My Unfair Lady
Erste Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 2017 by
Lektora GmbH
Karlstraße 56
33098 Paderborn
Tel.: 05251 6886809
Fax: 05251 6886815
www.lektora.de
Covermotiv: Simon Höfer
Covermontage: Simon Höfer
Lektorat: Lektora GmbH
Layout Inhalt: Lektora GmbH, Denise Bretz
eISBN: 978-3-95461-116-4
1.Der Himmel unter Berlin
2.Der letzte Schrei
3.Kaffee Schwarz-Weiß
4.Modern Stalking
5.Wie ab er geht
6.Papageien
7.Raben
8.Das Bild
9.Mutter Natur
10. Heimkehr
11. Das Wissen der Narzissen
12. Paradiesvogel im Sinkflug
13. Date mit Gerät
14. Gatecrash
15. Der Name der Rose
16. Offenbarungsneid
17. Die Dornen der Rose
18. Annahmen und Festnahmen
19. Sorry, not sorry
20. Bienenstich und Scooter
Um exakt sechs Uhr morgens passierte etwas direkt neben seinem Kopf.
Eine kalt glänzende Zylinderfeder drehte sich gerade so weit, dass ein winziger Metallstift in die Kerbe einer Krone rutschte und eine Blattfeder nach oben schob. Auf diese Weise kam der Klöppel frei und schlug wie ein Berserker auf zwei kleine Glocken ein. Um nicht zu sagen: Ein Wecker klingelte.
Ruckartig schreckte Ian Günter aus seinem Schlaf hoch und mit derselben Handbewegung wie jeden Morgen schaltete er den Wecker aus, der sich sofort wieder beruhigte. Sieben Stunden Schlaf, so hatte Ian gelesen, sind ein guter Durchschnittswert für einen Erwachsenen. Also schlief er fortan immer sieben Stunden, jede Nacht.
Außer heute.
Heute waren es nicht mal drei geworden.
Am Vorabend war das Finale der Dartweltmeisterschaft übertragen worden und Ian hatte sich mithilfe eines Energydrinks in neonheller Dose bis ganz zum Schluss um kurz nach Mitternacht wachhalten können. Bis dahin war er aber so voller Zucker, Koffein und Adrenalin, dass er danach noch stundenlang wach lag und in seinem Bett steckte wie ein Pfeil in der Wand neben der Dartscheibe.
Jetzt war es plötzlich schon Morgen, behauptete der Wecker zumindest.
Vor dem Fenster hing ganz reguläres Wetter für diese Jahreszeit, in einer für diesen Stadtteil Berlins derart normalen Straße, dass die Spatzen vor Langeweile scharenweise von den Regenrinnen fielen.
Ian streckte sich unter der Bettdecke ein letztes Mal, bis er die Form seines Anfangsbuchstabens erreicht hatte. Das »I« in seinem Vornamen wurde allerdings wie ein »J« gesprochen und dieses »J« war der Haken an der Sache.
Ian hatte nie den Moment gefunden, seine Mutter zu fragen, warum man ihn nicht gleich Jan genannt hat. Es war fast, als hätten seine Namensgeber gewollt, dass er sich sein Leben lang für seinen seltsamen Namen rechtfertigen musste.
Ian schüttelte den Gedanken ab und gähnte, wobei er sich die Hand vor den Mund hielt, obwohl er alleine lebte. Sein Gesicht war glatt wie frisch rasiert; er war die Sorte Mann, die drei Wochen brauchte, um sich einen Dreitagebart wachsen zu lassen. In der Schule war er deswegen gehänselt worden, besonders von Martin Hüser aus der Parallelklasse. Der hatte sich auch gerne einen Spaß daraus gemacht, auf dem Pausenhof Ians Namen falsch auszusprechen.
»Iiiiih-Aaaaan! Iiiiih-Aaaaan!«, hatte er gerufen und es wie das Geräusch eines Esels klingen lassen.
Dann hatte Martin Hüser immer lauthals über seinen eigenen Witz gelacht. Und ein paar der anderen Kinder auch. Im Prinzip viele der anderen Kinder. Also im Grunde die meisten der anderen Kinder. Genauer gesagt: alle, bis auf Ian.
Das war lange her. Jetzt kam es Ian eher praktisch vor, sich nicht wie sein Großvater zweimal am Tag rasieren zu müssen. Und Martin Hüser hatte er schon hundert Jahre nicht mehr gesehen.
Zu den Dingen, die Ian Günter nicht mit Klassentreffen machte, zählten: Einladungen kriegen und hingehen.
Ian riss sich aus seinen verschlafenen Gedanken, setzte sich auf und ließ die Füße in die Hausschuhe aus Loden gleiten. Sein eierschalenweißer Pyjama mit blauen Knöpfen saß gerade und glatt. Nur an seinem leicht verstrubbelten Kurzhaarschnitt konnte man erahnen, dass er vor einer Minute noch geschlafen hatte.
Müde sah er sich um.
Sein gesamtes Schlafzimmer sah aus, als habe man es für das Fotoshooting eines Möbelhauses präpariert. Alle Möbel schienen mit dem Geodreieck ausgerichtet worden zu sein, selbst die Gesamtausgabe von Kishons Kurzgeschichten lag parallel zu den Kanten des Nachttischs.
Ian hatte das Buch von seinem besten Freund Mario geschenkt bekommen, der, wenn man es denn präziser sagen wollte, auch sein einziger Freund war.
Gelesen hatte er darin noch nicht, obwohl Mario ihm sehr ausführlich vom speziellen Humor des Autors berichtet hatte. Aber Mario wirkte auf Ian ohnehin immer sehr begeisterungsfähig. Von sich selbst sagte Ian, dass er keine Stimmungskanone sei, sondern eher eine Stimmungskartoffel.
Er stand auf, darauf achtend, den ersten Schritt mit dem rechten Fuß zu machen, und lief in die Küche. Wie jeden Tag hatte er Wasser, Filter und Kaffeepulver schon am Abend eingefüllt, so dass ein Knopfdruck reichte, um die Maschine zu starten.
Bis sein Kaffee fertig wäre, würden ziemlich genau sechs Minuten vergehen. Zeit genug, seine Morgentoilette zu verrichten und in den bereithängenden Nadelstreifenanzug zu schlüpfen. Geduscht wurde jeweils schon abends, um morgens Zeit zu sparen.
Beim letzten Zischen der Maschine stand er plangemäß wieder in der Küche, um sich den herb duftenden Kaffee in die schon wartende Tasse zu füllen. Zeit für das erste Lächeln des Tages. Zumindest bis er bemerkte, dass der Kaffee heute ziemlich dünn schmeckte. Die Mundwinkel rutschten vom Haken und glitten zu Boden.
Ein Blick in die Tasse bestätigte seinen Verdacht: heißes, klares Wasser.
Er musste gestern im Zuckerrausch das Kaffeepulver vergessen haben. Nach einem kurzen ratlosen Moment hängte Ian einen Beutel Kamillentee in die Tasse. Den mochte er eigentlich überhaupt nicht, sondern trank ihn nur, wenn er Bauchschmerzen hatte. Aber ein bisschen Strafe musste sein, befand er.
Ein ungetoastetes Toastbrot mit zuckerreduzierter Himbeermarmelade später war Ian im Wirtschaftsteil der FAZ versunken. Allein das Rascheln der Seiten erfüllte den schmalen Raum, ansonsten hing Stille neben den hellblauen Gardinen und über dem schwarz gerahmten Kindheitsfoto seiner Mutter.
Auch hier im Wohnzimmer war alles geometrisch angeordnet und nicht ein einziges Staubkorn zu finden. Da achtete Ian sehr genau drauf, seit er gelesen hatte, dass Hausstaub zu etwa 80 Prozent aus winzigen Hautpartikeln besteht, von denen ein Mensch pro Tag etwa zwei Gramm verliert. Menschliche Haut erneuert sich ständig und die abgestorbenen Zellen lösen sich und tanzen noch eine Weile im gelben Licht, das durch die Fenster fällt, bevor sie sich auf die Möbel und den Boden legen. Mit Feudeln, einem Handfeger und einem Kehrblech ging Ian jeden Abend gegen seine Haut vor und achtet tunlichst darauf, sich dabei nicht einzuatmen.
Um 6:37 Uhr fiel ihm das Brot aus der Hand, als er gerade einen interessanten Artikel über die schrumpfenden Exportzahlen Kanadas las. Wie es die ehernen Gesetze der Gravitation und des Pechs vorschreiben, drehte sich die Marmeladenseite nach unten und landete mit einem leisen Schmatzen auf Ians linkem Hosenbein.
Ian starrte einen Moment lang stumm auf das Unglück.
»Toll gemacht, Ian«, murmelte er schließlich und klopfte sich sarkastisch auf die Schulter. Privat duzte er sich, auch wenn er ein bisschen sauer auf sich war.
Ian legte die FAZ entgegen seinen Gewohnheiten ungefaltet in den Papiermüll und eilte ins Schlafzimmer, um den Zeitplan einzuhalten. Der Wechsel von Hose und passendem Jackett dauerte wenige Minuten, dafür wurde das Zähneputzen eingespart. Lieber als Ersatz ein Kaugummi auf dem Weg als Unpünktlichkeit, dachte Ian und merkte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte.
Um 6:47 Uhr stieg er in seine schwarzen Lederschuhe mit den dünnen Schnürsenkeln und dem milden, rauen Geruch, den er so mochte.
Zu den Dingen, die Ian Günter machte, wenn er alleine war, zählten: an seinen Schuhen riechen und sich hinterher dafür schämen. Wobei er nicht sagen konnte, vor wem.
Um 6:49 Uhr schloss Ian die Tür hinter sich, vier Minuten später als geplant. Die Zinken des Schlüssels griffen trotzdem perfekt in die Zylinder des Schlosses, zwei Umdrehungen des kalten Metalls zwischen seinen Fingern und die Wohnungstür war gesichert. Er atmete noch einmal tief ein und ging dann mit eiligen, aber vorsichtigen Schritten die Treppe runter.
Pro Jahr sterben in Deutschland über tausend Menschen bei Stürzen auf Treppen, hatte Ian gelesen. Das sind fast drei pro Tag. Und am unteren Ende der Treppe wartete ja auch noch die Außenwelt. Und sein Chef.
Seinem Chef Herrn Hagens traute Ian locker zu, dass er für vier Minuten Verspätung noch einmal die eigentlich seit dem Mittelalter eingemottete Streckbank aus dem Keller holte. Herr Hagens hätte sich sicher fantastisch mit Martin Hüser verstanden.
Luise trug eine halbvolle Bierdose der Marke Oettinger in der rechten Hand wie einen Staffelstab. Sie dachte gerade nicht so viel nach, sondern schwitzte lieber ein bisschen an den Oberschenkeln und unter den Achseln.
Zu den Dingen, die Luise nicht mit Alkohol machte, zählten: den Rausch bereuen und Desinfektionsmittel herstellen.
Auf der Rolltreppe griff Caro nach der Bierdose in Luises Hand und nahm einen großen Schluck. Caros Wollmütze fiel bei der schnellen Bewegung fast von ihrem Kopf, blieb aber an der sperrigen Fensterglasbrille hängen.
Aus ihrer Handtasche war der halblaute Refrain eines Elektro-Tracks zu hören. Caro hatte immer eine Bluetooth-Box dabei und reichlich Musik auf ihrem Smartphone, damit die Party nicht endet, wenn man den Club verlässt.
Zu den Dingen, die Caro nicht mit ihrem Smartphone machte, zählten: die Uhrzeit ablesen und ihrer Großmutter auf SMS antworten.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, fragte Caro Zwo, die hinter den beiden lief, da sie mit Jeans und Kapuzenpulli eher unauffällig gekleidet war.
»Stabil abwärts«, grinste Luise und zeigte die Rolltreppe hinab.
»Abwärts in den Arsch der Stadt.«
»Ich hab Hunger«, erwiderte Caro Zwo.
»Du hast immer Hunger, Chica.«
Das stimmte. Ansonsten hatte Caro Zwo nicht besonders viele Eigenschaften und obendrein hieß sie wie eine der beiden Frauen, die sie gerade auf der Tanzfläche kennengelernt hatte. Das passte ihr alles nicht so gut, was aber auch am Hunger und der nachlassenden Wirkung des MDMA liegen konnte. Insofern stellte sie sich auch nicht die Frage, woher Luise wissen wollte, dass sie immer Hunger hatte.
In der U-Bahn-Station roch es nach Rost und muffiger Feuchtigkeit von Wänden und Menschen. An den Wänden hingen großflächig und gut ausgeleuchtet Werbeplakate mit Fotos von schönen Menschen in glücklichen Situationen. In nüchternem Zustand kam es Luise immer zynisch vor, diese Bilder ausgerechnet in einer so runtergekommenen Umgebung auszuhängen. Und sie dann auch noch besser auszuleuchten als die Gehwege. Deutlicher konnte man kaum zeigen, dass hier die Produkte den Vorrang vor den Menschen hatten.
In betrunkenem Zustand war ihr das allerdings eher alles egal und sie fand die Plakate mit den unnatürlich grinsenden Models einfach nur auf eine absurde Weise witzig.
Caro griff tief in ihre Handtasche und holte nach einigem Suchen eine Papiertüte mit einer halben Bretzel hervor. Als sie diese ihrer Namensvetterin hinhielt, ließ sich Caro Zwo nicht zweimal bitten.
Zu den Dingen, die Caro Zwo beim Essen nicht machte, zählten: den Mund schließen und aufhören, wenn es genug war.
Inzwischen waren die drei am Gleis zwei zum Stillstand gekommen. Eine ältere Dame in einem Filzmantel und mit einer Handtasche aus Schlangenlederimitiat zog ihren Chihuahua näher zu sich. Luise streckte ihr die Zunge raus und klaute sich dann die Bierdose von Caro zurück. Die Dame schnalzte entrüstet mit der Zunge.
Luise hielt inne, mit Augen wie ein Ganzkörperscanner.
»Unverschämtheit, mich so anzustarren«, sagte die Dame, als ihr das Ganze nach einer Weile zu unangenehm wurde.
Luise nickte und schwenkte die Bierdose in Richtung der Frau.
»Du bist 61 Jahre alt, kommst gebürtig aus Stuttgart und bist verwitwet. Der Hund hat einen Frauennamen, vermutlich benannt nach einer Freundin, zu der du keinen Kontakt mehr hast.«
»Wie bitte?«
»Ich habe einen siebten Sinn für Spießer, weißte? Ich bin unter abgefuckten Spießern aufgewachsen, in Arnsberg, stabiles Sauerland. Ein Einschussloch am Arsch der Einöde. Da ist man spießig oder tot.«
Zu den Dingen, die Luise nicht machte, solange die Wirkung der Amphetamine vorhielt, zählten: Schlafen und Schweigen.
Die Dame wollte etwas erwidern, beschloss dann aber, ihren Schoßhund zu satteln und in den Sonnenaufgang zu reiten.
Luise nahm den letzten Schluck aus der Dose und wandte sich an die beiden Caros.
»Ich bin lange aus diesem Scheißsumpf raus, aber ich erkenne auf hundert Meter gegen den Wind, welche Sorte Spießer ich vor mir habe. Ich bin der Spießerflüsterer.«
Caro Zwo grinste kauend, sah sich mit einer schnellen Kopfbewegung um und fixierte dann einen Mann mit Föhnfrisur und akkurat gestutztem Bart im schmalen Gesicht. Er stand gut zwanzig Meter weiter und starrte auf sein Blackberry.
»Was ist mit dem?«, fragte sie mit vollem Mund.
Luise sah sich um.
»Der da? Der ist so langweilig, dass der Kakao zur Milch wird. Und die Milch dann zu Wasser. Vermutlich Buchhalter oder so. Hobby Fußball. Guckt er aber nur alleine, weil ihm die anderen Fans zu aufregend sind. Gegenüber seinen Kollegen behauptet er, sich für Golf zu interessieren, damit er seine Ruhe hat.«
Caro Zwo nickte anerkennend, Caro hingegen schüttelte den Kopf. Kombiniert man beides, ergibt sich eine Kreisbewegung. Doch Luise war mit ihrer Aufmerksamkeit schon wieder woanders und warf einen Blick auf die Uhr schräg über ihnen.
»Schon fast sieben, gleich.«
»Scheißegal«, mümmelte Caro Zwo an der Bretzel vorbei.
»Jetzt kann es weitergehen.«
Die anderen hörten sie nicht richtig, weil gerade die dunkelgelbe U-Bahn einrauschte wie eine metallische Mischung aus Lindwurm und Postauto. Luise trat einen Schritt zurück, weniger aus Angst, sondern um den Winkel zu verbessern, aus dem sie die einfahrende Bahn sehen konnte.
Als sie tatsächlich auf dem zweiten Wagen ein frisches Graffiti aus chromstrahlenden Buchstaben entdeckte, stieß sie Caro an. Sie hatte es allerdings schon selbst entdeckt und nickte ihr lächelnd zu.
Dass der Aktenkoffer auf der Sitzfläche neben ihm eine Grenzüberschreitung darstellte, war Ian durchaus bewusst. Es war ihm auch unangenehm, auf diese Art und Weise gegen die Konventionen des öffentlichen Nahverkehrs zu verstoßen. Allerdings verstieß der öffentliche Nahverkehr auch gegen seine Konventionen.
Das bestätigte sich beim Blick in die Runde der Mitreisenden. Sein Anzug musste sauber und seine Laune intakt bleiben und diese beiden Dinge waren eng miteinander verzahnt.
Da waren Kinder mit frechem Grinsen und schmutzigen Fingern. Mütter mit noch schmutzigeren Fingern. Geschäftsleute mit Kaffeebechern. Ein Straßenmusiker, bei dem die Finger noch das Sauberste waren. Touristen, die glücklich in ihre aufgefalteten Stadtpläne sabberten. Ein junger Mann mit einem kaum von seinem Kopf zu unterscheidenden Döner vorm Gesicht. Menschen auf halbem Weg zum Kompost.
Als die U-Bahn zum Halten kam, schob Ian den Ärmel seines Jacketts ein wenig hoch und sah auf seine Uhr.
6:55 Uhr.
Unmöglich, es noch rechtzeitig ins Büro zu schaffen. Vor allem, wenn die U-Bahn dauernd anhielt. Er sah aus dem Fenster gegen die rissige Wand des U-Bahn-Tunnels, vor der er sich transparent spiegelte, als läge sein Gesicht wie ein Seidentuch auf dem Schmutz.
Immer noch 6:55 Uhr.
Vielleicht war die Zeit ja stehengeblieben, dachte er. Und fragte sich sofort danach zwei Dinge gleichzeitig: Hatte er überhaupt eine Fahrkarte dabei und hatte er vorm Verlassen der Wohnung die Kaffeemaschine ausgemacht?
Ein Griff in die Innentasche des Jacketts beantwortete zumindest eine der beiden Fragen. Das weiche, glatte Plastik der Fahrkarte zwischen Zeigefinger und Daumen beruhigte Ian ein bisschen. Und dann fuhr die U-Bahn auch schon wieder los.
»So ein Unsinn«, tadelte er sich leise selbst für seine Ungeduld.
»Ich muss Mutter noch anrufen!«
Bevor er das Smartphone aus seinem Aktenkoffer holte, sah er noch einmal kurz auf seine Armbanduhr.
Und immer noch zeigte diese 6:55 Uhr.
Wenn die Zeit noch zehn Minuten stehenblieb, würde er es doch noch pünktlich ins Büro schaffen.
»… und da grapscht der mir voll an den Arsch!« schimpfte Luise zu Ende, nachdem sich die drei auf die nach alten Körpern muffelnden Polster eines freien Vierers in der U-Bahn geworfen hatten.
»Krass! Hast du dem Opfer eine geknallt?«, wollte Caro wissen.
Luise schüttelte den Kopf.
»Ich hab ihn geküsst.«
»Was?«
»Klar! Jetzt denkt er, er kann es sich erlauben. Die Nächste nietet ihn um. Kann ich mir noch eine drehen?«
Caro Zwo hatte die halbe Bretzel inzwischen aufgegessen und konnte sich wieder klarer äußern.
»Wir sind in der U-Bahn.«
»Na klar, Captain Obvious.«
»Ich meine nur … äh …«, zögerte Caro Zwo einen Moment, »wegen Rauchverbot.«
»Ist mir egal«, gab Luise zurück, »ich bin eine Prinzessin, ich darf alles, was bockt!«
»Bist du mit 24 nicht ein bisschen zu alt, um Prinzessin zu spielen?«, mischte sich die erste Caro ein.
»Bist du mit 22 nicht alt genug, die Fresse zu halten?«, gab Luise zurück und grinste breit. »Ich spiele keine Prinzessin, ich bin eine Prinzessin.«
Caro Zwo rümpfte die Nase, aber sie wusste, dass sie hier nichts ausrichten konnte, spätestens als Caro ihre selbstgestrickte Tabakhülle an Luise reichte.
»Hier, Eure Hoheit.«
»Pralle Party gerade«, schob sie nach.
»Gut, dass die Prinzessin dafür aus dem verwunschenen Schloss abgehauen ist.«
Luise sprach mit feierlichem Ton von sich selbst in der dritten Person.
»Und wenn eure Hütte ein verwunschenes Schloss ist, was ist denn dann dein Vater? Der fette König Baltasar?«
»Niemals! Der Typ ist ein psychopathisches Krokodil. Oder andersrum. Kannst du dir aussuchen.«
»Du bist auch so ein psychopathisches Krokodil.«
Luise grinste und drehte ihre Zigarette fertig, ohne Filter und wie immer in der Mitte etwas dicker als an den Enden. Aber Rauchen war ja kein Schönheitswettbewerb, wie sie zu sagen pflegte.
Sie wollte Caro den Tabak zurückreichen, aber Caro Zwo hob schüchtern die Hand, ein bisschen wie in der Schule. Luise reichte ihr den Tabak rüber. Caro Zwo fühlte, wie es von innen an das Gitter des Vogelkäfigs ihrer Rippen pochte, als sie sich mitten in der U-Bahn eine drehte. Wenn sie das beim nächsten Besuch ihren Eltern erzählen würde, fiele ihr Vater in Ohnmacht und ihre Mutter würde sich in eine Blumenvase verwandeln und vom Küchentisch fallen.
Luise schüttelte den Kopf.
»Ich gehe jedenfalls nicht zurück, da können die mich lange suchen, die Opfer.«
»Mutter? Ja, Mutter, ich bin’s. Was? Natürlich weiß ich, wie spät es ist.«
Ians Stimme überschlug sich ein bisschen, als wäre er mit 29 Jahren noch einmal in den Stimmbruch gekommen. An das Telefonieren in der Öffentlichkeit hat er sich nie gewöhnt und das hatte er auch nicht mehr vor. Er schaute auf seine Armbanduhr und gab dann seiner Mutter die Zeit durch.
»6:55 Uhr.«
Er erschrak vor seinen eigenen Worten, sah erneut auf die Uhr, aber die Worte seiner Mutter rissen ihn zurück ins Gespräch.
»Nein, nein!«, rief er, »ich wollte dich nicht wecken. Ja. Nein. Ich wollte fragen, ob ich heute Nachmittag einen Kuchen mitbringen soll?«
Ihre Antwort konnte er kaum verstehen, der Empfang hier in der U-Bahn war denkbar schlecht und so kamen ihre Worte nur abgehackt bei ihm an.
Zwei Sitzreihen weiter stubste Caro an den Oberarm von Luise und deutete mit einer Kopfbewegung rüber zu Ian. Luise und Caro Zwo blickten in seine Richtung.
»Nein, ob ich einen Kuchen mitbringen soll. Einen Kuchen!«, rief Ian nun noch etwas lauter, zunehmend verzweifelt gegen das Funkloch kämpfend.
Luise und die beiden Caros konnten sich ein Kichern nicht verkneifen. Das bemerkte Ian und wandte sich ab, um sich auf die Antwort seiner Mutter zu konzentrieren.
»Kuchen! Nein, keine Stufen! Kuchen, nicht Stufen! Kuchen! Nein, keinen Stufenkuchen! KUCHEN!«
Ian bemerkte, dass er sehr laut geworden war, und dämpfte seine Stimme.
»Nein, schon gut. Ich bring Kekse mit. Ja, ne, gut. Tschüss, Mutter.«
Ian atmete hörbar schwer aus und steckte das Smartphone wieder in seinen Koffer.
»Na, der ist auf jeden Fall ein Fall für die Spießerflüsterin«, kommentierte Caro Zwo.
»Guck doch mal, der Anzug alleine sieht aus, als ob er sich um die Rolle eines Grauen Herren bei Momo bewerben will.«
»Bei dem ist das nur Verkleidung«, entgegnete Luise todernst.
Caro sah Luise an, deren Zigarette inzwischen brennend in ihrem Mundwinkel steckte.
»Weil man das im Büro von ihm erwartet oder weil er eben glaubt, dass das dazugehört. Weil das eben alle so machen. Aber in buntem Gewand würde der sich hundert Mal wohler fühlen. Innendrin ist er nämlich kein Spießer, sondern ein bunter Vogel.«
»Der da? Der ist innendrin höchstens eine Steuererklärung«, entgegnete Caro.
»Quatsch. Der ist ein Papagei, ein fetter, bunter Papagei. Ich schwör, Schwesti.«
»Wie ist man denn ein Papagei innendrin? Wie soll das gehen?«, fragte Caro Zwo.
»Wie soll das gehen?«, wiederholte Luise.
»Keine Ahnung, vielleicht falsche Ernährung«, sagte Caro.
»Keine Ahnung, vielleicht falsche Ernährung«, wiederholte Luise.
»Ach, ihr seid doof«, grinste Caro Zwo und zog an ihrer Zigarette.
»Ach, ihr seid doof«, wiederholte Luise.
Caro schüttelte den Kopf und lenkte das Gespräch mit einem Blick zu Ian wieder auf ihn.
»Der ist so langweilig wie ein Briefmarkenalbum im Stau auf der A1. Wollen wir wetten?«
»Wetten? Worum?«
»Wenn ich Recht habe, kriege ich den Sweater.«
Luise sah an sich selbst runter. Sie liebte diesen Pullover mit dem Bild von Kate Moss mit aufgemaltem Schnurrbart und Caro wusste das.
»Und wenn ich Recht habe?«
»Wenn du mir beweist, dass der da nicht langweilig ist, dann … Dann lass ich mir ein Bild von deinem Unterarm auf meinen Unterarm tätowieren.«
»Im Ernst?«
»Klar.«
»Na gut, hol schon mal Tinte und Nadel raus, du Otto.«
Luise stand auf und ging langsam auf Ian zu.
Der sah kurz in ihre Richtung und wunderte sich, wandte sich aber schnell wieder ab. Aus der Drehung heraus warf er schon wieder einen Blick auf seine Uhr. Inzwischen waren zwei Minuten vergangen. Einerseits gut, denn er war nicht in ein Zeitloch gefallen, andererseits hieß das, dass er nun wohl doch zu spät kommen würde.
Und gleichzeitig mit seinem Job würde er dann auch noch seine Wohnung verlieren, die ja derweil wegen der vergessenen Kaffeemaschine vermutlich lichterloh in Flammen stand.
Wobei er eigentlich nie seine Kaffeemaschine auszumachen vergaß. Vielleicht war doch noch Hoffnung und er würde zumindest einen Ort haben, um arbeitslos zu sein.
»Wie spät ist es?«
Luises Stimme riss Ian aus seinen Gedanken. Er legte instinktiv seine Hand auf seinen Aktenkoffer und musterte sie kritisch.
Die junge Frau vor ihm trug auf dem Pullover das Bild eines androgynen Junkies mit aufgemaltem Bart. Sie selbst hatte sich offenbar mit Edding einen sehr ähnlichen Bart unter die Nase gemalt, entweder um so auszusehen wie der Zombie auf ihrem Shirt oder weil sie einfach so völlig bescheuert war.
Ein schneller Blick auf die Freundinnen der jungen Irren bestätigte den Eindruck. Eine hatte olivfarbene Haut und trug in einem geschlossenen Raum eine Wollmütze und eine riesige Brille mit schwarzem Rahmen. Die andere hatte keinerlei Eigenschaften.
»Hm?«, machte die junge Frau bekräftigend, »wie spät?«
»Zu spät«, entgegnete Ian schließlich.
Luise brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er da gesagt hatte.
»Wofür denn zu spät?«
»Für mich. Und für Sie anscheinend auch.«
»Was soll denn das heißen?«
Sie musste sich zusammenreißen, den Typen nicht gleich anzuschreien. Aber schließlich ging es ja um die Wette. Ian interpretierte ihr defensives Verhalten falsch und hatte das Gefühl, hier frei aufspielen zu können, ohne Gegenwind erwarten zu müssen.
»Es ist sieben Uhr morgens und Sie riechen wie der Raucherraum im Schnapsladen.«
Luise zog lautstark Luft durch die Nase ein und zuckte dann mit den Schultern. Bevor sie etwas antworten konnte, stand Ian auf und überragte sie jetzt um mehr als einen Kopf.
»Meine Station«, sagte er und konnte sich nicht verkneifen, auch noch hinzuzufügen: »Ein Glück.«
Luise blieb stehen wie bestellt und nicht abgeholt. Von der Seite hörte sie Caro lachen.
»Klassischer Fail, hm? Her mit Kate Moss!«
»Moment, ich bin noch nicht fertig.«
Als sie sich anschickte, ebenfalls die Bahn zu verlassen, hielt Caro Zwo sie am Ärmel fest.
»Vielleicht sollten wir ihn einfach in Ruhe lassen.«
Luise löste sich unsanft aus ihrem Griff.
»Du bist langweilig.«
Ihre Worte trafen Caro Zwo härter, als sie es wollte. Aber da gab es jetzt kein Zurück mehr. Luise wandte sich stattdessen nochmal an Caro.
»Ich rufe dich an.«
Dann eilte sie aus der U-Bahn-Tür, gerade noch rechtzeitig, bevor diese sich schloss und die Bahn mit den beiden Caros in den Gedärmen der Stadt verschwand.
Mit jedem Schritt schliffen sich weitere Spuren in den kurzgeschorenen, dunkelgrauen Teppich der siebten Etage. Mittlerweile erinnerte der Boden des Raumes an den Rasen eines Provinzfußballplatzes, dessen Platzwart die Motivations-CD falschrum eingelegt hatte. Vor dem Kopierraum und der kleinen Küche waren jeweils größere komplett abgewetzte Stellen. Dort mussten sich die Tore befinden, auf die hier gespielt wurde.
In der Luft lag eine Mischung aus Plastik und dem Geruch von überhitzten Druckerkartuschen, die auch die sanft brummende Klimaanlage niemals ganz wegatmen konnte.
Den Großteil der Etage füllte ein Großraumbüro mit 38 Arbeitsplätzen, im Halbkreis drum herum waren kleine Einzelbüros angeordnet, von denen wiederum das kleinste Ian Günter gehörte. Vor seinem Büro sah der Teppich fast wie neu aus.
Zu den Dingen, die Ian Günter mittwochs abends machte, wenn alle anderen schon im Feierabend waren, zählten: den Teppich in seinem Zimmerchen und vor seiner Tür heimlich mit Schaum ausbürsten und dabei den Geruch des Pflegemittels tief einatmen und genießen.
Doch bis zum Feierabend war es noch lang, Ian hatte gerade erst das Büro betreten und seinen Aktenkoffer auf seinem Schreibtisch aufgeklappt wie eine rechtwinklige Muschel. Als Perle lag ein schwarz eingebundener Ringbuchblock darin, den Ian hervorzog, während er sich auf den Schreibtischstuhl sinken ließ.
Er befeuchtete die Spitzen seines rechten Zeigefingers und begann, die Seiten an der oberen Ecke umzublättern.
»2011«, murmelte er für sich selbst, »wo sind die Zahlen für 2011?«
Er fand sie zwischen 2010 und 2012, was ihn ungemein beruhigte.
»Ah, hier … April, Mai, okay. 200 Pixel, schwarz. Keine große Überraschung.«
Nickend klappte er den Ringbuchblock wieder zu und legte ihn zurück in den Koffer. Er zog mit einer Handbewegung, die er so oft ausgeführt hatte, dass sie, ohne hinzusehen, mit maschineller Präzision erfolgte, seine linke obere Schreibtischschublade auf. Ian hätte seine Schreibtischschublade vermutlich mit verbundenen Augen im Handstand unter Wasser öffnen können, hatte sich aber nie bei »Wetten, dass …?!« beworben. Er hatte den Verdacht, es wäre die langweiligste Saalwette aller Zeiten geworden. Nicht alles, was man unter Wasser im Handstand machte, wurde dadurch aufregender Nervenkitzel, so wie es nur halbspannend war, wenn ein Mann in einem Käfig voller Tiger seine Steuererklärung präzise und gewissenhaft ausfüllen konnte. Was Ians zweite Idee für eine Wette gewesen wäre.
Die Schublade jedenfalls war bis zum Rand gefüllt mit schwarzen Filzstiften der Marke Droa, jeweils mit weißem, geriffeltem Deckel. 87 Stifte lagen dort, akkurat aufgereiht. Mit jedem von ihnen kam Ian im Schnitt zweieinhalb Arbeitstage aus. Die Stifte würden also fast ein ganzes Jahr reichen, wenn Ian den Urlaub, die Feiertage und die Wochenenden mit einrechnete.
Pro Jahr gab es in Deutschland über 600 Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang, eine Zahl, die Ian nicht mehr aus dem Kopf wollte. An einem Mangel an schwarzen Filzstiften würde er zumindest dieses Jahr nicht sterben.
Gerade als Ian sich einen dieser Stifte gegriffen hatte und den Deckel abziehen wollte, wobei er sich schon auf den Geruch freute, betrat sein direkter Vorgesetzter, Herr Hagens, sein Bürozimmerchen.
Er stellte drei kleine Farbeimer in blau, rot und gelb in die Ecke des Raumes, fein säuberlich aufeinandergestapelt. Dann wandte er sich langsam zu Ian.
»Sie waren heute schon wieder zu spät, Herr Günter.«
Das Auslassen der Grußformel war hier kein Zufall.
»Eine Minute«, entgegnete Ian nach einer Sekunde.
»Acht«, korrigierte Herr Hagens und pochte mit dem Finger auf seine Armbanduhr.
»Ist ja auch egal! Jede Minute ist eine Minute zu viel. Wir können uns keine Verzögerungen erlauben, wenn wir international konkurrenzfähig bleiben wollen. Und wir wollen international konkurrenzfähig bleiben. Verstehen Sie das, Herr Günter?«
»Ja.«
Herr Hagens hielt inne, lehnte sich etwas nach vorne und kniff seine Augen ein wenig zusammen. Die Antwort war ihm zu schnell gekommen. Er ließ in dieser Haltung zehn ganze Sekunden verstreichen, bevor er wieder etwas sagte.
»Sehr gut. Dann seien Sie in Zukunft pünktlich und erfüllen Sie Ihr Tagessoll. Sonst sitzen Sie schneller wieder an den Kundentelefonen, als Sie gucken können.«
Herr Hagens warf beim Sprechen einen Blick in den offenen Aktenkoffer.
»200 schwarze Pixel – das ist eine Menge! Da ist Disziplin gefragt, wenn man international konkurrenzfähig bleiben will! Die Zeiten ändern sich. Vor wenigen Jahren waren wir noch weltweit marktführend auf dem Sektor der schwarzen Pixel, aber die Konkurrenz wächst. Besonders international.
Es ist zu hören, dass die Kanadier einen Pixelstempel entwickeln wollen, der die Abläufe bei der Erstellung um 75 Prozent vereinfacht und um 80 Prozent beschleunigt.
Und das ist nicht alles! Die Chinesen haben eine Maschine entwickelt, die malt 50 Pixel pro Minute! Pro Minute! 50 Pixel! Pro …«
»Das ist viel …«, unterbrach ihn Ian vorsichtig.
»Das ist sogar sehr viel, Herr Günter! Also, wenn sie kein Chinesisch lernen wollen und auch weiterhin von den Gelben kein Schlangen- und Hundefleisch in der Kantine serviert haben wollen, dann an die Arbeit!«
»Ich mag Hunde.«
»Wie bitte?«
»Ich mag Hunde«, wiederholte Ian lauter.
»Na, dann wissen Sie ja, was zu tun ist.«
»Arbeiten?«
Sein Chef überhörte seinen Witz geflissentlich.
»Pünktlich sein, die Klappe halten und das Soll erfüllen! Ich will Resultate sehen!«
»Und was ist mit den Farbeimern?«, erkundigte sich Ian und deutete in die Ecke neben seiner Bürotür.
Herr Hagens folgte der Bewegung und sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich.
Er überspielte den Ärger über seinen eigenen Fehler mit einem professionellen Nicken.
»Ah ja, gut, dass Sie es sagen. Die habe ich zu einem sehr günstigen Preis erworben. Wenn Sie mit den 200 Pixeln fertig sind, können Sie die Farbeimer zusammenrühren?«
»Aber warum?«
»Um Schwarz herzustellen, Herr Günter. Das ist ja wohl logisch, wenn Sie sich mal ein bisschen um das Mitdenken bemühen würden. Die Farbe stammt aus dem Räumungsverkauf eines aufgelösten Kindergartens, die habe ich fast umsonst erworben. Auf diese Weise können wir sehr günstig neues Schwarz herstellen, mit dem wir dann die Filzstifte nachfüllen. Das ist viel günstiger, als neue Stifte von Droa zu beziehen. So bleiben wir hoffentlich noch länger international konkurrenzfähig. Und jetzt Schluss mit den Fragen! Ran ans Werk!«
Herr Hagens drehte sich auf dem Absatz um und verließ das kleine Büro von Ian so schnell, wie er gekommen war. Seinen zerkratzten, eisernen Rassismus gegenüber Chinesen schliff er an einer Kette um seinen Knöchel hinter sich her.
Einatmen, ausatmen.
Ian stand auf und malte ein schwarzes Quadrat auf ein weißes Plakat, das an einer Stellwand neben seinem Schreibtisch befestigt war. Dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk.
Er hatte einen Pixel geschaffen, aus dem Nichts heraus, als wäre sein Stift ein Zauberstab. Das waren die Momente, die er an seinem Job liebte und für die er bereit war, Herrn Hagens auszuhalten.
Aber mit einem Pixel war es nicht getan.
»Noch 199.«
Er machte einen Schritt vor und hob den Stift. Mitten in der Bewegung zögerte er.
Würde ihm der nächste Pixel genauso gut gelingen? Stieg statistisch gesehen nach einem gelungenen Pixel nicht die Wahrscheinlichkeit, dass ihm der nächste misslang? Schließlich machte jeder irgendwann mal einen Fehler. Selbst ein Roboter kann mal Spannungsschwankungen oder einen ausgefallenen Akku haben. Und er war nicht mal ein Roboter.
»Was machst du da?«, fragte Luise.
»Ich male schwarze Pixel«, antwortete Ian.
Er setzte den Stift und das Geodreieck mit eingelassener Wasserwaage an und zog die obere Linie für den Rahmen, gegen den Uhrzeigersinn. Dann zog er eine zweite Linie im exakten rechten Winkel dazu abwärts. Als er das Quadrat vollendet hatte, malte er es mit drei exakt senkrechten Linien aus.
Das sah doch ganz ordentlich aus, dachte er bei einem Schritt zurück. Ohne seinen Blick von der Stellwand zu nehmen, griff er nach der Teetasse auf seinem Schreibtisch – und erschrak.
Er stellte die Teetasse wieder ab und drehte sich ganz langsam herum.
Da stand die junge Frau aus der U-Bahn, mitten in seinem Büro. Und lächelte ihn freundlich an, als wäre es das Normalste der Welt, einem Fremden aus der U-Bahn bis zu seiner Arbeitsstelle zu folgen. Ians Herzschlag überschlug sich und er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
»Was machen Sie hier in meinem Büro?«
»Das könnte ich dich auch fragen. Wer braucht denn bitte schwarze Pickel?«
»Das sind keine Pickel, das sind…«
Ian unterbrach sich selbst und schüttelte den Kopf.
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße Luise! Und du?«
»Was wollen Sie?«
»Ich will wissen, wie du heißt. Und bitte nicht mehr gesiezt werden.«
Sie war langsam zwei Schritte vorwärts gegangen und hatte sich beiläufig einen gelben Textmarker aus dem Halter auf seinem Schreibtisch genommen. Sie beäugte den Stift fachmännisch und drehte ihn dabei zwischen ihren Fingern.
»Legen Sie das wieder hin!«
Luise sah ihn tadelnd an und er zögerte einen Moment, bis er schließlich seufzte.
»Legst du das bitte wieder hin?«
Luise lächelte und klopfte mit dem Stift gegen ihre Lippen. Es war ihm immer ein bisschen unangenehm, wenn ihm Menschen zu lang direkt in die Augen guckten, und Ian bemerkte, dass sie ihn die ganze Zeit fest fixiert hatte.
»Mache ich gerne, wenn du mir sagst, wie du heißt«, sagte sie.
Er sah kurz zu ihr auf und dann direkt wieder auf den Schreibtisch.
»Ich heiße Ian und ich glaube, es ist besser, du legst den Marker zurück und verschwindest sofort wieder!«
»Sehe ich genauso«, nickte sie. »Kommst du mit?«
Ian wusste nichts darauf zu sagen, also legte er seinen Stift und das Geodreieck auf den Schreibtisch. Dann musterte er die junge Frau von Kopf bis Fuß.
Von seiner liebsten Statistik-Website wusste Ian, dass genau 33 Prozent der Bevölkerung eine oder mehrere psychische Störungen aufweisen. Er vermutete, dass hier keine dritte Person mehr in den Raum kommen musste, damit dann der statistische Fall eintrat.
Aber was machte man da? Die Polizei anrufen war ja Quatsch, denn es gab ja kein Gesetz dagegen, dieses Büro zu betreten. Zumindest keines, von dem Ian wusste. Und pure Anwesenheit schien ihm kein Schwerverbrechen zu sein. Außer bei Staub. Dessen Anwesenheit war immer kriminell.
»Wie bitte?!«, fragte er schließlich.
»Kann ich dich auf einen Kaffee einladen?«
»Wie bitte?«
Als sie auch ihren Textmarker zurück auf den Tisch legen wollte, fiel ihr Blick auf die Tasse auf seinem Schreibtisch.
»Oder auf einen Tee?«
»Du bist verrückt«, schüttelte er den Kopf.