Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Der Amerikaner, der dicht neben mir am Rande der vollbesetzten Stuhlreihen stand, klatschte, so laut er konnte. Vielleicht war er wirklich begeistert, vielleicht wollte er aber auch nur akustisch den bizarren Umstand übertünchen, dass der Applaus für den Redner, der keine zehn Meter vor uns auf der Bühne stand, nicht mal mehr höflich ausfiel. Aber so laut mein Nachbar auch jedes Mal klatschte, wenn sich eine entsprechende Gelegenheit dazu bot, es konnte die mitunter fast schon gespenstische Zurückhaltung im Großen Saal des Hotels »Bayerischer Hof« nicht ausgleichen. Zwar redete dort gerade der zweithöchste Vertreter eines der wichtigsten Verbündeten Deutschlands und Europas vor der versammelten Münchner Sicherheitskonferenz 2019. Aber die entgeisterten Blicke, die sich viele im Saal zuwarfen, während US-Vizepräsident Mike Pence seine Sicht der Dinge vortrug, sprachen Bände.

Diese Stimmung stand im starken Kontrast zu jener, die kurz zuvor noch im Saal geherrscht hatte, als Bundeskanzlerin Angela Merkel eine ihrer wohl leidenschaftlichsten außenpolitischen Reden hielt – was viele am Schluss sogar zu standing ovations aus ihren Stühlen gerissen hatte. Merkel hatte gelöst gewirkt, engagiert, so, als wolle sie noch mal »einen raushauen«, lautete das erstaunte allgemeine Credo auf den Gängen während der anschließenden Kaffeepause. Die Rede war eine außenpolitische Tour d’Horizon gewesen, in der Merkel fast alle aktuellen Problemfelder abhakte: von der Beziehung zu Russland, dem Streit um die Nord Stream 2-Pipeline, die Lage in der Ukraine bis zu den Handelskonflikten mit China, der Entwicklungshilfe in Afrika oder der Debatte um Rüstungsausgaben in der NATO. Auch die USA nahm sich Merkel überraschend deutlich zur Brust: Selbstbewusst zählte sie auf, was Deutschland alles leiste und bei welchen Missionen es Verantwortung übernehme, kritisierte den einseitigen Ausstieg aus dem Atom-Abkommen mit dem Iran und machte sich, zur allgemeinen Erheiterung, über die Einschätzung der Trump-Regierung lustig, deutsche Autos stellten eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA dar. Und sie lieferte ein klares Plädoyer für Zusammenarbeit und Multilateralismus, der nicht »immer toll, sondern schwierig, langsam und kompliziert« sei, aber besser als die simple Ansicht, »alle Dinge allein lösen zu können«.

Ganz anders dagegen dann Mike Pence, der sich zunächst gar nicht ans Publikum zu richten schien, sondern an seinen Boss in Washington. Jedenfalls überbot er sich in Huldigungen an Donald Trump, diesen »Champion der Freiheit«, unter dessen Präsidentschaft »Amerika die freie Welt einmal mehr anführt«. Mit stoischer, fast regungsloser Miene kritisierte Pence die EU scharf für ihr Festhalten am Atom-Abkommen mit dem Iran. Er postulierte einen kompromisslosen Führungsanspruch der USA im Wettbewerb der Nationalstaaten und forderte warnend Gefolgschaft ein: »Wir können nicht die Verteidigung des Westens sicherstellen, wenn unsere Verbündeten sich vom Osten abhängig machen.«

Dies mag dem Claqueur neben mir gefallen haben, ansonsten aber herrschte hauptsächlich Stirnrunzeln im Publikum. Hatte da wirklich gerade der amerikanische Vizepräsident, der zwei Jahre zuvor an selber Stelle noch die Bedeutung der NATO unterstrichen hatte, die jahrzehntelange Unverbrüchlichkeit dieses Bündnisses an Bedingungen geknüpft?

Einen deutlicheren Beweis für das derzeitige Missverhältnis zwischen den USA und uns Europäern als den Unterschied zwischen diesen beiden Auftritten hätte es wohl kaum geben können. Oder, wie es Thomas Wright in seinem am 19. Februar 2019 im Magazin The Atlantic erschienenen Artikel The Moment the Transatlantic Charade Ended zuspitzte: »Europa und die Regierung Trump haben aufgehört, so zu tun, als würden sie einander respektieren. Zwei Jahre lang haben wir eine transatlantische Scharade erlebt. Jeder wusste, es gibt Probleme, aber öffentlich beteuerten alle, alles sei im Grunde wie früher. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz (…) war Schluss mit dieser Farce.«

Keine Frage, das transatlantische Verhältnis steckt in einer Krise. Statt sich zusammenzuraufen und gemeinsam Antworten zu suchen auf die Herausforderungen, die der Aufstieg nationalistischer und autoritärer Strömungen weltweit darstellt, und statt gemeinsame Wege im Umgang mit Russland oder China zu finden, wächst das Misstrauen. Trumps impulsives Agieren in der Außenpolitik hat die Karten neu gemischt. Die Weltordnung, die die USA im 20. Jahrhundert so entscheidend geprägt haben – wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch –, löst sich auf. Fundamentale Pfeiler verschieben sich; vieles, was Jahrzehnte verlässlich war, gilt plötzlich nicht mehr. Wie nachhaltig und fundamental diese Veränderung ist, wird sich erst nach Trumps Präsidentschaft zeigen. Aber nach mehr als der Hälfte seiner ersten Amtszeit zeigt sich bereits eine ganze Reihe von Schäden, die mehr als nur oberflächliche Kratzer darstellen.

Gleichzeitig hat Trumps unkonventionelle Art aber auch Bewegung in bestimmte Themenfelder gebracht. Auch wenn der zweite Gipfel mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong-Un ergebnislos und vorzeitig zu Ende ging, immerhin findet ein Dialog statt. Die permanente Forderung nach höheren Verteidigungsausgaben an die NATO-Partner mag nervig sein, führt aber zu notwendigen Investitionen, die bei uns allein schon für die grundsätzliche Einsatzbereitschaft der Bundeswehr dringend geboten sind. Und sich aufgrund der Veränderung im transatlantischen Verhältnis mehr Gedanken über die eigene Verantwortung, über unsere Rolle in der Welt machen zu müssen, muss auch nicht das Schlechteste sein.

Hinzu kommt: Aus Sicht der konservativen, republikanischen Basis in den USA, auf die allein Trump ja seine komplette Politik auszurichten scheint, ist diese Präsidentschaft bislang alles andere als desolat verlaufen. Die US-Wirtschaft boomt, der Aktienmarkt verzeichnet Rekordstände, die größte Steuerreform seit Jahrzehnten ist durch den Kongress, bereits zwei konservative Richter sind auf Lebzeiten im Supreme Court nachbesetzt worden. Trump mag landesweit so niedrige Zustimmungswerte haben wie kaum einer seiner Vorgänger, unter den Republikanern aber liegen sie mittlerweile bei fast neunzig Prozent, wie das Gallup-Institut im Februar 2019 angab.

Zwar regt sich der Widerstand im liberalen, demokratischen Lager – die Rückeroberung der Mehrheit im Repräsentantenhaus bei den Mid-Term-Kongress-Wahlen 2018 und die ungewöhnlich frühe Positionierung so vieler Präsidentschaftsbewerber, vor allem so vieler Frauen, sind die deutlichsten Anzeichen dafür. Und wer weiß, was die Ermittlungen des Sonderbeauftragten Robert Mueller noch bewirken werden. Dennoch sehe ich die Chancen für Donald Trumps Wiederwahl 2020 höher als jene für eine Abwahl. Warum das so ist und was diese Präsidentschaft längerfristig mit der amerikanischen Gesellschaft und Politik macht, welche Stimmung in der Hauptstadt Washington einerseits und im Land andererseits herrscht, darum geht es in diesem Buch. Und darum, welche Folgen das alles für uns in Deutschland und Europa hat, welche Schlüsse wir daraus ziehen müssen. Natürlich ist es unmöglich, die ständigen, erratischen Wendungen und Entwicklungen dieser US-Regierung zu berücksichtigen. Selbst Tageszeitungen kommen da kaum mit. Aber die grundlegenden Auswirkungen, die Veränderungen, die Gründe für Spaltung und Konfrontation lassen sich klar und losgelöst von den neuesten Ereignissen nachzeichnen. Deshalb bleibt auch diese Taschenbuchausgabe von Anderland so aktuell. Weil sie versucht zu verstehen, was da grundsätzlich auf der anderen Seite des Atlantiks gerade passiert, ohne dass die Leserinnen und Leser Verständnis dafür entwickeln müssen. In diesem Sinne wünsche ich spannende Lektüre.