Manfred Böckl

Die Leibeigenen

Eine Bayerwald-Saga
aus dem finsteren Mittelalter

Historischer Roman

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ISBN 978-3-95587-741-5

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Titelbild: „Bauerntanz“, um 1568. Bruegel, Pieter d. Ä. um 1525/30 – 1569.
Auf Holz – akg-images

Für meine Mutter

I

Aus der A. D. 1779 aufgeschriebenen Hofchronik des Eginhart Bärnreuther, Bauer auf Bärnreuth:

„Ist geschehen vor mehr als vierhundert Jahr, dass der Ahn Konrad an ein und demselben Tag kopulieret ward mit seinem Weib Mariann, einen Knecht des Natternburgers erschlug und landflüchtig werden musst samt seinem Weib.“

In dieser Sommernacht tanzten die derben Weiber und die zusammengebuckelten Männer des kleinen Dorfes Stauff. Sie stampften den Boden unter der Linde im Reigen, so dass die klobigen Holzschuhe auf dem festgetretenen Lehm knallten. Die Burschen juchzten, wenn sich die Leinenröcke der Weiber im böhmischen Wirbler bauschten. Der Zigeuner, der aus der Straubinger Gegend das Donautal heruntergekommen war, ließ seine dreisaitige Fidel wilder und wilder wimmern, je mehr Bier und Branntwein ihm die Bauern spendierten.

Auf dem Anger, auf roh zusammengezimmerten Holzbänken, hockten die Alten des Dorfes beisammen, die Gesichter rot vom Schnaps, die knotigen Hände auf die Schenkel gestemmt. Wohlwollend betrachteten sie die Tänzer, hielten sich aber selbst lieber an die bauchigen Tonflaschen und die fetten Speckseiten, an denen heute kein Mangel herrschte. Ihre Bärte glänzten von Speichel und Schmalz, und mitten unter den Alten lag, hingestreckt wie ein brauner Hügel, der wandernde Pfaffe aus Metten, welcher Stunden zuvor das Brautpaar zusammengegeben hatte.

Der Mönch war schwerer betrunken als alle anderen; er gehörte zu denen, die hauptsächlich wegen der schäumenden Bierbitschen und der saftigen Kapaune auf der Klostertafel die Kutte angezogen hatten, und es mochte ihn wohl auch verdrießen, dass der Abt ihn stets nur zu den ärmlichen Hochzeiten der Leibeigenen sandte. Deswegen hatte er sich, nachdem das Sakrament vollzogen war, besoffen und sich den Wanst vollgeschlagen, wohl wissend, dass keiner der einfältigen Dörfler es wagen würde, ihn deswegen zu tadeln. Und es war wirklich so, dass die Leibeigenen es sich zur Ehre anrechneten, dass der geweihte Mann ihren einfachen Genüssen so kräftig zusprach.

„Da, stärke dich, in des Heilands Namen“, sagte der Viertelhübner Jörg und reichte dem Mönch seinen eigenen Bierkrug. „Sollst in Metten nicht erzählen können, dass die Eigenleute von Stauff Geizhälse wären. Sollst dir hier etwas Gutes antun und später Fürbitt einlegen für uns Stauffer in deiner Klosterkirche.“

„Gott gesegne es“, murmelte der Mönch, einen schweren Rülpser mühsam unterdrückend, und soff die Bierbitsche auf einen Zug zur Hälfte leer. Dann stellte er den hölzernen Krug mit zittrigen Händen ins Gras, stemmte sich auf den Ellenbogen in eine halb sitzende Stellung hoch, ließ seinen verschwommenen Blick über die johlende Menge auf dem Tanzplatz schweifen, um endlich mit lauter Stimme zu fordern: „Holt mir noch einmal das Brautpaar her. Hab’ den Kopulierten noch einen guten Rat mitzugeben auf ihren Lebensweg.“

Er rülpste nun doch, fuhr unmittelbar darauf den Viertelhübner an: „Na mach, nimm die Beine in die Hand, denn meine Belehrung kann nicht warten, weil sie mir gewissermaßen in diesem Augenblick vom Heiligen Geist selbst eingegeben wurde.“

„Jawohl, ich lauf’ schon“, erwiderte gehorsam der Viertelhübner, während der Mönch erneut die Bierbitsche ergriff, damit ihn der Heilige Geist ja nicht verlassen sollte. Der Bote des frommen Mannes bahnte sich schwankend seinen Weg durch die Tanzenden. Als er bis zur Dorflinde durchgedrungen war, entdeckte er das Brautpaar.

Mariann und Konrad, denen dieser ausgelassene Tag vielleicht für ein ganzes Leben genügen musste, denn sie würden später nichts kennen als harte Arbeit, qualvolle Kindsbetten und die Angst vor dem Natternburger Ritter, drehten sich weltvergessen in einer böhmischen Polka. Konrad, ein magerer, knochiger Bursche mit länglichem, sonnenverbranntem Gesicht und kräftiger Nase, hatte sein frisch angetrautes Weib um die Hüften genommen und gab Mariann so Halt bei dem schnellen Rundtanz. Seine auffallend hellblauen Augen blitzten und schienen nichts anderes zu sehen als das etwas derbe und dennoch liebliche Gesicht seiner Braut, und Mariann spürte diesen Blick und verstand ihn, und ein Widerschein von Konrads Glück leuchtete aus ihren eigenen braunen Augen.

Sie hatte ihre Arme um Konrads Hals geschlungen, obwohl sie sich dabei kräftig strecken musste, aber das wollte sie ja: zu ihm aufsehen können. Und als der Zigeuner nun seiner Fidel einen schmelzenden Triller entlockte, da lachte sie fröhlich auf und zwang Konrad in einen noch schnelleren Wirbel, so dass ihr rabenschwarzes Haar wild unter der Brautkrone flatterte.

„Ich liebe dich!“, rief Mariann ihrem Bräutigam durch das Jauchzen der Fidel zu, und dabei drückte sie sich eng an Konrad, damit er ihre Brüste spüren konnte, denn sie wollte nun bald mit ihm allein in der Hütte und im Brautbett sein. Mariann sehnte sich danach, ihrem Bräutigam endlich als sein angetrautes Weib zu gehören, und je näher die Mitternacht herangerückt war, umso mehr war ihre Sehnsucht gewachsen.

„Ich liebe dich“, antwortete Konrad und drückte ihr einen Kuss auf die vollen Lippen. Er wollte Mariann noch mehr sagen, aber da tauchte der Viertelhübner auf und stoppte den Rundtanz des Paares, indem er Konrad einfach am Arm packte.

Mit gerunzelter Stirn blieb der junge Mann stehen, den Arm um Marianns Schultern gelegt. „Was willst? Warum musst uns gerade jetzt stören?“, fragte er, fast unwirsch, den Älteren.

„Zum Pfaffen sollt ihr kommen. Er hat euch noch etwas zu sagen“, richtete der Viertelhübner seinen Auftrag aus.

„So – und was will der Pfaff? Der ist doch schon so besoffen, dass er nicht mehr stehen kann“, versetzte Konrad. „Möchte er uns etwa eine Predigt über das Saufen halten?“ Er machte Anstalten, Mariann erneut in den Rundtanz zu schwenken.

Doch die junge Frau sperrte sich. „Wenn der Mönch uns zu sich befiehlt, dann müssen wir gehorchen“, sagte sie ängstlich. „Einen heiligen Mann darf man nicht verärgern.

„Richtig, das meine ich auch“, stimmte der Viertelhübner zu.

„Heiliger Mann – dass ich nicht lache“, murmelte Konrad, aber nach einem bittenden Blick von Mariann gab er nach. „Also, dann gehen wir halt“, sagte er, nahm die Hand seiner Frau und folgte mit ihr dem Viertelhübner, der bereits vorausschritt.

„Domnicus vovisbum“, lallte der betrunkene Mönch, als das Brautpaar vor ihm stand. Aber dann nahm er sich zusammen und begann leidlich klar zu sprechen. „Seid nun vor Gott und den Menschen ein rechtmäßiges Ehepaar“, sagte er mit fetter Stimme, „und sollt dem Herrgott dankbar dafür sein. Müsst eure Pflicht gegenüber ihm erfüllen, aber …“, und nun sprach er bedeutend lauter, „… auch gegenüber der Obrigkeit gibt es Pflichten! Ihr alle hier in diesem armseligen Stauff gehört dem Ritter von der Natternburg, und dem habt ihr zu fronen, bis ihr zusammenbrecht.“

Der Mönch schwankte auf seinen aufgestützten Ellenbogen, warf einen wirren Blick in die Runde, erspähte den Bierkrug und trank. Konrad musterte den Geschorenen mit unverhohlenem Abscheu, aber der Mönch bemerkte es in seinem Rausch nicht.

„Jedes Jahr zu Martini sendet der Natternburger ein Dutzend Gäns’ und ein halb Dutzend Fettschweine ins Kloster“, fuhr er fort. „Dazu Braugerste, Salz und Wein. Und das alles tut er nicht, weil er dem Kloster lehenspflichtig wäre, sondern allein um seines Seelenheils willen und damit wir Mönche das Wort Gottes besser predigen können.“

„Freilich – und wir Dorfleute müssen uns die frommen Spenden für das Kloster aus den Rippen schneiden“, flüsterte Konrad seiner Mariann zu, verstummte aber, als er ihren erschrockenen Blick bemerkte.

Der Mönch hatte nichts gehört, schien aber Konrads ablehnende Haltung zu spüren, denn er schrie den jungen Mann an: „Jawohl, ich weiß schon, dass ihr Bauersleute aufsässig und unbotmäßig seid. Wollt euren Lehenspflichten nicht genügen und seid so hochfahrend geworden, dass ihr mit dem Schwert am Gürtel auf eure geborgten Felder rennt, wo das Waffentragen doch allein den Rittern und ihren Reisigen erlaubt ist.“ Die Stimme des Mönchs überschlug sich fast. „Und vor dem Ritter müsst ihr auf dem Bauch kriechen“, schrie er in seinem sinnlosen Rausch. „Wenn der Natternburger euch befiehlt, dass ihr ihm die Füße leckt, dann müsst ihr das freudig tun, denn das ist die gottgewollte Weltordnung: Der Adlige sitzt in aller Pracht auf seiner Burg, und ihr Bauernpack müsst kuschen! Und wenn der Natternburger von euch verlangt, dass ihr in den Hungerturm springt, dann müsst ihr das auch tun. Denn er ist der Herr, und ihr seid nur das Gescherr …“

„Und du bist ein Bauchgötz und eine Schande für das Kleid, das du trägst“, brach es da aus Konrad heraus. „Ist etwa unser Herr Jesus auch Burgherr gewesen und hat seine Leibeigenen geschunden, wie?!“

„Das ist Gotteslästerung“, schrillte der Pfaffe und versuchte auf die Beine zu kommen, um auf Konrad loszugehen. Doch einige der Eigenleute, die dem Wortwechsel mit verängstigten Gesichtern gefolgt waren, drängten sich schnell zwischen Konrad und den Mönch, und einer reichte dem unwürdigen Gottesmann eine Branntweinflasche, was diesen den Streit sofort vergessen ließ. Er nahm einen großen Schluck und fiel dann bewusstlos zurück.

„Du hättest dich und Mariann um ein Haar um Kopf und Kragen geredet“, wandte sich der Viertelhübner an Konrad. „Die Pfaffen und die Adligen stecken doch alle unter einer Decke, und der da bringt dich schneller an den Galgen, als du denkst. – Der Mönch war ja zuerst ganz kommod, und wir freuten uns, als er so fleißig mit uns Bauern aß und trank. Aber jetzt ist er gefährlich, und du solltest dein Mundwerk im Zaum halten, auch wenn du Recht hast und viele von uns so denken wie du. Aber wir Leibeigenen müssen das Maul halten zu diesen Dingen, das ist nun mal so auf der Welt.“

„Dann ist diese Welt falsch eingerichtet“, versetzte Konrad mit verbissenem Gesicht, das so gar nicht zu seiner Rolle als Bräutigam passen wollte. „Und diesen Pfaffen fürchte ich, bei Gott, nicht. Der ist so voll, dass er sich morgen an nichts mehr erinnern kann …“

In diesem Moment jubelte die Fidel des Zigeuners erneut auf, und Mariann drängte sich an Konrad. Sie wollte die beklemmende Auseinandersetzung so schnell wie möglich vergessen, sie wollte zurück auf den Tanzboden. Konrads Gesicht entspannte sich. Er nahm Marianns Arm und wollte eben mit seiner Frau weggehen, als die Zigeunerfidel plötzlich mit einem erschrockenen Misston verstummte.

Auch auf dem Anger und dem Tanzplatz wurde es still. Die Dörfler schauten ängstlich um sich, als erwarteten sie ein plötzlich hereinbrechendes Unglück – und dann hörten sie es alle: das rhythmische Getrappel galoppierender Pferde, das sich, aus der Richtung der Natternburg kommend, schnell dem Dorf näherte.

Vergessen war die Festfreude; man sah überall nur noch furchterfüllte Gesichter, gespenstisch beleuchtet vom Schein der Pechfackeln. Denn die Stauffer wussten es alle: Nichts Gutes pflegte von der Natternburg in ihr Dorf zu kommen. Und schon zweimal nicht um Mitternacht. Und dreimal nicht auf galoppierenden Streitrössern.

Sie spähten mit verkniffenen Mündern und hart gewordenen Muskelsträngen an den Unterkiefern nach Norden, wo der breite Donaustrom floss und dahinter das gefährliche, düstere Waldgebirge lag; noch diesseits des Stromes aber der massige, gestreckte Kegel des Natternbergs, auf dem sich, wuchtig und abweisend, die Natternburg erhob.

Jetzt freilich war der Bergrücken nur als tintenschwarzer Schatten gegen den vom Vollmond in einen trügerischen Schein getauchten Himmel zu erkennen. Aber umso bedrohlicher wirkte die Festungssilhouette, und das sich rasch nähernde Hufgetrappel kam den Stauffern vor, als schlüge der Teufel selbst die Kriegstrommel – wussten sie doch alle, dass der Leibhaftige vor Urzeiten höchstpersönlich den Natternberg mitten in das fruchtbare Donautal geschleudert hatte. Und nun schien der Teufel in Gestalt der dahinjagenden Reiter erneut aus der so plötzlich schaurig gewordenen Nacht aufzutauchen …

Konrad hatte seine Braut eng an sich gezogen und spürte, wie sie vor Angst zitterte. Die Dörfler wichen langsam zur Kapelle zurück; den einzigen Schutz suchend, den sie kannten: den bei Gott. Der schwarzlockige Zigeunerfidler hängte sich sein Instrument über den Rücken, packte seinen dürftigen Schnappsack und verschwand wie ein Schatten in der Dunkelheit. Die Eltern von Braut und Bräutigam drängten sich durch die Menge und gesellten sich zu ihren Kindern.

„Ich fürchte mich“, flüsterte Mariann.

„Nur ruhig“, versetzte ihr Vater. „Vielleicht unternimmt der Natternburger bloß eine nächtliche Jagd.“

„Das glaub’ ich nicht“, mischte sich die Brautmutter ein. „Ich spür’s, das gilt uns!“

Konrad tastete unwillkürlich nach dem Griff des Hirschfängers, den er am rohledernen Gürtel trug. Sein Vater sah es und legte ihm erschrocken die Hand auf den Arm.

Ganz allein auf dem Anger liegend, ein brauner unförmiger Hügel, schnarchte und röchelte der Mönch aus Metten in seinem besinnungslosen Rausch.

Das Hufgetrappel war nun so nahe, dass die Erde erzitterte.

Und dann waren sie heran und tauchten auf aus der Nacht, kalt beschienen vom Mondlicht: drei Reiter auf starkknochigen Rössern, mit eisernen Brustharnischen und Sturmhauben auf den zottigen Schädeln; drei bärtige Haudegen, deren Augen wild im Fackellicht glühten.

„Knechte des Natternburgers“, flüsterte die Brautmutter entsetzt, packte Marianns Arm und wollte sie näher an die Kapelle zerren. Aber es ging nicht, denn dort drängten sich schon die anderen Dörfler, verschreckt wie eine Herde Schafe.

Die drei Reiter preschten herbei und parierten ihre Gäule so hart durch, dass der festgebackene Lehm von den schlagenden Hufen tief aufgerissen wurde. Die Dörfler drückten sich in Panik noch näher zusammen, ein paar Weiber schrien grell. Nur Konrad blieb eisern stehen, als der Anführer der Burgknechte sein Ross vor ihm steigen ließ.

Scharf fassten sich die beiden Männer, der Reisige und der Leibeigene, ins Auge. Dann, als das Ross des Burgknechts die Hufe wieder auf der Erde hatte, richtete dieser sich herausfordernd im Sattel auf und brüllte mit weinschwangerem Atem: „Hoho, Hochzeit feiert ihr, Dörper, Bauernfünfer! Habt’s gar lustig hier, wie man sieht. Schwelgt in Branntwein, Bier und Braten. Und bald will der Bräutigam sein Vöglein aufs Lotterbett zerren, nicht wahr …“

Er brach ab und ließ sein Ross tänzeln, während seine beiden Begleiter mit steinernen Gesichtern hinter ihm hielten und die Dörfler ihn noch angstvoller als zuvor anstarrten.

Und wieder brüllte der Burgknecht los, lauter und gemeiner noch als zuvor. „Ihr habt aber den Natternburger, meinen ritterlichen Herrn, vergessen über eurer lustigen Kopulation. Hat’s euch denn der Pfaffe nicht gesteckt, dass der Ritter die schöne Braut für diese Nacht auf seine Burg bestellen ließ?“

„Der Pfaffe ist so betrunken, dass er nicht mehr aus den Augen schauen kann“, rief einer, der ein wenig kecker war als die anderen, aus dem Hintergrund.

„Ja, die Mönche wissen schon zu leben“, versetzte der Burgknecht lachend. „Ich gönne ihm seinen Rausch. Aber mein Herr tobt und ruft nach der jungen Braut …“

Marianns dünner, zittriger Schrei hing qualvoll in der Nacht. Konrad umschlang sie mit beiden Armen und biss die Zähne aufeinander, dass sie knirschten.

Der Söldner scherte sich nicht darum. „Ihr wisst es alle“, schrie er, „dass ein leibeigenes Weib in seiner Hochzeitsnacht dem Burgherrn gehört. Das ist ein guter alter Brauch und dient dazu, dass das dumme Volk seinen Ritter lieben und achten lernt. – Wir sind hier, um die Braut auf die Natternburg zu bringen!“

Er beugte sich vom Ross herunter und griff nach Marianns Schulter, wobei er hinzufügte: „Am besten ist es, du kommst freiwillig mit, mein schönes Vögelchen. Dann kann ich dich unbeschädigt bei meinem Herrn abliefern. Wehrst du dich freilich, werde ich dich trotzdem auf die Burg schleppen, aber du wirst dann ziemlich zerzaust oben ankommen. Und jetzt los! Aufs Ross mit dir, denn mein Ritter wartet nicht gerne.“

Der Soldknecht zerrte die fassungslose Mariann nahe an seinen Gaul. So derb war der Griff seiner Faust, dass ihr Mieder an der Schulter knallend aufplatzte.

„Nein!“, schrie Mariann in höchster Angst.

„Los, komm schon! Zier dich nicht so, du Dörperhur’“, herrschte der Söldner sie an und packte ihren Arm noch fester.

Aber da löste sich ein wilder, hemmungsloser Schrei aus der Kehle Konrads, und der junge Mann wusste nicht mehr, was er tat, als seine Faust krachend in das Gesicht des sich tief aus dem Sattel beugenden Burgknechts schlug, so dass dieser den Halt verlor und eisenklirrend zur Erde stürzte. Und er fiel so unglücklich, dass sein Helmrand sich an einem Stein verfing, ihm den Schädel in den Nacken drückte und ihm mit einem Knirschen wie von einem brechenden Ast das Genick brach.

Einen Atemzug lang herrschte Totenstille auf dem Dorfplatz. Aber dann schrie einer der Gewappneten gellend: „Mord und Blut!“ Er zog das Schwert und sprengte auf Konrad und Mariann zu. Die Klinge blitzte im Mondlicht, aber sie traf ihr Ziel nicht, denn Konrad hatte sich gedankenschnell in den Sattel des ledigen Rosses geschwungen, hatte Mariann vor sich quer über den Pferdehals gezerrt und galoppierte, als das Schwert niedersauste, mit einem jähen Sprung des Hengstes an.

Der Schlamm, welcher in den Muldungen der Dorfstraße stand, barst schmatzend, als Konrad nach Norden, der Donau zu, davonpreschte. Ohne Sporen und mit der Last von Marianns Körper vor sich konnte der Leibeigene das Pferd nur schlecht lenken. Aber er trieb das Ross durch Fersenschläge und heisere Zurufe an, so gut er es vermochte – und betete dabei, dass die Richtung stimmte; dass es ihm gelingen würde, das Sumpfland der Donaumarschen zu erreichen: jenen Dschungel aus Schilf, Erlen und Altwassern, der allein ihnen hier weit und breit eine kleine Aussicht auf Rettung bot.

Während das Ross durch Schlammpfützen und über kantiges Gestein jagte, nahmen die beiden Burgknechte die Verfolgung auf. Ihrem Kameraden, der den Hals gebrochen hatte, gönnten sie keinen Blick mehr. Sie achteten auch nicht auf das Geschrei der Dörfler, sondern drängten ihre Gäule, die angesichts des Toten wild die Augen verdrehten, durch die kreischende Menge, setzten sie mit brutalem Sporenschlag in Galopp und preschten Konrad nach in die unwirkliche Mondnacht.

Vor der Kapelle im Dorf brach Marianns Mutter in den Armen ihres Mannes zusammen. „Wir sehen die Jungen nicht wieder“, stöhnte sie. „Die Büttel werden sie fangen, und der Natternburger wird sie hängen! Heilige Muttergottes, hilf, weil du ja selbst ein Kind großgezogen hast. Aber nein …“, sie schrie, „… sogar du kannst hier nicht helfen …“

Ein röchelndes Schluchzen würgte ihr die Stimme ab. Und keiner der Dörfler hätte ein Wort des Trostes zu sagen gewusst. Denn sie alle kannten die eiserne Faust des Burgherrn, und sie machten sich deswegen keine Hoffnungen.

Dennoch sollte für Konrad und Mariann Hilfe kommen, und vielleicht war es wirklich eine göttliche Macht, welche den dahinrasenden Rappen gegen eine im Dunkeln unsichtbare Baumwurzel prellen und ihn sich erschrocken bäumen ließ.

Konrad verlor den Sattel und stürzte, Mariann unwillkürlich mit sich reißend. Unterholz brach neben dem schmalen Weg, als Marianns und Konrads Körper hineinkrachten; dann peitschten die Zweige wieder über ihnen zusammen, und sie rochen, trotz ihrer Angst, den schweren Duft vermoderten, vorjährigen Laubs. Gesichter und Arme begannen ihnen von den Striemen zu brennen, die ihnen beim Sturz Haselnuss und Ginster gerissen hatten; sie drückten sich eng aneinander und wagten kaum zu atmen.

Sie befürchteten, dass nun jeden Augenblick die Verfolger mit blanken Schwertern über sie kommen müssten – aber dann hörten sie den davonpreschenden Rappen, der sie bis hierher getragen hatte. Seiner Last ledig, ging das Ross durch – und zwar in östlicher Richtung, wo ein Weideweg in den Korngäu hinausführte.

Fast gleichzeitig waren die beiden Verfolger heran, und sie bemerkten nicht, dass der Rappe nun reiterlos galoppierte; sie konnten nicht mehr von ihm erkennen als einen unförmigen Schatten, und dem jagten sie nach. Der Lärm der Hufschläge wurde leiser, bis zuletzt nur noch ein dumpfes Vibrato die Ruhe der Nacht störte. Mariann und Konrad, in ihr Nest aus abgebrochenen Zweigen und altem Laub geduckt, konnten es kaum fassen.

Endlich flüsterte Mariann: „Sie sind weg. Wir können zurück ins Dorf.“

„Nein!“ Konrads Stimme klang rauh. „Nach Stauff dürfen wir nie wieder. Schon morgen hätten uns die Büttel des Natternburgers gefangengesetzt. Sie werden schnell merken, dass sie ein lediges Ross verfolgen. – Nein, Mariann, wir müssen weit fort von hier. Dorthin, wo die Macht des Natternburgers nichts mehr gilt. Denn wir werden uns unser Lebtag vor seiner Rachsucht verbergen müssen.“

„Aber meine Eltern – und die deinigen!“, stöhnte Mariann. „Wir werden sie dann nie wiedersehen …“

„Willst du, dass sie mit uns zusammen im Hungerturm verschmachten müssen, wenn man uns bei ihnen findet?“, versetzte Konrad zähneknirschend. „Nein, Mariann, es ist schon so: Wir dürfen sie nicht mehr kennen und sie uns nicht. Nur so können sie vielleicht dem Zorn des wilden Wolfs auf der Natternburg entgehen. – Wir sind jetzt vogelfrei und müssen’s tragen. Verbrecher sind wir geworden und Landflüchtige.“

„Aber du hast doch nur mich, dein ehelich angetrautes Weib, schützen wollen und hast mich gut geschützt“, sagte Mariann leise und beherrscht. Mit der unerklärlichen seelischen Kraft einer Frau hatte sie in diesem Augenblick ihr Schicksal auf sich genommen. „Wohin sollen wir gehen, Konrad?“

„Es gibt nur einen Weg“, antwortete der junge Mann nach kurzem Nachdenken. „Wir müssen über den Strom und dann ins Waldgebirge. Dorthin, wo weder die Grafen von Bogen noch die Degenberger Herren, noch die Klöster bisher den Wald ausgereuthet haben. Ich weiß allerdings selbst nicht, wie weit wir in die Wildnis vordringen müssen – aber dort, in den dunklen Forsten, liegt unsere einzige Rettung.“ Konrads Stimme wurde lauter, und er packte Marianns Oberarme. „Ich werde dir nichts bieten können, Weib, nur Not, Gefahren und dazu den reißenden Bären, der um unsere Hütte schleichen wird, und den Wolf, der im wilden Wald auf uns lauert. Ich weiß nicht einmal, ob wir überleben können dort drinnen im Urwald …“

„Hunger und Not, Wolf und Bär sind mir lieber“, unterbrach Mariann ihn, „als dass der Natternburger mich auf sein Lager hätte zerren dürfen. Und lieber komme ich im Urwald um, als dass ich im Hungerturm auf der Natternburg verschmachte. Ich folge dir, Konrad, wohin du mich auch führst, und wenn wir die Eltern nicht mehr sehen können, so können wir doch für sie beten.“

„Dann komm, in Gottes Namen“, antwortete Konrad. „Die Nacht dauert nur noch ein paar Stunden, und bis dahin müssen wir jenseits des Donaustroms sein.“

Sie krochen aus dem Gestrüpp, klopften sich das vermoderte Laub von den Kleidern und liefen los. Die Richtung zur Donau war nicht zu verfehlen; im Norden, über dem breiten Strom, wirkte die Mondnacht dunstiger. Und im Westen zeigte ihnen der gestreckte Hügel des Natternbergs den Weg. Wie ein drohender Schatten lag er vor dem Himmel; massig im Tal, zackig und unruhig oben, wo die Burg aufragte. Sie duckten sich, als sie am Burgberg vorbeirannten, aber niemand entdeckte sie. Und dann öffnete sich der Horizont wieder; der Boden wurde weicher und die Erlen zahlreicher, und die Donau mit ihren Tümpeln, Sümpfen und Altwassern war nicht mehr weit.

II

Aus der Chronik des Eginhart Bärnreuther, Bauer auf Bärnreuth:

„Sind der Ahn Konrad und sein Weib Mariann mit eines klostereigenen Fischers Hülf über den Strom gekommen. Und haben neuerliche Hülf gefunden bei armen Häuselleuten im Vorwald, wo Konrad konnt eine Saufedern erlangen.“

Sie erreichten den Strom im ersten fahlen Schein der Morgendämmerung. Und beide wussten, dass sie nun Grenzland betreten hatten. Die Donau, die sich dunstig aus Nordwesten, wo der Himmel noch dunkel war, heranwälzte, war ihnen beiden fremd. Mariann und Konrad waren aus ihrem Dorf nie herausgekommen; sie hatten nur andere vom großen Strom erzählen hören und ab und zu seinen silbrigen Schein wahrgenommen, wenn sie auf der Natternburg gefront hatten, von wo aus man den Gäu nach allen Himmelsrichtungen hin meilenweit überblicken konnte. Doch sie kannten bis jetzt nicht den schweren Ruch nach Fisch und Schlamm, sie hatten nie das Flüstern der Binsen im flachen Uferwasser vernommen, und so näherten sie sich nun fast ängstlich dem breiten Gewässer.

Marianns und Konrads Körper waren wund und zerschlagen. Sie hatten sich ihren Weg durch das ruppige Auengehölz bis hierher ans eigentliche Ufer mühsam erkämpfen müssen. Durch breite Gürtel von Schilf waren sie gebrochen, dessen lanzettförmige Blätter ihnen die Haut blutig geschnitten hatten. Sie hatten grundlose Altwasser auf Biberpfaden umgangen und waren durch schleimige, abgestorbene Tümpel gewatet, deren totes Wasser grünlich schillerte und süßlich nach Verwesung roch. Auf einem gefällten Baumstamm waren sie über einen breiten Graben gekrochen, in dem es ungut von schwarzen Aalen wimmelte, und einmal war Mariann in ein Sumpfloch getreten und darin im Handumdrehen bis zur Hüfte versunken, ehe der entsetzte Konrad sie mit einem verzweifelten Ruck wieder auf festes Land zerren konnte.

Der Strom wusste sich zu schützen und schien lange nicht jeden an seinem Ufer dulden zu wollen. Doch nun, da Mariann und Konrad sich durchgekämpft hatten, bot er einen so prächtigen Anblick, als wolle er sie für alle Mühsal entschädigen. Das Zwielicht zwischen Nacht und Tag waberte geheimnisvoll über dem ruhig strömenden Wasser. Schilffelder wisperten im eben aufkommenden Morgenwind. In einer Bucht sprang ein schwerer Weißfisch und zauberte zitternde Ringe auf die Wasseroberfläche. Ein Wildentenpärchen strich läutend unter eine Erle ein. Und der Morgennebel ließ diese vielfältigen Bilder verschwinden und wieder entstehen, gerade so, als habe er Freude an diesem geheimnisvollen Spiel.

Verzaubert standen Konrad und Mariann ein paar Minuten lang da, so dicht am Wasser, dass die ausufernden Wellen ihre Zehen berührten, aber schnell kehrten sie in die Wirklichkeit zurück, und Konrad fasste seine Zweifel in den Worten zusammen: „Ich weiß nicht, wie wir da hinüberkommen sollen, es sei denn, wir suchen einen gestürzten Baum, schleppen ihn ins Wasser und vertrauen unser Leben Gott an.“

Mariann schauderte unwillkürlich zurück. Sie konnte, ebenso wie Konrad, nicht schwimmen. Und wenn der Baum sich im Wasser drehen würde und sie sich nicht mehr auf dem Stamm halten konnten, dann würden sie beide jämmerlich ersaufen müssen.

„Gehen wir lieber flussaufwärts, nach Metten“, sagte Mariann. „Ich habe einmal gehört, dass es dort eine Fähre geben soll.

„Und Klosterknechte auch“, versetzte Konrad, „die uns sofort als Landflüchtige erkennen und an den Natternburger ausliefern würden.“

Mariann senkte den Kopf und schwieg beschämt. Ihr schwarzes Haar wehte leicht im Morgenwind, spielte um ihr gutes, junges Gesicht. Mariann war schmutzig und übernächtig – und doch war sie Konrad nie schöner vorgekommen als gerade in dieser Stunde. Denn sie war ihm durch alle Schwierigkeiten gefolgt, sie hatte sich nicht von ihm abgewendet, weil er einen Menschen getötet hatte, sie hatte ihm gezeigt, dass sie zu ihm hielt, so, wie sie es sich gegenseitig vor dem Mönch versprochen hatten. Konrad seufzte und zog sein junges Weib in seine Arme. Mariann roch nach Schweiß und Schlamm; ihre Brautkrone hatte sie auf der Flucht verloren. Ihr Haar kitzelte zart Konrads Hals, als er sie küsste. Ihre Lippen waren zerbissen und rauh. Dennoch hatte Konrad von ihr noch nie so viel empfangen wie in diesem einen Kuss. Sie verschmolzen miteinander und drängten sich aneinander und vergaßen ihre Not, als sie so im Uferschlamm standen und das Wasser ihre nackten Zehen leckte.

Als Konrad sich von Mariann löste und aufschaute und seinen Blick wie ein Erwachender über den Strom wandern ließ, als erblicke er die Welt zum ersten Mal, sah er, wie flussaufwärts etwas geschwungen und feuchtglänzend aus dem treibenden Nebel brach. Konrad erstarrte und machte Mariann durch ein leises Zeichen auf die Erscheinung aufmerksam. Gleich darauf huschten sie beide erschrocken in den bergenden Schilfgürtel zurück.

Draußen auf dem Strom schälte sich aus dem Morgennebel nun eine Zille, und sie wurde genau in jenem Augenblick ganz sichtbar, als der erste Sonnenstrahl flach und von den Wellen gebrochen über das Wasser wanderte.

Plattbordig und verhalten glucksend kam das Boot näher, und die beiden jungen Leute im Schilf konnten nun auch den Mann erkennen, der im stumpfen Heck der Zille kniete und beinahe andächtig die meterlange Stake an der niedrigen Bordwand entlangführte. Vor ihm, in der Mitte des Bootes, lag auf der einzigen Bank ein hanffarbener Haufen; ein maschiges Gewirr, in dem es ab und zu silbrig aufblitzte.

„Ein Fischer“, flüsterte Konrad. „Und ein Boot. – Was meinst du, sollen wir es wagen und ihn anrufen? Wenn es ein Leibeigener ist wie wir, wird er uns vielleicht helfen.“

Wiederum bewies Mariann ihre Unerschrockenheit. Sie nickte und richtete sich auf. „He!“, rief sie gerade so laut über das Wasser hin, dass der Mann im Boot sie hören konnte.

Der Fischer schien nicht einmal überrascht. Er warf lediglich einen kurzen Blick auf Mariann, deren Leib bis zur Brust vom Schilf verdeckt war, nickte, als neben ihr Konrads Oberkörper auftauchte, und stemmte die Stake mit einer eleganten Bewegung stärker gegen den Zillenrand. Das flache Boot beschrieb einen leichten Bogen und trieb dann direkt auf das Uferstück zu, wo Mariann und Konrad warteten. Sie traten wieder aus dem Schilf heraus und gingen bis dorthin, wo das Wasser den Uferschlamm leckte. Wenig später lief auch die Zille mit dem flachen Bug im Schlamm auf, drehte sich gemächlich in der Strömung und legte sich schließlich längs ans Ufer.

Der Fischer blieb im Boot, hielt es mit Hilfe der Stake an Ort und Stelle und musterte die beiden jungen Menschen. Er trug nichts als einen zerschlissenen, rupfenfarbenen Leinenkittel, an dem getrocknete Fischschuppen klebten. Die nackten Füße, die auf dem Bootsboden wurzelten, waren von dicken Adersträngen gezeichnet und – ebenso wie Arme und Gesicht – von der Sonne verbrannt und vom Wind gegerbt. Ein dunkler Bart, schon von weißen Fäden durchzogen, wucherte dem Mann über Wangen, Kinn und Hals und gab ihm ein grimmiges Aussehen. Doch die Augen des Fischers blickten klar und blau, und es lag kein Misstrauen in ihnen, eher eine Art von kindlicher Unschuld; dazu etwas von stiller, in sich ruhender Weisheit.

Sein Blick glitt von Mariann zu Konrad und wieder zurück, dann sagte er leise: „Ihr habt mich gerufen. Was kann ich für euch tun?“

„Wir suchen einen, der uns über den Strom bringt und später nicht darüber redet“, antwortete Konrad, ebenfalls leise – und sich mit diesem einen Satz dem Fischer ganz und gar ausliefernd. Aber er vertraute diesen kindlichen blauen Augen.

„Tu es um der Muttergottes willen“, setzte Mariann hinzu.

Der Fischer nickte. „Steigt ein“, sagte er.

Er drückte die Stake fester gegen die Bordwand, während Mariann und Konrad in die Zille kletterten und sich auf den wasserüberschwappten Holzboden kauerten. Als sie Halt gefunden hatten, hob er die Stake über ihre Köpfe hinweg und stemmte sie in den Uferschlick. Schmatzend löste sich der Bootskörper vom Schlamm, und die Zille glitt in einem sanften Bogen auf den Strom hinaus.

Sie kamen an einer erlenbestandenen Landzunge vorbei, und erst, als die Bäume sie gegen die Sicht vom Natternberger Ufer her schützten, redete der Fischer wieder: „Ich bin von Metten, ein Leibeigener des Klosters. Ehe es Tag wurde, bin ich dort losgefahren, um Barben zu fangen. Kurz zuvor traf ein Bote des Natternburgers im Kloster ein und meldete, dass diese Nacht ein Knecht des Ritters erschlagen wurde. Der Natternburger hat befohlen, dass die Mettener Fähre Tag und Nacht bewacht werden muss. Er sagt, der muss hängen, der den Knecht getötet hat.“ Er blickte Konrad an. „Du bist es gewesen, nicht wahr?“

Konrad wurde blass, ebenso Mariann. Aber dann rief die junge Frau erregt: „Der Natternburger wollte mich auf sein Lotterbett schleppen lassen. Er verlangte das von mir, was nur meinem Ehemann gehört. Ich bin stolz auf Konrad, weil er den Büttel umgebracht hat. Ich weiß, das ist eine Sünde, aber ich kann’s nicht anders sagen. Und jetzt kannst du uns an den Ritter oder das Kloster ausliefern, wenn du es übers Herz bringst, Fischer.“

Etwas wie der kaum sichtbare Schein eines Lächelns glitt über das verwitterte Gesicht des Metteners. „Ich bringe euch ans andere Stromufer, doch dort seid ihr noch lange nicht in Sicherheit“, sagte er. „Denn drüben sitzt der Ecker Freiherr auf seiner Burg, und auch nachher noch gibt’s Festungen der Degenberger und der Nußburger. Die Boten des Natternburgers sind bestimmt längst unterwegs, und alle diese Adelsherren werden zusammenhelfen, um euch zu jagen und zu packen und zuletzt an den Galgen zu bringen. Wird eine große Jagd anheben im Donaugäu und in den Waldbergen. Dürft nicht einem jeden trauen. Und wenn, dann nur den armen Leuten wie mir.“

„Wir danken dir“, sagte Mariann mit zuckenden Lippen.

„Müsst euch möglichst überhaupt vor den Menschen verbergen“, fuhr der Fischer fort. „Müsst euch durch das Waldgebirge schleichen, so weit es von den Rittern und Klöstern gereuthet ist. Solange ihr noch einen ausgeschlagenen Fleck am Horizont seht, dürft ihr euch nicht sicher fühlen. Erst dann, wenn es nichts mehr um euch gibt als nur den Wald und den Wald ganz allein, dann befindet ihr euch in freiem Land, in dem nicht einmal der Herzog etwas zu sagen hat. Aber das wird auch ein wildes Land sein, das vielleicht noch keines Menschen Fuß betreten hat und von dem viele abends am Herdfeuer nur ängstlich zu flüstern wagen. Bär, Wolf und Luchs herrschen dort und die Waldgeister …“

Der Fischer hatte die Zille nun beinahe an das andere Ufer gebracht und schickte sich schon zur Landung an, aber als er Marianns erschrockenes Gesicht sah, fügte er noch hinzu: „Ich sage euch das nicht, um euch noch mehr Angst einzujagen, als ihr eh schon habt. Ich sag’s euch, weil ihr’s wissen müsst. Wer nicht weiß, was ihn im tiefen Waldgebirge, dem bohemischen Land zu, erwartet, der kann sich nicht wappnen gegen die vielfältigen Gefahren. Der geht zugrunde, der überlebt vielleicht keinen einzigen Tag. Deshalb hab’ ich’s euch gesagt, denn ich wünsche euch, dass ihr lebt. Denn ich hätte den Burgknecht auch erschlagen, wenn er mir über mein liebes Weib gekommen wäre. – So, und da sind wir nun auf dem Deckendorfer Ufer …“

Geschickt trieb der Fischer die Zille in einen dichten Schilfgürtel, der sie vor neugierigen Blicken schützte. Aber sie selbst konnten das Land, das sich, zuerst noch flach, dann hügelig und dicht bewaldet, vor ihnen ausbreitete, gut erkennen. Der Wald lag dunkel und morgendunstig über den wippenden Spitzen der Binsenlanzen, und an einer Stelle stieg der dünne Rauchfaden eines Kohlenmeilers in den zartgrauen Himmel. Ein wenig weiter rechts, noch im Donautal, war die herzogliche Stadt Deckendorf zu erkennen, umkränzt von einem gedrungenen Mauerring, über dessen Zinnen sich die steilen Giebel der Bürgerhäuser erhoben.

Mariann und Konrad schickten sich an, ans Ufer zu steigen, doch der Fischer hielt sie noch zurück. „Wagt euch auf keinen Fall in die Stadt“, warnte er. „Schleicht euch linker Hand an Deckendorf vorbei und versucht so schnell als möglich den dichten Wald zu gewinnen. Und dann wandert nach Norden – immer weiter nach Norden.“

„Wir werden dir nie vergessen, was du für uns getan hast“, antwortete Mariann und strich sich das rabenschwarze Haar an den Schläfen zurück. „Sag uns deinen Namen noch, damit wir stets an dich denken können.“

„Ulf heiße ich“, versetzte der Bärtige. „Und nun geht mit Gott. Ich muss zurück auf den Strom, denn heute Mittag will der Mettener Abt frische Barben auf seiner Tafel sehen, und wenn ich sie ihm nicht bringe, straft er mich hart. – Ja, es ist ein Kreuz mit den Mächtigen. Sie schinden uns arme Leute, wo sie nur können.“ Ein wehes Lächeln glitt über sein Gesicht, als er Konrad die schwielige Hand auf die Schulter legte und hinzufügte: „Aber ihr geht in die Freiheit – wenn ihr nur am Leben bleibt. Und wenn ihr es schafft, euch im tiefen Wald festzusetzen, dann wird es keinen Ritter mehr für euch geben und keinen Abt, die euch das Blut aus dem Leib saugen. Habt auch nicht zu viel Angst in den Wäldern, denn ich sage euch: Bär und Wolf können nicht so grausam sein wie die adligen und kirchlichen Herren …“

Konrad fasste die Hand Ulfs und drückte sie kräftig, ohne jedoch zu antworten. Aber er und Mariann wussten jetzt, warum der Klosterfischer ihnen geholfen hatte, obwohl er dabei sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Die Herren konnten ihren Leibeigenen das Schmalz vom Brot und die letzte Sau aus dem Koben stehlen, aber gegen den Anstand der kleinen Leute und die simple Nächstenliebe, die sie untereinander pflegten, konnten sie nichts ausrichten. Und als er das begriff, da fühlte Konrad sich zum ersten Mal seit der Flucht aus Stauff nicht mehr verloren; ja, er fühlte sich jetzt sogar auf eine unbestimmte Weise sicher und geborgen.

Er ließ die Hand Ulfs los und legte seinen Arm um Marianns Schultern. „Komm“, sagte er zu seinem jungen Weib. „Wir müssen gehen.“ Er half Mariann an Land und sprang selbst nach, und im gleichen Augenblick drückte der Fischer die Zille, ohne noch ein Wort zu sagen, zurück in den Strom. Das Schilf schlug über dem Heck des Kahns zusammen. Konrad und Mariann wollten sich schon abwenden, doch da kam etwas in hohem Bogen über die Binsen geflogen und landete direkt vor Marianns Füßen. Die junge Frau bückte sich und hob den Gegenstand auf, um ihn dann Konrad zu zeigen.

„Gott segne den Fischer“, murmelte der Landflüchtige.

Denn Ulf hatte ihnen zum Abschied sein eigenes Roggenbrot geschenkt …

Sie kauten heißhungrig das dunkle Brot, während sie sich durch den Auwald schlugen. Das einfache Mahl, das sie im Gehen einnahmen, das ihnen sämig die Kehlen labte, gab ihnen schnell neue Kraft. Und es war keine halbe Stunde vergangen, da lag die Stadt bereits schräg hinter ihnen, und vor ihnen hob sich das Land aus dem Stromtal, bildete die ersten Hügel und warf aus dem Vorgebirge ein zweites Gebirge auf, das von einem Pelz riesiger, mooszottiger Bäume bedeckt war. Sie drangen ein in den mächtigen Wald und suchten sich ihren Weg bergauf. Die Luft war hier ganz anders als unten im Donautal: reiner und frischer, und jeder Atemzug prickelte den Flüchtigen belebend in den Lungen. Das Grün des Laubs schien Marianns und Konrads Glieder kühl zu umschmeicheln; der Wald empfing sie freundlich, doch die Erde machte es ihnen auch hart.

Der Aufstieg wurde mühsamer und mühsamer. Es gab Mulden im Waldboden, in denen das fallende Herbstlaub hundert Jahre oder länger verrottet war. In solche Löcher konnten Konrad und Mariann bis zu den Hüften oder tiefer einsinken und mussten sich wieder auf festen Boden schaufeln. An anderen Stellen verbargen sich kantige Felstrümmer unter dem Laub und prellten und rissen ihnen die Knöchel. Manchmal versperrten riesige Findlinge den Weg ganz, und dann mussten sie, sich gegenseitig stützend, über den moosglitschigen Granit klettern, während Käfer und Asseln, die in den Gesteinsritzen hausten, erschrocken flüchteten. Zweige peitschten ihnen in die Gesichter, Staunzen saugten ihnen die nackte Haut blutig, aber unverdrossen drangen sie weiter vor. Sie rasteten nicht, bis die Sonne direkt über ihren Köpfen stand und ihre Strahlen senkrecht durch das zitternde Laub der Rüstern und Buchen flirrten und die Tannennadeln geheimnisvoll aufleuchten ließen.

Erst dann warf sich Mariann erschöpft zu Füßen eines Granitklotzes ins Moos, umklammerte kauernd ihre nackten, zerschundenen Füße und sagte: „Jetzt kann ich nicht mehr.“

„Ja, du musst ausruhen und etwas gegen Hunger und Durst tun“, antwortete Konrad. „Warte. Ich bin bald zurück.“

Mariann streckte sich mit geschlossenen Augen auf dem Moos aus. Konrad verschwand seitwärts unter den Bäumen.

Doch schon nach wenigen Minuten war er wieder da. Er hatte seinen Kittel ausgezogen und trug ihn nun als unförmig geschwollenes Bündel um den Hals. In beiden Händen hielt er vorsichtig einen riesigen Baumschwamm, den gemuldeten Trichter nach oben, den er nun neben Mariann niedersetzte. Die junge Frau, die sich etwas erholt hatte, schlug die Augen auf. Sie weiteten sich entzückt, als sie das frische Quellwasser erblickte, das Konrad in dem Baumschwamm herangebracht hatte.

„Für dich“, sagte der junge Mann liebevoll. „Trink, es wird dir guttun.“

Dankbar schlürfte Mariann das eiskalte Wasser. Sie lebte dabei augenblicklich wieder auf. „Und was hast du da in deinem Kittel?“, fragte sie neugierig.

Lachend schlug Konrad das Bündel auseinander und schüttete seinen Inhalt auf den Moosteppich. Es waren braune Maronen und edle hellere Herrenpilze, buttergelbe Rehgeißen und Birkenpilze mit samtigen Kappen; dazwischen leuchteten Waldhimbeeren, drei oder vier gute Hände voll.

„Wir brauchen vorerst nicht zu verhungern“, sagte Konrad fröhlich. „Der Wald sorgt für uns. Er ist freundlich, nicht so, wie der Fischer gesagt hat. Pilze und Beeren gibt’s im Überfluss, und Wasser wie dieses haben wir in Stauff nie getrunken.“

Begeistert fuhr er fort: „Ich habe an der Quelle dort drüben auch Wildfährten entdeckt, von Hase, Reh und Sau. – Aber jetzt iss und trink. Ich kann noch mehr holen, wenn dir das hier nicht auslangt.“

Mariann ließ sich nicht lange bitten, sondern griff hungrig zu, und Konrad folgte ihrem Beispiel. Sie verschlangen die würzigen Pilze roh und süßten sie sich mit den saftigen Beeren. Als ihr Hunger gestillt war, wurden sie übermütig. Konrad hielt Marianns Kopf in seinem Schoß und fütterte sie mit den letzten Himbeeren. Sie wehrte sich zum Schein; ihr Mund war vom blutroten Saft verschmiert, aber sie lachte, und ihre Augen und Zähne blitzten.

Und dann geschah es, dass Marianns Augen dunkel wurden, nicht mehr lustig strahlten, sondern verschleiert zu glänzen begannen wie Waldseen. Sie schlang ihre zerstochenen und zerkratzten Arme um Konrads Nacken und zog den Mann zu sich hinunter auf das duftige Moosbett. In einem wilden Kuss zerquetschten sie die letzte Himbeere zwischen ihren hungrigen Lippen – aber das merkten sie schon nicht mehr, denn jetzt gab es nur noch sie beide, und sie wurden eins, und der Moosteppich zu Füßen des Granitklotzes ersetzte ihnen schließlich im hellen Sonnenlicht das Hochzeitsbett, das man ihnen in der Nacht zuvor geraubt hatte …

Als Mariann und Konrad wieder klar denken konnten, stand die Sonne tief und leuchtete schon rötlich zwischen den Stämmen der Baumriesen.

„Wir müssen weiter“, murmelte Konrad. „Die Schergen des Natternburgers …“

Aber Mariann legte ihm die Hand auf den Mund, brachte ihn so zum Verstummen und sagte: „Heute Nacht wollen wir hierbleiben. Das Moospolster da ist zu unserem Hochzeitsbett geworden, und der Felsklotz hat uns beschirmt. Es wird uns nichts geschehen, auch wenn wir noch nicht weit von der Donau weg sind. Ich weiß es!“

Da konnte Konrad nicht widersprechen, und es wäre ihm ja auch selbst schwergefallen, gerade diesen Platz so schnell wieder zu verlassen. Also richtete er sich träge auf und sagte nur noch: „Dann werde ich noch einmal Beeren und Pilze sammeln, ehe die Nacht einbricht. Und du kannst inzwischen Tannenzweige suchen für unser Bett. Morgen aber, bei Sonnenaufgang, müssen wir weiter.“

Sie hielten ihr Nachtmahl, als die Sonne eben sank, dann streckten sie sich unter den Tannenzweigen aus, die Mariann gesammelt hatte. Sie hielten sich aneinander fest, denn in der Dunkelheit wurde der Wald auf geheimnisvolle Weise lebendig. Es rauschte, flatterte und zischelte im Gezweig und im Geäst; sie hörten den klagenden Schrei des Uhus, das schwere Flattern von Eulen, die neugierig heran- und wieder abstrichen, und einmal – allerdings in der Ferne – das giftige Fauchen eines Luchses. Und so begannen sie zu ahnen, wie der Wald wirklich war: Dass er Geborgenheit und Nahrung bot, aber auch Gefahren und Furcht in seinen unendlichen Tiefen drohten. Ein Quell mochte kristallklar und voller Lebenslust über Moospolster rieseln, aber es gab auch das Raubtier, das um diese Quelle schlich. Und damit würden Mariann und Konrad nun leben müssen: mit der Schönheit und mit der Bedrohung gleichermaßen.