Über Fiona Valpy

Fiona Valpy lebte sieben Jahre lang in Frankreich, wo sie mit ihrer Familie ein altes Gutshaus in den Weinbergen bei Bordeaux restaurierte. Die Liebe zu dem Land und seinen Bewohnern, seiner Küche und besonderen Geschichte inspirierten sie zu diesem Roman. Fiona Valpy wohnt heute in Schottland, auf der Suche nach Sonne findet sie jedoch immer wieder ihren Weg nach Frankreich. Im Aufbau Taschenbuch ist ihr Roman „Die Sommer meines Lebens“ lieferbar. Mehr zur Autorin unter www.fionavalpy.com.

Marie Rahn studierte an der Universität Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, u.a. Lee Child, Aldo Busi, Kristin Hannah, Silvia Day und Sara Gruen.

Informationen zum Buch

Eine junge Liebe im Krieg.

Frankreich, 1938: Eliane wächst behütet inmitten von Weinbergen auf. Als sie sich in den jungen Franzosen Mathieu verliebt, scheint nichts ihr gemeinsames Glück trüben zu können. Doch dann besetzen die Deutschen das Dorf, in dem Eliane mit ihrer Familie wohnt. Die Bedrohung durch die Nazis nimmt zu, und sie schließt sich heimlich der Résistance an. Als Mathieu von einer Reise zurückkehrt, ist plötzlich alles anders zwischen den beiden. Wem kann Eliane noch vertrauen? Schon bald muss sie alles riskieren, um die zu schützen, die sie liebt.

Die berührende Geschichte einer mutigen jungen Frau, die für ihre Freiheit kämpft.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Fiona Valpy

Jahre der Hoffnung

Roman

Aus dem Englischen von Marie Rahn

Inhaltsübersicht

Über Fiona Valpy

Informationen zum Buch

Newsletter

Erster Teil

Eliane 2017

Abi 2017

Eliane 1938

Abi 2017

Eliane 1938

Abi 2017

Eliane 1939

Abi 2017

Eliane 1939

Abi 2017

Eliane 1939

Abi 2017

Eliane 1939

Abi 2017

Eliane 1940

Abi 2017

Eliane 1940

Abi 2017

Eliane 1940

Abi 2017

Zweiter Teil

Eliane 1940

Abi 2017

Eliane 1940

Abi 2017

Eliane 1942

Abi 2017

Eliane 1942

Abi 2017

Eliane 1942

Abi 2017

Eliane 1942

Dritter Teil

Eliane 1943

Abi 2017

Eliane 1943

Abi 2017

Eliane 1943

Abi 2017

Eliane 1943

Abi 2017

Eliane 1943

Abi 2017

Eliane 1944

Abi 2017

Eliane 1944

Abi 2017

Abi 2017

Anmerkung der Autorin

Danksagung

Impressum

Für meine Freundin Michèle,
in Liebe

»Geht auf eure Felder und in eure Gärten, und ihr werdet lernen, dass es der Biene Vergnügen macht, aus der Blume den Honig zu sammeln. Doch auch für die Blume ist es ein Vergnügen, der Biene ihren Honig zu schenken. Denn für die Biene ist die Blume ein Quell des Lebens, und für die Blume ist die Biene ein Bote der Liebe.«

Aus Der Prophet
von Khalil Gibran

»Eine Honigbiene vollführt einen Schwänzeltanz, um den anderen Arbeitsbienen im Stock die Entfernung und Richtung neuer Nektarquellen anzuzeigen. Sie beschreibt dabei eine Acht, fliegt erst gegen den Uhrzeigersinn einen Halbkreis, dann eine gerade Linie und schließlich einen Halbkreis im Uhrzeigersinn. Im Winter sammeln die Bienen keinen Nektar, sondern drängen sich mit der Königin in der Mitte des Stocks zusammen. Sie erzeugen Wärme, indem sie ihre Flugmuskulatur von den Flügeln entkoppeln und ›zittern‹, das heißt, diese Muskeln schnell an- und entspannen.«

Aus The Beekeeper’s Bible
von Richard Jones und
Sharon Sweeney-Lynch

Erster Teil

Eliane
2017

Sie wusste, dies würde ihr letzter Sommer. Selbst die warme Frühlingssonne konnte nicht die Müdigkeit vertreiben, die ihr tief in den Knochen steckte. Sie hatte schon so viele Sommer erlebt, fast hundert waren es mittlerweile. Sie sah zum Hügel, wo auf dem kleinen Friedhof zwischen den Weingärten ihre Liebsten ruhten. Sie warteten darauf, sie willkommen zu heißen.

Eine der ersten Bienen, die sich an diesem strahlenden Morgen aus dem Stock wagte, zog träge Spiralen in der Luft, während sie sich am Duft des Nektars all der Blumen orientierte, die Eliane in ihrem Garten zog. Angelockt von Bienenwachs und Honig, der in den Poren ihrer weichen, pergamentartigen Haut steckte, kreiste sie um sie herum.

»Dir auch einen guten Morgen«, sagte sie lächelnd. »Keine Angst, ich werde euch noch nicht verlassen. Ich weiß, es gibt noch einiges zu tun.«

Sie stellte den Korb mit den Rahmen, den sie mitgebracht hatte, neben den weiß getünchten Bienenstöcken ab und breitete sich den Schleier ihres breitrandigen Huts sorgfältig über Kopf und Schultern. Dann öffnete sie den ersten Stock, lüftete sanft das schräge Dach und neigte sich darüber, um die Drohnen zu betrachten, eine dichte Masse aus wimmelnden, brummenden Körpern, die sich um die Königin kümmerten. Da die Honigvorräte bis weit über den Winter hinaus gereicht hatten, wuchs die Kolonie bereits.

Sie schob die neuen Rahmen in eine leere Kiste und positionierte sie über dem umtriebigen Bienenvolk. »Hier, Raum zum Wachsen«, sagte sie zu ihnen. »Und für den Honig des Sommers.«

Sie kümmerte sich um einen Bienenstock nach dem nächsten. Dann machte sie eine Pause und streckte den Rücken nach der Anstrengung, die Kisten mit den Rahmen hochzuhieven. Sie spähte hinauf zur Baumkrone der Akazie, deren Blätter ein filigranes, zitterndes Schattenmuster über die Stöcke warfen. Schon bald würde sie zu blühen beginnen und durch die dichten, weißen Blüten ihre Farbe wechseln, und dann würden die Bienen den süßesten Nektar von allen trinken. Und in den Gläsern mit Akazienhonig würde sie die Essenz des Sommers aufbewahren, süß und golden.

Sie lächelte in sich hinein. Ja, sie hatte schon viele Sommer erlebt. Aber ein weiterer war ein willkommenes Geschenk.

Abi
2017

Ich habe mich verlaufen. Lost in France, genau wie in dem albernen Song, den ich nicht mehr aus dem Kopf bekomme, während ich diese Straße entlanggehe. Ich muss kurz stehen bleiben, um mir mit dem T-Shirt, das bereits schweißnass ist, die Stirn abzuwischen. Die Straße führt über einen Bergkamm, der auf der einen Seite steil abfällt, und ich muss zugeben, es gibt schlimmere Orte, um sich zu verlaufen. Vor mir erstreckt sich ein Flickenteppich aus Grün und Gold mit samtig dunklen Tupfern aus Waldland. Tief unten schlängelt sich ein Fluss wie ein breites Satinband durch das Tal.

Friedliche Ruhe unter der französischen Sonne. Genau das, was ich mir vorgestellt hatte, als Pru und ich uns zum Yoga-Retreat anmeldeten.

»Guck mal, genau das, was du brauchst, Abi.« Pru hatte mit einem Hochglanzprospekt gewedelt, als wir nach unserem Yogakurs die Matten einpackten und unsere Stiefel anzogen. »Eine Frühlingswoche mit Yoga, Meditation und Achtsamkeit im Herzen von Frankreich«, las sie vor.

Ich ersparte mir die Bemerkung, dass ich in den letzten Jahren kaum in der Lage gewesen war, auch nur meine Wohnung zu verlassen, und dass mein größter Ausflug seit Monaten der wöchentliche Weg zum Yogakurs und zurück war. Abgesehen von den Besuchen im Krankenhaus, wo die Physio- und Psychotherapeuten versucht hatten, mich wieder zusammenzuflicken.

Aber das Retreat hörte sich verlockend an. Für Frankreich hatte ich schon immer eine Schwäche gehabt. Das heißt, eigentlich für die Vorstellung von Frankreich, denn genau genommen war ich noch nie dort gewesen – oder in anderen Ländern. Ich wusste, dass ich mir langsam mehr Mühe geben musste, um wieder an meinem eigenen Leben teilzunehmen und mich hinaus in die Welt zu wagen. Ich hatte gedacht, das Reisen würde mir in Prus Gesellschaft leichter fallen. Sie war eine liebe Freundin und immer sehr gut organisiert. Nachdem sie in den Yogakurs gekommen war, um ihre Scheidung besser zu verarbeiten, hatten wir uns bei Zimt-Chai angefreundet. Pru hatte Humor und plapperte nicht in einer Tour. Daher ging ich davon aus, dass sie eine gute Reisebegleitung wäre, und sagte zu. Noch am selben Abend hatte sie sowohl das Retreat als auch die Flüge für uns gebucht, daher gab es kein Zurück – obwohl alles in mir sich danach sehnte.

Das ist die Strafe dafür, so spontan zu sein, denke ich, als ich über den heißen Asphalt laufe. Daraus ist noch nie was Gutes erwachsen. Und jetzt habe ich keine Ahnung, wohin ich da gehe, als ich den Hügel hinauf durch die Weinreben stapfe – wenn man mich fragt, sieht ein Weinberg aus wie der andere. Aber ich muss zugeben, dass das goldene Licht auf den üppig grünen Blättern zwischen den knorrigen, uralten Stämmen und Ästen ziemlich schön aussieht.

Andererseits will ich mich von der Schönheit meiner Umgebung nicht davon ablenken lassen, dass ich noch immer wütend auf Pru bin, die mich einfach im Stich gelassen hat. Meine Therapeutin wäre entzückt: Sie sagt mir ständig, Wut gehöre zum Heilungsprozess. Vielleicht ist das wirklich besser, als überhaupt nichts zu fühlen.

So viel zur Erleuchtung und Gelassenheit, die das Prospekt versprochen hatte. Grimmig stapfe ich noch ein bisschen weiter. Dabei kann ich es Pru im Grunde nicht verübeln. Die Vorstellung von einem Bad und einem richtigen Bett, dazu noch ein fitter, beweglicher Niederländer, ist natürlich verlockend. Ich weiß, ich bin nur neidisch, aber dennoch habe ich alles Recht der Welt, auf sie wütend zu sein.

Pru hatte ihn am zweiten Tag nach dem Mittagessen in der Schlange fürs Klo kennengelernt. Sie behauptete, sie hätten beide sofort eine Verbindung gespürt. »Seelenverwandte« war das Wort, das sie benutzte, als sie sich endlich neben mich auf die Bank sinken ließ und mich vor vollendete Tatsachen stellte.

»Bloß weil ihr beide nach einem Teller scharfer Linsensuppe aufs Klo müsst? Ein bisschen dürftig für Seelenverwandschaft«, platzte es aus mir heraus, bevor ich mich zurückhalten konnte.

Das ignorierte sie völlig und erwiderte: »Er hat mehr bezahlt, um in einem Gästehaus in der Nähe wohnen zu können. Anscheinend ist es super da. Er hat sogar einen eigenen Whirlpool.«

Ich seufzte. »Das ist natürlich was anderes als eine schimmelige Dusche mit Betonbecken, in dem ein altes Pflaster von jemandem schwimmt.«

Wir waren drei Tage zuvor am Abend angekommen, als die meisten Teilnehmer bereits ihre Zelte aufgebaut hatten. Ein Mitarbeiter mit gebatiktem T-Shirt und rasiertem Schädel, der in der Abendsonne glänzte, zeigte uns eine Ecke, wo wir unser Zelt aufschlagen konnten. Ganz offensichtlich war dies das letzte Fleckchen Erde auf dem Platz, und man konnte es am besten mit ›nicht weit zum Klo‹ beschreiben. Nach einer Weile gelang es uns, das Zelt aufzubauen, obwohl die Positionierung der Stangen uns Rätsel aufgab. Die Heringe mit einem Gummihammer einzuschlagen, machte die Sache auch nicht einfacher, weil der Boden hart wie Beton war. Schließlich hatten wir drei von vier Ecken einigermaßen gut und die vierte zumindest ausreichend angepflockt und die Seile gespannt, sodass es keine Probleme geben sollte. Schließlich ist es windstill. Das Wetter war bislang super – zumindest da hatte die Broschüre nicht zu viel versprochen. Nachts wird es zwar ziemlich kalt, aber schon morgens wärmt die Sonne die Luft, und mittags wird es sogar richtig heiß.

Ich springe zurück, als es plötzlich neben mir raschelt und eine dünne gelb-schwarz gestreifte Schlange sich davonschlängelt. Schlangen! Die gefährlichsten Wesen, auch unter den Menschen. Ich hole tief Luft und atme geräuschvoll aus, genau wie die Therapeutin es mir beigebracht hat, um mich zu beruhigen.

Reiß dich zusammen!, befehle ich mir. Versuch, die Kontrolle zu behalten, darauf kommt es an. Lass dich nicht von Erinnerungen überwältigen. Heilung braucht Zeit – das sagen alle.

Ich habe den Gipfel eines Hügels erreicht, und die Straße verläuft ein Stück weit eben, bevor sie wieder ansteigt. Um wieder zu Atem zu kommen, mache ich eine Pause und drücke mir eine Faust in die Seite, weil ich Seitenstiche habe. Dann gehe ich weiter, langsamer jetzt. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigt mir, dass es bereits nach sechs ist. Mittlerweile wird das Abendessen, vermutlich Gemüsecurry mit Reis und einem Stück Obst zur Krönung, im Saal des Yoga-Zentrums vorbei sein. Wir alle entgiften, obwohl das ganze gesunde Essen bislang nur dafür gesorgt hat, dass ziemlich viele Teilnehmer reizbar sind und Kopfschmerzen, Blähungen und üblen Mundgeruch haben – all das Gift will wohl raus. Zumindest wird in diesem Urlaub garantiert keiner an Gewicht zulegen. Es sei denn, Pru und ihr Niederländer schlemmen heimlich in seinem luxuriösen Gästehaus. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich im Bett mit Champagner und Pralinen verwöhnen.

Während ich weiter vor mich hin trotte, wird mir bewusst, dass ich für ein Schinkensandwich töten würde. Das hört man in einem Yoga-Retreat nur selten, obwohl wahrscheinlich die meisten Teilnehmer es die Hälfte der Zeit denken, wenn sie auf ihren Meditationskissen sitzen und versuchen, ihren Geist zu leeren.

Am Abend unserer Ankunft war alles ein bisschen chaotisch. Nachdem wir unser Zelt aufgebaut hatten, war es schon Zeit für das Abendessen, daher folgten wir der Flut der Teilnehmer, die zu den Ausgabetischen strömten. Wir beäugten einander heimlich, versuchten aber gleichzeitig, yogische Gelassenheit auszustrahlen. Pru trug einen langen, fließenden Kaftan, was sie normalerwiese nie anziehen würde.

Nach meinem Kampf mit dem Zelt fühlte ich mich schmutzig und verschwitzt. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, meine Jeans und das langärmlige T-Shirt zu wechseln. Das war meine Uniform, die die Narben auf meinen Armen und Beinen verdecken sollte. Allerdings spürte ich bereits, wie sich die Mücken über meine Fußknöchel hermachten.

Pru konnte sich nicht mehr halten vor Lachen, als ich sie in derselben Nacht noch fragte: »Glaubst du, wir dürfen die Mücken erschlagen, oder sorgt das für schlechtes Karma?« Die Chancen auf Schlaf waren verschwindend gering, weil die kalte, feuchte Luft ins Zelt drang, meine Mückenstiche juckten und die ganze Nacht über die Türen vom Klo knallten. Am nächsten Morgen krähte dann vom nahe gelegenen Bauernhof ein Hahn, nachdem ich endlich eingeschlafen war.

Als ich an einem Cottage vorbeikomme, taucht plötzlich ein Hund aus dem Nichts auf und rast mit wildem Gebell auf mich zu. Schon wieder spüre ich Panik in mir aufwallen, doch gücklicherweise befindet sich ein Zaun zwischen dem Hund und mir. Ganz schön gefährlich hier mit all den Schlangen und tollwütigen Hunden! Meine Hände zittern ein wenig.

Ich spüre, dass der Riemen meiner Sandale auch noch eine Blase beschert hat, also bleibe ich stehen, um ihn zu lösen. Die Haut an der Ferse ist aufgescheuert. So wird der Rückweg zum Yoga-Zentrum besonders viel Spaß machen. Dazu kommt, dass ich noch immer keine Ahnung habe, wo ich bin oder wie weit ich noch laufen muss. Ein Stück weiter sehe ich ein großes schmiedeeisernes Kreuz auf dem Gipfel eines Hügels. Ich humple darauf zu und setze mich ins Gras (natürlich nicht, ohne es sorgfältig nach Schlangen abgesucht zu haben). Auf einem Stein neben dem Kreuz lese ich »Sainte-Foy-la-Grande 6 Kilomètres«. Daneben steht ein Pfahl mit blauer Spitze und einer gelben Muschel darauf – das Zeichen für die Pilgerroute, über die sich Pru neulich lang und breit ausließ, als sie beim Frühstück im Reiseführer las.

Mir fällt wieder die Morgenrunde im Meditationssaal ein, in der es um Karma ging: Man erntet nur, was man gesät hat. Es kostete mich unendliche Selbstbeherrschung, Pru keinen tödlichen Blick in den Nacken zu bohren. Sie und ihr Niederländer saßen ein paar Reihen vor mir auf ihren Kissen. Sie hatte mich zu sich rufen wollen, aber ich hatte den Kopf geschüttelt. Nein, danke, ich brauche euer Mitleid nicht und will auf keinen Fall fünftes Rad am Wagen sein. Daher hockte ich mit verschränkten Beinen auf meinem kleinen lila Kissen, obwohl mein Knie wehtat und mein Fuß sofort einschlief. Seit dem Unfall waren fast zwei Jahre vergangen, da könnte man nach all der Physio und den Yogadehnungen doch meinen, dass alles längst verheilt sein müsste. Ich schloss die Augen, um nicht zu sehen, wie Pru sich alle fünf Minuten nach mir umdrehte, um mir zuzulächeln.

Wie in aller Welt können andere nur so lange still sitzen? Es war unmöglich, eine bequeme Position zu finden, und ich zappelte die ganze Zeit herum.

Langsam glaube ich, dass ich fürs Meditieren einfach nicht geschaffen bin. Heute Nachmittag auf dem Spaziergang sollten wir es auch versuchen. In den Feldern rund um das Yoga-Zentrum wimmelt es von Menschen, die sich in Geh-Meditation üben und wie die Zombies vorwärtsgleiten, auf jeden Schritt achten – ›im Moment bleiben‹ –, wie es uns geraten worden war. Zuerst gelang mir das ganz gut, aber der Anblick von Pru und Mr. Niederlande, die im Tandem an mir vorbeischwebten, brachte mich aus dem Konzept, worauf ich einen kleinen Weg in ein Wäldchen hinaufstapfte. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, es keine Sekunde länger in der sich zeitlupenartig bewegenden Menge auszuhalten.

Es war eine solche Erleichterung, der Geh-Meditation zu entkommen und im Wald zu sein, kühler und auch sicherer. Meine letzte richtige Panikattacke lag dank der Medikamente schon eine Weile zurück, aber jetzt hatte ich wieder einmal gespürt, wie es mir die Kehle und die Brust zuschnürte und mein Herz zu hämmern anfing. Es tat mir gut, endlich mal allein zu sein. Ich bin ständige Gesellschaft von vielen Menschen einfach nicht gewohnt.

Ich frage mich, wie viele Kilometer ich schon gelaufen bin. Der Meilenstein hilft mir nicht weiter, da ich völlig die Orientierung verloren habe. Als ich noch mal meinen Fuß begutachte, sehe ich, wie er immer mehr anschwillt. Ich drücke so lange daran herum, dass er schließlich zu bluten anfängt und der Saum meiner Yogahose sich rot färbt. Erschöpft lehne ich mich an den rauen Meilenstein, strecke die Beine aus und betrachte die Landschaft.

Vor mir breiten sich in alle Richtungen Weinberge aus, zwischen denen sich hier und da cremefarbene Häuser verstecken. Rote Dächer leuchten im Abendlicht. Hier oben auf den Hügeln kommt nun ein leichter Wind auf. Dankbar lasse ich mir den verschwitzten Nacken und die heißen Wangen kühlen. Wenigstens geht es von hier aus nur noch bergab. Wenn ich die Straße zurücklaufe, sehe ich vielleicht irgendwelche Schilder zum Yoga-Zentrum oder Stellen, die mir bekannt vorkommen.

Aber als ich in die Richtung blicke, aus der ich gekommen bin, sehe ich dicke, schwarze Gewitterwolken auf mich zutreiben. Schon wechselt das Licht von sanftem Gold in ein düsteres Lila. Außerdem fällt mir nun auf, dass es bedrohlich still geworden ist: Die Vögel und Grillen, die mich mit ihrem Zwitschern und Zirpen begleitet haben, sind plötzlich verstummt. Ich stütze mich mit der einen Hand auf den Meilenstein, umfasse mit der anderen den Fuß des Kreuzes und belaste langsam meinen wunden Fuß. Ich mache mich besser schnell auf den Rückweg, bevor das Gewitter losbricht.

Genau in diesem Moment höre ich Motorengeräusch, und ein weißer Lieferwagen kommt herangefahren. Am Steuer sitzt eine Frau in meinem Alter, die ihre langen, dunklen Haare zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden hat.

»Springen Sie rein!«, ruft sie mir über das Dröhnen des Motors und das Heulen des Windes hinweg zu, der mittlerweile kleine Staubtornados am Straßenrand aufwirbelt. Unsicher blicke ich hoch zu den Wolken, die mittlerweile den ganzen Himmel verdunkeln.

»Ich wollte eigentlich …«, setze ich an, verstumme dann aber und weise nur auf die Straße, die vielleicht in Richtung Yoga-Zentrum zurückführt.

Die ersten dicken Regentropfen platschen auf den Asphalt vor mir und in mein Gesicht. Den Kopf eingezogen und die Augen zusammengekniffen gegen die schweren Tropfen klettere ich auf den Beifahrersitz.

»Sara Cortini – freut mich, Sie kennenzulernen«, stellt sie sich auf Englisch vor (wieso wissen sie immer auf den ersten Blick, dass ich keine Französin bin?). »Ich wohne gleich da drüben.« Sie zeigt auf den Gipfel der nächsten Anhöhe, über der ebenfalls düstere Gewitterwolken schweben. »Kommen Sie erst mal mit zu uns, nach dem Unwetter bringen wir Sie nach Hause. Wo wohnen Sie?«

»Im Yoga-Zentrum. Mein Name ist Abi Howes.«

Sara gibt Gas und fährt schnell einen steilen Schotterpfad hinauf, um dem aufkommenden Sturm zuvorzukommen. Am Ziel springen wir aus dem Wagen und eilen durch den prasselnden Regen, der uns in den wenigen Sekunden, bis wir den Eingang eines eleganten Gebäudes erreichen, vollkommen durchnässt.

»Wo sind wir hier?«, frage ich, während wir in das Haus eilen, und versuche, die Gebäude zu erkennen, die uns auf dem Gipfel des Hügels umgeben.

Sara knallt die Tür hinter uns zu, greift nach einem Küchentuch und reicht es mir, damit ich mir das Gesicht und die Arme abtrocknen kann.

Und dann sagt sie: »Willkommen im Château Bellevue.«

Eliane
1938

Als die Sonne aufging, hing ein Nebelschleier über dem Wehr des Flusses. Das Licht des Spätsommermorgens war so weich und golden wie die erntereifen Früchte an den Birn- und Quittenbäumen im Obstgarten, als das Zirpen der ersten Mönchsgrasmücke die nächtliche Stille vertrieb und den neuen Tag ankündigte.

Da ging die Tür des Mühlenhauses auf, und eine schmale Gestalt schlüpfte heraus und lief mit nackten Füßen geräuschlos durch das taunasse Gras. Sie sprang über die moosbedeckten Steine am Mühlgraben, in dem das Wasser schäumte und brodelte. Eliane wechselte die drei breiten Holzlatten in die andere Hand, raffte ihre Röcke und trat mit sicherem Schritt aufs Wehr.

Ihr Vater Gustave, der ihr gefolgt war, um etwas Feuerholz zu holen, hielt inne und sah zu, wie seine Tochter den Fluss überquerte und dabei durch knöcheltiefes Wasser watete, umgeben vom tief hängenden Nebel. Als ob sie seinen Blick spürte, schaute sie über die Schulter zurück.

Selbst aus der Distanz erkannte sie an seiner ungewöhnlich ernsten Miene, dass er sich wieder einmal Sorgen wegen des Krieges machte, der kaum zwanzig Jahre nach dem letzten schrecklichen Krieg drohte, welcher ihm den eigenen Vater genommen hatte. Sie hob die Holzlatten zum Gruß, worauf seine Züge sich zu seinem üblichen Lächeln verzogen.

Die Bienenstöcke unter den Akazien am anderen Ufer waren reglos und still, als sie dort ankam. Ihre Bewohner warteten geschützt im Inneren, bis die Sonnenstrahlen die Luft so weit anwärmten, dass sie sich hinauswagen konnten. Leise zog Eliane dünne Schnüre aus ihrer Schürzentasche und band die Latten vor den Ausgängen der Bienenstöcke fest, bevor die Bienen mit ihrem emsigen Hin und Her begannen. Heute sollten sie umziehen, in eine geschützte Ecke des eingefriedeten Gartens im höher gelegenen Château, um dort zu überwintern.

Als Küchenmädchen im Château Bellevue war es Elianes Aufgabe, jeden Tag nach den Bienen zu sehen und bei Bedarf ihre Zuckerreserven aufzufüllen, wenn der Winter wieder mal besonders hart war. Monsieur le Comte war schon aufgefallen, dass sie ein naturverbundener Mensch war, mit welchem Feingefühl sie ihre Bienen dazu brachte, üppig gefüllte Honigwaben zu produzieren, und dass sie im Küchengarten mit den gepflegten Kräuter- und Gemüsebeeten wahre Wunder vollbrachte. Selbst Madame Boin, die patente Köchin des Châteaus, wirkte begeistert von Elianes Arbeit. Seit Neuestem hörte man sie zufrieden vor sich hin summen, wenn sie zwischen dem sauber geschrubbten Küchentisch und dem Herd hin- und hereilte.

Als Eliane zurück in der höhlenartigen Mühlenküche war, füllte sie einen kleinen Krug mit Wasser, arrangierte ein Sträußchen Wildblumen darin und stellte ihn auf den mit einem alten Wachstuch bedeckten Küchentisch. Ihr Vater, der gerade eine Scheibe Brot in seine Kaffeeschale tunkte, fragte: »Bist du fertig? Sind die Bienenstöcke verschlossen?«

Eliane nickte, während sie sich Kaffee aus der Emaillekanne in ihre Schale goss. Als sie ihren Stuhl herauszog, sandte die Sonne ihre ersten Strahlen über den Tisch.

»Sie sind alle bereit. Ist Yves schon wach?«

»Noch nicht. Du kennst ihn ja, Samstagmorgen.« Ihr Vater tat so, als missbilligte er die Bequemlichkeit ihres Bruders.

»Aber wir müssen die Bienenstöcke bald umsiedeln. Wenn sie im Laufe des Tages wärmer werden, ist es nicht gut für die Bienen, dort drinnen gefangen zu sein.« Sie zog mit dem Finger den Sonnenstrahl nach, der mittlerweile die Vase erreicht hatte, und warf ihrem Vater am Kopf des Tisches einen kurzen Blick zu.

Der nickte nur, wischte sich mit einem zerknüllten Taschentuch den Schnurrbart ab und steckte es wieder in die Tasche seines blauen Overalls.

»Ich weiß.« Sein Stuhl scharrte über die Steinplatten, als er ihn zurückschob und aufstand. Er war ein Bär von einem Mann, mit einem gut gefüllten Bauch und kräftigen Muskeln, die er von seiner Arbeit als Getreidemüller hatte. »Ich wecke ihn jetzt.«

»Wo ist denn Maman?«, erkundigte sich Eliane und schnitt sich eine Scheibe von dem frisch gebackenen Brot, das auf dem Schneidbrett neben dem Platz ihres Vaters lag.

»Bei Madame Perret. Offenbar haben in der Nacht ihre Wehen eingesetzt.«

»Ich habe das Telefon ganz früh läuten hören. War sie das? Aber sie hat doch noch einen Monat …« Eliane hielt mit dem Messer in der Hand inne.

Ihr Vater nickte. »Deine Mutter meint, es ist wahrscheinlich falscher Alarm. Aber du kennst ja Elisabeth Perret, erschrickt vor ihrem eigenen Schatten.«

»Andererseits ist es ihr erstes Baby«, entgegnete Eliane mit leisem Vorwurf, »also ist ihre Nervosität verständlich.«

Er nickte. »Bleibt zu hoffen, dass deine Mutter sie mit einem ihrer Kräutertees beruhigen kann. Und dass das Kleine noch ein paar Wochen bleibt, wo es ist.«

Er schob einen Teller weiße Butter und ein Glas Kirschmarmelade in ihre Richtung. Dann ging er Yves wecken, und sie hörte, wie die Holztreppe unter seinen schweren Schritten knarzte.

Als Eliane sah, wie ihre Mutter Lisette mit dem Rad in den Anbau der Scheune fuhr, nahm sie ihr Brot und half ihr, die Tasche mit Instrumenten und den Korb mit Kräutern hereinzubringen, die sie immer bei sich trug. Als Hebamme kannte sie die meisten Einwohner in Coulliac und Umgebung.

»Wie geht es Madame Perret?«

»Ganz gut, es waren nur versetzte Winde. Das hat man davon, wenn man ein ganzes Glas saure Gurken auf einmal isst! Aber nichts, was ein paar Tassen Fencheltee nicht kurieren könnten. Das Baby wird sich wohl noch ein paar Wochen Zeit lassen. Sie trägt ihn hoch, und er ist viel zu träge, um sich bewegen zu wollen. Ein typischer Junge.« Ihre Mutter hatte geradezu einen sechsten Sinn, was das Geschlecht der Babys betraf, denen sie auf die Welt half. »Apropos – wo ist dein Bruder? Ich dachte, er sollte dir und Papa heute Morgen helfen, die Bienenstöcke umzusiedeln, bevor du zum Markt gehst?«

Eliane stellte den Weidenkorb neben der Spüle ab und griff nach der Kaffeekanne, um ihrer Mutter eine Schale einzuschenken. »Papa weckt ihn gerade.«

»Und hier ist er auch schon!«, verkündete Yves, grinste Eliane zu und umarmte seine Mutter. »Sobald er sein petit déjeuner hatte, wird er sich an die Arbeit machen.«

Yves war sechzehn, hatte in diesem Sommer die Schule abgeschlossen und genoss nun die Freiheit, die sein Vater ihm im Gegensatz zu den strengen Schulstunden und Prüfungen bei der Arbeit gewährte. Obwohl er der Jüngste der Familie war, überragte er sowohl seine Mutter als auch seine Schwester. Dank seiner entspannten Art und der hübschen dunklen Locken war er sehr beliebt. Tatsächlich erschienen in letzter Zeit immer mehr Mädchen an der Mühle, die – angeblich, um ihren Eltern zu helfen – Getreidebündel ablieferten und später die Beutel mit weichem Mehl abholten. Dabei beobachteten sie verstohlen, wie Yves schwere Säcke auf die Ladefläche des Wagens seines Vaters lud, die zur Bäckerei gefahren werden sollten.

Der Lieferwagen der Martins kroch im Schneckentempo die steile, staubige Straße zum Château Bellevue hinauf, weil Gustave vorsichtig um alle Spurrillen und Schlaglöcher herum steuerte, um die Bienen so wenig wie möglich zu stören. Die festgezurrten und mit Eibenzweigen vor der Sonne geschützten Bienenstöcke erreichten nach kurzer Fahrt ihr neues Zuhause im Küchengarten hinter dem Château, wo Eliane ihren Vater und ihren Bruder anwies, sie dicht an der westlichen Mauer aufzustellen, mit Blick nach Osten, sodass sie in den kalten Wintermonaten jeden Morgen schon von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne geweckt würden. Von oben schirmte sie ein großer Birnbaum ab, dessen Äste unter der Last nahezu reifer Früchte ächzten.

»Geht ihr mal besser in den Wagen zurück und schließt die Fenster«, riet sie ihrem Bruder. »Wenn sie herauskommen und die neue Umgebung sehen, könnten sie ein wenig verwirrt sein. Und du weißt ja, wie gerne sie euch stechen.«

»Ich kapier’s nicht«, grummelte er. »Du trägst oft nicht mal den Schutzhut und wirst trotzdem nie gestochen.«

»Diese Bienen wissen eben, wer für sie sorgt«, sagte Gustave scherzend, als er auf den Fahrersitz kletterte und sich vergewisserte, dass sein Fenster dicht geschlossen war.

Geschickt löste Eliane die Schnüre und zog die Latten ab, die die Ausgänge der Bienenstöcke blockiert hatten. Schon tauchten die ersten Bienen an der schmalen Öffnung im unteren Teil des Stocks auf, spürten den Luftzug und flogen träge im Zickzackkurs los. Lächelnd beobachtete Eliane sie. »So ist es recht, erkundet die Umgebung, mes amis. Hier gibt es mehr als genug für euch alle.«

Sie umschwirrten bereits die dunkelblauen Sternchen der Borretschblüten; ein, zwei abenteuerlustige Bienen wagten sich gar zu den leuchtend gelben Sonnen der Topinamburblüten, um den kostbaren Nektar und die dunkelbraunen Pollen in der Mitte jeder Blüte zu sammeln.

Am Eingang des eingefriedeten Gartens stand Monsieur le Comte auf seinen Gehstock mit dem silbernen Knauf gestützt und beobachtete sie. »Guten Morgen, Eliane. Sind alle sicher untergebracht? Sie sehen aus, als würden sie sich schon wie zu Hause fühlen.«

Sie lächelte ihn an. »Es ist perfekt. Weniger feucht, weil es weiter entfernt vom Fluss liegt, und die Mauern geben ihnen Schutz vor der Kälte. Merci monsieur.«

»Gern geschehen«, sagte der Graf. »Außerdem hat sich die Neuigkeit schnell verbreitet, Eliane, wie üblich in dieser Gegend. Monsieur Cortini, der Winzer von Château de la Chapelle, hat mich angesprochen. Seine Schwägerin hat ebenfalls sechs Bienenstöcke, kann sich aber wegen der Arthritis in ihren Händen nicht mehr richtig um sie kümmern. Als er hörte, dass du hier oben deine Stöcke überwintern lässt, hat er gefragt, ob sie ihre auch hier unterstellen könnten.«

Elianes klare Augen, die so grau waren wie die Dämmerung eines sonnigen Tages, weiteten sich vor Überraschung und Freude. »Neun Bienenstöcke! Wie viel Honig das gibt!«

»Was meinst du, ist hier im Küchengarten genug Platz für sie alle? Wir wollen doch nicht, dass die Völker sich bekämpfen.«

»Mais oui, bien sûr. Wir platzieren die neuen Stöcke etwas weiter von meinen entfernt, da drüben in der Ecke, und richten sie so aus, dass sich die Flugbahnen nicht kreuzen. Dann wird es keine Auseinandersetzungen geben.«

»Sehr schön. Die Cortinis werden dich heute Morgen an deinem Stand ansprechen, um alles für den Transport zu arrangieren.«

»Tausend Dank, monsieur. Ich sollte jetzt auch besser los.«

Der Comte de Bellevue hob zum Abschied die Hand, als der Wagen der Martins wieder den Hügel hinunterfuhr. Dann blieb er noch eine Weile am Eingang des Küchengartens stehen und beobachtete Elianes Bienen, die bereits sicherer wirkten und in den ordentlichen Beeten, die sie mithilfe des Gärtners im Frühjahr angelegt hatte, emsig von Blüte zu Blüte flogen.

Bei Elianes Ankunft herrschte auf dem Marktplatz von Sainte-Foy-la-Grande bereits die übliche Betriebsamkeit. Nur langsam kam sie voran, da sie überall Freunde, Nachbarn und Händler begrüßte, während sie sich an den bunten Ständen vorbeizwängte. In Weidenkörben leuchteten späte Sommerbeeren rubinrot neben amethystfarbenen Pflaumen. Unter den gestreiften Markisen hingen geflochtene Zöpfe aus goldenen Zwiebeln und Knoblauchknollen, die wie Perlen einer riesigen Kette aussahen.

Eliane winkte Monsieur Boin zu, dem Mann der Köchin im Château Bellevue, der hier einen Grill für seine selbst gezogenen dicken Hühner hatte, deren Fett jetzt auf ein Tablett mit knusprig braun gebrannten Kartoffelwürfeln tropfte.

Eliane bahnte sich ihren Weg durch die Menge, bis sie zu dem Stand kam, an dem ihre Freundin Francine bereits fröhlich die Kundschaft bediente. Ihre Marmeladen und Konserven waren genauso gefragt wie die Gläser mit Elianes Honig.

»Ganz schön teuer«, grummelte eine Kundin, als sie eines der bernsteinfarbenen Gläser in die Hand nahm.

»Wir haben das Ende der Saison, madame, und dies ist feinster Akazienhonig«, erklärte Francine gelassen lächelnd. »Es sind die letzten Gläser bis zum nächsten Frühjahr, daher rate ich Ihnen, heute etwas zu kaufen, wenn Sie Honig wollen.« Sie strich den Geldschein glatt, der ihr gereicht wurde, steckte ihn sorgfältig in ihren Gürtel aus Leder und zählte dann das Wechselgeld in die ausgestreckte Hand der Kundin.

»Merci, madame, et bonne journée.«

Eliane schlüpfte hinter den Stand und küsste Francine auf beide Wangen. Seit ihrem ersten Schultag waren die zwei beste Freundinnen. Francine war temperamentvoll und extrovertiert, Eliane dagegen eher still und ruhig. Aber sie passten zusammen wie die beiden Hälften einer Walnuss. Über die Jahre war ihre Freundschaft immer enger geworden. Vor einiger Zeit waren Francines Eltern wieder in ihre Heimatstadt Pau zurückgezogen, um näher bei ihrer Großmutter zu sein, aber sie selbst hatte beschlossen, hierzubleiben, sich um den kleinen Familienhof zu kümmern und ihren Lebensunterhalt damit zu bestreiten.

»Tut mir leid, dass ich so spät komme«, sagte Eliane.

»Macht nichts. Ich wusste doch, dass die Bienenstöcke heute umgesiedelt wurden. Hat alles geklappt?«

»Ja, sie sind jetzt in ihrem Winterquartier«, sagte Eliane. »Als ich ging, schienen die Bienen sich schon einzugewöhnen. Aber jetzt lass mich mal eine Weile übernehmen. Du sehnst dich doch bestimmt schon nach einem Kaffee.«

Francine übergab ihr den Geldgürtel, faltete ihre Schürze und verstaute sie hinter dem Stand. Sie winkte einigen Freunden, die vor dem Café des Arcades mehrere Tische zusammengeschoben hatten, und bedeutete ihnen, einen Kaffee für sie zu bestellen. »Ach, das hätte ich ja fast vergessen! Siehst du den mec dort? Den großen Typ zwischen Bertrand und Stéphanie – auf dessen Schoß Stéphanie schon fast sitzt? Sie kann das Flirten einfach nicht lassen. Der kam heute zum Stand und fragte nach dir. Er heißt Mathieu Sowieso, arbeitet als Stagiaire am Château de la Chapelle und hilft den Cortinis bei der Weinlese. Offenbar soll er zu dir kommen. Es ging um den Umzug weiterer Bienen. Ich schicke ihn mal zu dir.«

Während Eliane den nächsten Kunden bediente, warf sie einen Blick hinüber zu der Gruppe, die gerade laut über etwas lachte, das Stéphanie gesagt hatte. Francine zog einen Stuhl heraus und neigte sich zu Mathieu, der daraufhin zu Elianes Stand herübersah. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke. Elianes ruhige graue Augen schienen ihn nervös zu machen, denn er stellte abrupt seine Kaffeetasse ab und sprang so hastig auf, dass er fast den Metalltisch umgekippt hätte und alle Tassen und Gläser darauf überschwappten – sehr zur Belustigung der anderen und zum offensichtlichen Ärger von Stéphanie, die sich ein paar Servietten schnappte und wütend den Ärmel ihrer Bluse abtupfte.

Mathieu wartete etwas abseits und studierte die Bekanntmachungen im Schaukasten der Mairie, bis Eliane alle wartenden Kunden bedient hatte, dann kam er zu ihrem Stand.

»Eliane Martin?« Er streckte ihr seine sonnengebräunte Hand entgegen, die sich stark anfühlte. Sie nahm wahr, dass er sich trotz seiner kräftigen Gestalt rasch und gewandt bewegte. »Mein Name ist Mathieu Dubosq. Ich arbeite bei den Cortinis und soll Ihnen etwas ausrichten.«

Eliane drückte seine Hand, musterte ihn mit ihren klaren Augen und lächelte dann, worauf seine Wangen so rot wurden wie Francines Marmelade aus wilden Erdbeeren auf dem Tisch zwischen ihnen.

»Mais oui, der Comte de Bellevue hat mir schon alles erklärt. Es geht um ein paar Bienenstöcke, die zu meinen in den Küchengarten des Châteaus gestellt werden sollen, n’est-ce-pas

Mathieu nickte und fuhr sich mit den Fingern durch die dichten schwarzen Haare, weil er plötzlich wollte, in Gesellschaft dieses Mädchens mit dem verwirrenden Lächeln sollten sie etwas ordentlicher wirken.

»Und momentan befinden sie sich in Tante Béatrices Obstgarten in Saint André?«

Eine peinliche Pause trat ein, als Mathieu sich zu erinnern versuchte, wovon eigentlich die Rede war.

»Die Bienen«, half sie ihm sanft auf die Sprünge. »Befinden sich die Bienenstöcke im Obstgarten von Patrick Cortinis Tante?«

»Ja. Ja, das stimmt.«

»Eh bien. Dann frage ich nach, ob mein Vater und mein Bruder am Montag mit dem Wagen kommen können, noch vor Tagesanbruch. Das ist die beste Zeit, um die Bienen in ihrem Stock zu erwischen. Ich bringe alles Nötige mit.«

»Ich werde da sein, Mademoiselle Martin, um Ihnen beim Tragen zu helfen.«

Das Licht in ihren Augen schien ihr ganzes Gesicht zum Leuchten zu bringen, als sie ihn erneut anlächelte. »Nenn mich doch Eliane. Danke, Mathieu, dann freue ich mich, dich am Montag wiederzusehen.«

Er trat einen Schritt zurück, sah aber noch zu, wie sie eine weitere Kundin bediente. Offenbar hatte er es nicht eilig, zu der Gruppe im Café zurückzukehren.

Stéphanie drängte sich durch die Menge, die nun, da die Uhr vom Kirchturm elf Uhr schlug, noch dichter geworden war. Sie blieb vor Elianes Stand stehen und nahm ein Glas Mirabellenmarmelade zur Hand, krauste die Nase und stellte es achtlos wieder ab. »Ach, bonjour, Eliane«, sagte sie, als hätte sie gerade erst bemerkt, wer hinter dem Tisch stand. »Komm, Mathieu, wir haben dir einen neuen Kaffee bestellt, und der wird langsam kalt.« Besitzergreifend hakte sie sich bei ihm unter. »Guck mal«, sagte sie vorwurfsvoll und gab ihm einen scherzhaften Klaps auf die Hand, »du hast mit deinem verschütteten Kaffee den Ärmel meiner Bluse ruiniert. Gott sei Dank ist sie schon alt.«

Sanft und höflich löste er sich aus ihrem Griff. Dann nahm er das abgestellte Mirabellenglas und stellte es sorgfältig zurück auf die Gläserpyramide, streckte erneut seine Hand aus und erwiderte Elianes amüsierten Blick mit einem scheuen Lächeln, das seine dunklen Augen erreichte. »Auf Wiedersehen, Eliane. Bis Montag.«

Abi
2017

Immer wieder durchzucken vor dem Küchenfenster Blitze den Himmel, gefolgt von krachendem Donner. Der Regen trommelt laut auf das Dach des vom Sturm umtosten Châteaus.

Bei jedem Donnerschlag zucke ich zusammen. »Hat hier schon mal der Blitz eingeschlagen?«, frage ich nervös.

»Nein, keine Angst.« Vollkommen unbeeindruckt packt Sara ihren Einkaufskorb auf der Anrichte aus. »Das Château steht hier schon seit über fünfhundert Jahren. Außerdem haben wir sehr effiziente Blitzableiter installieren lassen, die alle Gebäude schützen. Wir müssen nur darauf achten, sämtliche Kabel auszustöpseln.« Sie stellt mehrere Milchkartons in die Tür eines riesigen Kühlschranks aus Edelstahl und holt eine Flasche Wein heraus. »Das Gewitter wird ganz schnell wieder abziehen. Im Hochsommer können sie die halbe Nacht dauern, aber im Frühling sind sie rasch vorbei.«

»Ich muss sagen, Ihr Englisch ist ausgezeichnet«, wage ich mich vor.

Sara lacht. »Na, das nenne ich mal ein Kompliment! Ich bin ja auch Engländerin. Vor ein paar Jahren zog ich hierher und heiratete einen Franzosen.«

Da geht plötzlich die Küchentür auf. Ein Mann im Overall knallt sie wieder hinter sich zu, schüttelt sich die Regentropfen aus den Haaren und zieht Sara in seine Arme. Sie lacht und küsst ihn. Offenbar macht es ihr nichts aus, dass seine Kleider staubig und nass sind.

»Wir haben einen Gast«, sagt sie und zeigt zum Küchentisch, an dem ich sitze.

»Pardon, madame.« Der Mann kommt zu mir und wischt sich die Hand an seinem Overall ab, bevor er sie mir reicht. »Ich hatte Sie nicht gesehen.«

»Das ist mein Mann Thomas. Thomas, das ist Abi. Wir haben uns auf der Straße getroffen, gerade als das Gewitter losging.«

»Sie sehen aus wie ein Flüchtling aus dem Yoga-Zentrum«, bemerkt er lächelnd.

»Ja, ich nehme an, die Lycra-Leggins haben mich verraten. Tut mir leid, dass ich so bei Ihnen hereinplatze. Sara hat mir freundlicherweise angeboten, mich hier unterzustellen. Sobald das Gewitter abgezogen ist, gehe ich zurück.«

»Ich rate Ihnen, bei uns zu Abend zu essen.« Sara schenkt drei Gläser vom gekühlten Wein ein und stellt eines vor mir ab. »Das im Zentrum werden Sie jetzt verpasst haben. Ich fahre Sie nachher zurück.«

Wegen der Schmerzen in meinem Bein und der pochenden Blase an meiner Ferse nehme ich das Angebot bereitwillig an.

Thomas trinkt erst einen Schluck von seinem Wein und entschuldigt sich dann, um sich umzuziehen.

»Kann ich schon mal den Tisch decken?«, frage ich Sara, als sie in einer Pfanne Kartoffeln mit etwas Knoblauch anbrät. Allein schon vom Geruch läuft mir das Wasser im Mund zusammen, während ich das Besteck, Servietten und Gläser verteile. Dann trinke ich einen Schluck Wein, der köstlich fruchtig ist.

»Sind Sie Vegetarierin?«, erkundigt sich Sara. »Ich habe Brathühnchen da, aber wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch etwas anderes machen.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, Hühnchen wäre wundervoll. Es ist unheimlich nett von Ihnen, mich so gastfreundlich aufzunehmen.«

Vielleicht liegt es am Wein, vielleicht auch an der Tatsache, dass ich völlig ausgehungert bin und das Essen phantastisch schmeckt, vielleicht liegt es an der Warmherzigkeit und Gelassenheit dieser Menschen, während sie ihr Haus und ihr Essen mit mir teilen – mit einem Mal bin ich so überwältigt, dass es mir die Kehle zuschnürt und ich mit den Tränen kämpfen muss.

Sei nicht albern, ermahne ich mich, du hast die beiden gerade erst kennengelernt und willst doch nicht, dass sie dich für komplett verrückt halten.

Sara bemerkt, dass ich mit meinen Gefühlen kämpfe, und drückt mir, während sie einen Krug mit Wasser auf den Tisch stellt, beiläufig die Hand. »Wir freuen uns über Gäste.« Sie lächelt. »Sie sind bestimmt erschöpft – vom Yoga-Zentrum bis hierher ist es eine ganz schöne Strecke. Gefällt Ihnen das Retreat?«

Dankbar für die Ablenkung beschreibe ich die Yogakurse. Dann erzähle ich von Pru und ihrer Begegnung mit dem attraktiven Niederländer, als wäre es eine amüsante Anekdote.

Sara schüttelt den Kopf. »Ach je, das hört sich fast so an, als hätte Ihre Freundin Sie ein bisschen im Stich gelassen?«

Ich zucke die Achseln. »Nein, ist schon gut. Dann ist wenigstens mehr Platz im Zelt.«

Sie reißt die Augen auf. »Sie schlafen im Zelt? Zu dieser Jahreszeit?«

»Wir haben so spät gebucht, dass kein Platz mehr im Gebäude frei war und uns nur noch das Zelt blieb. Wir sind auch nicht die Einzigen. Die meiste Zeit sind wir im Yogaraum oder im Speisesaal.«

Sie wirft einen zweifelnden Blick aus dem Fenster, an dem der Regen in Strömen herunterrinnt. Ich muss zugeben, dass sie mit ihren Bedenken nicht ganz Unrecht hat, und frage mich, ob das Zelt bei diesem Sturm überhaupt noch steht. »Es wird schon gehen«, sage ich entschieden, aber mehr, um mich selbst zu beruhigen.

»Dann erzählen Sie doch mal«, erwidert sie, greift nach einem Schneidbrett und fängt an, Salat zu machen. »Wo kommen Sie her?«

»Aus London«, antworte ich, nehme ein Küchentuch und fange an, ein paar Töpfe vom Abtropfgestell neben der Spüle abzutrocknen. »Soll ich die auch einräumen?«

Sie nickt. »Da drüben in den Schrank. Und was machen Sie so in London?«

»Im Moment nicht besonders viel«, gebe ich zu und trockne meine Hände am Tuch ab. »Ich habe eigentlich ein Studium an einer Fernuni aufgenommen, aber dann auf Eis gelegt. Die letzten zwei Jahre ging es mir nicht so gut. Eigentlich nichts Ernstes, aber ich hatte einen Unfall … Und mein Mann ist verstorben …« Ich verstumme. Einen Augenblick herrscht Stille.

»Also, das hört sich für mich aber ziemlich ernst an. Es tut mir so leid für Sie.« Mitfühlend berührt Sara meinen Arm. »Kein Wunder, dass es Ihnen nicht gut ging.«

Ich schüttle den Kopf und sage betont munter, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken: »Jedenfalls … früher habe ich als Kindermädchen gearbeitet.«

»Und, hat Ihnen das gefallen?«

»Sehr. Ich habe bei ein paar wirklich großartigen Familien gelebt und fand es wunderbar, mich um ihre Kinder zu kümmern.« Ich verschweige, dass ich wenige Monate nach Mums Tod erkannte – nachdem sie sich mit dem letzten Rest unseres Geldes wieder einmal besinnungslos betrunken hatte, während ich meinen Schulabschluss machte –, dass ich kein Zuhause mehr hatte. Daher bewarb ich mich bei einer Agentur und erklärte, ich wolle eine Stelle mit Kost und Logis und sei ab sofort verfügbar. Dank einiger guter Referenzen von meinen ehemaligen Lehrern bekam ich schon zwei Tage später einen Job bei einem verzweifelten Pärchen, das drei Kinder unter fünf Jahren hatte, deren Au-pair-Mädchen gerade mit einem Typen nach Wales durchgebrannt war.

»Und wartet denn jemand zuhause auf Sie?«, fragt Sara nach. »Kinder? Ein Partner? Wer hat sich denn um Sie gekümmert, als es Ihnen nicht gut ging?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, niemand. Ich bin frei und ungebunden, wie man so schön sagt. Und mittlerweile geht es mir schon sehr viel besser.« Wie üblich bemühe ich mich um einen munteren Ton und versuche, Fragen einfach zuvorzukommen. Und ich verschweige, dass ich immer noch unter Panikattacken und Schlaflosigkeit leide und dazu – trotz meiner vielen Gespräche mit einer Psychologin – einfach nicht in der Lage bin, mein Leben normal weiterzuführen.

Beim Abendessen erzählen mir Sara und Thomas von ihrem Unternehmen, das sie auf Château Bellevue gegründet haben. »Während der Saison richten wir hier Hochzeiten aus. Kommendes Wochenende findet schon unsere dritte in diesem Jahr statt. Wir kümmern uns um die Vorbereitungen, machen die Gästezimmer zurecht und arrangieren alles, bevor die Gäste für die Feier eintreffen.«

»Wie viele Personen können Sie denn hier unterbringen?«

»Im Château selbst bis zu vierundzwanzig. Sind es mehr, kommen sie in chambres d’hôtes in der näheren Umgebung unter. Aber wir wollen expandieren. Im letzten Winter haben wir die alte Mühle unten am Fluss gekauft. Die renovieren wir, um Zimmer für weitere zehn Gäste anzubieten. Da man zu Fuß dorthin gelangt, nutzen wir sie bei größeren Gesellschaften oder für die entferntere Verwandtschaft.«

»Es geht voran, wenn auch langsam«, fügt Thomas hinzu. »Wann immer ich Zeit habe, bin ich in der Mühle; außerdem helfen uns ein paar Bauarbeiter, die allerdings noch gleichzeitig an anderen Projekten arbeiten. Nächstes Jahr wird alles bestimmt fertig sein.«