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Cornelia Franz

Calypsos Irrfahrt

Vier Wochen Segeltörn im Mittelmeer! Oscar ist schon am dritten Tag mit seinen Eltern langweilig. Doch dann fischen sie zwei erschöpfte Kinder in einem Rettungsring aus dem Wasser. Es sind Nala und ihr kleiner Bruder Moh, die von einem Flüchtlingsboot gefallen sind. Nun beginnt eine Odyssee von Land zu Land: Nirgends dürfen die Kinder von Bord. Und je länger die Reise dauert, desto mehr freunden sie sich mit Oscar an. Schließlich kann er sich gar nicht mehr vorstellen, die beiden einfach in irgendeinem Flüchtlingslager zurückzulassen, wie von seinen Eltern geplant …

Wohin soll es gehen?

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1

Das Meer glitzerte spiegelglatt im Sommerschlaf. Vielleicht war es ihm zu heiß, um sich zu bewegen. Auch Oscar, der im Schatten des schlapp hängenden Großsegels auf einem Handtuch lag, döste vor sich hin. Das Buch, das er eigentlich lesen wollte, rutschte von seinem nackten Bauch.

»Wir können ja alle mal tief Luft holen und in die Segel pusten«, sagte Oscars Vater und blies die Backen auf.

Oscar setzte sich hin und pustete, bis er rot anlief und ihm schwindlig wurde. Doch natürlich nützte das gar nichts. Die Calypso war kurz davor, rückwärts zu fahren, so träge schob sie sich durchs Wasser.

»Sehr witzig«, meinte seine Mutter, die am Ruder saß. »Passt nur auf, dass ihr nicht in Ohnmacht fallt.« Zum dritten Mal an diesem Vormittag holte sie ihre Sonnencreme heraus, rieb sich die Schultern ein und pfiff dabei Eine Seefahrt, die ist lustig vor sich hin. Oscar ahnte, dass dies der langweiligste Urlaub seines Lebens werden würde.

Warum nur hatte Yannick nicht mitkommen dürfen? Mit dem zusammen hätte das alles viel mehr Spaß gemacht. Aber Mama und Papa hatten sich quergestellt. »So ein Zappelphilipp auf dem kleinen Boot? Nein, nein, das ist uns zu viel Verantwortung«, hatten sie gesagt. Was ungerecht war, weil man mit Yannick sogar Schach spielen konnte, und dann war er total ruhig. In Oscar grummelte es. Yannick und alle anderen waren jetzt im Fußballcamp – und er hockte hier Stunde um Stunde auf seinem Po und starrte Löcher in die Luft wie ein Rentner auf der Parkbank.

Lucy kam angetapst und drückte sich an ihn. Sie hechelte mitleiderregend und ihr fusseliges Fell juckte ihn an den Beinen. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen schob Oscar sie weg. Schließlich hatte er tagelang gebettelt, dass wenigstens Lucy mitfahren durfte, anstatt in die Hundepension geschickt zu werden. Und weil Lucy schon so steinalt war, dass sie sowieso nur noch wie eine Schnecke schlich, hatten sich die Eltern überreden lassen.

»Komm her, du arme, alte Dame.« Mama klopfte auf das Polster der Steuerbank. Als sich Lucy neben ihr auf den Rücken rollte und alle viere von sich streckte, fächelte Mama ihr mit einer Illustrierten Luft zu und kraulte ihr den Bauch.

»Wollen wir ein bisschen das große Einmaleins üben, Spatz?«, wandte sie sich jetzt an Oscar. »Das wäre mal was Sinnvolles.«

Oscar verdrehte stumm die Augen.

»Wir wär’s mit schwimmen?«, schlug Papa vor. »Wer zuerst dreimal ums Boot rum ist. Ich lass dich auch gewinnen.«

»Ha, ha.«

»Na los, Oscar.« Papa stand von seiner Backskiste auf.

Doch Oscar schüttelte den Kopf. Immer nur mit Papa oder Mama in der Gegend herumzuschwimmen war auch nicht wirklich lustig.

Jetzt reckte sein Vater die Nase in die Luft. »Es müffelt«, sagte er. »Kann es sein, dass du Lucys Klo noch nicht sauber gemacht hast?«

Seufzend rappelte sich Oscar hoch. Nun ja, er hatte hoch und heilig versprochen, ganz allein für die Hundetoilette zuständig zu sein. Und so schlappte er zum Vordeck, nahm das kleine rechteckige Stück Kunstrasen auf, kippte Lucys Würste über Bord und sah zu, wie sie langsam in die türkisblaue Tiefe trudelten. Während er das Rasenteil zum Sauberspülen an einer Leine ins Wasser hielt, schaute er auf das endlose Meer hinaus. Noch vier Wochen auf diesem Schiff! Danach konnte man ihn gleich auf dem Friedhof ablegen. Das würde der langweiligste Urlaub ALLER ZEITEN werden, garantiert.

°

»Moh, mach die Augen auf. Du darfst nicht einschlafen.«

»Lass mich doch …«

»Wenn du schläfst, kannst du dich nicht festhalten.«

»Lass mich, Nala.«

»Schau mich an, Moh. Guck mal, ich komme mit der Zunge an meine Nasenspitze. Nun guck schon! Das kannst du bestimmt nicht, oder?«

»Klar kann ich das. Aber meine Zunge ist so schwer. Lass mich schlafen, Nala. Ich bin müde.«

»Na gut, für einen Moment. Leg den Kopf an meine Schulter. Ich pass auf dich auf, Brüderchen.«

°

Am Nachmittag wehte der Wind kräftiger, sodass die Calypso immerhin langsam kreuzend vorankam. Oscar, der die Winschkurbel bedienen durfte, musste sich anstrengen, um die Segel dichtzuholen. Aber dafür pustete ihm der Fahrtwind erfrischende Luft um die Nase.

»Willst du mal ans Ruder und die Kommandos geben?«, fragte seine Mutter.

»Klar.« Oscar wechselte mit ihr den Platz und stand jetzt wie ein echter Kapitän am Steuerrad.

Gewissenhaft schaute er auf die Kompassnadel, damit das Boot nicht vom Kurs abkam. Vielleicht sollten sie jetzt lieber mal ein Stück weiter nach Westen fahren.

»Fertig machen zur Wende!«, rief er. »Ree!«

Seine Mutter holte die Schot dicht. Für einen Moment stand das Boot fast still, dann kam wieder Wind in die Segel. Die Calypso nahm Fahrt auf, gerade so als hätte Oscar aufs Gaspedal getreten.

»Macht Spaß, oder?« Mama zurrte das Großsegel straff.

»Mmm, is’ okay.« Ein bisschen war Oscar immer noch maulig. Mit Yannick zusammen wäre es sicher witziger gewesen. Den hätte er dann ganz offiziell zu seinem Matrosen ernannt.

Kaffeeduft stieg aus der Kombüse auf, wo sein Vater auf dem kleinen Gasherd Cappuccino zubereitete. Oscar mochte den Geruch, und auch Lucy hob aufmerksam die Nase. Als Papa mit den zwei Bechern an Deck kam, lief sie schwanzwedelnd zu ihm. Doch dann hielt sie inne, drehte ab, stellte die Vorderpfoten auf die Bootskante und starrte aufs Wasser. Sie schnupperte und gab ein kleines Winseln von sich.

Oscar folgte ihrem Blick. Vielleicht hatte Lucy Delfine entdeckt! Nein, es war nichts zu sehen. Das Meer spannte sich leer und endlos bis zum Horizont, und Oscar dachte darüber nach, dass man diesen Horizont niemals erreichen würde, selbst wenn man schneller als ein Raketenboot war.

»Was ist mit Lucy los?« Auch Papa schaute seinen Kaffee schlürfend aufs Meer hinaus. »So alt, wie sie ist – sie hat immer noch eine fantastische Nase. Irgendetwas riecht sie dort draußen«, sagte er.

»Oscar!«, rief Mama. »Achtest du bitte auf deinen Kurs? Bleib mal mehr am Wind.«

Jetzt fing Lucy an zu kläffen. Oscar überließ seinem Vater das Ruder und stellte sich neben Lucy. Was nahm sie denn da vorne wahr? Er kniff die Augen zusammen und blinzelte in die schon tiefer stehende Sonne. Dort dümpelte tatsächlich etwas im Wasser, etwas Rotes. Aber was das war, konnte er nicht erkennen. »Fahr mal ein bisschen mehr rechts, Papa!«, rief er.

»Das heißt steuerbord. Wie oft soll ich das noch erklären?«, murmelte sein Vater, aber er zog trotzdem das Boot eine Spur weiter nach rechts.

Es dauerte keine Minute, bis Oscar erkannte, was dort im Wasser schwamm. Es war ein rot-weißer Rettungsring. Und in dem Ring steckte ein Kind. Nein, es waren zwei! Das größere der beiden hielt sich mit einem Arm an dem Ring fest, mit dem anderen umklammerte es einen kleinen Jungen. Sein Kopf lag auf der Schulter des Mädchens, sodass ihm ihre schwarzen Zöpfe ins Gesicht hingen. Mit jedem Meter, den die Calypso näher kam, war die Erschöpfung der beiden deutlicher zu sehen.

»Hallo, hallo!« Oscar wedelte wild mit den Armen in der Luft herum. »Wir kommen!«

Neben ihm machte sich Lucy lang und länger. Sie guckte genauso gebannt wie Oscar zu den Kindern hinüber. Sein Vater ließ hastig die Segel fallen, während seine Mutter den Bootshaken aus der Halterung zog. Die Calypso wurde langsamer, und schließlich hatte das Boot den Rettungsring fast erreicht.

Vielleicht war das Mädchen am Ende seiner Kräfte. Vielleicht wusste es, dass jetzt jemand anderes die Verantwortung übernahm. Jedenfalls ließ es in diesem Moment sowohl den Rettungsring als auch den Jungen los. In Zeitlupe sanken sie beide inmitten des Rings ins Meer und ihre dunklen Köpfe verschwanden unter Wasser. Wie gelähmt starrte Oscar auf den leeren Rettungsring. Sein Herz klopfte wild.

»Nimm das Steuer!«, schrie sein Vater, während er schon von Bord sprang. Mit wenigen Schwimmzügen war er beim Rettungsring, tauchte hinab und packte die Kinder. Links und rechts in den Armen hielt er sie und trampelte dabei kräftig mit den Beinen, um sie über Wasser zu bringen.

»Gegen den Wind halten, Oscar! Wir treiben ab!« Mama reckte sich mit dem Bootshaken über die Bordkante, Lucy bellte aufgeregt und Oscar brach der Schweiß aus. Warum musste der Wind ausgerechnet jetzt so stark pusten, wo die Segel in der Eile nicht richtig zusammengebunden waren? Viel mehr Druck war auf dem Ruderblatt, viel höher waren die Wellen plötzlich. Es war schwer, die Calypso so zu steuern, dass Mama an Papa und die Kinder herankam. Und wie sollte Papa den Haken erwischen, wo er doch keine Hand frei hatte?

Doch irgendwie schafften sie es. Papa presste mit einem Arm beide Kinder an sich, packte den Haken, und Mama schleppte sie zur Bordleiter. Oscar ließ das Ruder los. Zu dritt hievten sie die Kinder an Bord. Das Mädchen hatte die Augen aufgerissen, sie hustete und spuckte Wasser, der Junge schien leblos.

»Was machen wir denn jetzt?! Was machen wir denn jetzt?!!« Oscars Stimme überschlug sich vor Aufregung.

Doch Mama und Papa behielten beide die Ruhe. »Geh wieder ans Ruder, Oscar. Wirf den Motor an und halt das Boot einigermaßen stabil«, sagte Papa. Er kniete an Deck, umschloss das zitternde Mädchen mit den Armen und strich ihr die nassen Locken aus der Stirn. »Schschsch«, machte er leise, »schschsch, alles gut, alles gut.«

Mama hatte den kleinen Jungen auf der gepolsterten Bank auf die Seite gelegt. Sie brachte ihr Ohr dicht an seinen Mund und seine Nase, so wie Oscar es mal in einem Erste-Hilfe-Film gesehen hatte. Unwillkürlich hielt er den Atem an, bis Mama hochschaute. »Er lebt!«, sagte sie. Sie deckte ihn mit einem Badelaken zu und rieb ihm vorsichtig die Schultern. »Wach auf, mein Junge, komm schon, mach die Augen auf«, murmelte sie.

Jetzt löste sich das Mädchen aus Papas Armen und kroch zu dem Jungen. Sie umfasste sein Gesicht mit beiden Händen. »Moh«, sagte sie und schüttelte seinen Kopf sanft hin und her. Dann legte sie ihre Wange an seine und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was Oscar nicht verstehen konnte. Aber er erkannte die Liebe und Zärtlichkeit in ihrem Blick. Und die Angst. Sein Herz, das sich gerade ein wenig beruhigt hatte, begann wieder heftig zu klopfen. Das war bestimmt ihr Bruder. Wenn er jetzt nur nicht starb …

°

»Moh, Moh, du musst wieder aufwachen.«

»…«

»Du musst dir dieses Boot ansehen. Es ist viel schöner als das Schlauchboot.«

»…«

»Hier kann uns nichts passieren, Moh. Nun mach doch mal die Augen auf. Nur ein einziges Mal. Bitte, Moh, bitte, stell dich nicht tot. Hol Luft!«

»…«

»Aber ich hab es doch Tata versprochen! Ich hab versprochen, dass ich auf dich aufpasse!«

»Wo ist Tata, Nala?«

»Du bist wach, Moh, du bist wach!«

°

Oscar war stolz, dass er schon so eigenständig das Boot lenken konnte. Während er die Calypso jetzt wieder im sanften Wind Richtung Westen steuerte, kümmerten sich seine Eltern um die Kinder. Sie betteten sie in den Schatten des Großsegels auf die Sitzbank, gaben ihnen Wasser zu trinken, wuschen ihnen vorsichtig das Salz von der Haut und tupften ihnen Creme auf die sonnenverbrannten Stellen. Essen mochten die beiden nichts außer kleinen Stückchen Weißbrot.

Der Junge schlief bald wieder ein. Doch das Mädchen hatte die Knie an den Körper gezogen und sah sich mit furchterfüllten Augen um. Vor allem Lucy, die neugierig und mit hechelnder Zunge vor ihr stand, schien ihr Angst zu machen. Sie traute sich kaum, sie anzuschauen. Oscar rief Lucy zu sich und ließ sie nicht mehr von seiner Seite.

Mama versuchte, mit dem Mädchen zu reden. Sie probierte es mit Englisch und auch mit Deutsch. Aber das Mädchen antwortete nicht.

»Lass sie erst mal zu sich kommen«, meinte Papa.

Als sich Mama zu Oscar setzte und das Steuer übernahm, legte sich das Mädchen neben seinen Bruder – denn dass der Kleine ihr Bruder war, daran gab es kaum einen Zweifel. Sie hatten beide eine ähnlich runde Stirn und Grübchen in den Wangen, die gleichen großen Augen mit den langen Wimpern und den geschwungenen Brauen. Es dauerte keine Minute, dann war auch das Mädchen eingeschlafen.

»Wir müssen einen Notruf absetzen«, sagte Papa und verschwand in der Kajüte. Doch kurz darauf war er schon wieder an Deck. »Da kommt niemand. Ich hätte nicht sagen dürfen, dass die Kinder wohl nicht in akuter Lebensgefahr sind.« Er seufzte.

Leise beratschlagten die Eltern, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Sie klangen jetzt doch ziemlich aufgeregt. Oscar schnappte Wörter wie Seenotrettung, medizinische Versorgung, Flüchtlinge und Asylrecht auf. Oh Mann, er war froh, dass er erst zehn Jahre war und Mama und Papa sich um alles kümmerten.

Wie alt mochten die beiden Kinder wohl sein? Das Mädchen war vielleicht so alt wie er, aber der Junge höchstens sechs, oder? Vorsichtig näherte er sich den schlafenden Geschwistern und setzte sich in zwei Meter Abstand auf den Boden. Lucy kam angetrabt, auch sie ganz leise und bedächtig. Sie war ein kluger Hund und hatte begriffen, dass sie sich anständig benehmen musste. Mit einem leisen Schnaufer streckte sie sich aus, legte den Kopf auf die Pfoten und betrachtete die fremden Kinder. Oscar kraulte sie hinter den Ohren.

Nachdem Papa wieder die Segel gesetzt hatte, ging er hinunter in die Kajüte, und bald darauf zog der Geruch von Knoblauch und Zwiebeln aus dem Bauch der Calypso nach oben an Deck. Der Wind war jetzt so beständig, dass Mama den Autopiloten einschaltete, um den Kurs zu halten. Sie legte Sets auf das ausklappbare Tischchen und stellte fünf Schalen bereit. »Wir essen heute mal draußen«, sagte sie.

Als Papa Reis und Ratatouille auffüllte, schliefen die Kinder immer noch wie die Steine.

»Wer weiß, wie lange die im Wasser gewesen sind …« Mama schüttelte fast ungläubig den Kopf. Und dann erzählte sie Oscar, dass sie nach Chania zurückfahren würden, um die Kinder dort irgendwo in Obhut zu geben.

»Was heißt das?«, fragte Oscar. »Obhut?«

Sein Vater zuckte mit den Schultern. »Na, irgendjemand muss sich dort um die beiden kümmern. Zunächst mal ein Krankenhaus, denke ich.«

»Und dann?«

»Ein Kinderheim … oder eine Aufnahmestelle für Asylbewerber. Auf Kreta kennen sie ja das Problem …« Papa wirkte nicht glücklich bei dieser Antwort.

Oscar betrachtete die Kinder. Das Mädchen zuckte im Schlaf mit den Lidern und ballte die Fäuste. Was sie wohl träumte?

Sie hatten ihre Teller noch nicht geleert, als das Mädchen sich bewegte. Sie rieb sich die Augen, setzte sich auf und suchte das Deck ab, bis sie sah, dass sich Lucy ein paar Meter entfernt im Bug befand. Kurz schien sie zu überlegen. Dann schüttelte sie ihren Bruder sachte an der Schulter und sagte ein paar Worte zu ihm, sodass er ebenfalls wach wurde.

Mama schob ihnen zwei gefüllte Schälchen hin. »Guten Appetit«, sagte sie und lächelte den beiden zu. »Nun starr sie mal nicht so an, Oscar«, meinte sie leise. »Iss weiter.«

Oscar beugte sich über sein Ratatouille, ohne noch einmal hochzuschauen. Klar, es war blöd, wenn einen alle beim Essen beobachteten. Da kleckerte man bestimmt erst recht. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie die Kinder die Schälchen aufnahmen, die Löffel aber liegen ließen. Und dann schaufelten sie das Gemüse und den Reis mit den Fingern in den Mund. So schnell, als wollten sie einen Rekord brechen.

Aber weder Papa noch Mama sagten irgendwas, obwohl sie ihm sonst immer mit Tischmanieren kamen. »Nicht so hastig«, meinte Mama nur. Und oh, Wunder – das Mädchen schien sie verstanden zu haben. Es flüsterte seinem Bruder etwas zu, und sie aßen langsamer weiter. Vielleicht sagten das ja alle Eltern auf der Welt.

Als Papa aufstand und mit Fladenbrot aus der Kombüse wiederkam, wischten sie beide ihre Schalen mit dem Brot sauber. Das Mädchen stellte die Schalen ineinander und murmelte etwas, das sich wie »Tschuwaschutschulu« anhörte. Dann sagte sie »merci« – das hieß danke, das wusste Oscar.

Mama strahlte vor Freude. »Oh, dö rieng, aweck plesier«, antwortete sie. »Tü parl franzä? Schö mapell Wiebke.«

Das Mädchen schaute sie mit großen Augen an. Sicher hatte sie kein Wort verstanden. Mamas Französisch klang allerdings auch ziemlich Deutsch. Trotzdem antwortete sie jetzt etwas, das aber Mama wiederum nicht verstand.

Papa mischte sich ein. Er legte die Hand auf die Brust und sagte: »Christian.« Dann zeigte er auf Mama: »Wiebke.«

Oscar sprang auf die Füße und sagte »Oscar«, wobei er sogar eine kleine Verbeugung machte. Dann drehte er sich um und wies in Richtung Vorderdeck. »Lucy.«

Lucy hob den Kopf und wedelte mit dem Schwanz. Aber sie wusste, dass sie sich fernhalten musste, solange gegessen wurde. Und so blieb sie brav liegen.

Jetzt ging zum ersten Mal ein Lächeln über das Gesicht des Mädchens. Es legte sich ebenfalls die Hand auf die Brust. »Nala«, sagte sie und sah ihren Bruder auffordernd an. Doch der blieb stumm.

»Na, und wie heißt du?«, fragte Papa und stupste ihn gegen das Brustbein.

Der Junge warf Papa einen Blick zu, als würde er ihn für einen Verbrecher halten.

»Moh«, sagte das Mädchen. »C’est Moh.«

Irgendwie fühlte Oscar sich auf einmal etwas leichter, nun, da sie die Namen der Kinder kannten. Und auch Nala schien weniger Angst vor Lucy zu haben und sah immer wieder neugierig zu ihr hinüber. Nachdem Oscar das Geschirr nach unten getragen hatte, ging er mit Lucy zusammen zu den Kindern zurück, wo sich Lucy still auf den Boden legte. »Sie ist ein Mischlingshund«, sagte Oscar. »Und sie ist sehr lieb. Oder, Lucy?«

Lucy hob den Kopf ein paar Zentimeter und gab ein ganz leises Fiepen von sich. Man sah richtig, wie sie sich Mühe gab, nett auszusehen. »Das mag sie«, sagte er und kraulte Lucy hinter ihrem Schlappohr, die daraufhin einen zufriedenen Seufzer von sich gab. »Wollt ihr auch mal?« Er sah auffordernd von Nala zu Moh. Doch die beiden reagierten nicht.

»Seht euch mal diesen Sonnenuntergang an!«, rief Mama, die jetzt wieder am Ruder stand.

Tatsächlich. Wie eine glutrote Orange lag die Sonne auf dem Wasser und brachte alles zum Glühen. Den Himmel und die dünnen Wolkenfetzen genauso wie das glatte, stille Meer. Sogar das weiße Plastik der Calypso schimmerte rosa. War das toll! Dieser lange aufregende Tag ging so wunderschön zu Ende.

Stumm saßen sie da, zwei Erwachsene, drei Kinder und ein Hund, und schauten zu, wie die Sonne Millimeter für Millimeter im Meer versank. Und dabei versank sie ja gar nicht. Sie blieb da, wo sie schon den ganzen Abend über gewesen war. Nur sie selbst kippten immer mehr nach hinten weg, bis sie die Sonne nicht mehr sehen konnten. Oscar glaubte auf einmal zu fühlen, wie sich die Erde ganz langsam nach hinten drehte und sie dabei mitnahm. Wie gut, dass man nicht runterfallen konnte.