Henriette Wich, Europa im Rucksack

Eigentlich wollte Jasmin zusammen mit ihrem Freund auf Interrail-Tour gehen, doch dann hat Lenny kurz vorher mit ihr Schluss gemacht. Trotzdem packt Jasmin ihren Rucksack und fährt ihrem Liebeskummer einfach davon. Unterwegs findet sie neue Freunde und stellt fest, wie gut sie allein klarkommt. Doch dann taucht in Prag plötzlich Lenny auf und will wieder mit ihr zusammen sein. Jasmin ist hin- und hergerissen. Soll sie sich wirklich darauf einlassen?

Wohin soll es gehen?

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Der Nachmittag war viel zu schön zum Lernen. Die Sonne schien zu meinem Fenster herein und vergoldete Lenny. Tatsache. Genauso war es. Sein Gesicht fing auf einmal an zu leuchten. Ich legte den Füller weg und bewunderte sein Profil. Die Nase mit dem kleinen Höcker, die Wange, den Mund. Wie Lenny so voll konzentriert dasaß, über die todlangweiligen Matheaufgaben gebeugt, und sich durch nichts ablenken ließ.

Ich dagegen war eine Meisterin im Ablenken. Das Abi rückte gefährlich näher, und mir fielen jeden Tag tausend Dinge ein, die ich unbedingt schnell erledigen musste, bevor ich mich an den Schreibtisch setzen konnte. Die Aquariumfische füttern, meine beste Freundin Nina anrufen oder mit meiner neuen WLAN-Kompaktkamera Selfies machen und sie übers Handy Lenny schicken.

»Reiß dich zusammen, Jasmin«, sagte ich streng zu mir selbst. »Du bist Profi, du ziehst das jetzt durch.«

Dann nahm ich mir die kürzeste Aufgabe vor: »Ein Glücksrad wird zweimal gedreht. Begründen Sie, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Summe …«

Und schon schweiften meine Gedanken wieder ab. Dreizehn Monate war ich inzwischen mit Lenny zusammen und natürlich nicht mehr so verliebt wie am Anfang. Unser Glück war Monat für Monat verblasst, wie ein Farbfoto, das zu lange auf dem Fensterbrett liegt. Oft denke ich sehnsüchtig an unsere erste Zeit zurück. Wir waren im Januar 2019 bei einem Horrorfilm im Kino zusammengekommen und hatten uns damals schockverliebt.

»Na, auch schon fertig?«, fragte Lenny, während er seinen Lösungsweg noch mal kurz durchging. Dann warf er einen Blick auf mein Heft und grinste. »Okay, lass mich raten: unsichtbare Tinte?«

»Schön wär’s.«

Lenny stupste mich mit dem Ellbogen an. »Hey, wir haben es bald geschafft! Nur noch vierzehn Tage bis zu den Prüfungen. Und im Juni packen wir unsere Rucksäcke. Dann genießen wir das Leben in vollen Zügen.«

Ich musste lachen, weil das Bild so gut passte. Lenny und ich würden eine Interrail-Reise quer durch Europa machen. Er träumte schon lange vom Reisen, wollte im Herbst BWL mit Schwerpunkt Tourismus studieren, und ich fand die Interrail-Idee toll. Erst dachte ich zwar, es würde ziemlich anstrengend werden, drei Monate mit dem Rucksack unterwegs zu sein. Aber Lenny hatte mich dann doch überzeugt.

»Weißt du was? Ich mache einfach heute Abend weiter.« Als ich mein Heft zuklappte, glaubte ich fest daran.

»Okay. Ich könnte dir helfen, aber wenn du nicht willst …« Lenny zuckte mit den Schultern.

»Ja, ich weiß.«

Lenny konnte gut erklären und war auch noch supergeduldig. Außerdem gehörte er zu der seltenen Art Jungs, die einem Mädchen wirklich nur eine Aufgabe und nicht gleich die ganze Welt erklären wollen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er meinen IQ nicht gerade hoch einschätzte.

Ich legte das Mathebuch weg und zeigte aufs Bett. »Du könntest mir bei was anderem helfen.«

Langsam zog ich mein T-Shirt über den Kopf, ging hinüber zum Bett und ließ mich hineinfallen. Dann drehte ich mich auf den Bauch und fragte: »Wie viele Küsse passen auf meinen Rücken?«

»Aber wenn jetzt deine Eltern …?«

»Die kommen erst heute Abend wieder.«

»Ist das nicht voll kindisch?«

»Finde ich gar nicht. Bitte! Du hast es schon so lange nicht mehr gemacht.«

»Ja, stimmt«, gab Lenny zu, kam zu mir rüber und fing an zu zählen: »Eins, zwei, drei, vier …«

Die ersten Küsse kribbelten wie Regentropfen, aber irgendwo zwischen meinen Schulterblättern und der Taille spürte ich, dass Lenny mit seinen Gedanken abschweifte. Zum Ende hin wurden seine Küsse immer flüchtiger. Viel zu schnell war er beim Bund meiner Jeans angelangt. Er sagte leise »57«, rückte von mir weg und fuhr sich verlegen durch die schwarzen Haare.

»Das war schön«, murmelte ich, obwohl ich ein wenig enttäuscht war. Dann drehte ich mich um und wollte mich an Lenny kuscheln.

»Warte«, sagte er plötzlich. »Bleib liegen.«

Verwundert streckte ich mich wieder aus. Vielleicht wollte er es ja noch mal machen – so langsam und zärtlich wie früher …

»Bereit für die große Reise?«, fragte er.

»Was meinst du?«

»Lass dich überraschen.« Lenny berührte mich ganz leicht in der Mitte meiner Wirbelsäule. »Hier sind wir. Und jetzt geht’s los.« Langsam fuhr er mit dem Finger auf meinem Rücken nach links und ein kleines Stück nach unten. »Rate mal: Wo bin ich gelandet?«

Ich kicherte. »An einer besonders kitzeligen Stelle. Nein, im Ernst, ich glaub, ich weiß es. In Frankreich?«

»Richtig! Und wo genau?«

»Paris?«

»Wo sonst?! Da bleiben wir mindestens eine Woche. Ich will in den Louvre und ins Centre Pompidou, die vielen Kirchen sehen, nicht nur Notre-Dame …«

Lenny zählte noch ein paar Sehenswürdigkeiten auf, bis ich irgendwann anfing zu gähnen. »Danach fahren wir aber bitte zur Erholung in die Bretagne. Ich möchte ans Meer!«

Er nickte. »Können wir machen, solange ich nicht reinspringen muss. Im Juni ist das Wasser bestimmt noch saukalt.«

Davon würde ich mich garantiert nicht abhalten lassen. Ich schwamm unglaublich gerne. Im Wasser fühlte ich mich frei.

Lennys Finger wanderte tiefer, diesmal nach rechts. Erst riet ich Italien. Dann fiel mir ein, dass die Schweiz dazwischenlag – die wir allein schon wegen der leckeren Schokolade nicht auslassen durften.

Land für Land malte Lenny die Karte von Europa auf meinen Rücken. Noch nie hatte mir Geografie so viel Spaß gemacht. Mindestens neun Länder wollten wir zusammen bereisen, und bei vielen waren wir uns einig: Tschechien, Ungarn, die Slowakei, Polen und Litauen. Lenny interessierte sich auch für Kroatien und Bosnien, während ich Österreich besser kennenlernen wollte.

Ich rollte mich vom Bauch auf den Rücken und zwinkerte Lenny zu. »Was machen wir eigentlich, wenn wir uns unterwegs streiten?«

Ich sagte es lachend, machte mir aber ernsthaft Gedanken darüber. In letzter Zeit stritten wir ziemlich oft, und danach gingen wir uns manchmal zwei, drei Tage komplett aus dem Weg – was auf der Reise schlecht funktionieren würde. Außerdem wollte Lenny immer so viel Kultur wie möglich erleben, während ich gerne stundenlang in einem Café saß und einfach nur die Menschen beobachtete.

Lenny verzog keine Miene, als er antwortete: »Wenn wir uns streiten? Dann sperre ich dich im Hostel ein und werfe den Schlüssel aus dem Fenster.«

»Kein Problem«, gab ich schlagfertig zurück. »Solange du mit im Zimmer bist.«

Lenny wurde tatsächlich rot! Das war schon ewig nicht mehr passiert und machte mich glücklich. Diese Reise war die beste Idee ever. In der fremden, aufregenden Umgebung würden wir endlich wieder das Prickeln zwischen uns spüren. Wir würden uns wieder ganz neu ineinander verlieben. Das war unsere große Chance!

Zwei Wochen später stand ich in Ninas Küche und konnte es immer noch nicht glauben, dass ich es wirklich geschafft hatte. Nie mehr Schule! Nie mehr endlosen, zähen Stoff in mein armes, überfordertes Gehirn hineinstopfen.

Am Schluss hatte ich einen Ehrgeiz entwickelt, der mich selbst überraschte. Auf der Zielgeraden war ich zur Hochform aufgelaufen, voll motiviert in die Prüfungen gegangen und hatte mein Bestes gegeben. Na ja, letztendlich stand eine 2,6 auf meinem Abizeugnis, was ich gar nicht so schlecht fand. Ich hatte sowieso noch keinen Plan, ob ich überhaupt studieren wollte.

»Jasmin, bist du so weit?«, fragte Nina. Meine Freundin schwenkte die Sektflasche. »Wir warten nicht ewig auf dich.«

»Ja, gleich.« Ich holte meine Kamera aus der Tasche und schwang mich aufs Fensterbrett, damit ich alle aufs Bild bekam. Dann stellte ich »Serienfotos« ein, um keinen Moment zu verpassen.

Nina wickelte ungeduldig den Draht der Sektflasche auf und ließ ziemlich schnell den Korken knallen …

»Hey, du hast meine Schuhe getroffen!«, beschwerte sich Lenny.

Alle lachten und hielten Nina die Gläser hin. Die versuchte, das kostbare Nass möglichst gerecht zu verteilen.

»Cheers, Leute!«, sagte Lilli.

Meine Mitschüler prosteten in die Kamera, tranken und fielen sich schon wieder in die Arme. Es war nicht die erste Flasche, die wir heute leerten. Und ich hatte den ganzen Abend über jede Menge Fotos gemacht. Meine Speicherkarte war fast voll.

Nina balancierte ein Sektglas über ihrem Kopf. »Nicht dass du noch verdurstest, du Arme.«

»Wenigstens eine hier denkt an mich!«, bedankte ich mich mit einem vorwurfsvollen Seitenblick zu Lenny. Doch der bekam es gar nicht mit, weil er sich gerade mit seinen Freunden eine Pizza teilte.

Dann gab Nina mir hektische Zeichen. Sie fächelte sich Luft zu und zeigte zur Tür. Ich nickte und folgte ihr. Auch mir war es in der Küche zu voll und laut geworden. Nina und ich schoben uns an den Leuten vorbei ins Wohnzimmer und öffneten die Schiebetür zur Terrasse.

Ich hielt mein Gesicht in die kühle Nachtluft, ließ mich in einen Klappstuhl fallen und stöhnte: »Was ist schlimmer als eine Abifeier?«

»Drei Feiern in einer Woche!«, sagte Nina.

Wir kicherten. Dann sahen wir uns die Sterne an, die heute nur für uns zu leuchten schienen. Ich nahm einen Schluck Sekt und dachte an Lenny, bei dem es sogar schon die fünfte Abifeier war. Er kannte viel mehr Leute als ich und wurde überall eingeladen, auch von zwei anderen Gymnasien aus unserem Stadtviertel. Er hatte aber auch allen Grund zu feiern mit seinem unglaublichen 1,5-Abitur.

Nina stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du hast es gut! Du darfst bald mit deinem Lenny in den Zug steigen. Ihr seid so ein tolles Paar!«

Den Satz hörte ich nur zu gern. Ich hatte Nina gegenüber oft betont, wie glücklich und verliebt ich immer noch war. Es war wie ein Mantra für mich selbst. Auch an der Schule galten Lenny und ich als das Traumpaar. Deshalb legte ich zufällig immer gerade dann den Arm um Lenny, wenn wir zu zweit über den Pausenhof gingen.

Nina brachte es noch einmal auf den Punkt: »Also du machst einen spannenden Europa-Trip mit deinem Freund, und ich muss mich hier mit streitenden kleinen Kindern herumschlagen.«

»Ich dachte, du magst deinen Ferienjob im Freibad?«, fragte ich verwundert.

»Stimmt.« Nina lachte. »Vor allem weil ich jeden Tag die schönsten Jungs in Badehose zu sehen kriege: braun gebrannt, mit Tattoos und so weiter.«

Ich pfiff leise durch die Zähne. Meine Freundin war überzeugter Single und wollte es auch bleiben. Sie liebte ihre Freiheit.

Ein frischer Wind wehte über die Terrasse. Nina trug ein ärmelloses Shirt und schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper. »Versprich mir, dass du ganz viele Fotos schicken wirst.«

»Ja, klar.« Ich konnte es kaum erwarten, mit meiner neuen Kamera unterwegs zu sein, ein Geburtstagsgeschenk meiner Eltern. Marco aus der Foto-AG hatte sie mir empfohlen. Er war der absolute Technik-Freak und wusste alles über die Testberichte der neuesten Modelle.

»Und?«, fragte Nina jetzt. »Hast du schon deinen Rucksack gepackt? Die Interrail-Tickets gekauft?«

»Um die Tickets kümmert sich Lenny«, erzählte ich.

Es war superpraktisch, dass Lenny so gut im Organisieren war. Er wollte auch die wichtigsten Infos zu den einzelnen Reiseländern zusammenstellen. Dafür war ich für Frankreich zuständig. Durch meinen Französisch-Leistungskurs konnte ich die Sprache ziemlich gut und war auch schon mal in Paris und Auxerre gewesen.

Nina und ich redeten weiter und wurden immer alberner, nachdem wir unsere Sektgläser geleert hatten. Dann kam ein Auto angefahren. Zwei Partynachzügler stiegen aus. Es war Marco mit einer jungen Frau.

»Hi Jasmin, hi Nina«, sagte Marco. Als wir schon wieder kichern mussten, fragte er unsicher: »Haben wir was verpasst?«

»Nicht wirklich.« Nina wischte sich eine Lachträne aus den Augen. »Aber wir vielleicht?« Sie sah bedeutungsvoll zwischen der jungen Frau und Marco hin her.

Marco hatte noch nie eine Freundin gehabt, was kein Wunder war. Er ging voll und ganz in seinen Hobbys auf.

»Äh … ach, so!« Marco trat nervös von einem Bein aufs andere. »Also das ist Kim, meine große Schwester«, klärte er uns auf.

Kim lächelte. »Schön habt ihr es hier. Gibt’s noch was zu trinken?«

»Natürlich.« Ich stand auf und bot Kim an, ihr den Weg in die Küche zu zeigen. Marco nutzte die Gelegenheit und schnappte sich meinen Klappstuhl. Er wollte erst mal eine rauchen.

Als wir ins Haus gingen, betrachtete ich Kim neugierig von der Seite. Sie war Anfang zwanzig, hatte lange braune Haare und schöne dunkle Augen. Wir kamen sofort ins Gespräch. Sie war viel offener und unkomplizierter als ihr Bruder.

In der Küche war es noch voller als vorhin. Ich holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und suchte zwischen Chipstüten und leeren Pizzaschachteln vergeblich nach einem Korkenzieher.

Lenny stand bei seiner Fußball-Clique, und alle redeten wieder mal lautstark über die Bundesliga. Ich musste ihm viermal zuwinken, bis er mich endlich bemerkte. Als ich die Flasche hochhielt und mit der Hand eine Drehbewegung machte, warf Lenny mir einen genervten Blick zu.

»Bin gleich wieder da«, versprach er seinen Freunden.

Lenny kam zu Kim und mir und zog sein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche. Nachdem er die Flasche erfolgreich geöffnet hatte, wollte er sofort wieder verschwinden, aber ich hielt ihn am Ärmel zurück. »Warte kurz, ja?«

Ich organisierte uns drei Kaffeebecher. »Gläser sind aus. Ist jetzt leider nicht so stilvoll. Aber keine Angst, ich nehme die peinliche Snoopy-Tasse.«

Ich gab Kim einen weißen Becher und sagte: »Hier, für dich, Kim. Und das ist übrigens Lenny.«

Marcos Schwester drehte ihren Becher, auf dem in roten Buchstaben Berlin stand. »Lustig, der passt zu mir«, sagte sie. »Ich wohne nämlich in Berlin.«

»Echt jetzt?« Lennys genervter Gesichtsausdruck verschwand. »Das ist meine Lieblingsstadt! Ich war leider ewig nicht mehr dort. Hat sich bestimmt viel verändert.«

Kim nickte. »Ja, es wird sehr viel gebaut. Aber die Wohnungen sind echt teuer geworden.«

Ich schenkte uns Wein ein. Wir stellten uns in den Flur, damit wir besser reden konnten. Kim zeigte uns Berlin-Fotos auf ihrem Handy: Schnappschüsse vom Flohmarkt in Kreuzberg, dem Alex und von Demos, auf denen sie Transparente hochhielt.

»Sieht toll aus«, sagte ich. »Richtig profimäßig.«

Kim lachte. »Das soll es auch. Ich mache die Fotos schließlich für eine Umwelt-Organisation.«

Es war superspannend, was Kim von ihrem Job erzählte, und ich kippte meinen Wein viel zu schnell hinunter. Irgendwann bekam ich Kopfschmerzen. Ich hätte besser aufpassen und nicht so viel durcheinandertrinken sollen.

Auf einmal spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. »Wie wär’s mit einer Runde Kicker im Keller?«, fragte Nina, die mit Marco hereingekommen war.

»Gute Idee«, sagte Lenny.

Kim lächelte. »Bin auch dabei.«

So was Blödes! Ich spielte total gerne Kicker und gewann fast jedes Mal. Aber mein Kopf dröhnte immer heftiger.

»Ohne mich, Leute.« Ich kniff gequält die Augen zusammen. »Ich geh lieber nach Hause, sonst liege ich morgen den ganzen Tag flach.«

»Ach, schade!«, sagte Nina und wünschte mir gute Besserung.

Lenny fragte halbherzig: »Äh … soll ich dich vielleicht begleiten?«

»Lass nur«, wehrte ich ab. »Ich geh zu Fuß, ist ja nicht weit. Die frische Luft wird mir guttun. Viel Spaß noch!«

Nina, Marco, Lenny und Kim verschwanden gut gelaunt in Richtung Keller.

Auf dem Heimweg fing es an zu regnen. Ich lief schneller durch die stillen Straßen, vorbei an Apfelweinkneipen, die sich langsam leerten. Zu Hause nahm ich sofort eine Kopfschmerztablette. Bevor ich todmüde ins Bett fiel, schickte ich Lenny noch ein Smiley mit Herz.

Er antwortete nicht. Das konnte nur eins bedeuten: Er hatte beim Kicker mal wieder haushoch verloren.

Als ich die Tür zum Café öffnete, wehte mir der Duft frisch gebackener Apfeltarte entgegen. Ich machte kurz die Augen zu und stellte mir vor, in Paris zu sein. Nur noch vier Tage! Ich konnte es kaum erwarten, bis unsere Reise endlich losging.

Dann sah ich mich suchend um. Lenny war noch nicht da, also setzte ich mich an den letzten freien Tisch am Fenster und bestellte einen Milchkaffee. Gegenüber saß ein älteres Paar, die Frau im Blumenkleid mit grau gelockten Haaren, der Mann in weißem Hemd und Fliege. Die beiden teilten sich ein Himbeertörtchen, redeten leise miteinander, lächelten und hielten immer wieder Händchen.

Am liebsten hätte ich sie fotografiert, aber ich wollte nicht stören. Ich fand es total berührend, sie so zu sehen. Bestimmt waren sie schon sehr lange ein Paar und schienen immer noch verliebt zu sein. Wie schafften die das bloß?

Ich dachte an Lenny und mich. Ob wir auch gemeinsam alt werden würden? Ich versuchte mir vorzustellen, wie wir in vierzig Jahren in alten Fotobüchern blättern und uns die Aufnahmen ansehen würden, die ich in all den Jahren und Jahrzehnten gemacht hatte.

Wo blieb Lenny eigentlich? In letzter Zeit kam er oft zu spät, was mich ziemlich ärgerte. Ich nahm einen Schluck Milchkaffee und dachte an die ersten Monate unserer Beziehung. Ich hatte mich vor jedem Treffen immer so mega auf Lenny gefreut. Wann hatte das eigentlich aufgehört?

Dann kam Lenny endlich. Er war außer Atem, vergaß mich zu umarmen und ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. »Sorry! Hast du lange gewartet?«

»Alles gut«, behauptete ich.

Lenny nickte erleichtert und überflog die Getränkekarte.

»Hat es geklappt?«

»Was?« Lenny blickte von der Karte auf und sah mich fragend an.

»Na, mit den Tickets«, half ich ihm auf die Sprünge.

»Ach so. Das mache ich noch.«

Seltsam, dachte ich. Sonst schob Lenny nie was auf die lange Bank.

»Stress dich nicht«, sagte er. »Es wird schon alles klappen.« Er nahm meine Hand und drückte sie kurz.

»Alles okay bei dir?«, hakte ich nach.

»Klar.« Lenny warf einen Blick auf meine leere Tasse. »Du hast ja gar nichts mehr zu trinken! Und keinen Kuchen. Ich lade dich ein. Bestell dir, was du möchtest. Prosecco?«

»Lieber nicht«, wehrte ich ab. »Der Kater nach der Abifeier war die Hölle. Aber danke trotzdem.«

Ich wunderte mich, warum Lenny auf einmal so großzügig war. Sonst zahlte bei uns jeder für sich, und auch für den Urlaub hatten wir getrennte Kassen ausgemacht.

Ich entschied mich für eine Apfeltarte und einen zweiten Milchkaffee. Lenny nahm dasselbe. Während wir darauf warteten, spielte Lenny mit der Zuckerdose. Irgendwie war er anders als sonst, so nervös.

»Stress mit deiner Mutter?«, fragte ich. Es wäre nicht das erste Mal.

Lenny schüttelte den Kopf. »Hä? Nein.«

Ich wollte ihn nicht weiter nerven. Wahrscheinlich hatte er einfach nur einen schlechten Tag. Die Bedienung brachte unsere Kuchen und den Kaffee. Lenny beugte sich über seine Tarte und aß sie so konzentriert, als ob es sich um eine komplizierte Matheaufgabe handelte.

Ich fing auch an zu essen und holte nebenbei mein Handy heraus. »Weißt du, worauf ich mich am meisten freue, wenn wir in Paris sind? Auf die Cafés! Wir müssen unbedingt ins Café de Flore, wo Sartre und Simone de Beauvoir so oft waren. Das kenne ich noch gar nicht. Schau mal!«

»Hm …«, kommentierte Lenny das Foto auf meinem Handy.

Da fiel mir ein, dass er uns aus der Bücherei ein paar Reiseführer hatte mitbringen wollen. Ich fragte ihn danach, aber er hatte es vergessen.

»Schade.« Jetzt war ich schon enttäuscht. »Ich dachte, wir besprechen heute, was wir alles machen können.«

Lenny schob den leeren Teller von sich. »Und ich dachte, du willst lieber spontan sein und nicht so viel planen.«

Das stimmte, aber langsam fragte ich mich, wo Lennys Begeisterung geblieben war. Schließlich war die Reise doch seine Idee gewesen.

Das alte Paar stand auf und ging an unserem Tisch vorbei. Händchenhaltend verließen sie das Café. Als die beiden weg waren, kam mir der helle Raum auf einmal kleiner vor.

»Jasmin, ich muss dir was sagen«, platzte Lenny plötzlich heraus. »Ich komme nicht mit.«

»Was? Warum?« Ich fiel aus allen Wolken. »Hast du nicht genug Geld gespart? Kein Problem. Ich kann dir was leihen. Oder wir jobben auf der Reise und machen …«

»Das ist es nicht«, unterbrach mich Lenny und fing wieder an, mit der Zuckerdose herumzuspielen.

Mir wurde flau im Magen. Die Tarte war viel zu süß gewesen. »Klär mich auf«, sagte ich so ruhig wie möglich. »Ich stehe auf der Leitung.«

Lenny holte tief Luft. »Aus unserer Reise wird leider nichts. Ich werde für ein paar Monate nach Berlin gehen.«

»Warum das denn? Was hast du vor?«

Lenny wurde noch verlegener. »Hör mal, es ist so … Kim hat mich nach Berlin eingeladen. Wir … ich … äh … auf der Party bei Nina … Also ich wollte das nicht, ehrlich. Es ist einfach so passiert.«

Lennys Worte hingen wie die Sprechblasen eines albernen Comics über seinem Kopf. Das hier geschah in einer Geschichte, die frei erfunden war und nichts, aber auch gar nichts mit mir zu tun hatte.

»Und … was … was heißt das jetzt für uns?«, hörte ich mich fragen.

Lenny lächelte mich traurig an. »Es tut mir leid, Jasmin. Ich hab mich in Kim verliebt, aber ich will dich nicht ganz verlieren. Lass uns Freunde bleiben, okay? Meinst du, wir kriegen das hin?«

Die Sprechblasen über Lennys Kopf zerplatzten. Ich hatte verstanden, und ich war so was von wütend. »Du machst Schluss?!«

Lenny seufzte. »Das klingt so hart. Sei ehrlich, Jasmin. Wir haben uns einfach auseinandergelebt. Es ist doch schon lange nicht mehr so wie früher. Meinst du nicht, wir sollten aufhören, uns was vorzumachen?«

Lenny klang wie einer dieser megaschlauen Psychologen. Das konnte nicht der Lenny sein, der meinen Rücken mit 57 Küssen bedeckt hatte. Der mit mir quer durch Europa reisen und noch mal ganz von vorne anfangen wollte. Dieser Albtraum musste aufhören, jetzt, sofort.

Ich beugte mich über den Tisch und sah Lenny direkt in die Augen. »Das kannst du nicht machen. Du kannst nicht einfach herkommen und unsere Reise absagen. Unsere Pläne, unsere Liebe.«

»Geht’s vielleicht ein bisschen leiser? Die Leute drehen sich schon nach uns um …«

»Na und?«, gab ich zurück. »Ist mir doch egal!«

Lenny stellte seine Tasse auf den Kuchenteller. »Es tut mir wirklich leid, Jasmin. Ich geh dann mal lieber. Denk bitte drüber nach. Du warst doch am Anfang eh nicht so begeistert von der Reise. Jetzt kannst du hierbleiben und ausspannen.«

»Ich glaub’s nicht!«, regte ich mich auf. »Jetzt drehst du es auch noch so hin, als ob du mir einen Gefallen tust. Hau bloß ab! Ich will dich nie wiedersehen.«

Lenny zuckte kurz zusammen. Dann stand er auf, ging zum Tresen und zahlte.

Ich starrte auf den Tisch und reagierte nicht, als er auf dem Rückweg ein verlegenes »Tschüss« murmelte.

Endlich fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Spätestens jetzt hatte auch die letzte Zelle meines Körpers begriffen, was passiert war. Kim! Warum war mir auf der Party nichts aufgefallen? Ich war so naiv gewesen, war nicht mal auf die Idee gekommen, eifersüchtig zu sein. Hatte die beiden auch noch zusammengebracht und für sie Schicksal gespielt. Das würde ich mir nie verzeihen.