Alfred Kerr, der einflußreichste deutsche Kritiker und Essayist, wurde 1867 in Breslau als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Er studierte in Breslau und Berlin, wo er seit 1887 lebte und für große Zeitungen und prominente Zeitschriften seine maßstabsetzenden Theaterkritiken schrieb: für das »Magazin für Literatur«, den »Tag« und das »Berliner Tagblatt« wie für die »Neue Deutsche Rundschau«. Seine Bücher wurden 1933 von den Nazis verbrannt und er floh über die Schweiz und Paris nach London. Kerr starb 1948 in Hamburg.Von seinen Werken seien genannt: Die Welt im Drama (1917); Die Welt im Licht (1920); Es sei wie es wolle,/Es war doch so schön (1927); Die Diktatur des Hausknechts (1931).Günther Rühle, Herausgeber von Kerrs Berliner Briefen, wurde 1924 in Gießen geboren. Er arbeitet 25 Jahre als Kulturredakteur der FAZ, bevor er 1974 deren Feuilleton übernahm. 1985–1990 war er Intendant am Schauspiel Frankfurt und anschließend Feuilletonchef des Berliner »Tagesspiegels«. Seit 1995 lebt er in Bad Soden. Günther Rühle ist Autor umfangreicher Publikationen zum deutschen Theater und Herausgeber der Gesammelten Werke von Marieluise Fleißer und Alfred Kerr.
»Vieles liegt hinter mir. Nach der Seefahrt – welche Landreisen! Der Weg vom Atlantischen zum Stillen Ozean. Nicht in einem Hieb, sondern mit Wanderfahrten, Wunderfahrten kreuz und quer.« Alfred Kerr.
Nach über 90 Jahren wiederentdeckt: Im Frühling 1924 reiste Alfred Kerr von New York nach Los Angeles und schrieb einen literarisch brillanten Text, der zugleich eine kritische Momentaufnahme darstellt. Trotz etlicher von ihm konstatierter »Untergangsmöglichkeiten für Amerika« stimmt er eine Hymne auf die viel gescholtene Nation an und lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was er an Land und Leuten so verehrt – atemberaubendes Naturschauspiel, Wagemut, Pragmatismus ohne Zaudern und bürokratische Hürden, anhaltende Offenheit für Überraschungen und Wunder.
»Eigentlich ist es schade um jede Zeile, die man über Alfred Kerr schreibt, anstatt einfach seine Texte abzudrucken.« Evelyn Roll, Süddeutsche Zeitung
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Postkarte von Alfred Kerr,
adressiert an Richard Mann, den Juristen in Frankenthal,
Salt Lake City, 28. Mai 1924
Yankee
Land
Eine Reise
durch Amerika 1924
Inhaltsübersicht
Über Alfred Kerr
Informationen zum Buch
Newsletter
Vorspiel
Die erste Rast
Washington
New Orleans
Prärie … und Phoenix
Zwischenspiel: Wesenszüge
Der Grand Canyon
Los Angeles
Fels; Fisch; Farm; Film
Das Schönste von Californien
Die Frau; der Park; der Mönch; das Öl
San Francisco
Californisch-Ostasiatisch
Das Yosemite-Tal
Zwischenspiel: Portland in Oregon
Neuer Nordwesten: Seattle
Die Mormonenstadt
Das Tabernakel
Yellowstone-Park
Die Yellowstone-Geyser
Chicago
Zwischenspiel: Niagara
Boston
Abschied
Anhang
Personenregister
Ortsregister
Biographische Notiz
Anmerkungen
Impressum
I Im Frühling 1924 fuhr ich nach Amerika. Zum dritten Mal.
Zum dritten Mal gepackt, erquickt, behext.
Dies Land (nach dem ich Heimweh habe) – dies Land ist eine Poesie: die härteste, stolzeste, zuversichtlichste, hellste, hoffnungsvollste, beglückendste.
II Sie nennen dort eine Gegend: »The road of a thousand wonders.«
Aber das ganze Reich, wildmächtig, zum Zerspringen voll von Überraschungen, ist ein Weg der tausend Wunder.
… Und ich habe sie gemalt.
III Drei Fragen heben die Stimme – durch Stromgebrüll, durch Straßenlärm:
Was zeigt in diesem Lande die Natur?
Was haben die Menschen aus dieser Natur gemacht?
Was hat die Natur aus diesen Menschen gemacht?
Durch Straßenlärm, durch Stromgebrüll …
IV Die Antwort sagt, auf Seite 21, das Buch:
… in diesem Land ist beides, was der wahre Mensch braucht: verschwenderisches Geblüh’ – und wagnisernster Geist.
Darin, in den zwei Punkten, ruht kurzweg das Wesen Amerikas: Naturkraft plus Kraftnatur.
V Nicht nur Schönheit der Erde sah ich: sondern Kampf mit der Erde.
Herrlich im Westen; im hochdringenden Nordwest.
Zu dieser Küste soll der Schwerpunkt menschlichen Wirkens wandern. Am Stillen Ozean schlägt einstens das Herz der Welt …
Kann sein. Du spürst in Californien nicht nur die Wonne des blauen Himmels (der bekanntlich lacht): sondern die Wonne letzt-errungenen Menschenfortschritts; und letzt-ersonnener Arbeitsmöglichkeit.
Ein waches Glücksgefühl.
VI Ich ahne mit Fassung den Vorwurf: Amerika sei »zu günstig« gesehn …
Ja? Ich würde da nur wettmachen, dass man es in Europa zu ungünstig sieht. Mein Buch sagt die Wahrheit.
Auf Seite 177 steht:
Eines weiß ich voll Zorn: in Europa malt man alle Yankees verrückter, als sie sind. Es ist ein Schwindel: um spaßhaft Eindruck zu machen. Dann ein Schwindel aus Neid. Vorwiegend ein Schwindel aus Krähwinkeltum.
Die Fehler dieses Volks festzunageln ist so billig. Engel sind sie nicht …
(Aber wir.)
VII Auf Seite 190 des Buches steht:
Zwar so reich wie Amerika können wir nicht sein. Aber wenn man daheim den Leuten etwas von dem gibt, was drüben zu finden ist! … Ich meine nicht »Freiheit« – sondern helle Einfachheit des Wirkens … Ach, für eine Weile sollten in der Alten Welt … zwar beileibe nicht jeder Einzelmensch, doch etliche Völker im Gesamtumriss amerikanisch werden. Ballastlosigkeit erwerben! Den minderverzwickten, den starken, klaren Strich wiederfinden! Zur Ausschaltung des Zwecklosen fähig sein! Sie täten gut – in diesem verbissenen, kleinsüchtigen Europa …
Dann heißt es:
»Schlagt mich tot; mehr Vernunft ist (wenigstens heute noch) drüben.«
VIII Auf Seite 191 steht:
Man lasse sich durch putzige Hassschriften von Halbamerikanern hier nicht beirren. Jede Unvollkommenheit, die mit irgendeinem Staatswesen oder Menschengebild verknüpft ist, kerben sie heute allein den Yankees an.
Mürrisch, aus dem Überdruss allzu großer Nähe zu ihnen. Blind für ihr Neues, Erwirktes, Trächtiges, Geniehaftes. (So das komische Zerrbuch von Scheffauer.)1
IX Auf Seite 191 meines Buches ist gesagt:
Im Wesen dieses (höchstkapitalistischen) Volks liegt immerhin etwas, das für die Gesamtheit auf der Erdkugel arbeitet. Sie schreien, gliedern, bauen, robotten, erfinden, raffen und stiften für sich. Aber letzten Endes, bewusst oder unbewusst, für den Planeten.
Halbfertige sind es. Umleuchtete Jungens. Hoffnungsvoll, weil sie nicht in Einzelheiten kriechen.
Erringen sie einstens das Soziale, das ihnen fehlt: so wird es ein Über-Soziales, ein Erz-Soziales, ein Soziales mit hundert Stockwerken sein.
Und ein Praktisch-Soziales; nicht ein Weinerlich-Soziales.
Was haben sie voraus? Den glückhaften Mangel an Verschwommenheit.
X Europa schimpft. Seltsam, wie seine Menschen doch erpicht sind, Yankees zu werden. Wie durchaus keiner zurückwill in die alte Heimat …
Es muss doch einen Grund haben.
XI Dies Buch betrachtet Amerika nicht unter dem Gesichtspunkt: »Aber Upton Sinclair!«
(Ich betrachte Venedig nicht unter dem Gesichtspunkt: »Aber wie schmutzig!«)
XII Der pharisäischen Scheidung zwischen »Zivilisation« und »Kultur« macht meine Schrift ein Ende. Diese Scheidung enthält zu viel Nachgesprochenes.
Ich glaube vielmehr: ein gewisses Maß von Zivilisation ist, ist, ist Kultur.
(An einem gewissen Punkte schlägt die Quantität in die Qualität um.)
XIII Man betrachte das Schlusskapitel; zuvor das Kapitel »Wesenszüge« (Seite 56 und 221). Beide belichten die Seele des Amerikaners.
XIV Endlich: die Untergangsmöglichkeiten für Amerika sind hier gestreift.
Ich sehe nicht übertrieben schwarz: im Angesicht eines schon halb untergegangenen Erdteils – wo sich’s trotzdem atmen lässt.
Atmen, atmen … Darin liegt eine Genugtuung für allerhand. Ein Entgelt für Sorgen um Künftiges.
Heut ist heut.
Bei der Schilderung einer westlichen Stadt heißt es in dem Buch (und das ist sein tiefster Grund):
»Ich geh’ in der Welt immer gern auf die Märkte, des Morgens, wo das Leben saftschwer quillt; wo das Genie des Alltags fischig, selcherhaft, knödelsam und mit Gemüsebergen fluscht.«
Grunewald, im Februar 1925.
Alfred Kerr.
I Diese Worte kommen in Californien aufs Papier. Im südlichsten Teil – an der Grenze von Mexiko (aus dessen »Stadt« Tiajuana ich gestern zurückgekehrt bin). Es ist die erste Rast.
Vieles liegt hinter mir. Nach der Seefahrt – welche Landreisen! Der Weg vom Atlantischen zum Stillen Ozean. Nicht in einem Hieb, sondern mit Wanderfahrten, Wunderfahrten kreuz und quer.
Man stelle sich das vor: die grade Strecke von New York nach Californien ist so lang wie der Weg von Island nach Madeira … Das Yankeereich umfasst, nur von Ost zu West, einen graden Schienenweg, der von Berlin bis Mittelafrika ginge.
Doch ich nahm nicht diesen … kurzen, graden Weg. Sondern zog in die Südstaaten.
II Auf dieser ersten Rast überdenkt man alles:
Das Wiedersehn mit New York. Dann: Washington (wo der Präsident Coolidge im Weißen Hause freundlich und schlicht genug war, den Plan der Reise mit mir sorgsam zu besprechen). Dann ging es durch Virginia, Tennessee, Alabama – bis wo der Mississippi, gelbscheußlich und reißend, ein Krokodilschlupf, mündet. New Orleans mit dem sterbenden Franzosentum. Gaue mit Baumwollsäcken, Maultieren, Kreolen. Südstriche voll durchsponnener Wälder, mit verrückt gewordenem Tropengerank. Louisianas Phantasto-Dickicht. Ländereien, wo Zucker, Tabak … und Petroleum wächst.
Dann: Texas, die Prärie, mit Raubvögeln, Stechpalmen, verlassenen Zelten. Taglang, nächtelang ging es hier durch versteinte Graswüsten. Bis man im berghohen Arizona-Reich Indianermädel, schwarzäugige, zu Gesicht kriegt und Feigengeäst und Zedern.
III Hernach das nie zu Vergessende: der Grand Canyon; dieser unerhörte, wie mit lichten Totenschlössern und Ägypterburgen angefüllte Gigantenriss ins Erdinnere hinein; voll unsagbarer Farben; mit Funkelsonnen, bunten Dämmerschatten – und blauen Vögeln im Gefels. (Nebst Rothäuten am Rande des Hochgebirgs.) Das stärkste Wunder der Vereinigten Staaten … außer dem Broadway. (Nachtrag: Zuletzt erschien mir jedoch der Yellowstone-Park als das größte Wunder … neben dem Broadway.)
Und jetzt hier, Californien: mit seiner nie geahnten Mammutmenge von Zitronenbäumen, Apfelsinenwäldern, grape-fruit-Büschen, Rosen, Dattelpalmen, Eukalypten. Das Kanaan der Neuen Welt.
… Ein ewiger Sommer-Frühling. Die blauen Wasser des Stillen Ozeans donnern lind.
IV Von alledem wird zu sprechen sein. Eins nach dem andren …
Da ich hier an der Coronado-Bai verschnaufe, steht vor meiner Seele die Abfahrt aus Hamburg, als wäre sie vor fünf Jahren erfolgt. Berlin mit dem Grunewald liegt im Nebel, unvordenklich. Wo schwimmt jetzo die »Deutschland«, das schöne Schiff, das mich zum New Yorker Pier von der Elbe trug? Wo sind nun die Fahrtgenossen? Wo jener eindruckvollste, dunkle, der an Bord war: der Gorilla?
Ja, er stieg in Southampton ein; mit seiner Wärterin und dem eleganten englischen Ehepaar. Vier Jahr’ alt. Hat tausend Dollar für die Kabine bezahlt. Er schläft mit seiner Herrin im Bett; geht frei in der Kajütenwohnung herum … Mit achtzehn Jahren wird er vollreif sein.
V (Tagebuchblatt.) Ich hab’ ihn besucht und war erschüttert. Er ist ja ein schwarzer Negermensch. Ein tiefschwarznackter Nigger, etwas haarbewachsen. Er hat einen ernsten Menschenkopf.
Als er mir entgegentritt, sag’ ich fast: »Angenehm; mein Name ist …«
Unerforschter Hüne. Mehr breitbrüstig und muskelstark als irgendein »Gottessohn«. Boxerhaftes Rätselgeschöpf – noch mit den Gepflogenheiten eines Kindes. Halbkauernd reicht er mir zur Uhr. Dann legt er einen Arm um meinen Hals, berührt mit dem Mund meine Stirn. Es ist wie ein Gruß. Schauerlich.
VI Hernach, von der Erde, fasst er den Hut, den ich in der Hand halte; beguckt ihn still. Ganz ernst. Er nestelt Julas Schnürsenkel auf; blickt dann prüfend empor. Alles friedlich … und fremd.
Kurz danach schlägt (oder greift) er einem Mann, aber ganz jäh, ins Gesicht. Die Bewegung war was Böses, Missbilligendes, Unvorherzusehendes; die Pflegedame schleppt ihn jetzt ins Nebenzimmer; er sei »excited«; sie schließt rasch die Tür und ruft, wir möchten indes flink vorüberschlüpfen.
VII Später sagt mir Mrs. Cunningham: »Sonst ist er bei Tag ruhig; allenfalls gegen Männer gereizt, zu Frauen sanft. Nur abends wird er immer rough and wild – rau und wild.«
Noch im Traum haftet was schwer Beschreibliches von diesem kindhaften Feind; von dem benachteiligten Bruder … mit der Gigantenkraft; mit der unvermuteten Böslaune; mit dem grundlos plötzlichen Hass.
(Wenn er, nach zwei Jahrmillionen, den Beruf eines Journalisten ausübt und mein Gegner in rechtsstehenden Blättern ist, wird alles das verflacht und verkleint und bescheiden und mickrig geworden sein.)
VIII Auf dem Schiff (es hat ein »Ufa-Bord-Kino«) reisen auch deutsche Filmunternehmer.
Der eine sagt: »Ich hole jetzt Amerikanerinnen … die deutschen stars werden zu teuer. Beispielshalber die H. P. – oder auch die L. de P. – bekam vor einem Jahr tausend Dollar pro Film (es wird nach Dollars gerechnet) … wissen Sie, was sie jetzt fordern? Zwölftausend Dollar pro Film! Da zahlen wir drüben achttausend, kommen billiger weg. Für fünfzehntausend kriegt man drüben schon einen ersten, aber allerersten star. Außerdem zieht die P. bloß in Deutschland und Österreich … ist kein Typ für Amerika, wohin wir doch verkaufen.« – Ich (unterirdisch, bei mir): »Werden die deutschen Kinospieler bescheiden, dann gibt es vielleicht noch einen Theateraufschwung … mit Proben, wo niemand fehlt.« – Er (fortfahrend): »Man borgt sie in Hollywood aus. Und selbst wenn sie schon, mal angenommen, einen festen Kontrakt haben, nimmt ihr Direktor gern die Leihgebühr …« Das Schiff streicht durch die Wellen.
IX Es geht ruhig. Ginge Deutschland so ruhig wie die »Deutschland«! … (Neu erdachte Ausbuchtungen spucken von derjenigen Seite Wasser, wohin das Schiff sich etwa senkt. Gutes Gleichgewicht.)
Ein junger Architekt stellt sich mir vor. »Neffe der Sorma.« Er geht zu der himmlischen Tante nach Chicago … Ein andrer Neffe (der von Stilke), nämlich Dr. Töpffer, hält auf dem Schiff eine Kaufmesse, mit guter Auswahl deutschen Kunstgewerbs … Dann ein humoriger, stets willkommener Hofrat. Zwei Bühnenscheiks (der unpathetischen Art); holen aus New York Anregung … und vielleicht Menschen. Die schlanke, frische Frau des einen.
X Wie viel größer als gleich nach Friedensschluss ist jetzt, 1924, der deutsche rush auf Amerika. Die Beziehungen renken sich wieder ein – langsam!
Über alles wächst schließlich Gras; man muss es nur nicht übers Knie brechen. (Fein ausgedrückt.)
Ein wohlwollender Leser, Klavierfabrikant aus Neukölln, geht nur bis Southampton. Ein andrer, aus Hamburg, holt von Domingo Tabak. Ein dritter: Holz aus den Staaten. Einer: Automobile. Dann: ein deutscher Nervenarzt. Zwei Agrikulturprofessoren. Die Gattin eines Musikverlegers. Ein Bankmann aus Süddeutschland. Einer aus der Mark – der über Schleswig-Holstein sehnsüchtig zu mir spricht. Ein Großeinkäufer, mit der amerikanisch-netten sister-in-law. Zwei Chemiker, der eine wird bei New York eine Fabrik lenken. Die Familie begleitet ihn – teils ganz klein, teils ganz hoch. Das jüngste Mädelchen trägt einen grauen, niedergekrempten Hut wie eine Dame der altväterischen Zeit aus England. (So einen kriegt meine Tochter, wenn sie drei Jahr’ sein wird.) Der andre Chemiker: von dem badischen Werk. Dessen Handelsleiter; mit der lieblichen Frau.
Diese Menschen alle verfolgen auf der Fahrt einen greifbaren Zweck – ich aber will nur sehn, kennen, atmen … und schreiben. Seltsam.
XI Alte Bekannte. So der Kapitän von Meibom, mit dem ich vor dem Krieg manche Fahrt gemacht. Das Schiff befehligt Captain Schwamberger – er stammt aus dem Badischen.
Als jemand sich wundert, dass ein Süddeutscher an die Waterkant verschlagen ist, erklärt er schalkhaft: »Die geborenen Waterkanter gehn selten zur See – die kennen den Schwindel! Hauptsächlich Binnenländler fallen drauf rein.« Wir lachen.
Der junge Schiffsarzt ist eine gute Begegnung: Dr. Venzmer. Nicht bloß Medizinmann. Sein Amt warf lebensvolle Schriften ab … Die Menschen alle, »wo sind sie nun?«, wie Platen sich ausdrückt.
XII Hier, am Stillen Meer, gibt es Vögel, so klein wie Schmetterlinge. Wiederum Libellen, groß wie Vögel. Kolibris. Manche Vögel sind apfelsinenfarb.
Dies zusammen ist so unwahrscheinlich – wie dass der tote Schauspieler Guido Herzfeld auf dem Schiff abends im Film erschien.
Das Leben dort war die ausruhsame Vorbereitung für Wanderschaften durch einen anstrengenden Erdteil. Früh ein Seewasserbad, nachts eingewiegt, zwischendurch Scheibenschubsen oder shuffle board im Wind; und das Gleiten, Gleiten …
Ich wurde sanft, ja blumenhaft wie ein Fakir.
XIII Einmal, auf den Bällen, fiel mir Folgendes auf: Silberstreif, zwischendurch Weißes, Handgeknüpftes; Silberschuh; das Haar orangefarb und kurz; der Nacken rasiert. (Ich neige halt zu Naturschilderungen.)
Jetzt aber folgende Landschaft: Blond; ein (hier festzuhaltendes) ausgeschnitten-schwarzes Kleid; Perlen; oben alles in braunen Pelz gehüllt. Lenbachisch; mehr sag’ ich nicht.
Höchstens noch, dass mir ein Mittel wider die Seekrankheit zu entdecken glückte. Jemand sehr Liebes hatte den Hang zu ihr. Durch entsetzlich vieles Tanzen kam die Heilung – sofort. (D. R. P.; angemeldet.)
Im vierzehnten Stock eines newyorker Wolkenkratzers, zwölf Lifts in jedem Flur, fand ich mich wieder.
Ich hatte dieses Hotel schon einmal bewohnt.
XIV … Bambus, Zucker, Glutblüten, Gummibäume räkeln sich am Stillen Ozean vor meinem Fenster. Doch aufregend zumal ist jener Baum – mit einer zum Weinen fremden Gestalt: hie und da Büschel von Blättern, schmal wie Nadeln, – sonst lauter Zylinderputzbürsten rotgleißend.
Der Sänger drückt die Augen ein.
Wie heißt, zum Donnerwetter, dieser Baum? … Dann Pfefferbäume mit zierzartem Akazienlaub, luftleicht, hängend … (Achtbare Kiefern meines Grunewalds, wohin geriet man?)
XV Nur ein paar Wochen zurück, so saß ich, zwischen kostbaren Niggertänzen und Theaterfreuden (wie Shaws »St. Joan«, das Mädchen von Orleans) und Esseinladungen und Lichtschwirrmagien … dieser Satz kommt nie zu Ende.
Also: saß ich am Broadway in Harrimans gediegener office, vor der die United-Hapag-Fahne weht. Dort wird gehämmert, Nebenmauern durchhackt, es »wachsen die Räume, es dehnt sich das Haus«. Die deutsche Kauffahrtei löste den Versailler Block vom Bein – und schwimmt wieder. Amerika half.
Ich traf hier den lieben, befreundeten, wertvollen Organisator Mr. Lederer, den seine neue Arbeitskraft verjüngt. Mit welcher Güte war er mir behilflich für Zusammenstellung der Bahnlinien – das ist hier bei der Menge von Konkurrenzmöglichkeiten schwer. Zuletzt kam ein Beamter der Southern-Pacific-Bahn und verhandelte kaufmännisch mit mir … Was an Rabatt zu geben war, gab er.
XVI Die Endgestalt eines tickets für weite Strecken ist hier: eine Leporelloliste.
Bunte Papierstreifen, meterlang aneinandergeklebt. Bei jedem Vorzeigen sang ich (bauchrednerisch) mit Mozart: »Aaaber in Spaa…niän – – tau…sänd und draai!«
Dann klomm ich in das Pullman-Bett; hinter den Vorhang. Hier schlafen im selben Korridor vierzig Leute gemeinsam, Herren und Damen, jeder in seinem Vorhanghäuschen.
Man liegt in der Fahrtrichtung, nicht quer, – und schlummert fest wie Republikaner in Deutschland.
Selten sah ich hier ein fremdes Bein. Stets hing es an einer Achtzigerin. Nichts hat es mir geschadet.
XVII Man wird in diesen Pullman-cars nicht müde. Sie federn.
Eine Warnung vor Falschspielern hängt gedruckt an der Wand. »Unbekannte, die Sie zum Kartenspiel auffordern, haben meist zu viel Glück für einen gewöhnlichen Menschen.« Darüber abgebildet eine Hand mit dem Pik-Ass. (Strangers who invite you to play cards, generally are too lucky for the average mortal.)
Gern wird man von Negern, die leise sind, bedient …
Bloß am Morgen riecht es bissl nach Schlaf. Uäh!
XVIII … So weit hab’ ich für heut geschrieben. Andre Blätter aus dem Tagebuch folgen – bei der nächsten Rast. Noch vieles liegt vor mir: San Francisco; die Mormonenstadt am Salzsee; Seattle; hoffentlich der Yellowstone-Park, der spät im Jahr zugänglich wird, … und ich will beim Niagara nachsehn, ob noch alles da ist.
XIX Wenn man hier auf den Klippstücken von Coronado sitzt, wie ich heut Morgen, so kommt ein seltsames Gefühl. Hinten liegt die Bai; vorn der offne Ozean; aus dem blauen Wasser springt immer noch Sprühgespritz turmhoch.
Das Blaue, Heitere rollt und grollt und bumst und brüllt wie ein vergnügter Löwe.
(Melancholie kommt hier nicht auf, wie in Italien – weil die Felsen nicht katholisch sind und die Einwohner zu begütert.)
XX Jetzt ist es Nachmittag. Über Araukarien schwebt, jenseits der Bai, halbhoch eine weiß-violette Stadt. Das ist San Diego.
Alles hier sieht schon verflucht mexikanisch aus. Wie auf Bildern in Zigarrenkisten, aus der Kindheit.
In der Bai lagern Kriegskreuzer der Yankees … an der Grenze.
XXI Und abends, wenn ich auf dem wuchtig-flinken Fährschiff, auf dem Oberdeck, stehe (während auf Unterdeck ein Dutzend Autos mit über die Bai fahren); und es ist noch nicht dunkel; aber auch nicht mehr ganz hell; und die Schiffe beginnen zu erstrahlen, die Wasserstadt scheint erleuchtet zu sein: dann fasst mich ein Glücksgefühl, und ich möchte dies alles fortsetzen … zwar nicht bis zum hundertfünfzehnten Lebensjahr, aber doch bis zum hundertsiebenundzwanzigsten.
XXII Denn in diesem Land ist beides, was der wahre Mensch braucht: verschwenderisches Geblüh’ – und wagnisernster Geist.
Darin, in den zwei Punkten, ruht kurzweg das Wesen Amerikas: Naturkraft plus Kraftnatur.
Und ich grüße das alles … im Herzen meines Herzens.
I Ich hoffte ganz heimlich, im Weißen Haus keine Audienz zu finden – somit eine Sonderstellung einzunehmen. Aber die Schickung verfuhr anders.
Der freundliche, noch junge Kabinettschef, Mr. Slemp, hoch, schwarze Brauen unter weißem Haar, mit Recht ein Liebling Washingtons, führte mich bei mittäglichem Sonnenschein aus dem stillen Zimmer zweier murmelnder Senatoren zu Mr. Coolidge und sprach:
»This is Dakte Körr from Börlin.«
Dakte heißt Doktor.
II Darauf äußerte der Präsident (seinerseits): »Nehmen Sie Platz – have a seat.«
Ich tat so. Damit war alles im Gang.
III Das Weiße Haus ist zugleich schattig und sonnig; mit heiteren Fenstern, auf einem großen, lichtgrünen Fleck – voller Blühbäume.
Herrlich liegt es. Man guckt ins Grün, ruhevoll, am sommerlichen Mittag.
Washington war um diese Stunde glückhaft überglänzt. Alles am Umkreis der im Lichtgrün hellen Fenster schien gehoben und voll Zuversicht. Teilnehmer von Privatkongressen durchwandelten die Stadt, mit Abzeichen am Rock. Auch Frauen und Fräuleins, mit so Bändern; aber nicht spießig – naa! keine Heuschrecken. Sondern in feiner Tracht; gefestigt; mit lovelich-reguliertem Gesicht. Mit seidnen Cremekleidchen und Creme-Umhang; prachtreich.
In nahen Baumstraßen parkten fünfhundert Automobile. Bis zum Gitterzaun jener weißen langgestreckten Villa – wo wir am Tisch saßen.
Und in diesem Hause schlug (zurzeit) das Herz der Welt.
IV Ich sah das Herz an … gegenüber. Hätte sich dort ein Vizepräsident befunden, ich käme nie zu dem Wunsch, seine Haltung, sein Gesicht zu zergliedern (und, was schlimmer ist, zu deuten). Doch weil ein Zufall (Hardings plötzlicher Tod) den Ersatzmann vorgeschoben hat, wähnt man, diese Stirn könne belangvoll sein für die Erd-Entwicklung.
(Dabei glaub’ ich nicht an Physiognomien. Beispielshalber Virchow sah immer sehr dumm aus – und war doch so gescheit. Wiederum die Redakteure der »Deutschen Tageszeitung« sehn vielleicht intelligent aus – oh, himmlische Gerechtigkeit!)
V Also nichts in Gesichter hineindeuten. Kennzeichnend für den Präsidenten Coolidge ist allenfalls folgender Punkt. Er hat in unsrem Gespräch nur einmal gelächelt – und wann? Als ich rief: »New York ist nicht Amerika.« Das hat ihn gefreut; das hat ihm gepasst. »Nein, New York ist nicht Amerika.«
Denn Mr. Calvin Coolidge ist aus dem asketischen Teil der Union; aus Nordost; aus Neu-England. Er fühlt also Widerstände gegen eine geniale Lärmstadt wie New York.
Auch wohl gegen Californien. Er gleitet, sooft ich davon spreche, drüber weg. Warum? Dies geil blühende, dies romanisch durchsetzte Land bleibt ihm gewiss verdächtig.
VI Schweigsamkeit und Kargheit des Neu-Engländers? Das Reglose kann auch von Indianern stammen, deren Blut in seiner Großmutter floss. – Ernst. Halbrechts gescheitelt. Glattrasiert. Weich-schmales Gesicht. Stehumlegekragen. Braunblond.
Die Augen blinzeln. (Wär’ es nicht dreist, ich sagte: gleich denen eines verschlafenen Bibers. Doch; im blaugrau-lichten Blinzelblick hat er manchmal was von einem Biber.) Sein Grundzug: Unauffälligkeit. Sein Grundsatz: Unscheinbarkeit. … Er ist kein Herzensdieb, aber man hegt gleich Achtung für ihn.
VII Auch ohne zu wissen, dass er die Kraft hat, unbeliebt zu sein. Erstens durch das Veto gegen die Bannung der Japaner; hernach durch Einspruch gegen hohes Beamtengehalt. Es zeugt von Rückgrat.
Der schweigsame Präsident soll »Sprechen« einmal als »letzte Zuflucht« erklärt haben. Man erzählt mir Folgendes aus seiner Vergangenheit. (Denn mit dem Amt wachsen »Züge« aus dem Boden – o Biographen-Servilismus!) Ein Redner im Parlament begann jeden Satz mit den Worten: »Hat nicht die Regierung …?« Zwei Stunden lang: »Hat nicht die Regierung …?« Danach erhob sich der damalige Coolidge und sagte nur:
»No.«
(Dieser Zug bliebe vielleicht unbekannt – wenn Harding noch lebte.)
VIII Ich war nach alledem erstaunt: der Präsident zeigte sich im Gespräch sehr aufgeknöpft. Bei äußerster Reglosigkeit. Er spricht über meinen Reiseplan. Hintereinanderweg. Er hält mir (oder sich?) einen Vortrag über Geographie und Wirtschaftskunde von Amerika – wobei er mit dem Blinzelblick bei unbeweglicher Körperhaltung, von der Sonne bestrahlt, ins Grüne schaut.
Er spricht und spricht, ununterbrechlich. Im schwarzgrauen Anzug. Tonlos-ernst. Mit leiser Stimme malt er den Grundriss der Fahrt – wie jemand, der von einer Sache vollgepfropft ist. Ich solle nicht in die Zentren bloß gehen. New York, sagt er, hat ein Italienerviertel, ein Griechenviertel, kurz: Nationalitäten. Anderswo ist alles mehr durchmischt. Amerikanischer geworden. Die Baumwollstaaten soll ich sehn. Agrikulturgegenden. Er nennt Pittsburgh, das Stahlgebiet. Ich schlage Cleveland vor, er haftet jedoch an Pittsburgh, – – und ich sah schließlich weit schönere Stätten, als da sind Wasserfälle, Naturwunder, Geyser, Wolkenkratzer, Meere, Märkte, Seelöwen, Autos, Präriepalmen, Alligatoren, Orangenwälder, kurz: das Malerische des unvergleichbaren Landes.