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Robert
Jacobi

Reboot.

Der Code für eine widerstandsfähige Wirtschaft, Politik und Gesellschaft

Inhalt

Einleitung/ Reboot: Warum?

1/ Das System steht still

2/ Der Shortcut fehlt

3/ Warum wir uns digitalisieren

4/ Wie wir lernen

5/ Wie wir arbeiten

6/ Wovon wir leben

7/ Woher die Energie kommt

8/ Wie wir uns fortbewegen

9/ Wie wir denken und fühlen

10/ Wie wir sprechen

11/ Wie wir gesund bleiben

12/ Wie alles zusammenhängt

13/ Wie es weitergeht

Epilog

Danksagung

Leseempfehlungen

Über den Autor

Für
Lucius

Einleitung/ Reboot: Warum?

Das erste Computervirus der Geschichte zeigte sich auf den ersten Blick gut gelaunt und freundlich. Es tauchte in den späten 1980er-Jahren auf, erschien beim Hochfahren des Amiga-Computers als ein orange-roter Balken auf schwarzem Hintergrund mit dem Schriftzug: »Etwas Wunderbares ist passiert – dein Amiga lebt!« Danach wurde es bösartig: »Und noch besser, einige deiner Dateien sind befallen von einem Virus!« Tatsächlich entpuppte sich dieses als unschädlich, als eine Art scherzhafte Mahnung eines Teams, das man heute als White-Hat Hacker bezeichnen würde, also als gutwillige Hacker, die Systeme infiltrieren, nicht um sie zu beschädigen, sondern um auf Sicherheitslücken hinzuweisen.1

Anders als dieses Computervirus wirken die biologischen Corona-Viren nicht nur harmlos. Schon in den frühen 1930er-Jahren wurde im US-Bundesstaat North Dakota eine neuartige Infektion mit diesem Virustyp bei Hühnern beschrieben, die massenhafte Tierverluste verursachte. In den 1960er-Jahren konnten die schottische Virologin June Almeida und ihr Kollege David Tyrell Viren des Typs Corona erstmals beim Menschen nachweisen. Unter dem Elektronenmikroskop waren Dutzende Zacken auf der Hülle der nur wenige Nanometer großen Viren zu erkennen, die der Virusfamilie ihren umgangssprachlichen Namen verliehen.2 Seit Ausbruch der Corona-Krise gibt es kaum eine TV-Nachrichtensendung, in der nicht eines der Zackenmonster auftaucht.

Auch wenn manche Verschwörungsmythen im Hinblick auf Corona das Gegenteil nahelegen: Der entscheidende Unterschied zwischen Computerviren und Corona-Viren ist, dass die biologischen Erreger nicht menschengemacht sind, aber Menschen befallen, und es sich bei Computerviren genau umgekehrt verhält. Was sie verbindet, ist, dass sie unverhofft kommen, sich ihre Ausbreitung nur schwer eindämmen und der durch sie erzeugte Schaden erst messen lässt, wenn die schlimmste Phase überstanden ist. Weil wir das wissen, treffen wir für beide Fälle Vorsorge. In dem einen installieren wir Virenscanner, im anderen stärken wir unsere Körperabwehr und/oder lassen uns impfen. Und bleiben doch anfällig für Gift und Schleim – was die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes Virus ist: Schleim, der sich schneller verbreitet, als unsere Diagnosetools reagieren können, und der mutiert, um einen zur Vermehrung notwendigen Vorsprung zu behalten, und so größtmöglichen Schaden anrichtet.

Einen Rechner herunterzufahren, zu säubern und neu zu kalibrieren, kostet Zeit, Energie und Geld. Vor der Corona-Krise schienen Cyberattacken eine der größten Bedrohungen für unser Wirtschaftsleben zu sein. Versicherungen bauten spezielle Produkte für den Zusammenbruch von Datennetzen. Firmen, die Sicherheitslösungen anboten, erhielten Milliardenbewertungen. Riesige Stäbe in Parlamenten und Behörden in den Bundesländern, in Berlin und in Brüssel arbeiteten jahrelang an Verordnungen zum Datenschutz. Vorkehrungen gegen eine mögliche Pandemie dagegen wurden mit deutlich weniger Aufwand getroffen, das öffentliche Interesse war gering.

Heute wissen wir: Der Schaden, den Corona-Viren und derzeit die Variante SARS-CoV-2 anrichten, trifft nicht nur Tausende Einzelmitglieder der Gesellschaft, sondern deren gesamtes Betriebssystem samt der globalen Wirtschaft. Eine ganze Gesellschaft in Zeiten einer grassierenden Pandemie herunterzufahren verursacht Aufwand, der ohne Vergleich ist zu dem, was die Folgenbewältigung eines Hackerangriffs bedeutet. Das Weltwirtschaftsforum schätzte den direkten und indirekten Schaden durch das Virus weltweit auf rund 16 Billionen Dollar – das Vierfache der deutschen Wirtschaftsleistung in einem Jahr –, und das noch vor der zweiten Welle im Herbst. Das übertreffe die Kosten für umfassende Vorkehrungen gegen eine Pandemie um das 500-Fache.3 Dazu kommen nicht messbare Schäden auf der emotionalen und psychologischen Ebene. Im Vergleich: Der Schaden, der durch Hacker, Datenlecks und Computerviren entstand, liegt bei rund einer Billion Dollar im Jahr.

Eine Gesellschaft hält einen Lockdown einmal aus, wenn es ihr davor halbwegs gut ging, aber nicht regelmäßig. Krisen verstärken sich gegenseitig, und Corona ist bei Weitem nicht die einzige, mit deren Folgen wir derzeit kämpfen. Es gibt Krisen, die sich langsamer ausbreiten, (noch) keine direkt spürbaren Bedrohungen verursachen und sich deshalb leichter ignorieren lassen – wie der Klimawandel beispielsweise, die zunehmende Wohlstandskluft und ihre Folgen. Trotz dieser Bedrohungen ist unsere Welt, statistisch gesehen, besser, als sie momentan gemacht wird. Jede neue Generation wächst in Summe wohlhabender und gesünder auf als die vorangegangene.4 Also einfach zurücklehnen und warten, bis wir uns von den Folgen der Pandemie erholt haben, und dann weitermachen wie bisher?

Nein, denn es geht darum, unsere Energie jetzt zielgerichtet einzusetzen. Es ist an der Zeit für einen Reboot. Große Krisen, im privaten, im beruflichen, aber auch im sozialen Kontext bieten die Chance, zu reifen und widerstandsfähiger zu werden, bessere Vorkehrungen für die nächste Hürde zu treffen. Genau das ist jetzt unsere Aufgabe. Mit unseren Computersystemen tun wir das längst, zumindest wenn wir unsere Software immer dann updaten, wenn wir dazu aufgefordert werden, und die Geräte danach neu starten, damit sie wieder so laufen, wie wir es wünschen. Die Krise bietet die Chance, auch Veränderung anzugehen, deren Bedarf in guten Zeiten schwieriger zu erkennen und erst recht umzusetzen ist. Die Energie dafür sollten wir bewahren, auch wenn der Impfstoff da ist und die Sorgen nicht mehr so groß sind.

Die Bundesregierung, die Europäische Union und andere Staaten haben in den Monaten der Krise ein Notfallprogramm gefahren. Kurzarbeit, Steuerstundung, Notkredite – Medizin aus dem Erste-Hilfe-Set, nicht aus dem Instrumentarium für Prävention und langfristige Stabilisierung. Was jetzt jedoch auf keinen Fall geschehen sollte, ist die Rückkehr zu einem Alltag aus Parteipolitik, Wahlkämpfen und Verwaltungsarbeit. Auch geht es nicht nur darum, die Vorsorge für weitere Pandemien zu treffen. In einer Zeit, in der sich tiefgehende Krisen – Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona-Epidemie – in nahezu fünfjährigem Rhythmus ereignen, geht es um die Robustheit des gesamten Systems unseres Zusammenlebens. Es ist höchste Zeit für einen Reboot.

Wann fangen wir damit an? Am besten gleich jetzt. Nicht überstürzt, sondern planvoll. Nicht nach starren Konzepten, sondern flexibel. Nicht perfektionistisch, sondern mit Raum für Fehler. Realistischen Zielen folgend, kleine Erfolge feiernd. Gemeinsam, nicht von kleinen Gruppen mit Sonderinteressen gesteuert. Überzeugend, nicht erzwingend. Genau das ist es, was unsere Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jetzt braucht.

Veränderung in komplexen Systemen kann dabei nur gelingen, wenn die Menschen verstehen, warum sie erforderlich ist und was sie für ihre individuelle Realität bedeutet. Das durfte ich selbst in den letzten zehn Jahren lernen. In dieser Zeit habe ich, gemeinsam mit meinen Kollegen bei The Nunatak Group, großen und kleineren Unternehmen und Institutionen dabei geholfen, die Herausforderung der Digitalisierung zu bewältigen. Tiefgehende Analyse, eine schlüssige Strategie und detaillierte Planung bringen nur dann etwas, wenn die Mitarbeiter auch überzeugt sind, sie umzusetzen.

Nunataks sind in der Glaziologie, der Wissenschaft von Schnee und Eis, Berge, die wachsen, weil sie durch den Permafrost zusammengeschoben werden. In einer Inuit-Sprache bedeutet das Wort »Wegweiser«: Die Felsformationen dienen als Orientierung auf dem Weg durch Gebiete, in denen sich die Vegetation schwertut. Der Name für unsere Firma, die als Strategieberatung firmiert, kam mir, als ich an die Nunataks dachte, die ich auf meinen Reisen durch Alaska und Patagonien gesehen hatte. Auch in den Alpen finden sich Nunataks, die aus den Eiszeiten übrig geblieben sind.

Dieses Buch soll, im besten Falle, eine Art Nunatak darstellen. Ich möchte einen Weg weisen, wie wir die Zeit nach der Pandemie nutzen könnten, unsere Wirtschaft, Politik und Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen. Nicht nur gegen ein Virus, sondern gegen Bequemlichkeit, Ausbeutung, Vergangenheitsorientierung, Aktionismus, Verschwendung, Populismus, Prokrastination. Also gegen alles, was in uns zwar angelegt ist, weil wir Menschen sind und zu einfachen Lösungen neigen, was uns aber nicht weiterbringt – oder zumindest nur sehr kurz und in nur scheinbaren Erfolgen, die dann schnell wieder verblassen. Bedrohungen von außen sollten wir nicht aus dem Blick lassen. Ob uns unsere Zukunft gelingt, darüber entscheidet aber mehr der Umgang mit unseren eigenen Schwächen, die nicht die Oberhand bekommen sollten.

In den folgenden Kapiteln öffne ich ein weites Feld, von unserem Bildungssystem über das Arbeitsleben, von Energie zu Gesundheit, von Digitalisierung bis Grundeinkommen. Ich weiß, dass ich mich damit dem Vorwurf aussetze, oberflächlich zu bleiben und anmaßend zu sein. Wer nach einer akademischen Abhandlung sucht, ist hier tatsächlich falsch. Und wer nach einer Streitschrift sucht, auch. Es geht mir nicht darum, in den Krawall jener einzustimmen, die unsere Politik verdammen oder für eine schnelle Schlagzeile einen lockeren Spruch hinlegen, der Menschen verletzt und der gemeinsamen Sache, die unsere Gesellschaft auch heute noch ist, schadet. Es geht mir um einen klaren Blick auf die Wirklichkeit und Lösungsvorschläge für unsere Probleme.

Als ich diese Zeilen schrieb, waren es nur noch zwei Tage bis zum trübsten November, den dieses Land seit Langem erlebt hat. Der zweite Lockdown stand bevor, danach sollte es keine Weihnachtsmärkte geben, kaum Winterurlaub, keinen Fasching. Wir werden von vielem weniger haben, Gastronomen, Künstler und Selbständige vor allem weniger Geld. Nur von einem, das uns sonst so sehr fehlt, vielleicht etwas mehr – Zeit, die wir sonst in Kneipen, Theatern oder auf Feiern verbringen. Wir sollten diese Zeit für unsere Liebsten nutzen, in unseren warmen Wohnungen. Warum aber nicht auch dazu, ausführlich nachzudenken – um dann, wenn die Gesellschaft wieder hochfährt, bewusst zu handeln, auch über den engen Wirkungskreis hinaus?

Dieses Buch ging mir recht schnell von der Hand. Dabei machte sich das Training aus meiner früheren Zeit als Tageszeitungsjournalist bemerkbar. Dazu kommt, dass ich das, was hier steht, in meinem Kopf schon lange formuliert habe. Es hatte sich aufgestaut wie Gebirgswasser an einer Talsperre. Als junger Erwachsener verfasste ich Berichte, Reportagen und Leitartikel für die Süddeutsche Zeitung über genau die Themen, um die es auch in diesem Buch geht. Das Privileg eines Berliner Korrespondenten war es damals, dass jeder Artikel von den Assistentinnen ausgeschnitten, aufgeklebt und in einen Leitz-Ordner in meinem komfortablen Einzelbüro abgeheftet wurde. Ich fand irgendwann, dass es genug Ordner waren, und ging zurück an die Universität. Seitdem war ich nicht mehr Journalist, sondern wurde erst Strategieberater, dann Unternehmer und dann, bei Nunatak, eine Mischung aus beidem.

Ich wollte etwas bewegen, aufbauen, Arbeitsplätze schaffen und nicht nur über jene schreiben, die das tun. In Wirklichkeit war es auch Eskapismus, eine Art Flucht vor dem hektischen Nachrichtenzyklus, hinein in eine Welt, in der nicht täglich die großen, gesellschaftlichen Probleme, sondern sehr spezifische, von Kunden oder Mitarbeitern, zu lösen sind. Ich kehrte aus Paris, Berlin und Washington zurück in meine Heimat, erst nach München, wo ich geboren bin, und dann sogar ins bayerische Oberland, in dem ich aufgewachsen bin. Morgens weckten mich Kuhglocken. Manchmal reiste ich in die Welt hinaus, aber als Rucksacktourist, und veröffentlichte die Tagebücher, die ich unterwegs schrieb. Die großen Debatten der Gegenwart nahm ich eher am Rande wahr, und wenn, dann passiv und ohne mich einzumischen.

Die ersten Zeilen dieses Buchs sind in meinem Kopf vermutlich schon an jenem Abend entstanden, an dem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Für mich war das ein Schock. Nun, da die Mehrheit der amerikanischen Wähler und Wählerinnen sich für Joe Biden und Kamala Harris entschieden hat, dass die vier Jahre Trump-Regierung und ihre verheerende Politik zu Ende gehen, habe ich wieder mehr Hoffnung für einen Reboot, in den USA, bei uns und anderswo. Vieles, das in den letzten vier Jahren auch in unserer Öffentlichkeit geschehen ist, wäre ohne die Rohheit und den schamlosen Eigennutz des mächtigsten Mannes der Welt nicht denkbar gewesen. Es wäre einer der sehr wenigen positiven Effekte der Pandemie, dass dieser Präsident und seine Entourage ihre Ämter verlieren.

Politisch engagiert habe ich mich nie, auch nicht nach jenem Schock, und ich bin bis heute auch kein Mitglied in einer Partei. Als Journalist hätte eine Parteimitgliedschaft nicht gepasst, und später fand ich schlicht keine, in der ich mich inhaltlich wirklich wohlgefühlt hätte. Was ich betrieb, auch nach jener Wahlnacht, war dann doch wieder der Rückzug in meinen direkten Wirkungskreis, zumindest für eine Weile, wenn auch immerhin mit einem etwas mulmigen Gefühl. Dem Utilitaristen John Stuart Mill wird der Satz zugeschrieben, dass böse Menschen nicht mehr bräuchten, um ihre Ziele zu erreichen, als gute Menschen, die ihnen zuschauen und nichts unternehmen. Das gilt bis heute. Zu handeln, das ist Menschenpflicht, und erst recht, wenn man es gerne tut und deshalb auch gut.

Ich habe mich während des ersten Lockdowns dafür entschieden, wieder zu schreiben. Anders als früher werte ich es durchaus als Handeln. Genau deshalb gibt es dieses Buch. Gewidmet habe ich es unserem Sohn: Lucius, wenn du größer bist, wirst du viele Fragen haben, und die wenigsten werde ich beantworten können. Die Welt wird dann anders sein, unsere Lebensumstände auch – ob nur anders oder besser, das wissen wir nicht. Hoffen wir Letzteres und tun etwas dafür.

Aufzuschreiben, wie es gelingen könnte, lieber Lucius, das zumindest habe ich versucht.

1 Maher, J. (2012). The Future Was Here: The Commodore Amiga. Boston: The MIT Press.

2 Gellene, D. (2020, Mai 10). Overlooked No More: June Almeida, Scientist Who Identified the First Coronavirus. New York Times. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.nytimes.com/2020/05/08/obituaries/june-almeida-overlooked-coronavirus.html

3 Schwab, J. (2020, August 3). Fighting COVID-19 could cost 500 times as much as pandemic prevention measures. World Economic Forum. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.weforum.org/agenda/2020/08/pandemic-fight-costs-500x-more-than-preventing-one-futurity/

4 Rosling, H.; Rönnlund, A. R.; Rosling, O. (2020). Factfulness: Ten Reasons We’re Wrong About the World – and Why Things Are Better Than You Think (Reprint). New York: Flatiron Books.

1/ Das System steht still

Wir alle kennen solche Situationen: Gerade eine lange Mail zu Ende getippt, noch eine Grafik in eine Präsentation eingefügt, eine Überweisung ausgefüllt – und auf einmal geht nichts mehr. Der Bildschirm ist eingefroren, die Tastatur reagiert nicht mehr, der Ventilator des Notebooks fängt an zu surren. Das System ist abgestürzt. Stillstand. Hoffentlich nur eine momentane Überlastung, der Speicher hat noch alles rechtzeitig gesichert. Harter Reset.

So ähnlich fühlt es sich an, als ich Mitte März mit meiner Frau Leonie und unserem drei Monate alten Sohn in der Küche unserer Wohnung sitze. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält zum ersten Mal in ihrer Amtszeit, seit immerhin fast 15 Jahren, aus aktuellem Anlass eine Fernsehansprache an die Bürger. Wir schauen auf dem Tablet zu. Die Kanzlerin braucht 13 Minuten, und die haben es in sich: Solange es keinen Impfstoff und keine Therapie gegen Corona gebe, sei »die Richtschnur all unseres Handelns: die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, sie über die Monate zu strecken und so Zeit zu gewinnen«.5 Die Situation sei ernst, und sie sei offen. »Passen Sie auf sich und Ihre Liebsten auf!«, lauten ihre Schlussworte.

Schon zwei Tage zuvor kursierten erste Gerüchte, dass Bayern als erstes Bundesland die freie Bewegung der Bürger einschränken werde. Zu hoch sind die Ansteckungsraten, einerseits bei älteren Menschen, andererseits bei Rückkehrern aus dem Skiurlaub. Zum Zeitpunkt ihrer Rede weiß Merkel noch nicht, dass sie selbst in Quarantäne muss, weil ihr behandelnder Arzt sich infiziert hat. BMW stoppt die Produktion komplett, Bundesbankpräsident Jens Weidmann nennt eine Rezession unvermeidbar. Schulen und Kitas sind geschlossen. In Italien sterben 800 Menschen an einem einzigen Tag an den Folgen der Viruserkrankung. Finanzminister Olaf Scholz meldet, dass der Regierungsetat um 150 Milliarden Euro aufgestockt wird, um Soforthilfen zu ermöglichen. Das sind knapp 2000 Euro pro Bundesbürger.

Früher als die meisten anderen Unternehmen haben wir bei Nunatak unsere Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt. Eine kurze abendliche Diskussion im Management, ein Telefonat mit meinem Schwiegervater, einem Arzt, und es war so weit. Wenige Wochen zuvor hatten wir noch neue Büroräume angeschaut, da unsere Altbauetage für unser mehr als 30-köpfiges Team zu eng geworden war. Nun bleiben die Räume erst einmal leer. Zum Glück sind wir im Homeoffice sofort wieder arbeitsfähig, weil alle Daten in der Cloud liegen – anders als bei manchen unserer Kunden, die jetzt Tipps brauchen, wie sie möglichst schnell eine digitale Infrastruktur aufsetzen. Also das, was technisch längst möglich ist, aber selten auf Platz eins der Prioritätenliste stand.

Innerhalb weniger Tage friert die bewegte Welt ein. Jede nicht zwingend notwendige persönliche Interaktion wird ins Digitale verlegt. In den Innenstädten sind die Straßen wie leer gefegt, dafür werden die Datennetze hoffnungslos überlastet. Lehrer sollen plötzlich auf digitalen Unterricht umsteigen, auch jene, die im Internet eher eine für ihre Zwecke schädliche Technologie sehen und nicht wissen, wie man neue Software installiert. Gemeinsam mit dem Verein Digitale Stadt München entwickelten wir von Nunatak eine Reihe von Webinaren als Soforthilfe für Lehrer, Eltern und Schüler – der Zuspruch war groß, die Rückmeldungen klangen allesamt positiv und erleichtert. Die Süddeutsche Zeitung berichtete darüber und klagte: »Im europaweiten Vergleich bildet Deutschland auf Platz 27 das Schlusslicht bei der Digitalisierung der Schulen.« 6

Es ist ein Paradox: In der Krise bietet also genau jene Technologie den Ausweg, die bis dahin mit größten Risiken verbunden schien. Die Sorge davor, durch Digitalisierung angreifbar zu werden, ließ viele Firmen und noch mehr Institutionen zögern, den externen Zugriff auf interne Systeme zu ermöglichen. Die Krise macht es nun erforderlich, diese Begrenzung so schnell wie möglich aufzuheben, um produktiv weiterarbeiten zu können – ob vom Küchentisch, vom Sofa oder auch vom heimischen Arbeitszimmer aus. Noch im Jahr 2019 wurden Fachkonferenzen zu Cybersecurity weltweit zu Tausenden,7 zum Thema Pandemie und Biosecurity nur vereinzelt abgehalten.8 Sicherheit bleibt sehr wichtig, langsam aber rückt das Machbare in den Vordergrund.

Zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr war ich mit zwei Kollegen nach New York geflogen, um für unseren ersten Kunden dort einen Workshop zu moderieren und Gespräche mit dem Management zu führen. Parallel begleitete ich ein Team eines deutschen Medienunternehmens durch Newsrooms in Manhattan, um dort Anregungen für digitale Abläufe zu finden und Kontakte zu knüpfen. Meine letzte Dienstreise zu einer Verlagsgruppe in Düsseldorf ist im März 2020 schon einige Wochen her. Wann ich wieder eine unternehmen werde, ist unklar, ebenso die Frage, wann es Geschäfte über den Atlantik hinweg wieder geben wird. Ist nicht räumliche Nähe – auch oder erst recht im digitalen Zeitalter – ein wichtiger Faktor? Werden Aufträge vergeben an persönlich unbekannte Dienstleister, die Tausende Kilometer entfernt leben?

Dieser erste Stillstand bedeutet für die Menschen den größten Einschnitt in persönliche Freiheiten seit dem Zweiten Weltkrieg. Leere Straßen, geschlossene Flughäfen, verrammelte Geschäfte, und das über Wochen hinweg. Noch kurze Zeit zuvor hätte es niemand für möglich gehalten, unsere Gesellschaft so weitgehend stilllegen zu können. Erste Proteste und Verweigerer melden sich bereits lautstark, insbesondere auf den Social-Media-Plattformen. Rückblickend wissen wir, dass die deutsche Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal des Jahres 2020 um knapp zehn Prozent schrumpfte, ein Einbruch so stark wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik,9 und das direkt nach der längsten Phase des Aufschwungs. In unseren Nachbarländern und bei unseren Handelspartnern in Übersee sieht es ähnlich aus. Eine Katastrophe?

Mein erstes Wochenende im Lockdown verbringe ich damit, das System der Kurzarbeit im Detail zu verstehen und die Bestimmungen für Förderkredite zu lesen. Noch laufen unsere Verträge für die größeren Projekte, doch es zeichnet sich ab, dass Anfragen weniger und Gespräche aufgeschoben werden. In zwei Jahren hatten wir bei Nunatak unseren Umsatz verdoppelt und gerade im Januar einen Wachstumsplan für die nächsten Jahre besprochen. In weiteren Städten wollten wir Büros aufmachen. Jetzt geht es darum, die Firma stabil zu halten und Szenarien zu entwickeln, wie wir reagieren, wenn das Geschäft komplett wegbricht. »Ihr macht doch Digitalisierung«, höre ich aus meinem Umfeld, »das ist doch jetzt erst recht gefragt.« Das stimmt, nur wenn ein Konzern einen Ausgabestopp verhängt, trifft das auch Dienstleister, die bei der Digitalisierung helfen.

In einem Marketing-Newsletter, den ich regelmäßig lese, erwähnt der Verfasser das gerade von ihm wiederentdeckte Buch Wenn alles zusammenbricht: Hilfestellung für schwierige Zeiten von Pema Chödrön, einer buddhistischen Nonne aus New York. Später lade ich es auf meinen Kindle, darin zu lesen hilft mir in den nächsten Monaten sehr – auch wenn ich kein Buddhist und in Sachen Meditation eher ein Anfänger bin. Chödrön betrachtet Krisensituationen aus dem Blickwinkel ihrer philosophisch-religiösen Lehre, und das ist aufschlussreich. Ich versuche, den Fokus zu halten, indem ich jeden Morgen nicht nur eine Meditations-App nutze, sondern eine Seite in dem Buch lese: »Vielleicht ist unser einziger Feind die Tatsache, dass wir die Wirklichkeit, wie sie jetzt ist, nicht mögen und daher den dringenden Wunsch haben, sie solle schnellstmöglich verschwinden.« 10 Ja, ich mochte diese neue Wirklichkeit nicht, hatte und habe den Wunsch, dass dieses Virus so schnell wie möglich verschwinden möge. Pema Chödrön sagt dazu: »Ob wir das, was uns begegnet, als Hindernis und Feind oder als Lehrer und Freund erfahren, hängt voll und ganz von unserer Sicht der Wirklichkeit ab – abhängig von unserer Beziehung zu uns selbst.«

Wie groß könnten die Verluste sein, die durch die Krise entstehen? Welches Szenario ist für unsere Firma realistisch, für das ganze Land, für die Welt? Expertenrunden in Talkshows überschlagen sich mit Prognosen, suchen nach Erklärungen, widersprechen sich in ihren Empfehlungen. Die Börsenkurse brechen schneller ein, als der Ticker es melden kann. »Wir haben nichts zu verlieren«, schreibt Chödrön, »als die bis in unsere Zellkerne reichende Programmierung, dass wir viel zu verlieren haben.« Sich anzufreunden »mit dem gegenwärtigen Moment, mit der Hoffnungslosigkeit, mit dem Tod, mit der Tatsache, dass Dinge enden, dass sie vorbeigehen, dass sie keine dauerhafte Substanz besitzen, dass sich alles ständig wandelt – das ist die grundlegende Botschaft.« Auch und erst recht in Zeiten von Corona.

Leichter gesagt als getan. Vor allem, wenn die Krise so plötzlich zuschlägt. Geschah es wirklich so unerwartet?

Gehen wir zurück in das Jahr vor Corona. Die Angst vor einer Rezession greift um sich. Nicht jeder Studienabgänger findet sofort einen Job. Ein Handelsstreit, angezettelt vom populistischen US-Präsidenten, gefährdet die Ausfuhren in andere Länder. Unternehmen beginnen, ihre Ausgaben für Forschung und Innovationen zu senken. Die Modernisierung von Strukturen und Technik, längst überfällig, steht auf einmal unter Kostenvorbehalt. Die Regierung in Berlin wirkt teils orientierungslos, immer mehr Wähler unterstützen Alternativen, die unsere gesellschaftliche Ordnung infrage stellen.

Das zunehmende Gefälle zwischen Arm und Reich zeigt, dass die Globalisierung zwar viel Fortschritt, aber nicht mehr Gerechtigkeit gebracht hat.11 Tausende junge Menschen gehen aus Klassenzimmern und Hörsälen auf die Straße, um vor dem Klimawandel zu warnen und die Politik aufzufordern, endlich zu handeln. Die Zahl an Flugpassagieren steigt auf neue Rekorde, die der Sport Utility Vehicles (SUVs) auf städtischen Straßen auch. In China werden dreimal so viele Porsches verkauft wie in Deutschland.12 Die Ingenieure entwickeln für den Weltmarkt, weniger für das von Käuferzurückhaltung geprägte Inland.

Der Modernisierungsdruck im Land ist enorm. Nach wie vor vermögen Behörden es nicht, ihre Dienstleistung weitgehend digital anzubieten. Persönliches Bürgererscheinen ist immer noch die Regel und nicht die Ausnahme. Gleiches gilt zum Beispiel für die Universitäten: Hörsäle platzen zwar aus fast allen Nähten, dennoch schien – vor Corona – ein Studium ohne Präsenzpflicht undenkbar. Und wer auf dem Land lebt und einen Onlineshop aufsetzen will, der muss möglicherweise umziehen, weil die Datenverbindung nicht ausreicht.

Und doch, auch im Jahr 2019 verzeichnet die Statistik ein leichtes Wirtschaftswachstum in Deutschland, zum zehnten Mal in Folge, genauso wie in den meisten anderen Industrieländern auch. Nach etwas mehr Skepsis in der Jahresmitte steigt das Geschäftsklima bei den Unternehmen zum Jahresende sogar an.13 Hoffnung keimt auf, dass das Leben doch so weiterlaufen könnte wie gewohnt: ein sicherer Job und ausreichend Wohnraum für die meisten; Shoppingtrips, Partynächte, Luxusleben für die Wohlhabenden. Das Leben im Ganzen fühlt sich gut an. Das längst vorhandene und durch steigende Aktienkurse und Immobilienpreise immer größer werdende Wohlstandsgefälle lässt sich ignorieren, wenn man nicht zur ärmsten Schicht gehört. Genauso die Tatsache, dass wir systematisch auf Kosten unserer Zukunft leben. Die Terrorangst aus den Jahren zuvor hat sich beruhigt. Die autoritären Herrscher in den großen Ländern der Welt bereiten zwar ein gewisses Unbehagen, ferne Kriege auch. An den bevorstehenden Brexit, einen der größten politischen Unfälle der letzten Jahrzehnte, haben wir uns notgedrungen gewöhnt. Persönlich betroffen von alldem sind die wenigsten, und selbst wenn, ändern lässt es sich doch nicht.

Aber lassen sich die Risiken wirklich auf Dauer und systematisch übersehen? Geht es wirklich – wie Höchststände bei den Börsenkursen suggerierten – unaufhaltsam nach oben? Oder überdeckte der forcierte Optimismus nur die dunkle Ahnung, dass der längste, wirtschaftliche Aufschwung seit dem Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre seinem Ende entgegengeht? »Wildwasserfahrer gesucht« setzte die Redaktion als Überschrift über meine Kolumne für das manager magazin. Die Frage, die ich stellte: Wer kommt am besten durch die Stromschnellen, die sich plötzlich auftun? »Ausrüstung und Technik sind entscheidend, denn doppelte Kräfte wirken: Der Digitalisierungsdruck hört nicht auf, nur weil das wirtschaftliche Umfeld unsicherer wird. Die Mischung aus beidem bedeutet: Wildwasserfahren wird in vielen Branchen und Industrien zum Normalfall – und dafür sind Mut, schnelle Reaktionen, neues Wissen gefragt.« 14

Tagesschau, im November 2019: im Bildhintergrund wieder einmal das Motiv eines voll beladenen Containerschiffs – vermeldet wird das neue Gutachten der fünf Wirtschaftsweisen: Von »gedämpfteren Tönen« im Bericht spricht der Reporter, und von der enthaltenen Botschaft, dass der Aufschwung langsam zu Ende gehe. Der dicke Bericht in blauem Einband trägt den Titel »Strukturwandel meistern«. Klingt gut. Die Infrastruktur des Landes, das ein dringender Hinweis, müsse digitalisiert werden. Wachstum sei im neuen Jahr möglich, aber maximal um ein knappes Prozent, und auch das nur wegen des »Kalendereffekts«, durch den es überdurchschnittlich viele Arbeitstage gibt. Keine rote Karte, aber eine klare Warnung. Der Sachverständigenrat kritisiert, dass die Regierung alte Strukturen bewahrt und Innovationen in der Industrie nicht stärker gefördert habe. »Ich darf Ihnen sagen, dass wir vielleicht nicht immer alles genau so machen, wie Sie es uns vorschlagen, aber dass Sie uns doch sehr inspirieren, und Sie finden viele Gedanken auch in dem, was wir getan haben, wieder«, lautet die humorvolle Reaktion der Bundeskanzlerin. Die Experten schränken auch gleich ein: Von einer tiefgreifenden Rezession sei nicht auszugehen, ein Konjunkturprogramm nicht nötig.

Grund zur Sorge? Ein wenig, nicht zu viel. Und doch, in kurzen Momenten des Nachdenkens zwischen hektischen Talkshows, kurzlebigen Kommentaren und übereilten Social-Media-Posts spüren wir, dass vieles nicht mehr so läuft, wie es sollte. Im Global Competitiveness Index rutscht Deutschland innerhalb eines Jahres um vier Plätze zurück auf den siebten Rang. Die Werte für Innovationsfähigkeit sind stabil und hoch, die für Einsatz und Verfügbarkeit moderner, digitaler Kommunikationsnetze jedoch im Vergleich zu gering. Deutschland liegt auf Platz 38, hinter Bulgarien, Malaysia oder auch Uruguay.15

Am Abend jenes Tages, an dem die Wirtschaftsweisen ihren Bericht vorlegen, sitze ich in einem der wenigen Restaurants in München, die ein postmodern-urbanes Gefühl vermitteln, wie sonst in Soho oder Berlin-Mitte. Kahle Wände, dicke Rohre an der Decke, Lampen im Industrieschick, eine offene Küche, Biowein. Die Betreiber haben ein Umspannwerk umgebaut. Mir gegenüber sitzt ein guter Bekannter, der in der Digitalabteilung eines Münchner DAX-Unternehmens arbeitet. »Die guten Zeiten sind bei uns definitiv vorbei«, sagt er.

»Die Leute fühlen sich noch sicher. Auch meine Kollegen. Jeder denkt, er hat einen Job für die Ewigkeit. Aber wenn ich unsere Zahlen genau anschaue, bin ich mir da nicht sicher«, führt er aus. Das Problem seien die Auslandsmärkte, die zwar den meisten Umsatz beisteuern, aber immer unberechenbarer werden. Dazu der eigene Unwille, sich zu verändern. Schon vor Jahren habe sein Team intern vorhergesagt, was jetzt geschieht: Die Bedürfnisse der Kunden ändern sich, die Produkte seien nicht mehr innovativ, der Stolz auf das eigene Schaffen sei gesunken, die Motivation auch, und das genau in einer Phase, in der Ideen dringend gebraucht würden.

Digitalisierung ist fast schon Unwort auf manchen Konzernetagen. Transformation erst recht. Es werde schon so lange darüber geredet, ohne dass sich etwas getan hätte. Die Versprechungen waren groß, doch der Umsatz kommt zum größten Teil immer noch aus dem klassischen Geschäft. Die Maßzahl, deren Veränderung die Aktionäre interessiert, sind der Gewinn pro Aktie und die Dividende. Der Indikator für langfristiges Denken und Handeln ist noch nicht erfunden.

Auf dem Heimweg durch die nächtliche Stadt frage ich mich: Was genau läuft schief? Zu wenig Wachstum? Veraltete Strukturen? Oder geht es längst um ganz andere Krisen? Die Krise der Demokratie? Die Krise des Sozialstaats? Die Krise der Globalisierung? Die Krise der Umwelt? Ist es eine Kombination dieser Faktoren, die sich in der Stimmung bemerkbar macht, die zu kippen droht? Das System hat sich verlangsamt, nicht weil die Festplatte schon komplett überlastet ist, sondern weil schadhafte Stellen entstanden sind. Es wäre an der Zeit für einen gründlichen Scan, um zu sehen, was noch gut läuft, was gar nicht mehr funktioniert, was repariert werden kann. Nur so lässt sich vermeiden, dass wir auf Kosten einer Zukunft leben, die wir alle noch erleben werden. Höchste Zeit also für einen Reboot?!

Zwei Monate vor jenem Abend in München steht Greta Thunberg vor der UN-Vollversammlung. »Wie können Sie es wagen«, schimpft sie die Regierenden. »Sie haben meine Träume und meine Kindheit mit Ihren leeren Worten gestohlen. … Menschen sterben. Ganze Ökosysteme kollabieren. … Wir stehen am Beginn eines Massenaussterbens. Und alles, worüber Sie reden können, sind Geld und Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum. … Wie können Sie es wagen, weiterhin wegzuschauen.«

Applaus kommt auf, auf den Straßen New Yorks jubeln ihr Fans zu, zugleich gehen gehässige Kommentare auf YouTube und anderen Social-Media-Plattformen ein, auf denen das Video abrufbar ist. Von einer Pandemie ist damals noch keine Rede. Aber es ist klar, unser Verhältnis zur Natur, die, wie uns das Virus zeigen sollte, doch viel mächtiger ist, als wir gedacht haben, ist noch immer nicht geklärt. Wäre das anders, dann würde die Diskussion zwischen Mahnern und Leugnern des Klimawandels nicht so emotional verlaufen. Machen wir uns weiter die Erde untertan oder machen wir es zu unserer Aufgabe, sie zu schützen? Sichere Jobs und Wohlstand wollen beide Seiten, aber wie nachhaltig sind die Wachstumsrekorde? Ist es überhaupt richtig, nach mehr Wachstum zu streben, und wenn nicht, warum kommen wir nicht davon los? Steckt dieses Streben wirklich tief in unserer Natur?

Vor knapp 50 Jahre hat der Club of Rome seine berühmte Studie Grenzen des Wachstums vorgelegt. In spätestens 100 Jahren erreiche die Weltwirtschaft eine absolute Wachstumsgrenze, wenn die Umwelt verschmutzt, die Rohstoffe aufgebraucht, die Weltbevölkerung weiter angewachsen sei. Die Hälfte der Zeit ist abgelaufen. »Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen.« 16 Die einen begeistert der Bericht, die anderen beschimpfen ihn als Unfug. Die Kraft des technischen Fortschritts, der die Wachstumsgrenzen sprengt, wird unterschätzt, sagen die Kritiker. Auch Technik könnte irgendwann nicht mehr verhindern, dass das System zusammenbricht, steht im Bericht – wenn auch erst in 50 Jahren.

Auch wenn einige der Annahmen des Berichts – Ressourcen, die heute schon verbraucht sein würden – sich als falsch erwiesen haben, es bleibt der Grundgedanke der Grenzen für unser Wachstum, der uns bis heute beschäftigt. In jedem Fall lohnt es sich, die Prognosen der Wissenschaftler nachzulesen, sowohl die ersten als auch die aus späteren Versionen. Im Jahr 2017 veröffentlichten Ernst Ulrich von Weizsäcker und sein Kollege Anders Wijkman, die damals den Club of Rome leiteten, einen neuen Bericht unter dem Titel Wir sind dran: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen. Lange vor dem Corona-Ausbruch schreiben sie darin, dass eine Pandemie die Welt genauso massiv bedrohen könne wie die Umweltzerstörung: »Wir sind weit davon entfernt, darauf vorbereitet zu sein«, warnen die Autoren.17

Außer Wissenschaftlern und Virologen denken nur wenige Menschen zu diesem Zeitpunkt über das Risiko und die Folgen einer Pandemie nach. Knapp eine Million Menschen sterben jährlich in Deutschland, das sind rund 3000 am Tag. Ein Drittel davon an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, ein Viertel an Krebs, nur sieben Prozent an einer Erkrankung des Atemsystems – und davon auch nur ein Teil von Viren ausgelöst. Das Thema Pandemievorsorge spielt sich in einem Segment der Festplatte ab, das nur selten genutzt wird. Für den Ernstfall ist das Gesundheitssystem kaum gewappnet.

Wenig Energie fließt in das Thema. Eine der wenigen Ausnahmen: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat 2012 einen Notfallplan entwickelt. Dieser Plan beschrieb die Reaktion auf einen hypothetischen Erreger namens Modi-SARS mit »neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen« und der »plötzlich auftreten« könne. Die Beamten diskutieren mögliche Auswirkungen auf alle Bereiche der Gesellschaft, auch auf das »Schutzgut Volkswirtschaft«, die nicht konkret abschätzbar, aber immens sein könnten. Die Pandemie bekommt die Stufe C im Bedrohungsraster, »bedingt wahrscheinlich«. Dieser Wert bedeutet, dass ein solches Ereignis einmal in einem Zeitraum von 100 bis 1000 Jahren geschehen könnte.18 Noch davor kommt im Bericht die Risikoanalyse »Extremes Schmelzhochwasser aus den Mittelgebirgen«.

Am Tag nach dem Abendessen mit dem Konzernmitarbeiter in München sitze ich bei einer Konferenz in einem Hotel auf dem Podium. »Disruption« lautet der Titel. Niemand ahnt etwas von der großen Disruption, die für ein ganzes Jahr lang verhindern wird, dass wir Konferenzen besuchen, die sich in der physischen Welt abspielen. Ebenfalls auf dem Podium sitzt die Digitalchefin des Lastwagenherstellers MAN, Sandra Reich. »Die Budgets für Innovation dürfen nicht geringer werden«, sagt sie. Zwischen uns Martin Unger, langer Bart, Foo-Fighters-T-Shirt, schwere Lederstiefel. Er leitete damals WattX, Digitallabor und Company Builder des Heiztechnikkonzerns Viessmann. »Der Druck, nachzuweisen, dass unsere Arbeit etwas bringt, ist gestiegen.« Werden die Zeiten gefühlt schlechter, zählt vor allem das Kerngeschäft.

Nach der Mittagspause am Stehbuffet moderiere ich mit meinen Kollegen einen Workshop. Das Ziel: Wir entwickeln eine Innovation, ein neues Produkt oder einen Service, am besten mit einem funktionierenden Geschäftsmodell. Hemd und Sakko habe ich in der Zwischenzeit gegen einen Kapuzenpulli getauscht. Das Publikum wählt unter mehreren Vorschlägen mit Handzeichen aus.

Der Gewinner ist ein digitaler Service, über den sich die Pflege der Gräber von Freunden und Verwandten weltweit steuern lässt.

5 Merkel, A. (2020, März 18). »Dies ist eine historische Aufgabe – und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen« [Video]. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/mediathek/videos/ansprache-der-kanzlerin-1732108

6 Dinauer, R. (2020, Mai 08). Unterricht mit Zoom und Slido. Süddeutsche Zeitung. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.sueddeutsche.de/muenchen/coronavirus-muenchen-schule-digitalisierung-bildungsbooster-1.4900649

7 InfoSec-Conferences. (2020). Cybersecurity Conferences 2020–2021. Abgerufen 19.10.2020, von https://infosec-conferences.com/

8 conferenceseries.com. (2020). Related Conference of Pandemics and Biosecurity. Abgerufen 19.10.2020, von https://infectioncongress.infectiousconferences.com/events-list/pandemics-and-biosecurity

9 Statistisches Bundesamt. (2020, Juli 30). Bruttoinlandsprodukt im 2. Quartal 2020 um 10,1 % niedriger als im Vorquartal. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/07/PD20_287_811.html

10 Chödrön, P. (2001). Wenn alles zusammenbricht. München: Goldmann.

11 Grabka, M.; Halbmeier, C. (2019). Vermögensungleichheit in Deutschland bleibt trotz deutlich steigender Nettovermögen anhaltend hoch. DIW Wochenbericht 40, S. 735–745. Abgerufen 15.11.2020, von https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.679972.de/19-40-1.pdf.

12 Porsche Newsroom. (2020, Januar 13). Porsche steigert seine Auslieferungen in 2019 um zehn Prozent. Abgerufen 19.10.2020, von https://newsroom.porsche.com/de/2020/unternehmen/porsche-auslieferungen-2019-steigerung-10-prozent-19704.html

13 Wohlrabe, K. (2019, Dezember 18). ifo Geschäftsklima steigt zum Jahresende (Dezember 2019). ifo Institut. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.ifo.de/node/50668

14 Jacobi, R. (2019, Oktober 1). Wildwasserfahrer gesucht! manager magazin. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/konjunktur-sechs-tipps-wie-die-konjunkturschwaeche-zur-chance-wird-a-1289279.html

15 Schwab, Prof. K. (2019). Global Competitiveness Report 2019. World Economic Forum. Abgerufen 19.10.2020, von http://www3.weforum.org/docs/WEF_TheGlobalCompetitivenessReport2019.pdf.

16 Meadows, D. H.; Meadows, D. L.; Randers, J.; Behrens lll, W. W. (1972). The Limits to Growth. Amsterdam: Adfo Books.

17 von Weizsäcker, E. U.; Wijkman, A. (2019). Wir sind dran: Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen – Club of Rome: Der große Bericht. München: Pantheon Verlag.

18 Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2013, Januar 03). Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Abgerufen 19.10.2020, von https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/BBK/DE/Downloads/Krisenmanagement/BT-Bericht_Risikoanalyse_im_BevSch_2012.pdf;jsessionid=488B640BEACBD7B1F36CCF469EDA4884.2_cid509?__blob=publicationFile