte ein Timer am oberen Rand ihres Bildschirms.
Während die Zeit verrann, wurden Liz’ Hände feucht. Ihre Finger hinterließen nasse Spuren auf ihrer Tastatur, als sie den Bildschirm abermals aktualisierte, um sicherzugehen, dass sie auf dem Laufenden war. Als Gram und Pop Angels Rest verkauft hatten, um in einem Wohnmobil die Vereinigten Staaten zu durchqueren, war sie am Boden zerstört gewesen. Damals hatte sie nichts daran ändern können, aber jetzt lag diese Sache in ihren Händen. Sie hatte die feste Absicht, das erste Gebot abzugeben.
Als die Versteigerung eröffnet wurde, musste es insgesamt fünfzig Gebote gleichzeitig gegeben haben.
Sie verschränkte die Hände auf dem Schoß.
Der Preis stieg schnell in die Höhe. Mit jedem weiteren Gebot, das sie abgab, hämmerte ihr Herz.
Bitte. Bitte. Bitte.
Wenn die Gebote weiter derartig in die Höhe schossen, würde ihr Traum vorüber sein, bevor er auch nur begonnen hatte.
Als sich die Kaufsumme den fünfundsiebzigtausend näherte, kamen die Gebote langsamer. Zweifellos gab es Menschen, die einfach jede Auktion mitmachten in der Hoffnung, zu einem Schnäppchenpreis ein verborgenes Juwel zu erbeuten. Sie konnte den Reiz verstehen. Es machte Spaß. War fast wie Aerobic.
Sie nahm einen Schluck Wasser und beobachtete aufmerksam, wie weitere Gebote abgegeben wurden. Mit jedem Gebot fühlte sie sich bestärkt, berechnete die Zeit, die noch übrig war, und gab ihre Gebote so ab, dass ihre Chancen stiegen, die letzte Bieterin zu sein.
Es war verführerisch, einen großen Sprung zu machen und den Bieterkrieg einfach hinter sich zu bringen.
Weitere weise Worte von Pop spulten sich in ihrem Kopf ab. Wenn es Bestimmung ist, wird es passieren. Also übte sie sich weiter in Geduld.
Zwanzig Sekunden vor Ende der Versteigerung gab sie ein letztes Gebot ab, dann schloss sie die Augen und betete stumm.
In diesen letzten Sekunden bot niemand sonst gegen sie.
Dann blitzten auf ihrem Bildschirm in leuchtend blauen Lettern die Worte Gebot, das den Zuschlag erhält auf, zusammen mit einer sehr, sehr langen Liste gesetzlich vorgeschriebener Schritte. Das Positive daran war, dass sie selbst mit den Auktionsgebühren und weiteren Nebenkosten kein Darlehen benötigen würde. Durch Jahre klugen Sparens war sie auf diesen Moment vorbereitet.
Eine schwindelerregende Mischung aus Jubel und Furcht befiel sie. Was, wenn das Haus, wie Dan sie gewarnt hatte, ein von Termiten verseuchter Müllhaufen war? Dies hier waren die Ersparnisse ihres Lebens. Jeder Nerv in ihrem Körper schien zu vibrieren.
Aber dann drehte Liz sich um und sah einen schimmernden Sonnenstrahl, der sich auf dem Glas eines Bilderrahmens auf ihrem Bücherregal widerspiegelte wie ein winziger Engel, der sie daran erinnerte, dass nichts ohne Grund geschah, und sie wusste, dass alles gut werden würde.
Liz sprang von ihrem Stuhl auf, ging direkt zum Bücherregal hinüber und nahm das gerahmte Foto von seinem Ehrenplatz. In ihren zitternden Händen lächelten ihr sie selbst, Gram und Pop aus dem Garten von Angels Rest entgegen. Mit der Mütze auf dem Kopf, die Pop ihr geschenkt hatte, die mit den bunten handgeknüpften Angelfliegen darauf, grinste sie wie ein sommersprossiger Halloween-Kürbis mit Sonnenbrand.
Als ihre Großeltern mit diesem dicken fetten Wohnmobil in unbekannte Gefilde aufgebrochen waren, hatte sie gedacht, die beiden seien verrückt geworden. Erst Monate später, nach Pops Tod, offenbarte sich die ganze Geschichte. Die hässliche Wahrheit, dass der Krebs binnen eines Jahres seinen Körper aufgefressen hatte, war nicht das, was Gott im Sinn gehabt hatte, und keine zwei Monate nach Pops Tod war Gram eingeschlafen und nie mehr aufgewacht.
Sie vermisste die beiden so sehr. Angels Rest war ihr Ort des Glücks gewesen. Sie wünschte sich nichts mehr, als ihre Großeltern zu ehren, indem sie erneut die Schönheit von Antler Creek mit anderen teilte.
Sie wirbelte herum und tanzte mit den Erinnerungen durchs Haus, voller Jubel bei dem Gedanken an das, was vor ihr lag.
Sie wünschte, es würde ihr schon heute gehören, aber das war noch nicht der Fall. Erst mussten noch Geld überwiesen, der Grundbucheintrag erledigt und Steuern und dergleichen gezahlt werden. Es konnte noch bis zu dreißig Tage dauern, bevor sie Angels Rest ihr Eigen nennen durfte.
Liz versuchte, ihre Eltern anzurufen, erreichte jedoch nur die Mailbox. Sie brannte darauf, die Neuigkeiten mit jemandem zu teilen.
Lächelnd setzte sie sich hin und ließ alles sacken.
Es gibt keinen Grund, nicht hinzufahren und es mir anzusehen. In der Beschreibung stand eindeutig, dass der Besitz unbewohnt ist. Niemand konnte sie daran hindern, durch Fenster zu spähen, um die Sache in Gang zu bringen. Zu sehen, wie die Stadt sich verändert hatte. Den ein oder anderen Nachbarn zu treffen. Es gab jede Menge Dinge, die sie tun konnte, den Plan anzupacken. Es gab so viel zu tun.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr, dann griff sie nach ihrem Telefon und wählte Peggys Nummer.
»Langweilst du dich jetzt schon zu Tode? Es war noch nicht einmal ein ganzer Tag«, zog Peggy sie auf.
»Dir auch ein fröhliches Hallo.« Ihr war ganz schwindlig vor Aufregung. »Und nein. Ich langweile mich nicht. Ganz im Gegenteil.«
»Wirklich? Was ist passiert?«
»Ich brauche den Rest des Jahres frei.«
An Peggys Ende entstand eine lange Pause. »Okay, das kommt jetzt unerwartet. Aber du kannst dir Urlaub nehmen. Als Freundin gefragt, ist alles okay?«
»Oh ja. Alles ist bestens. Tatsächlich ist alles wunderbar. Peggy, du wirst es nicht glauben. Ich glaube es selbst noch nicht. Weißt du noch, dass wir gestern über Frühstückspensionen und das Gasthaus meiner Großeltern gesprochen haben?«
»Du hast wieder vor dich hin geträumt. Ja. Das wäre so wunderbar.«
»Es ist kein Traum mehr«, berichtete Liz. »Angels Rest ist heute Morgen versteigert worden. Ich habe es gekauft.«
»Was?«
»Ja. Ich weiß. Es ist total verrückt und überraschend, aber ich habe es gestern Abend online entdeckt, und alles hat sich von selbst ergeben.«
Liz hörte den tiefen Seufzer in der Leitung. »Ich habe das Gefühl, dass du nie mehr zurückkommen wirst«, sagte Peggy. »Und als deine Chefin bricht es mir das Herz, aber als deine Freundin könnte ich mich nicht mehr für dich freuen. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Nach dem ersten Januar werden wir uns um die Details kümmern.«
»Vielen, vielen Dank, Peggy.«
»Du hast es dir verdient. Schick Fotos von diesem Sonnenaufgang. Ich werde stellvertretend durch dich leben.«
»Versprochen.« Als sie auflegte, hatte Liz das Gefühl, als würden hundert Heliumballons sie vom Boden heben.
Liz schloss die Augen. »Danke, Pop und Gram. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr zwei und ein Team von Engeln heute über mich wacht.« Sie schlang die Arme um sich und fühlte sich den beiden näher als seit langer Zeit.
Schnell lief sie ins Schlafzimmer und warf Kleidung zum Wechseln und einige notwendige Dinge in eine Reisetasche, schnappte sich ein Paar Stiefel aus ihrem Kleiderschrank und betete, dass es in Antler Creek nicht regnete, als sie berauscht von Adrenalin zur Tür hinausging.
Matt Hardy saß auf seinem gewohnten Platz an der Theke im Creekside Café – dem dritten von hinten –, demselben Platz, auf dem er als Kind gesessen hatte, wenn er mit seinen Eltern hierhergekommen war.
»Guten Morgen, Matt.« Maizey stellte ein Glas süßen Tee vor ihn hin. »Alle reden von der Auktion heute Morgen. Spekulieren.«
»Es hat keine Überraschungen gegeben«, antwortete er mit einem Kichern. Er hatte nicht die geringste Absicht zuzugeben, dass er ebenfalls mitgeboten hatte.
Buck, der Besitzer der Buck Holler Bar, verkündete: »Ich habe gehört, irgendein Stadtmensch aus Charlotte hätte das Haus gekauft.«
Jemand anderer sagte: »Ich wette, der neue Besitzer wird das alte Haus plattmachen und ein großes neues hinsetzen, wahrscheinlich etwas modernes, das dort oben auffallen wird wie ein bunter Hund.«
»Oder vielleicht gibt es gute Neuigkeiten, und der Käufer wird das Gasthaus wiedereröffnen«, meinte Maizey beschwichtigend. »Das wäre doch eine gute Neuigkeit, oder? Ich meine, seht euch all die Häuser an, die verkauft worden sind, nur um zu verfallen. Es ist verrückt.«
Maizey legte Matt eine Hand auf die Schulter. »Zumindest bist du schlau genug, deins nicht zu vermieten, daher bleibt es gut in Schuss.«
»Ja. Eher würde ich es selbst ruinieren.« Er hatte schnell begriffen, dass es schlimmer gewesen war, das Haus fertig zu haben und nicht das ganze Jahr hier zu leben, als darauf zu warten, es überhaupt zu bauen. »Denkt ihr wirklich, jemand würde das alte Gasthaus mit einem Bulldozer plattmachen?«
»Wer weiß«, überlegte Maizey laut. »Wir werden es einfach abwarten müssen.«
»Es ist eine Schande, dass diese Kunstgalerie es je gekauft hat. Sie haben auf jeden Fall eine gute Sache zunichtegemacht«, meinte ein anderer Einheimischer. »Wenn sie es als Gasthaus oder Frühstückspension weiter betrieben hätten, hätten sie bestimmt die Kundschaft behalten, die immer wieder hergekommen ist. Die Westmorelands haben ihre Sache dort oben in Angels Rest wirklich gut gemacht.«
»Sie haben große Fußstapfen hinterlassen. Es waren gute Leute.«
»Und ob sie das waren.«
»Die besten.«
»Nun, vielleicht haben es diesmal ja auch gute Leute gekauft. Ihr alten Knaben habt euch definitiv in einen voreingenommenen Haufen verwandelt. Und jetzt genug davon«, entschied Maizey und drohte den Männern spielerisch mit dem Finger. »Also, wer hat Lust auf Pastete?«
Hände schossen hoch. »Kommt sofort«, sagte sie.
Maizey drehte die Runde mit ihrer Pastete, bis nur noch ein Stück übrig war. »Werde ich dieses letzte Stück nicht los? Wie wäre es mit dir, Matt. Du könntest etwas zusätzliches Fleisch auf deinen Knochen gebrauchen. Du arbeitest zu hart.«
»Nein, danke, aber wenn etwas übrig bleibt, kann ich es am Abend noch essen.«
Sie zwinkerte ihm zu. »Ich werde dafür sorgen, dass ein Stück für dich übrig bleibt, wenn ich die nächste backe.«
»Du bist zu gut zu mir, Maizey.«
»Deine Mom würde mir gewaltig die Leviten lesen, wenn ich es nicht wäre.« Ihr Lachen hallte durch den Raum.
Sie griff nach seinem Sandwich, schob den Teller vor ihn hin, schnappte sich dann eine Kanne Tee und ging damit um die Tische herum. Matt hatte keine Ahnung, wie sie Tag für Tag ganz allein mit dieser Meute fertigwurde, doch sie schaffte es.
Die Glocke an der Tür bimmelte, und eine Frau in Kakihosen und Blazer kam herein.
Er hörte Maizey mit der Frau sprechen, als diese einen Platz an dem Tisch hinter ihm einnahm.
Die Stimme der Frau hatte einen südlichen Akzent, aber sie hatte auch etwas Sanftes. Hinter sich hörte er, wie Maizey ihr die Tagesangebote aufzählte, dann redeten sie darüber, was man in Antler Creek tun konnte, als würde sie hierbleiben. Er drehte sich auf dem Hocker halb um.
Sie war eindeutig eine Städterin, aber nicht wie Robyn, seine Ex, die Schuhe trug, die genauso viel kosteten wie sein erster Truckerlohn, und die mit perlweißen Zähnen lächelte, dass man noch auf der anderen Straßenseite davon geblendet wurde. Man sah in diesem hinterwäldlerischen Ort nur selten ein so strahlendes Lächeln. Dazu gehörte mehr als nur Zahnpasta, die Zähne weißer machte.
Er fuhr sich mit der Zunge über seine eigenen Zähne. Matt hatte sich einmal auf Robyns Beharren hin die Zähne bleichen lassen, weil sie es unfassbar fand, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte. Ehe er sich versah, lag er mitten im Einkaufszentrum lang hingestreckt da, seine Lippen waren gespreizt, und ein purpurnes Licht leuchtete auf seinen Mund. Er würde das niemals wieder tun. Seine Zähne hatten eine ganze Woche nach der Behandlung geschmerzt. Er hätte es wissen müssen, dass man keiner Frau vertrauen konnte, die sich Robin mit einem »Ypsilon« nannte. So stand es nicht auf ihrer Geburtsurkunde. Ihre Mutter hatte ihm das ausdrücklich erzählt, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Anscheinend war Robyn-mit-einem-»Ypsilon« gern anders, und er war nur ein weiterer Punkt auf ihrer Liste gewesen. Bursche vom Land. Abgehakt.
Frauen aus der Stadt. Eine Garantie für Probleme. Abgehakt.
Nicht dass er wirklich daran hätte erinnert werden müssen. Aber warum konnte er dann nicht aufhören, sich umzudrehen und noch einen Blick auf sie zu werfen?
Nachdem er sich selbst gewarnt hatte, drehte er sich ein ums andere Mal um und betrachtete die Frau noch einmal. Sie war hübsch, und er konnte sich vorstellen, dass sie in Jeans und Wanderstiefeln genauso natürlich aussah. Die meisten Menschen, die nach Antler Creek kamen, blieben nicht lange, da es hier kein Hotel gab. Er fragte sich, was ihre Geschichte war.
Matt aß sein Sandwich auf und bezahlte seine Rechnung. Als er sich von dem Barhocker gleiten ließ und den Raum durchquerte, um das Café zu verlassen, bemerkte er, dass die Frau immer noch mit der Speisekarte beschäftigt war.
Er blieb an ihrem Tisch stehen. »Ich empfehle das Schinkensandwich. Meine Lieblingssorte.« Sie sah auf und lächelte. Ohne ein weiteres Wort zog er am Schirm seiner Baseballkappe. Dann verfluchte er sich im Stillen für die törichte Geste und wandte sich zum Gehen. Wirklich? Er hätte genauso gut »Tach, Ma’am« zu ihr sagen können.
Er kam sich vor wie ein totaler Idiot und eilte zur Tür hinaus.
Ich hätte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern sollen.
Auf der Ladefläche von Matts Truck rappelte Elvis sich hoch. »Hey, Kumpel, tut mir leid, dass ich so lange weg war.« Matt holte eine Serviette mit Essensresten aus seiner Tasche, und Elvis wedelte mit dem Schwanz, der ihm übrig geblieben war, so schnell, dass sein ganzer Körper zitterte.
Während Elvis sich alle Zeit der Welt ließ, um das Schinkensandwich zu verputzen, bemerkte Matt den schicken SUV auf dem Parkplatz. Ein schwarzer Range Rover. Davon sah man hier nicht viele. War das ihr Auto?
Elvis ließ sich auf die Ladefläche des Trucks plumpsen, und seine Zunge baumelte ihm beinahe senkrecht aus seinem Maul, obwohl es nur ein bequemer Sechzig-Grad-Winkel war. Mit gerade mal sechs Monaten wog der Hund bereits mehr als neunzig Pfund.
Matt hatte das Gefühl, dass Elvis Valerie ein klein wenig vermisste. Bevor Matt sein Haus auf dem Berg gebaut hatte, hatte er in Raleigh gelebt und gearbeitet. Er hatte vorgehabt, sich einen Hund anzuschaffen, wenn er endgültig in das Berghaus zog, doch als er das Foto von Elvis in den Nachrichten gesehen und gehört hatte, dass er ein Zuhause suchte, hatte er nicht Nein sagen können. Er hatte den Hund adoptiert und dafür gesorgt, dass jemand sich tagsüber um ihn kümmerte, nur dass Elvis in der ersten Woche unter einer schrecklichen Hundegrippe gelitten hatte. Daher hatte Matt Valerie engagiert, damit sie sich zu Hause um Elvis kümmerte und mit ihm Gassi ging, sodass er nur einige Stunden am Tag allein zu sein brauchte.