Übersetzung: Elsbeth Ranke
Einleitung
1 Woher kommt Ungleichheit?
2 Das griechische Wunder
3 Der stolze Turm
4 Inseln im Meer
5 Liberale Gleichheit
6 Sozialistische Gleichheit
7 Aufstieg und Fall des Rassismus
8 Minderheiten zu Mehrheiten
9 Schöne neue Welt
10 Der Tod und danach
11 Versprechen und Risiko
Literaturangaben
Zur Geschichte der Gerechtigkeit und der Freiheit gibt es Regale voller Bücher. Keinen eigenen Biografen hat dagegen bisher die Geschichte der Gleichheit gefunden. Wir haben nichts, was mit Platons Über das Gerechte (besser bekannt als Politeia) oder John Stuart Mills On Liberty vergleichbar wäre. Merkwürdig – ist doch die Gleichheit ähnlich bedeutsam wie diese beiden Werte; und das galt niemals so wie heute. Einerseits ertrinken wir in Texten, die uns vor den Gefahren immer tieferer sozio-ökonomischer Gräben warnen, und in Bewegungen, die gegen diese Gräben aufbegehren.1 Andererseits ist das Gegenteil der Gleichheit, nämlich die Diskriminierung, heute nicht nur ein Tabu, sondern muss gar als Druckmittel für alle möglichen glaubwürdigen und unglaubwürdigen Reformen herhalten.
Dabei sind die drei Begriffe so eng miteinander verwoben, dass sie gar nicht zu trennen sind. Wo keine Gleichheit ist, kann es weder Gerechtigkeit noch Freiheit geben. Andererseits ist die Gleichheit nicht frei von Risiken. Wird sie zu weit getrieben, so ist leicht der Punkt erreicht, an dem sie sowohl Freiheit als auch Gerechtigkeit einschränkt oder gar aufhebt. Es dürfte weitgehend Konsens darüber herrschen, dass sowohl Individuen als auch Gemeinschaften, um ein »gutes Leben« führen zu können, eine ausgewogene Mischung aus allen drei Merkmalen benötigen. Ein verständliches Konzept vorzulegen, wie genau diese Mischung auszusehen hat, übersteigt freilich unsere Möglichkeiten. Stattdessen wird dieser Band, immer vor dem Hintergrund der beiden anderen Konstituenten der Begriffstrios, die Geschichte der Gleichheit seit frühester Zeit nachzeichnen. Inbegriffen sind dabei ihr Ursprung, ihre Entwicklung, die verschiedenen Erscheinungsformen sowie Kosten und Nutzen ihrer Umsetzung.
Auf den ersten Blick ist die Gleichheit ein einfaches Konzept – was wäre simpler? Die Wirklichkeit aber sieht ganz anders aus. Um das nachzuvollziehen, braucht man nur den verbalen Schlingerkurs des großen chinesischen Revolutionärs und Reformers Sun Yat-sen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verfolgen. Sun Yat-sen wurde teilweise in Hawaii und im britischen Hongkong erzogen und kam weit in der Welt herum. Zurück in der Heimat, wurde ihm klar, dass der Gleichheitsgedanke für sein eigenes Volk zu weit ging. Besonders problematisch waren insofern die Mitglieder der städtischen, besser gebildeten Klassen, die im Wesentlichen sein Publikum waren. Nur sie konnten annähernd verstehen, wovon er eigentlich sprach, aber zugleich, so merkte er, mussten sie sich davon fast zwangsläufig bedroht fühlen. Dem versuchte er mit allen Mitteln entgegenzuwirken. Die Einführung der Demokratie, so sagte er, würde zu politischer Gleichheit führen: Jedermann hätte das Recht, zu wählen und gewählt zu werden. Dabei aber bleibe es: Das traditionelle chinesische System der »wahren Gleichheit« oder Harmonie, nach der der »Weise« ganz oben auf der sozialen Leiter steht und der »Dumme« und »Niedrigere« ganz unten, bliebe intakt. In Suns bekanntestem Werk, Die drei Prinzipien des Volkes, findet die Gleichheit kaum überhaupt Erwähnung.2
Es gibt Gleichheit vor Gott und Gleichheit hier auf Erden. Es gibt natürliche Gleichheit und die Sorte Gleichheit, die erst die menschliche Gesellschaft hervorbringt. Manch einer fordert Gleichheit sogar auch für Tiere und Pflanzen. Es gibt körperliche Gleichheit und geistige Gleichheit. Es gibt ökonomische Gleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Es gibt bürgerliche Gleichheit, politische Gleichheit, Chancengleichheit und Gleichheit im Tod. Es gibt Gleichheit unter Individuen und Gleichheit unter Gruppen, Nationen und Rassen. In Aldous Huxleys Schöne neue Welt gilt als selbstverständlich, dass beim Menschen (und zwar bei Mann und Frau, wenngleich Huxley das nicht ausdrücklich sagt) Gleichheit in Bezug auf die physikalisch-chemische Substanz besteht, sonst aber in keiner Hinsicht.3 Und damit ist die Liste noch lange nicht zu Ende. Daher lässt sich die Gleichheit schlicht nicht definieren – und statt mich in dieser hoffnungslosen Mission zu versuchen, habe ich mich entschieden, ihre Geschichte zu schreiben.
Um ganz vorne zu beginnen: Ist Gleichheit in irgendeinem Sinn »natürlich«? Falls nein, wann, wo und warum kam der Gedanke dann auf? Welche Formen nahm die Gleichheit an? Welche Rolle spielte sie in der menschlichen Geschichte? Wie interagierten Theorie und Praxis? Nähern wir uns allmählich einem Zustand der Gleichheit an? Worin liegen ihre Versprechungen? Worin ihre Risiken? Zur Beantwortung dieser Fragen werden wir uns zunächst der Tierwelt zuwenden, allerdings nicht allen Arten von Geschöpfen, die Gegenstand der Zoologie sind. Wäre es wirklich sinnvoll, uns mit Skorpionen oder Goldfischen zu vergleichen? Vielmehr begrenzen wir die Diskussion auf Säugetiere und unsere nächsten Verwandten, die Primaten. Als nächstes darf eine Betrachtung der einfachsten bekannten menschlichen Gemeinschaften nicht fehlen, der so genannten Hordengesellschaften oder – bei einer geringfügig stärkeren Organisationsform – akephalen (herrschaftsfreien) Gesellschaften. Wie sich herausstellen wird, herrscht selbst dort innerhalb wie außerhalb der Familie keineswegs absolute Gleichheit. Wie schon der Name sagt, waren Häuptlingstümer, bis vor gar nicht so langer Zeit weltweit die häufigste Form politischer Organisation, noch deutlich weniger egalitär als akephale Gesellschaften. Vieles deutet darauf hin, dass vor und noch lange nach der Einführung des Begriffs ›Gleichheit‹ durch die modernen Imperialisten die Bevölkerungen der meisten Häuptlingstümer nicht einmal die Bedeutung des Wortes ›Gleichheit‹ erfassen konnten.
Das erste Volk, das Staatswesen entwickelte, die auf einer Form von Gleichheit beruhten, waren unserer Kenntnis nach die antiken Griechen ab etwa 650 vor Christus. Warum, wann und wie der Gedanke dort aufkam, ist unklar. Das Experiment, das mehrere verschiedene Formen annahm, lief in relativ kleinem Maßstab ab und dauerte insgesamt etwa dreihundert Jahre. Für die nächsten beinahe zweitausend Jahre blieb es praktisch einzigartig. Vergessen wurde es freilich nie, und seine Auswirkungen auf die moderne Welt waren überwältigend. Bis heute vergeht kaum ein Monat ohne die Publizierung einer neuen Abhandlung über seine Entstehung und seinen Verlauf. Daher werden auch wir es etwas detaillierter betrachten und sowohl die Vor- als auch die Nachteile diskutieren, wie sie von zeitgenössischen und nachträglichen Kritikern genannt werden.
Als zu Beginn des hellenistischen Zeitalters die Unabhängigkeit der griechischen Stadtstaaten zu Ende ging, schloss sich der Vorhang wieder. Von der römischen Republik an existierte Gleichheit in den meisten politischen Systemen vor der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht einmal als Ideal, geschweige denn in der Realität. Wo immer sie sich auch nur andeutungsweise bemerkbar machte, galt sie als Gefahr, gar als lebensbedrohend für die Grundlagen der sozialen Ordnung. Jeder Versuch, sie zu verwirklichen, musste mit den brutalst möglichen Mitteln unterbunden werden, was auch nicht selten geschah; und dies sowohl in zentralisierten Systemen wie den imperialen Reichen in all ihren Spielarten, als auch in dezentralisierten Feudalsystemen. Man könnte sogar behaupten, dass ungeachtet aller Unterschiede zwischen diesen beiden Organisationsformen gerade die Ungleichheit die große Gemeinsamkeit darstellte.
Wo immer und solange also diese Staatsformen existierten, konnte Gleichheit stets nur isoliert, vorübergehend und/oder als Ideal existieren. Besonders in Europa kam es durchaus zu einzelnen Erhebungen, Aufständen und Kriegen mit dem erklärten Ziel, eine Art von Gleichheit herzustellen oder zumindest die Ungleichheit zu mildern. Praktisch all diese Experimente wurden jedoch binnen Tagen, Wochen oder Monaten niedergeschlagen. Wie in George Orwells Farm der Tiere waren am Ende selbst die, die eine Zeitlang durchhielten, tendenziell zum Scheitern verurteilt. Häufig hatten die Anführer, einmal an die Macht gelangt, nichts Eiligeres zu tun, als sich auch zum Nachteil ihrer Anhänger erhebliche Privilegien zu sichern. Und selbst wenn das nicht der Fall war, sahen sie sich meist gezwungen, zur Repression zu greifen, also zu ungleich ausgeübter Gewalt, um die Gleichheit zu erhalten, die sie selbst eingerichtet hatten. Ein Zustand, der der Gleichheit nahekommt, ließ sich lediglich in den Klöstern finden – und das nicht nur in Europa –, oder aber in Utopien. Beides werden wir hier, wenn auch recht kurz, untersuchen.
Die nicht geringe Ehre, als erster eine politische Ordnung entworfen zu haben, die sich auf die Annahme gründet, dass jeder gleich geboren ist und niemand über mehr Rechte verfügt als jeder andere, kommt Thomas Hobbes mit seinem Leviathan (1651) zu. Ausgehend davon breitete sich der Gedanke bei verschiedenen Denkern der Aufklärung aus, die innig hofften, sie könnten in ihren eigenen Staaten Gleichheit erreichen. Allerdings mit einem Unterschied: Hobbes’ Bürger waren gleich in dem Sinn, dass keiner von ihnen über irgendwelche Rechte verfügte; das erachtete er als wesentlichen Aspekt, um sein Hauptziel zu erreichen, nämlich den Erhalt von Gesetz und Ordnung. Für seine Nachfolger hingegen war die Gleichheit eine Vorbedingung für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie wollten die Privilegien der Oberklassen aufheben, damit Angehörige der Mittelklasse wie sie selbst so schnell und so weit vorpreschen konnten wie möglich. Aus diesem Grund wird ihre Version der Gleichheit häufig als liberale Gleichheit bezeichnet. Allesamt hätten sie unterschrieben, was der bekannte Historiker Lord Acton im Cambridge des späten 19. Jahrhunderts sagte: »Macht [das heißt eine Situation, in der einige Menschen ungleiche Macht über andere ausüben] verdirbt, und absolute Macht verdirbt absolut.«4
Manch einer könnte hier vielleicht einwenden, dieses Buch sei zu eurozentrisch angelegt. Es stimmt, dass gelegentlich auch in anderen Teilen der Welt Gleichheitsträume geträumt wurden; mit einigen davon werden wir uns auch kurz befassen. Doch noch einmal: Abgesehen von Klöstern und Aufständen war vor 1776 der einzige Ort, an dem diese je in reale Systeme umgesetzt wurde – und auch das nur in relativ kleinem Maßstab und nur für etwa dreihundert Jahre –, das antike Griechenland. Hobbes selbst war Europäer (auch wenn die Briten das weiterhin nur ungern eingestehen), ebenso die übrigen Propheten der liberalen Gleichheit. Obwohl der Kolonialismus sehr große Ungerechtigkeit schuf, ist es gerade ihm zu verdanken, dass sich diese liberale Gleichheit von Europa und dem europäisch besiedelten Nordamerika in weitere Weltteile ausbreiten konnte. Wie sagte einer meiner Lehrer gerne: Jahrhundertelang wussten die Menschen in den so genannten »Entwicklungsländern« nur nicht, dass auch sie gleich sind. Doch in den 1960er Jahren, und vor allem dank der Erfindung des kleinen Transistorradios, hatte die Botschaft auch sie erreicht – und sie schlug zurück.
Ebenfalls diskutieren müssen wir den Gleichheitsbegriff verschiedener Schulen von Sozialisten und Kommunisten. Diese gepaarten Bewegungen, aufgekommen im 19. Jahrhundert, spielten im 20. eine ganz entscheidende Rolle. Während der Kommunismus praktisch verschwunden ist, ist der Einfluss einiger Formen des Sozialismus in vielen Ländern weiterhin zu spüren und könnte sogar im Aufstieg begriffen sein. Auch die Frage der Rasse können wir nicht unbeachtet lassen. Wie eine der ersten wichtigen Arbeiten zum Thema, Arthur de Gobineaus Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (1853-1855), schon im Titel zeigt, sollte der Rassismus insbesondere die Überlegenheit einiger Menschen über andere nachweisen. Dass dieser Versuch in wissenschaftlicher Hinsicht gescheitert ist, muss kaum erwähnt werden. Doch paradoxerweise hatte auch die Bewegung, die die Rassendoktrin übernahm und als theoretische Grundlage für einige der furchtbarsten Verbrechen der Geschichte nutzte, zum Thema Gleichheit einiges zu sagen. Wer diese Tatsache ignoriert, verkennt sowohl die Natur des Nationalsozialismus als auch einige der Gründe, weshalb er eine Zeitlang so erfolgreich war. Und zugleich übersähe man damit einige der bedeutendsten Entwicklungen in der Welt nach 1945.
Ein eigenes Kapitel untersucht die Gleichheit der Frau sowie die von Minderheiten wie sexuell andersorientierten oder behinderten Menschen. Hier lässt sich nicht bestreiten, dass es einigen Fortschritt gegeben hat. Problematisch ist freilich, dass diese »Minderheiten« inzwischen zu einer Mehrheit angewachsen sind. Zunehmend begegnet die Gesellschaft der Minderheit, die in den entwickelten Ländern des Westens aus gesunden heterosexuellen weißen Männern besteht, mit Benachteiligungen. Und wie so oft in der Geschichte lässt sich Gleichheit für manche nur herstellen, indem alle anderen diskriminiert werden. Zu untersuchen ist auch, wie der Fortschritt von Wissenschaft und Technik die Gleichheit womöglich in Zukunft beeinflusst. Und schließlich braucht es ein Kapitel über die Gleichheit im Angesicht des größten aller Gleichmacher: nämlich des Todes und seiner Folgen.
Der oben erwähnte Lord Acton musste sein Vorhaben, eine Geschichte der Freiheit zu schreiben, aufgeben, weil das Sujet, so ausführlich er es zu behandeln gedachte, ganz einfach zu umfangreich war. Auf die Gleichheit trifft das bestimmt nicht weniger zu. Alles zu lesen, was je zum Thema geschrieben wurde, übersteigt die Möglichkeiten eines Einzelnen bei weitem, wie fleißig und langlebig er auch wäre. Doch als ich erst auf den Gedanken gekommen war, wollte ich dieses Buch ganz einfach schreiben. Eigentlich fing es fast von selbst an, sich zu schreiben. So wie Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs und die meisten Historiker vor Mitte des 19. Jahrhunderts einschließlich Lord Actons, hätte ich mich dafür entscheiden können, auf extensive Literaturangaben zu verzichten. Genauso gut hätte ich das Gegenteil tun können, was wahrscheinlich zu 25 Seiten Fußnoten zu jedem Satz geführt hätte. Am Ende habe ich mich für einen Kompromiss entschieden. Ich habe versucht, so viel zu lesen, wie ich für nötig hielt, um die Materie so gut zu verstehen, wie mein Vorhaben es verlangte, und meine Hauptquellen nach bewährter akademischer Manier zu nennen. Ich kann nur hoffen, dass mir das gelungen ist.
So ungern es manche Menschen anerkennen, aber in der Natur scheint Ungleichheit die Regel zu sein, nicht Gleichheit. Bleiben wir bei den Säugetieren, so sind zwei Hauptgruppen zu unterscheiden. Die einen leben in Rudeln von einigen Weibchen, ihren Jungtieren und einem oder mehreren Männchen; das ist zum Beispiel bei Löwen der Fall. Rudel leben getrennt voneinander und kommen untereinander nicht häufig in Kontakt. Innerhalb jedes Rudels dominieren die Männchen. Doch da Männchen in jedem Rudel sich gegen Außenstehende behaupten müssen, die ihnen ihren Platz streitig machen möchten, kommt es innerhalb des Rudels zu einer beträchtlichen Fluktuation. Im Ergebnis sind feste Hierarchien und Dominanzstrukturen bei ihnen nicht ausgebildet. Noch weniger bedeutsam ist Dominanz bei Tierarten, deren Männchen die meiste Zeit als Einzelgänger verbringen wie etwa Orang-Utans.1
Viele andere Tierarten leben in Gruppen oder Herden mit mehreren Individuen beiden Geschlechts. Sie sind, um den Begriff des Aristoteles zu missbrauchen, »soziale Lebewesen«. Die Situation verhält sich hier ganz anders. Dominanz und ihr Gegenpart, die Unterwerfung, sind allgegenwärtig. Auf Ungleichheit beruht das Leben von Arten wie Meerkatzen, Wölfen, Rothirschen, Pavianen, Marmosetten, Makaken, Südlichen Grünmeerkatzen, Bisons und Ratten. Zu dieser Liste gehören sechs Tonnen schwere Elefanten genauso wie winzige Mäuse. Soweit die vom Menschen für sie geschaffenen Lebensbedingungen es zulassen, gehören auch Haustiere wie Rinder auf diese Liste. Zudem dominieren tendenziell horntragende Rinder über enthornte Angehörige derselben Art.2 Damit liefern sie einen empirischen Nachweis dafür, welche Rolle körperliche Kraft und die Fähigkeit, anderen Schaden zuzufügen, tatsächlich spielt, sowie dafür, dass Tiere das tatsächlich begreifen können und sich dementsprechend verhalten.
Einige Zoologen sind der Ansicht, ein Pferd oder einen Hund zu sterilisieren oder einer Katze die Krallen zu ziehen, füge dem Tier Leid zu, weil es dadurch an Status verliert.3 Bei allen Arten bedeutet Dominanz regelmäßig besseren Zugang zu Nahrung sowie zu Geschlechtspartnern; anders gesagt, Bedürfnisse und Ansprüche Einzelner haben Priorität vor denen anderer Individuen. Und schließlich ergibt sich aus den Gesetzen der Vererbung, dass Tiere wahrscheinlich Nachkommen haben, die ihnen selbst ähneln. Individuen mögen sich verändern, die Ungleichheit als solche besteht aber in der Tendenz dauerhaft weiter. Sie herrscht nicht nur im Moment, sondern auch über die Zeit hinweg. Aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive gesehen ist wahrscheinlich genau das überhaupt der Grund für ihre Entstehung.
Wie wir sehen werden, entstand die Ungleichheit unter Menschen wahrscheinlich in dem Moment, als einige Individuen zuerst sich selbst und dann auch andere davon überzeugen wollten, dass sie den Geistern oder Göttern näher standen. Weitere Faktoren sind die Abstammung von einem oder mehreren besonders prominenten Vorfahren; Sonderrechte, die angeblich irgendwann verliehen wurden (häufig je älter, desto besser); und außerdem Reichtum. Auch Unterschiede in physischer Stärke, Intelligenz, Aggressivität, Mut, Gesundheit, Alter und Geschlecht können eine Rolle spielen. In dieser Hinsicht funktionieren Tiere einfacher. Soweit wir es beurteilen können, kennen sie keine Götter. Sie ehren weder das Gedächtnis der Ahnen noch erwerben sie formale »Rechte« oder Eigentum, das sie behalten oder veräußern können; und täten sie es, so könnten sie jedenfalls nichts davon an ihre Nachkommen weiterreichen. Betrachtet man alle Arten insgesamt – von Beziehungen zwischen den Arten soll hier nicht die Rede sein –, so sind stets die einen Individuen männlich, die anderen weiblich. Einige stehen in der Blüte des Lebens, sind groß, stark, gesund und munter. Andere sind zu alt, zu jung, zu klein, zu schwach, oder oder sie leiden an Verletzungen oder Krankheit. Manche sind mutig, aggressiv und intelligent, andere weniger. Diese Unterschiede übersetzen sich in Dominanz oder, wenn man so will, in Ungleichheit.
Innerhalb jeder Gruppe herrscht ein harscher Wettkampf um die obersten Ränge und damit um die Vorteile, die die Ungleichheit zu vergeben hat. Individuen, die die existierende Hackordnung umzustürzen versuchen, müssen ein eventuelles Scheitern teuer bezahlen. Doch wenn nicht gerade extremer Mangel an Futter und/oder Geschlechtspartnern herrscht, besteht in den meisten Gruppen trotz der Tatsache, dass einige Tiere dominieren und andere das anerkennen, relative Harmonie. Im Gegenteil, vielleicht ist diese Dominanz sogar der wichtigste Grund, warum eine relative Harmonie überhaupt möglich ist und sich die Gruppenmitglieder nicht ständig in Stücke zu reißen versuchen. Über die Messlatte der Dominanz lässt sich in einer Art Schnellverfahren entscheiden, wer wieviel wovon erhält und wann. Ungleichheit ist also genau das Prinzip, auf das sich das soziale Leben der Gruppen gründet und überhaupt möglich wird.
Sir Solly Zuckerman (1904–1993) gilt vielfach als Vater der modernen Primatologie, dem es wesentlich zu verdanken ist, dass diese auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt wurde. Er schreibt: »Jeder Affe nimmt innerhalb einer sozialen Gruppe eine Stellung ein, die durch das Verhältnis seiner eigenen Dominanzmerkmale zu denen seiner Gefährten bestimmt wird. Der Grad seiner Dominanz bestimmt, inwieweit seine körperlichen Bedürfnisse befriedigt werden.«4 Soziale Beziehungen auf Grundlage von Dominanz herrschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der »Familie« vor. Solche Beziehungen, so Zuckerman weiter, »lassen sich betrachten als eine Folge adaptierter Reaktionen, die über Schmerz und Furcht konditioniert werden. Der Handlungsspielraum eines Tieres innerhalb einer Gruppe ist durch die Gefahr eingegrenzt, die sich aus der Überlappung seiner Bedürfnisse mit denen eines dominanteren Tiers ergeben kann. Die einzige Gleichheit innerhalb einer sozialen Gruppe ist eine Gleichheit dominanter Merkmale. Jedes Gleichgewicht ist nur vorübergehend und kann jederzeit mehr oder weniger stark gestört werden, wenn die Gruppenmitglieder ihre jeweiligen Beziehungen neu abgleichen. Damit findet die Gruppe zu einem neuen Gleichgewicht. Innerhalb der Gruppe scheint jedes Tier in potenzieller Angst davor zu leben, dass ein anderes Tier, das stärker ist als es selbst, seine Aktionen einschränken könnte.« Untermauert wurden Zuckermans Aussagen durch Experimente, die er an in Gefangenschaft lebenden Zootieren durchführte. So bot er zum Beispiel in Gegenwart eines dominanten Affen einem rangniederen Futter an und beobachtete, was passierte. Sonderlich schwer waren diese Ergebnisse natürlich nicht vorherzusagen.
Eine weitere große Primatologin, Jane Goodall (*1934), beobachtete über viele Jahre hinweg wild lebende Schimpansen. Auch sie stellte fest, dass besonders männliche Schimpansen um Dominanz konkurrieren. Allerdings beobachtete sie weniger Gewalt und eher friedliche Formen der Interaktion, wahrscheinlich weil ihre Versuchstiere weder an Überbevölkerung noch an Langeweile litten. Dominante Tiere bedrohten, schlugen und bekämpften gelegentlich rangniedere Tiere ebenso wie ihresgleichen, aber ihr Leben bestand keineswegs hauptsächlich aus solchen Kämpfen. Gelegentlich konnte ein dominantes Tier ein rangniederes auch beruhigen und beschwichtigen; dazu berührte es das rangniedere Tier üblicherweise im Gesicht und am Rücken sowie in der Leistengegend. Andererseits gaben sich rangniedere Individuen häufig viel Mühe, um ranghöhere zu befrieden. Sie machten zu diesem Zweck besondere Geräusche, näherten sich ihnen so behutsam wie möglich und boten ihnen Fellpflege an.5 Genutzt wurde die Ungleichheit damit in beide Richtungen. Mindestens mussten sowohl das gleichrangige als auch das rangniedere Tier seine Absichten signalisieren und die Signale des Gegenübers verstehen. Dafür setzten sie alle fünf Sinne ein. Andere Forscher stellten fest, dass es in Beziehungen, in denen Dominanz und Unterwerfung nicht vorhanden waren, etwa bei Männchen aus unterschiedlichen Gruppen, durchaus zu tödlichen Kämpfen kommen konnte.6
Der aktuell am meisten gefeierte Primatologe dürfte der niederländisch-amerikanische Forscher Frans de Waal sein. Nach seiner Ansicht tobt in jeder Primatengruppe ein ständiger Kampf um Dominanz. Ist diese einmal etabliert, äußert sie sich vor allem in Form von privilegiertem, also ungleichem Zugang zu Geschlechtspartnern sowie unter bestimmten Umständen zu Nahrung. Welche Form der Kampf genau annimmt, variiert unter den Arten erheblich. Besonders interessant sind in dieser Frage Bonobos einerseits und Schimpansen andererseits. In genetischer Hinsicht sind die beiden Arten unsere engsten Verwandten; und zwar sind sie uns beide gleich nah. Bonobos oder Zwergschimpansen sind relativ friedliebend. Vielleicht hat das damit zu tun, dass bei ihnen unüblicherweise die Gruppe von Weibchen dominiert wird. Kämpfe, an denen sich sowohl Männchen als auch Weibchen beteiligen, werden gelegentlich trotzdem ausgetragen, zum Teil auch ziemlich verbissen. Insgesamt aber wird Dominanz überwiegend durch das Eingehen von Bündnissen mit anderen Tieren erworben. Dabei kommt häufig Sex zum Einsatz, den Bonobos beinahe ständig zu praktizieren scheinen.
So heißt es auch in der Schlussfolgerung: »Man beschreibt [Bonobos] besser als tolerant denn als egalitär.«7 Bei Schimpansen ist das ganz anders. Die Gruppen werden durchgehend von Männchen angeführt. Innerhalb jeder Gruppe dominieren alle Männchen alle Weibchen.8 Gekämpft wird viel mit politischen Mitteln, also Manipulierung und der Bildung von Bündnissen. Auch die Zurschaustellung von Macht für Auge oder Ohr oder beides spielt eine sehr wichtige Rolle. Jedoch sind Schimpansen auch sehr aggressiv. Konkurrenz kann leicht in Gewalt umschlagen – und darauf kann Versöhnung folgen oder auch nicht. Beobachtet wurden Kämpfe mit tödlichem Ausgang und das Herausquetschen von Hoden.9 Bei beiden Affenarten wäre die Dominanz sinnlos, wäre sie nicht begleitet von ihrem Gegenpart, der Unterwerfung, und dem entsprechenden Verhalten. Auf jedes privilegierte Tier muss mindestens eines kommen, das benachteiligt ist. Manche Schimpansen kriechen regelrecht vor anderen im Staub. Solches Verhalten lässt sich verstehen als eine Art ritualisierte Bestätigung des Dominanzverhältnisses.10
Die Stellung jedes Individuums in der Hierarchie spiegelt stets Persönlichkeit, Alter, Erfahrung und die Fähigkeit des oder der Betroffenen, mit anderen Beziehungen einzugehen. Wie unter Menschen umgeben sich dominante Individuen in der Regel mit anderen Dominanten beiderlei Geschlechts. Rangniedere werden isoliert oder isolieren sich sogar freiwillig selbst immer weiter. Doch warum gehen wir überhaupt mit Jane Goodall bis in die Urwälder Tansanias oder mit Frans de Waal in die Stadtzoos von Arnheim oder San Diego? Jeder Hundebesitzer weiß: Ein Tier, das ein anderes bedrohen möchte, stellt die Ohren nach hinten, sträubt sein Fell, knurrt und fletscht die Zähne. Zur Besänftigung legt es sich auf den Rücken, exponiert Bauch und Kehle und wälzt sich. Abgesehen von psychisch kranken Hunden – das gibt es, wenn auch wohl sehr viel seltener als beim Menschen – sind beide Signale eindeutig verständlich. Sowohl Dominanz als auch Unterwerfung werden schnell und, was ausgerissene Haare und Verletzungen angeht, billig hergestellt. Nur ganz selten kommt es überhaupt zum offenen Kampf.
Zahllose ähnliche Primatenstudien weisen nach, dass auch bei ihnen Dominanz und Unterwerfung sehr weit verbreitet sind.11 Die Stellung jedes Individuums relativ zu allen anderen wird sehr präzise durch seine physischen und mentalen Merkmale festgelegt. In diesem Sinn kann man sogar von einer »Gerechtigkeit« oder einem gewissen Ausmaß von Fairness sprechen. Einige Affen verstehen offenbar, dass Gerechtigkeit darin besteht, dass jedes Individuum erhält, was ihm seinen Merkmalen entsprechend zusteht. Auf Störungen dieser Gerechtigkeit reagieren sie mit Empörung.12 Die Entscheidung, ob die 1,5 Prozent Genmaterial, die uns sowohl von Schimpansen als auch von Bonobos trennen, ein »Riesensprung« oder ein »kleiner Schritt« sind, überlasse ich den Philosophen. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass sie uns näher stehen als jedes andere Lebewesen auf dieser Erde.
In diesem Licht betrachtet ist es nicht erstaunlich, dass Gleichheit in Gesellschaften, die in Deutschland in weniger politisch korrekten Zeiten als »Naturvölker« bezeichnet wurden, nicht gerade verbreitet war. Nehmen wir die so genannten Hordengesellschaften, die einfachsten bekannten menschlichen Gesellschaften. Bis etwa 1860 war eine solche, nämlich die Ureinwohner der Andamaneninseln in Südindien, eine der isoliertesten Populationen der Erde. Wahrscheinlich glich keine Gruppe zeitgenössischer Menschen so stark unseren Vorfahren aus der Steinzeit. Die Andamaner stammen wohl aus dem heutigen Myanmar und erreichten die Inseln vor etwa 60 000 Jahren über eine längst nicht mehr existierende Landbrücke. Marco Polo besuchte sie wohl nicht selbst, hörte aber aus zweiter Hand von ihnen und notierte, sie hätten keinen König. Er beschrieb sie als »seltsame Rasse«: »Die Menschen haben Köpfe wie Hunde und Zähne und Augen ebenfalls wie Hunde. (…) Die Eingeborenen sind äußerst grausam. Sie sind Menschenfresser; jeden, der nicht ihres Stammes ist, verzehren sie.«13
Bevor die Briten die Inseln besetzten, hatten die Andamaner praktisch keinen Kontakt mit der Außenwelt.14 Die Bevölkerungszahl betrug vielleicht 5000 bis 6000; inzwischen ist sie auf kaum ein paar Hundert zusammengeschrumpft. Die Andamaner unterteilten sich in etwa zehn Stämme, die alle eine andere Sprache besaßen, obwohl sie sich meist untereinander verständigen konnten. Ihre materielle Kultur war in der Tat rudimentär. Vielleicht als einzige Menschen der Welt beherrschten sie nicht die Technik des Feuermachens, konnten es allerdings unterhalten und gebrauchen. Ihr Eigentum bestand aus relativ knappen Kleidungsstücken und Schmuck, Werkzeugen wie Netzen, Schalen, Bogen, Pfeilen und ähnlichen Geräten zum Fischen, Jagen und Kochen. Es gab auch einfache Behausungen aus leicht zugänglichen Materialien, in oder unter denen sie lebten, doch nichts, was nicht von praktisch jedem Einzelnen innerhalb weniger Stunden errichtet werden konnte. Dementsprechend waren Arbeitsteilung und Spezialisierung weitestgehend auf das Ausmaß beschränkt, das sich natürlicherweise aus Alters- und Geschlechtsunterschieden ergibt.
Land und Meer, aus dem das Volk sich ernährte, galt als gemeinsamer Besitz aller Stammesmitglieder. Gegen Übergriffe durch Fremde wurden die Flächen allerdings verteidigt. Auch konnte ein Stamm auf Kosten seiner Nachbarn expandieren. Es gab Hungerzeiten, die entweder durch Bevölkerungswachstum oder durch Naturkatastrophen verursacht sein konnten; normalerweise aber lieferte die Umwelt genügend Ressourcen für alle. Nahrung und andere Gegenstände gehörten dem, der sie gesammelt, erjagt oder hergestellt hatte. Einerseits mangels Notwendigkeit, andererseits weil sich so viele organische Produkte nur schwer über längere Zeit hin konservieren lassen, gab es keine Neigung, materielle Gegenstände zu monopolisieren, zu horten oder damit zu handeln. Tauschgeschäfte beschränkten sich auf gegenseitige Geschenke. Dazu kam es vor allem zu bestimmten Zeiten, etwa bei Festen, doch es war so allgemein verbreitet, dass man darin eine gewisse rudimentäre Form des Handels sehen kann. Aber was gab es auch zu besitzen? Es gab keine Regierung im Sinne von klar benannten Personen oder Einzelne, die über mehr Macht und/oder Privilegien verfügten als andere.
Dennoch dürfen folgende Fakten nicht unerwähnt bleiben: Zunächst unterschied man in der Anrede klar zwischen Ehemännern und Ehefrauen, Eltern und Kindern, Älteren und Jüngeren. Da praktisch die einzige Beziehung, die verschiedene Menschen aneinander band, die Verwandtschaft war, führte das zu zahlreichen Abstufungen sowie scharf voneinander abgegrenzten Rechten und Pflichten.15 Zweitens lautete eines der Grundprinzipien, aufgrund dessen die Horden sich zusammenfanden, dass jeder, der Nahrung besaß, sie mit denen teilen musste, die keine besaßen. Allerdings bewirkte das, in den Worten des großen Anthropologen, der die Inseln erforschte, Folgendes: »Sollte ein junger, unverheirateter Mann ein Schwein erlegen, so muss er sich damit zufrieden geben zuzusehen, wie es von einem der älteren Männer verteilt wird, wobei die besten Stücke an die Älteren gehen, während er und seine Gefährten sich mit den niederen Stücken begnügen müssen. Diese Sitte führt im Ergebnis dazu (…), dass die jüngeren Männer sich nicht gleichermaßen anstrengen wie ihre älteren Gefährten.«16 Ältere Männer konnten also aufgrund ihrer Stellung über Nahrung verfügen, die sie nicht lieferten. Dasselbe galt auch in einzelnen anderen Hordengesellschaften weltweit, etwa bei den Aeta auf der Insel Luzon und den Yanomami in Paraguay. Umgekehrt beklagen Feminismus-Forscherinnen, dass Frauen weniger bekamen, als ihnen zustand. Wenn das der Fall war, dann wahrscheinlich deshalb, weil die Männer, die die Hauptarbeit bei der Jagd und der Meeresfischerei leisteten, die proteinreichere Nahrung lieferten. Diesen Umstand nutzten sie zur Aufbesserung ihres Status.17
Und drittens – vielleicht am wichtigsten – nahm man an, dass einige Individuen größere übernatürliche Kräfte besaßen als andere. Immer noch Radcliffe-Brown zufolge »entsprachen diese besonders bevorzugten Personen in gewissem Ausmaß den Medizinmännern, Zauberern oder Schamanen anderer primitiver Gesellschaften.«18 Je nachdem, von welcher Insel sie stammten, hießen sie Oko-jumu oder Oko-paiad. Sie beherrschten angeblich das Wetter; ein Gedanke, der ganz sicher weder einem Bonobo noch einem Schimpansen je gekommen ist. Jeder achtete folglich peinlichst darauf, sich mit ihnen gut zu stellen. Zwar besaßen sie nicht unbedingt Autorität oder gar Macht über andere, aber bestimmt größeren Einfluss als der Durchschnitt. Kurz, selbst in der einfachsten aller bekannten humanen Gesellschaften, primitiver noch als die Stämme im Hochland von Papua-Neuguinea, hoben sich einzelne Personen von den anderen ab. Man könnte sogar sagen, sobald innerhalb oder außerhalb der Familie irgendeine Form der Organisation existierte, beruhte sie auf Ungleichheit und verstetigte diese noch. Zudem zeigt etwa die Tatsache, dass die Jungen die Alten ernähren mussten, sowie die Existenz von Schamanen, dass Beziehungen nicht wie bei den Tieren ausschließlich über persönliche Leistung definiert wurden, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle spielten.
Anders als die Andamaner beherrschten die australischen Aborigines auch die Technik des Feuermachens.19 Ihr Lebensraum war genauso isoliert, aber arm an Ressourcen und ungleich größer, was zu einer eher nomadischen Lebensweise führte. In anderer Hinsicht waren die beiden Populationen jedoch vergleichbar: Einige Andamaner sind so genannte Negritos, sind also kleinwüchsig, dunkelhäutig und haben krauses »Pfefferkornhaar«. Das brachte einige Anthropologen zu der Annahme, dass die beiden Gruppen irgendwie in Bezug zueinander stehen. Die Menschen lebten in Horden auf der Grundlage von Verwandtschaftsbeziehungen, wobei in beiden Kulturen eine genauere Untersuchung erweisen sollte, dass es sich häufig nicht um Blutsverwandtschaft handelte, sondern um fiktive, durch Adoption entstandene Bindungen. Zwar gab es keine Herrscher, doch innerhalb jeder Gruppe besaßen die Eltern eine gewisse Autorität über die Kinder und die Älteren über die Jüngeren. Vor allem die Ältesten genossen Respekt aufgrund ihrer angenommenen Nähe zur Geisterwelt und ihrer Fähigkeit, auf sie Einfluss zu nehmen. Häufig konnten sie Ressourcen von den Jüngeren übernehmen und ihre Ansichten durchsetzen.20 Ein Autor ist der Ansicht, dass sie die jungen Männer so manipulierten, dass sie gegeneinander zum Kampf antraten. Auf der Grundlage dieser Faktoren und seines Geschlechts kannte jedes Individuum seinen Platz und besaß seine genau definierten Rechte und Pflichten. Von Gleichheit konnte also keine Rede sein. Innerhalb der Stämme waren zudem einige Familiengruppen anderen überlegen.
Ein drittes Volk, das wir in diesem Zusammenhang nennen sollten, sind oder waren die Nuer im Südsudan. Wie die Andamaner und die Aborigines kannten auch die Nuer keine Herrscher, keine Institutionen und keine zentrale Regierung. Am besten beschreibt ihre Gesellschaft vielleicht der Begriff von der »geordneten Anarchie«.21 Die von ihnen genutzten Technologien waren stärker entwickelt als bei den Andamanern und Aborigines, doch auch sie hatten nur wenig materiellen Besitz. Alles, was sie besaßen, war so einfach, dass praktisch jeder es für seine unmittelbaren Bedürfnisse mit den verfügbaren Materialien vor Ort herstellen konnte. Land, Wald und Wasserquellen waren Gemeinschafts»besitz« des gesamten Stammes. Auf einer ganz anderen Ebene als die beiden anderen Völker bewegten sich die Nuer allerdings insoweit, als dass sie Viehzüchter waren und Rinder besaßen. Diese deckten einen wesentlichen Teil ihrer Ernährung sowie viele andere Aspekte ihres Grundbedarfs. Das Vieh war im Leben des Volks so wichtig, dass Reichtum sich fast ausschließlich an der Zahl der Tiere ermaß, die eine Person oder Familie besaß. Die Konkurrenz darum war sehr hart. Manche hatten mehr Rinder, andere weniger. Zugleich existierte aber auch ein ausgeklügeltes System von verbindlichen Tauschgeschäften zwischen den Familien, die anlässlich von Geburten, Hochzeiten und Todesfällen stattfanden, aber auch in Form von Blutgeld. Üblicherweise bewegte sich die Ungleichheit damit in klar abgesteckten Grenzen.
Wie bei den Andamanern und den Aborigines besaßen Väter einige Autorität über Kinder, Onkel über Neffen und ältere Geschwister über jüngere. Wie bei den Aborigines schrieb man einigen Personen einen besseren Zugang zu Zauberkräften zu als anderen. Damit wurden sie zu natürlichen Anführern. Besonders wichtig waren die so genannten Propheten. Da sie angeblich von einem oder mehreren Göttern besessen waren, konnten sie die Zukunft voraussagen und Kriegszüge initiieren (die sie freilich nicht kommandierten). Eine enge Analogie besteht hier zu der Prophetin Debora im alttestamentarischen Buch der Richter. Mit ihren Worten brachte sie das Volk Israel dazu, zu erwachen und sich gegen seine Unterdrücker aufzulehnen.22 Dabei begleitete sie weder den nachfolgenden Feldzug, noch hatte sie die Autorität, irgendjemandem Befehle zu erteilen. Weibliche Propheten sind übrigens auch in anderen Kulturen nicht unbekannt.
Zurück zu den Nuern: Ihre Propheten repräsentierten oder symbolisierten nichts und niemanden. Obwohl der Geist in ihnen ruhte, hatten sie keine Autorität, geschweige denn eine formale Autorität und die Macht, sie durchzusetzen. Einfluss hingegen besaßen sie mit Sicherheit. Wie schmal häufig der Grat ist, der beides voneinander trennt, muss hier wohl kaum betont werden.
Die Nuer glichen den australischen Aborigines insofern, als einige Lineages sich als Aristokraten (diel) betrachteten und bei anderen als solche galten. Weitere waren ihnen nur angegliedert (rul). Bei Mordfällen konnten Mitglieder der diel mehr Blutgeld einfordern als Familien der rul. Offenbar beruhte die Unterscheidung darauf, dass die Individuen der besagten Lineages aus reinrassigen Nuern bestanden. Damit unterschieden sie sich von den anderen, die in der Vergangenheit durch Krieg, Gefangenschaft und Adoption eine gewisse Beimischung von Dinda-Blut erworben hatten.23 Festzuhalten ist jedenfalls, dass hier bei der Herausformung der sozialen Rangordnung die Abstammung eine Rolle spielte, wenn auch nur als einer neben anderen bestimmenden Faktoren. Einige Lineages, die zwar eigens als »neu« bekannt waren, genossen dennoch einen höheren Status, und zwar deshalb, weil man ihnen höhere Macht im Umgang mit den Rindern zuschrieb, also etwa die Fähigkeit, kranke Tiere zu heilen oder unfruchtbare Kühe zum Kalben zu bringen. Das Standardwerk über die Nuer, eine der besten anthropologischen Studien, die je geschrieben wurden, strotzt in der Tat nur so von Wörtern wie »älter« und »dominant«.
Schon allein die Tatsache, dass einige Clans größer waren als andere, sollte ihnen größeren Einfluss verleihen. Die Andamaner, die Aborigines, die Nuer und viele andere beweisen, dass selbst die politisch am wenigsten entwickelten, materiell weitgehend egalitären Gesellschaften der Erde anerkannten, dass unterschiedliche Individuen unterschiedlich zueinander in Beziehung stehen. Auch dass Individuen über unterschiedliche Fähigkeiten verfügen, war natürlich anerkannt. Und genau diese Unterschiede führten dazu, dass den Individuen auch unterschiedliche Rechte und Pflichten zugebilligt wurden. Wer diese Rechte und Pflichten verletzte, konnte sich schwerer Bestrafung aussetzen, weil die anderen sich – in Anregung und nach Anleitung, wenn auch nicht unter dem Befehl einiger der Privilegierten – gegen sie wendeten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine dieser Gesellschaften sich auf die Annahme gründete, jeder habe exakt denselben Status, dieselben Rechte und dieselben Pflichten wie jeder andere oder sollte sie zumindest haben.
Bis hierher haben wir uns mit der Ungleichheit zwischen Individuen und Clans innerhalb von gegebenen Gesellschaften beschäftigt. Gehen wir nun einen Schritt weiter: Wenige, wenn überhaupt nur die einfachsten Gesellschaften betrachten ihre Nachbarn als ihnen selbst ebenbürtig. Der eponyme Begriff Dinka – er bezeichnet also sowohl den Stamm als auch die Sprache, die seine Mitglieder sprechen – bedeutet einfach nur »Volk«. Die Nachbarn der Dinka, die Nuer, sehen das natürlich genau umgekehrt. Die treffendste Übersetzung für das Wort Bantu, das überall in Afrika weit verbreitet und in Varianten als Watu oder Batu oder Bato oder Abantu oder Vanhu oder Vandu ausgesprochen wird, lautet angeblich einfach »Menschen«. Die implizite Annahme, dass alle anderen sub-human oder unmenschlich sind, ergibt sich daraus fast von selbst. Auch Lokono, der Name eines karibischen Volkes und seiner Sprache, bedeutet »Volk«. Die Blackfoot-Indianer in Alberta und Montana nannten sich selbst Niitsítapi, das »ursprüngliche Volk«. Der Name mehrerer Eskimo-Gruppen auf beiden Seiten der Beringstraße, Yupik, ist ein Kompositum, das sich aus dem Wort yuk für »Person« und dem Suffix -pik für »wahr« oder »ursprünglich« zusammensetzt; die wörtliche Bedeutung lautet also »wahres Volk«.24
Während die Völker sich selbst als überlegen bezeichneten, verwiesen die Namen, mit denen sie andere benannten, auf deren Unterlegenheit. Die Sotho-Tswana-Sprachen in Südafrika etwa erweitern die Namen anderer Völker regelmäßig mit dem Präfix Ama, das »unvertraut« bedeutet. Die Griechen nannten Fremde barbaroi – Barbaren. Impliziert war damit, dass sie nicht korrekt sprechen konnten und weniger vollständig menschlich waren. Wie Aristoteles es später formulierte, waren sie »Sklaven von Natur«, die sich nicht selbst regieren konnten, sondern einen Herrn benötigten (despotes; das griechische Wort kann sowohl einen Sklavenbesitzer, als auch einen politischen Anführer bezeichnen), der natürlich hoch über seinen Untergebenen stand und alles andere als ihnen gleich war.25 Wir kennen andere Beispiele zuhauf. Wahrscheinlich gab es kaum einen Clan, einen Stamm oder eine Nation, deren Mitglieder sich selbst nicht als Krone der Schöpfung betrachteten. Damit aber sahen sie die meisten oder vielleicht sogar alle Fremden als ihnen selbst unterlegen. In wissenschaftlichen Studien wurden die Teilnehmer willkürlich in Gruppen eingeteilt und sollten gegen entsprechende Gruppen konkurrieren. Obwohl die Mitglieder jeder Gruppe einander kaum kannten und die der gegnerischen Gruppe erst recht nicht, entwickelten sie schnell ein Überlegenheitsgefühl. Vielleicht bewiesen sie damit, dass wir genau hierfür programmiert sind.26
Ob Hordengesellschaften »gut« oder »schlecht« sind, hängt davon ab, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Aufklärerische Forschungsreisende und die philosophes, die deren Berichte lasen und die Wirklichkeit für sie interpretierten, lebten selbst in einer höchst ungleichen Gesellschaft. Angefangen mit dem König, lasteten die Oberklassen mit aktiver Unterstützung der Kirche schwer auf den unteren Klassen im zurecht so genannten »fiskal-militärischen Staat«.27 Viele von ihnen waren große Bewunderer der Gleichheit und damit der Freiheit von Unterdrückung, die die »Wilden« in fernen Ländern angeblich genossen. Band für Band feierten sie deren Einfachheit, Ehrlichkeit, Mut, Großzügigkeit (auch in dem Sinn, dass sie ihre Frauen teilten und sie jedem gaben, der sie wollte), kurz: das Edle in ihnen. Ein perfektes Beispiel für dieses Genre ist Diderots Nachtrag zu Bougainvilles Reise. Dieser Text von 1772 war zu seinen Lebzeiten verboten, wurde erst nach der Revolution veröffentlicht und schnell zum Klassiker. Noch bekannter war Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Er fasste das Thema kurz und knapp zusammen: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.«28
Die Reisenden, Imperialisten und Ethnografen des 19. Jahrhunderts neigten zur entgegengesetzten Ansicht. Die Sitten insbesondere im Bereich der Sexualität, die ihre Vorgänger als edel und erhaben interpretiert hatten, erschienen ihnen bestialisch. Wie für Rousseau war für sie ein »Wilder« wie der andere und besaß keinerlei Autorität über andere. So wurden die Gemeinschaften, in denen sie lebten, im abwertenden Sinn als »Horden«, also als wilde Haufen verstanden. Ihnen fehlte die Organisation, die für kollektive Handlungen in größerem Maßstab und insbesondere für die Errichtung und Erhaltung einer feinteiligen Zivilisation vonnöten war. Anerkannt wurde freilich, dass individuelle »Hordenmenschen« gut gebaut, stark und sehr tapfer sein konnten. So bewerteten zum Beispiel viele Europäer die Maori, auf die sie in Neuseeland trafen.29 Der berühmte englische Reisende und Romancier Henry Rider Haggard (1856–1924) beschrieb die kenianischen Massai als »grausam oder ehrfurchtsgebietend«, »unglaublich riesig … und schön, aber doch irgendwie zierlich gebaut; aber mit dem Antlitz eines Teufels«.30 Als Winston Churchill über die Derwische schrieb, gegen die er 1896 in Omdurman kämpfte, konnte er ihren Mut gar nicht hoch genug loben.31 Und doch bewirkte die sozio-ökonomische Gleichheit, welche sich nun einmal in schwache politische Autorität übersetzte, dass sie leicht zu erobern und noch leichter zu unterjochen waren.
Eine dritte Gruppe, die Sozialisten, schlugen eine Art Mittelweg ein. Die meisten von ihnen waren erbitterte Gegner des europäischen Kolonialismus auf anderen Kontinenten. Stattdessen entschieden sie sich, in der Nachfolge Rousseaus die Nichtexistenz von Privateigentum und den egalitären Charakter der einfachsten ihnen bekannten Gesellschaften zu feiern. Marx persönlich wandte sich in einigen seiner frühen Schriften explizit gegen die »Entfremdung«, die die »Teilung der Arbeit« mit sich brachte.32 Andererseits waren die Realistischeren unter ihnen, darunter auch Marx in späteren Jahren, sich durchaus der Tatsache bewusst, dass ein solcher Egalitarismus mit den Bedürfnissen einer komplexen Industriegesellschaft inkompatibel ist. Wäre er unter Zwang durchgesetzt worden, so wären mit Sicherheit neunzig Prozent der Menschen in dieser Zivilisation innerhalb weniger Jahre schlicht verhungert. Wenn Marx von der Zukunft sprach, ging es ihm nicht einfach nur um die Reproduktion irgendeiner idealisierten Stammesvergangenheit. Das Privateigentum an Produktionsmitteln sollte in der Tat abgeschafft werden. Doch die sich dann entwickelnde Gesellschaft sollte doch auf einem viel höheren Niveau funktionieren als ihre vorsintflutlichen Vorläufer.33
Im Rückblick ist klar, dass sich alle, die sich in dieser Debatte zu Wort meldeten, getäuscht haben. Eine genauere Prüfung der Fakten hätte ergeben, dass es Horden von vollkommen freien Männern und Frauen mit gleicher Autorität, gleichem Status und gleichem Zugang zu sämtlichen Ressourcen einschließlich einvernehmlicher Sexualität nie gegeben hat und wahrscheinlich nie hätte geben können. Um Hobbes zu paraphrasieren, vollkommene Gleichheit kann wie ihr Pendant, die vollkommene Freiheit, nur existieren, wenn jeder Einzelne allein in der Wüste wohnt – und dort ist sie bedeutungslos. Sogar die einfachsten bekannten Gesellschaften beruhten in erheblichem Ausmaß auf Ungleichheit. Zwar gab es keine festen sozialen Klassen oder Institutionen, doch die unterschiedlichen Menschen steckten fest in häufig extrem komplexen Gefügen aus Rechten und Pflichten, geschuldeter und erwarteter Respektsbezeugung. Der geschuldete Respekt, die jeweiligen Rechte und Pflichten differenzierten nach Alter und Geschlecht. Dass es einige Individuen gab, die häufig wegen ihres Alters und/oder eines angenommenen Zugangs zum Göttlichen gegenüber den anderen privilegiert waren, war ein anerkanntes Faktum. Genauso wichtig war die Fähigkeit, etwa bei Überfällen und im Krieg die Führung übernehmen zu können.
Selbst wo Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gruppe gering blieben, fühlten sich in jeder Gesellschaft die Mitglieder einer Gruppe denen anderer Gruppen stets überlegen. Diese gefühlte Ungleichheit war zwischen unterschiedlichen Gesellschaften sogar noch größer. Und dieses Überlegenheitsgefühl herrschte mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf beiden Seiten. Sowohl das Volk, als auch die Gruppen sprachen übereinander und behandelten einander dementsprechend.
Big Men