ALS
SCHÖPFERISCHER
PROZESS
WO
KÖRPER UND GEIST
SICH TREFFEN
Haftungsausschluss:
Die im Buch enthaltenen Übungen wurden vom Verfasser und vom Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag übernehmen die Haftung für Schäden irgendeiner Art. Es handelt sich hierbei um Informationen, die nicht als Diagnose, Behandlung oder Ersatz für eine medizinische Betreuung gedacht sind. Bitte befragen Sie hierzu Ihren Arzt bzw. ihre Ärztin.
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© Verlag Fischer & Gann
in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2020,
info@kamphausen.media
1. Auflage 2020
Projektleitung | Lektorat: Susanne Klein, Hamburg | www.kleinebrise.net
Umschlaggestaltung | Layout und Satz: Gesine Beran, Turin
Umschlagmotiv: © g.b.scotti | dokitalia
Innenabbildungen: Gesine Beran unter Verwendung von © shutterstock;
Chipmunk131 (S. 24/26) | Olga Zelenkova (S. 39) | Nowik Sylwia (S. 52)
ISBN 978-3-903072-88-6 | ISBN E-BOOK 978-3-903072-89-3
www.fischerundgann.com
EINLEITUNG
TEIL I
HEILUNG ALS SCHÖPFUNGSPROZESS
Die Geschichte von Anita Moorjani
01|VOM GEHEIMNIS DES SCHÖPFERISCHEN HEILUNGSPROZESSES
Eine Geschichte über das Universum
Die vertikale Beziehung
Die horizontale Bewegung
Schöpfungsimpuls und Energiezentren
Zeitloses Herz in Raum und Zeit
Heilung ist Schöpfung und geschieht jeden Moment neu
Wie Erinnerungen Neuschöpfung verhindern
02|WIEDERHERSTELLUNG DER URSPRÜNGLICHEN LEBENSBEWEGUNG
Energie und Fließen
Leben als Fluss
Energiekreise – der natürliche Rhythmus von Werden und Vergehen
03|STRUKTUR UND FREIE ENERGIE
Das Verhältnis von Struktur und freier Energie
Freie Energie und Reagibilität
Behandlungsebenen
Heilungsprozesse in der Zeit
04|WISSEN, WAS HEILUNG BEGRENZT
Ins Leben kommen
Was Heilung begrenzt
Umgang mit Ängsten
TEIL II
ZUGÄNGE ZUR SCHÖPFERISCHEN KRAFT
05|DER CHOPIN–INTERPRET UND DIE ÖFFNUNG DER WAHRNEHMUNGSFÄHIGKEIT
Die begrenzende Vorstellung
Die öffnende Vorstellung
Öffnung in den unbegrenzten Raum
06|DREI ELEMENTE DER TIEFENHEILUNG
Freie Energie – horizontale Dimension
Schwingungsfrequenz des Energiefeldes – Vertikale Anhebung der horizontalen Dimension
Schöpfungsimpuls – vertikale Dimension
07|DEN RAUM DER HEILUNG ÖFFNEN
Strukturebene
Transpersonale Ebene
08|VERBUNDENHEIT ALS ZUGANG ZUR SCHÖPFERISCHEN KRAFT
Der Kosmos, ein lebendiger Organismus
Verbundenheit und die Bedeutung guter Verwurzelung
Verbunden im Herzen und offen zur Quelle
Kohärenz
Achtsamkeit und Präsenz
Die ursprüngliche Sehnsucht nach Verbundenheit
09|DER STILLE RAUM DER HEILUNG
Der kleine, stille Zwischenraum
Leben aus der Stille
Zeugenbewusstsein
Lauschen
Unterscheidungsfähigkeit
Dem Flüstern der Seele lauschen
Mit einer Frage in der Stille sein
Den Verstand dazu bitten
Geführtes Leben
Die Qualität der inneren Stimme
Den Hintergrund beleuchten
10|DAS FEINE SPIEL ZWISCHEN INTENTION UND HINGABE
Urgrund und Schöpfungsimpuls
Hingabe und Intention im Heilungsprozess
Achtsam wahrnehmen und Entscheidungen treffen
11|HEILSAME MÖGLICHKEITEN ALS PATIENTIN UND PATIENT
Freiheit und Freude als Ausgangpunkt von Heilung
Den eigenen Weg finden
Entscheidungen jenseits von Ideologie
Heilung als höchste Möglichkeit – eine Einladung
Der Innenraum und die Lebensfragen
Heilung einladen – wie kann das gehen?
Dankbarkeit als heilender Weg
TEIL III
PRINZIP UND WIRKUNG DES HEILENDEN FELDES
12|DAS HEILENDE FELD UND DIE
SYNCHRONISATION
Das heilende Feld in jedem Menschen
Das heilende Feld in der Arzt-Patienten-Begegnung
Das heilende Feld in der Gruppe
Synchronisation des Heilenden Feldes
ANMERKUNGEN
LITERATUR
QUELLENNACHWEIS
ÜBER DEN AUTOR
VIELLEICHT FRAGEN SIE SICH, wie denn ein Arzt dazu kommt, ein Buch über das Heilen zu schreiben – vor allem über die spirituelle Dimension, über das, was jenseits der medizinischen Methoden liegt, ein Buch, das Heilung als den höchsten schöpferischen Prozess beschreibt – als die vertikale Beziehung des Menschen zu seinem Ursprung. Es geht hierbei um eine grundlegende Beziehung, die als Lebensessenz unser Leben auf dieser Erde durchdringt, das wir gleichsam in einer horizontalen Bewegung in Raum und Zeit durchleben – mit seinen Höhen und Tiefen, seinem Fließen und seinen Hindernissen, seiner Freude und seinen Ängsten, mit allem, was unser Dasein ausmacht.
Seit Beginn meines Arztseins hat mich die Frage beschäftigt, was denn wirklich heilt. Vielleicht konnte ich mir diese Frage nur so frei und uneingeschränkt stellen, weil ich nicht aus einer Arztfamilie stamme und ich somit nicht mit ungeprüften medizinischen Gewissheiten aufgewachsen bin. Wenngleich mich medizinisches Wissen und die großartigen Möglichkeiten der Medizin, ja bisweilen ihre Genialität und Eleganz, faszinierten und ich mich voller Begeisterung zum Internisten ausbildete, merkte ich doch sehr bald, wie eindimensional – wie mechanisch und materialistisch – und in vielen Fällen auch wie begrenzt sie mir erschien.
Parallel dazu erkannte ich, dass ich zwar in gewisser Weise medizinischer Experte bin, jedoch die betroffenen kranken Menschen selbst am besten über sich Bescheid wissen, sie die Experten und Expertinnen ihres eigenen Lebens sind und über ein unschätzbares Wissen verfügen darüber, womit wohl ihr Kranksein zusammenhängt und welche Auswege aus einer Krankheit sie einschlagen könnten. Ich musste eigentlich nur zuhören, sie in ihren Anliegen wahrnehmen, manchmal auch spüren lernen, was an Botschaften sich hinter ihren Worten verbarg. Und indem sie sprachen und ich ihnen zuhörte, traten nicht selten Antworten oder nächste Schritte aus einem Raum inneren Wissens hervor. Das Gespräch mit den Menschen wurde so zentral, dass ich mich folgerichtig zusätzlich zum Psychotherapeuten ausbildete und so die Verbindung von Körper und Psyche immer wichtiger wurde. In etwa derselben Zeit begegnete ich meiner ersten Akupunkturlehrerin und meiner spirituellen Lehrerin.
In dieser Zeit verstand ich, dass im Heilungsprozess der ganze Mensch Platz finden muss, denn wir sind nun einmal nicht nur ein physischer Körper, sondern wir haben auch eine Psyche mit ihren Gefühlen und ihrem Empfinden, einen Verstand mit seinen Ideen und Glaubenssätzen und ein höheres, seelisches Bewusstsein – unsere spirituelle, transpersonale Natur. Das Leben hat mich reich beschenkt, dass ich jede dieser Daseinsebenen immer tiefer studieren, erforschen und in mir selbst erfahren durfte. Dieser innere Reifungsprozess als Mensch und Arzt schlug sich wie von allein auf meine sich verändernde Sichtweise auf die Medizin und auf Heilung nieder.
Je mehr ich geführt war, desto weniger wichtig wurden für mich die medizinischen Methoden – ich praktizierte kaum noch Schulmedizin, sondern sehr intensiv chinesische Medizin, die ich auch viele Jahre unterrichtete, woraus unter anderem zwei Standard-Lehrbücher1 entstanden sind. Zunehmend nahm ich wahr, dass es weniger auf die Methoden ankam als vielmehr auf die Begegnung mit den kranken Menschen, auf das »Wie« der Begegnung: wie achtsam, wie offen, wie vorurteilslos, wie präsent, aber vor allem mit wie viel Liebe diese Begegnung möglich ist. Mehr und mehr wurde mir deutlich, dass ich als Arzt und Mensch selbst ein Gefäß der Heilung bin – und dass die Patientinnen und Patienten ebenfalls ein solches Gefäß ihrer eigenen Heilung sind und dass durch das »Wie« der Begegnung mit und zwischen uns etwas geschieht, das heilsam ist und ganze Heilungsprozesse auslösen kann.
Dieses Buch handelt davon, dass Heilung jedem Menschen bereits innewohnt, und davon, wie wir uns dieser Dimension öffnen können. Das ersetzt nicht eine medizinische Behandlung – es ist immer gewissenhaft zu überprüfen, ob und wie eine solche notwendig ist. Aber auch jede medizinisch notwendige Behandlung kann nur greifen, weil wir dieses innewohnende Heilungspotenzial in uns tragen. Je mehr wir uns dem öffnen können, desto heilsamer kann auch eine medizinische Behandlung werden.
Oft geht es in Heilungsprozessen darum, wieder in harmonisch fließende Lebensvorgänge zurückzufinden – die ursprüngliche, so in uns angelegte Bewegung des Lebens wiederzugewinnen. Das geschieht in Raum und Zeit. Wir begegnen dann oft den Fragen, ob und wie wir aus diesem gesunden Rhythmus, aus dem Fließen des Lebens gefallen sind und wie wir uns einer neuen, jetzt angemessenen und stimmigen Bewegung öffnen können. Da gilt es immer wieder, etwas anzuschauen, zu erkunden, loszulassen – sich selbst in der eigenen Einzigartigkeit und in einem neuen Aufgerichtetsein zu finden.
Dasjenige jedoch, was das Leben selbst und damit unser Heilungspotenzial und unseren Lebensfluss überhaupt erst hervorbringt, hat mit dem Schöpfungsprinzip zu tun. Wir sind erschaffene Wesen, Geschöpfe – so wie das ganze Universum und der Kosmos als Ganzes aus dem Nichts erschaffen sind. »Nichts« sage ich, um anzudeuten, dass wir es, das große Mysterium der Schöpfung und des Lebens, nicht benennen können.
Im Buch wird das die vertikale Beziehung – die Beziehung zum großen Geheimnis – genannt. Unser ganzes Leben – und damit auch jeder Heilungsprozess – steht in diesem Beziehungsfeld des Lebens in Raum und Zeit (wir werden geboren, leben und sterben) und seines schöpferischen Urgrunds. Diese vertikale Beziehung – man könnte sie auch den seelischen Funken, der in jeder Zelle unseres Körpers pulsiert, nennen – beinhaltet das höchste Heilungspotenzial, dem zu öffnen uns möglich ist.
In diesem Buch werden Sie durch die verschiedenen Ebenen der Erkenntnis, der Erfahrung, des Experimentierens und des Anwendens geführt. Was Sie dabei finden, kann für jeden Menschen anders sein – oder auch jetzt anders sein als beim nächsten Lesen. Der Kreuzungspunkt unseres Lebens in Raum und Zeit (horizontal) mit dem Wirken des Urgrunds (vertikal) birgt für jeden Menschen ganz einzigartig seinen eigenen Zugang. Erst das macht es so stark und wirksam – denn es bewegt sich jenseits allgemeiner Empfehlungen.
Im ersten Teil des Buches geht es um den schöpferischen Heilungsprozess selbst und um viele seiner Facetten vom Schöpfungsprozess bis hin zum Heilungsprozess. Im Teil 2 geht es um mögliche Zugänge zur schöpferischen Kraft und beschreibt außerdem spezielle heilsame Zugänge, wenn man selbst krank ist. Und Teil 3 ist dem Prinzip und der Wirkung des heilenden Feldes in einem selbst, in der Arzt-Patienten-Begegnung und in einer heilenden Gruppe gewidmet. Dort geht es auch um die Synchronisation einer spezifischen Form des heilenden Feldes, in dem seit 2014 Menschen miteinander, wo auch immer sie leben, und immer zur selben Zeit in Stille für andere Menschen um Hilfe und Heilung bitten.
Und dann wurde ich von der Erkenntnis überwältigt, dass Gott kein Wesen, sondern ein ›Seinszustand‹ ist … ›und dass ich mich jetzt in diesem Seinszustand befand.‹«
SO ERLEBTE ANITA MOORJANI DEN MOMENT, als sie an den Folgen ihres Krebses »starb«, um dann geheilt zu sein. Sie wuchs in Singapur als Kind indischer Eltern auf. Hin- und hergerissen als Mensch und Frau zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen versuchte sie ihren eigenen Weg zu finden und zu leben. 2002 erkrankte sie an Krebs. Vier Jahre lang kämpfte sie mit allen Mitteln gegen die Krankheit an, bis sie mit multiplem Organversagen bewusstlos in die Klinik kam, um zu sterben.
Ihre Angehörigen und ihre Ärzte waren da, standen an ihrem Bett. Nur noch vom seidenen Faden ihrer Seele gehalten – von außen betrachtet nicht ansprechbar und schon weit weg – erfuhr ANITA MOORJANI einen außergewöhnlichen Bewusstseinszustand, eine Nahtoderfahrung, die alles verändern sollte.
Ihr Bewusstsein weitete sich – schier grenzenlos in einen Raum von Licht und Liebe. Sie nahm wahr, welch ein Wesen sie in Wirklichkeit war – weit, unbegrenzt, einzigartig. Und gleichzeitig fühlte es sich an, als sei sie alles: ihr Körper, der Raum, die Menschen um sie herum, die Klinik, die Stadt, Himmel und Erde, der ganze Kosmos. Sie war auch die Gefühle der liebsten Menschen an ihrem Bett und fühlte, was sie fühlen, wusste, was sie denken.
Die Zeit, wie wir sie gewohnt sind, löste sich für sie auf. Es gab keine Abfolge von Zeit mehr. Alles schien gleichzeitig zur selben Zeit zu sein. Sie spürte ihren Platz in der Mitte des kosmischen Netzes – alles war vollkommen. Es spielte keine Rolle, ob sie stürbe oder weiterlebte. Ganz aufgehoben in diesem höchst bewussten Sein, in der Weite des kosmischen Bewusstseins, wurde sie schließlich gewahr: Es war noch nicht ihre Zeit zu gehen. Sie hatte noch Dinge zu tun in der Welt, hatte noch ihren Lebenszweck zu erfüllen. Es war ein Ruf zurück.
Doch wie sollte sie ihren Lebenszweck in einem von Krebs durchsetzten Körper erfüllen? Unmittelbar jedoch war klar – »dort«, wo sie war: Da sie nun wusste, wer sie in Wirklichkeit ist, sie die Vollkommenheit ihres Seins und ihrer Seele erkannt hatte und das Ausmaß dessen, wozu sie als Mensch alles fähig war, wusste sie auch, dass sie wieder gesund würde. Sie musste »nur« mit diesem Wissen wieder in ihren Körper zurückkehren und das in ihm ausdrücken, und der Krebs würde geheilt.
Innerhalb weniger Wochen konnten die Ärzte keinen Krebs mehr in ihr feststellen.
Was andere leicht für ein Wunder halten wollten, war für sie keines. Sie wusste, dass ihre Heilung nichts anderes war als die Wiederherstellung ihrer physischen Gesundheit, weil alles in ihr frei geworden war, frei von allen Begrenzungen, die sie ihrer Seele auferlegt hatte.
ANITA MOORJANI sagt dazu: »Meine Überzeugungen waren nicht die Ursache meiner Heilung. Meine Nahtoderfahrung, mein Zustand reinen Gewahrseins, ein Zustand, in dem alle meine vorherigen Überzeugungen und Prinzipien komplett ausgeblendet waren. Das erlaubte meinem Körper, ein ›Reset‹, eine Neueinstellung und einen Neustart vorzunehmen. Mit anderen Worten, für meine Heilung war die Abwesenheit von Überzeugung und Glauben erforderlich.«
UM HEILUNG VERSTEHEN ZU KÖNNEN, ist es notwendig zu wissen, wie Schöpfung geschieht. Soweit das überhaupt möglich ist, denn den Urgrund von allem zu verstehen, übersteigt die Möglichkeiten unseres Verstandes. So bleiben wir in letzter Instanz – selbst mit den Erkenntnissen der seriösesten Wissenschaften – immer im Raum des Ungewissen.
Welchen Schöpfungsmythen wir auch immer anhängen – wissenschaftlich, philosophisch, theologisch, spirituell – und auch aus welchen Weltregionen und Kulturen diese stammen mögen: Allen ist eines gemeinsam, nämlich dass Schöpfung einen Urgrund haben muss. Urknall, Gott, Dao, die große Leere – was auch immer. Und was vor dem Uranfang ist, vor dem Urknall, vor Gott …, ist nicht zu wissen. So ist das große Gemeinsame aller Kosmologien im Grunde das Nichtwissen. Die tiefste Ursache ist und bleibt ein Geheimnis. Zu dieser Erkenntnis sind selbst große Denker der neueren Physik wie ALBERT EINSTEIN, MAX PLANCK oder WERNER HEISENBERG gekommen.
Wie der Quantenphysiker HANS-PETER DÜRR die Fragestellung der Schöpfung aus Sicht der Physik, des Wissens und des Nichtwissens, dargestellt hat, mag eine gute Basis schaffen, um ohne große physikalische Kenntnisse einige grundlegende Aspekte unseres Universums zu beleuchten.
VOR JAHREN HÖRTE ICH DEN QUANTENPHYSIKER und alternativen Nobelpreisträger HANS PETER DÜRR auf einer Tagung der Analytischen Psychologen in Lindau. Das Thema des Vortrags erinnere ich nicht mehr, aber er inspirierte mich so, dass ich den Physiker selbst zu einem Vortrag auf die Tagung »Medizin und Spiritualität« auf der Fraueninsel einlud. Wir sind von da an verbunden geblieben, bis er im Jahr 2014 starb.
DÜRR war ein Freund und Kollege von WERNER HEISENBERG, der schon früh, 1932, mit dem Nobelpreis für seine Arbeiten in der Quantenforschung geehrt wurde. DÜRR erzählte oft, wie sie im kontinuierlichen Austausch waren, verzwickte wissenschaftliche Fragen zu lösen versuchten. Sie taten das in einer dialogischen Weise – mehr die Fragen besprechend als Lösungen suchend. Oft ließen sie eine Frage einfach nur in sich köcheln, sprachen zwei Wochen nicht darüber, um dann »nachzuschauen«, was da inzwischen gekocht war. So tauchte immer wieder Neues, Unerwartetes, Noch-nicht-Gedachtes auf, das über die reine wissenschaftliche Analyse und Auswertung von Daten hinausging. Die Auffassung dieser außergewöhnlichen Wissenschaftler war, dass es notwendig sei, Teil ihrer eigenen Forschung zu sein.
Bei der Tagung auf der Fraueninsel im Chiemsee sprach DÜRR über das Thema »Naturwissenschaft und Spiritualität«. Es war eine Freude für uns alle, ihn in der Fülle seiner wissenschaftlichen und menschlichen Größe zu hören. Denn Wissenschaft war für ihn immer nur in Verbindung mit dem Menschlichen möglich.
Er entwickelte anhand eines Kreisdiagramms, wie Dualität und Nicht-Dualität als zwei Seiten der Welt miteinander existieren.3 So beschrieb er, wie die klassische Wissenschaft Subjekt und Objekt voneinander trenne und den Urknall und das Universum aus der Außenbetrachtung erforsche und definiere. Er sagte: »Universum hat das Ganze im Bild. Das Ganze ist das, dem kein Teil fehlt.« Und schloss daraus: »Das heißt, ich gehe als Naturwissenschaftler gerade von dem weg, wo Sie eigentlich hinwollen … Ich gehe genau in die umgekehrte Richtung.«
In dieser Weltsicht fiele das klassische Universum in Trümmer, so DÜRR. »Das klassische Universum wird auf einmal etwas total anderes, es wird ein holistischer Kosmos … der Begriff Kosmos als etwas, das schon Struktur hat, aber überhaupt nicht an das Materielle erinnert. Er drückt sich als Beziehungsstruktur aus.«
In der holistischen Betrachtung hebe sich die Dualität in gewisser Weise auf, denn alles sei mit allem verbunden. Und er fuhr fort mit einer mich tief berührenden Wahrhaftigkeit: »Ich nenne es A-Dualität als Konstrukt, weil ich es als Wissenschaftler konstruiert habe. Dabei bin ich als Wissenschaftler noch außerhalb, aber Sie alle und alle anderen sind schon darin enthalten. Nur ich bin draußen.« Und natürlich wusste er, dass auch er Teil davon ist. Und dass alle anderen, von denen er sprach, zwar darin sind, es vom Verstand her nachvollziehen können, aber deshalb noch lange nicht ein lebendiges Bewusstsein davon haben. Und gleichzeitig war zu spüren, wie groß das Ringen war, es nicht nur zu wissen.
Ist es nicht einfach auch Gnade, im Bewusstsein »ganz« darin zu sein – so wie ANITA MOORJANI dies erfahren durfte?
Am Ende seines Vortrags zog er ein rotes Wollknäuel aus seiner Jackettasche. Er hatte immer eines dabei, wie er später erzählte. Er warf es in die Luft und fing es wieder auf. »Das ist die Welt – die Welt ist ein Wollknäuel. Ich kann es in die Luft werfen und es fällt nicht auseinander, sondern bleibt zusammen.« Dann begann er, den Faden vom Knäuel abzurollen, und sagte: »So macht es die Wissenschaft und sagt: ›Die Welt ist kein Knäul, sie ist ein Faden.‹« Aber ist sie das? Oder nur, wenn wir sie in ihre Bestandteile zerlegen? Ist das dann noch die Welt? Und am Ende fragte er noch: »Und wissen Sie, was das Knäuel zusammenhält? Es sind die kleinen Wollfusseln. In der Welt ist es die Liebe, die wie die Fusseln alles zusammenhält.«
AUF EINEN PUNKT GEBRACHT möchte ich sagen: Schöpfung geschieht aus dem Nichts, dem nicht wissbaren Geheimnis hinter allem. Im alten chinesischen Weisheitstext Dao De Jing wird der Schöpfungsmythos auf eine sehr kurze und klare Formel reduziert:
»Dao erzeugt Eins,
Eins erzeugt Zwei,
Zwei erzeugt Drei,
Drei erzeugt alle Dinge.«
Dao De Jing, Kapitel 42
DAO STEHT FÜR DAS GEHEIMNIS DES URSPRUNGS, der nicht benennbar ist – jenseits jeder Verstandesmöglichkeit. Der Name »Dao« ist wie jede andere derartige Bezeichnung, wie zum Beispiel Gott, Leere, reines Bewusstsein, Nirwana, quasi eine Metapher für Nichts – für das, was jenseits des Seienden, auch des Unsichtbaren, ist. So wie Wissenschaftler nichts anderes annehmen, als dass der Urknall als Beginn unserer universellen Existenz aus dem Nichts heraus entstanden sei.
Der Urknall ist die gängige wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung unseres Universums. Er soll vor etwa 13,5 Milliarden Jahren stattgefunden haben. Ob der Urknall tatsächlich der Anfang aller Anfänge war, darüber gehen die Meinungen in der Wissenschaft auseinander. In jedem Fall scheint er der Ausgangspunkt unseres Universums zu sein. Vom diesem kaum vorstellbaren kosmischen Ereignis ausgehend hat sich unser Universum immer mehr entfaltet und expandiert auch heute noch immer. Forscher nehmen an, dass sich die Expansion des Universums eines Tages umkehren und sich wieder involutiv zusammenziehen wird, bis es wie in einem einzigen kosmischen schwarzen Loch vollständig absorbiert wird und verschwindet. Die ganze Materie des Universums wird in ein Nichts aufgesaugt und zu einem neuen Nullpunkt unvorstellbarer Energie verdichtet. Es wird spekuliert, dass dies der Beginn eines nächsten Urknalls und damit eines neuen Universums sein könnte. Wie oft das vielleicht schon geschehen ist oder wie viele parallele Universen auf diese Weise existieren, entzieht sich unserer Kenntnis und wäre reine Spekulation.
Es gibt ernst zu nehmende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die davon ausgehen, dass der Urknall immer jetzt stattfindet – dass also die Zeit der Evolution über 13,5 Milliarden Jahre nur der Art und Weise entspricht, wie der dual funktionierende Verstand darauf schauen kann. Das heißt, alles was je war, ist und sein wird, ist in einer gewissen Weise »gleichzeitig« (und dies ist auch nur eine Umschreibung, die es dem Verstand ermöglichen soll, das zu verstehen). Gleichzeitigkeit bedeutet, ein anderes Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erlangen. Mit den Worten ALBERT EINSTEINS: »Menschen, die wie wir an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine besonders hartnäckige Illusion ist.«
Das deckt sich auch mit Erfahrungsräumen, die die Verstandesebene transzendieren, zum Beispiel in stiller, gegenstandsloser Meditation und ermöglicht es auch, bestimmte Phänomene zu erklären, auf die wir transgenerational oder kollektiv Zugriff haben und die unser Leben in jedem Moment beeinflussen können.
Wenn der Schöpfungsprozess zeitlos, immer jetzt, ist, dann gilt das für alles – für unser gesamtes Sein: Der physische Körper, unsere Gefühle und Gedanken entstehen in jedem Moment neu. Auch wenn die moderne Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert zu dieser Erkenntnis kommt, so scheint dies doch schon ein uraltes Wissen zu sein – Wissen aus einer inneren Schau. In der Genesis heißt es in der modernen Übersetzung des altgriechischen Textes: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort ist Gott« (Johannes-Evangelium 1,1). Der Originaltext des Alten Testaments benutzt hier eine besondere Zeitform: das Tempus divinus (göttliche Zeitform). Es ist eine Zeitform »über der Zeit«, die nicht nur im biblischen Raum, sondern auch im indischen zur Beschreibung des göttlichen Wirkens benutzt wurde. Diese Zeitform beinhaltet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem und betrachtet sie als ein zeitlos untrennbares Ganzes. Und das Wort »logos« im Original wurde sehr verkürzt und eindimensional aus dem Altgriechischen als »Wort« übersetzt, heißt aber vielmehr: Es ist das geistige Prinzip oder der GEIST – der universelle Geist. Am besten lässt man den Begriff unübersetzt. So lautete der Anfang der Genesis eigentlich: »Am Anfang war, ist und wird immer sein der Logos, und der Logos war, ist und wird immer sein bei Gott, und der Logos war, ist und wird immer sein Gott.« Im Moment des Uranfangs, im Urgrund selbst, aus dem der Schöpfungsimpuls als strahlendstes Licht entsteht, gibt es keine Zeit – und Schöpfung geschieht jeden Moment aus diesem zeitlos-ewigen Grund.
Also, was wissen wir? Und warum ist das für das Verstehen von Heilen und Heilung wichtig?
»Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist die Erfahrung des Geheimnisvollen. Es ist die Quelle jeder wahren Kunst und Wissenschaft. Wer diesen Gemütszustand nicht kennt, wer nicht mehr innehalten kann, um zu staunen und Ehrfurcht zu empfinden, ist so gut wie tot: Seine Augen sind verschlossen. Diese Einsicht in das Geheimnis des Lebens, wenn auch gepaart mit Angst, ist auch der Ursprung der Religion: zu wissen, dass das, was für uns unergründlich ist, wirklich existiert, das es sich als höchste Weisheit und strahlendste Schönheit manifestiert, die unsere stumpfen Verstandeskräfte nur in ihren einfachsten Formen verstehen können – dieses Wissen, dieses Gefühl, steht im Mittelpunkt wahrer Religiosität. In diesem Sinne gehöre ich zu den frommen und religiösen Menschen.«
ALBERT EINSTEIN
DER PUNKT HÖCHSTER ENERGIE, der Urknall oder Nullpunkt, ist der Ausgangspunkt der gesamten Schöpfung. In einem Bild könnten wir uns das als reinstes, gleißendes Licht vorstellen. In der Bibel heißt es von JESUS: »Ich bin das Licht der Welt« (Joh 8,12) Im Koran (24:35) heißt es »Licht über Licht«. Die Kabbala sagt: »Wisse, dass vor der Schöpfung nur das eine höhere Licht existierte.«
Licht ist das Leichteste im ganzen Universum und breitet sich am schnellsten aus. Im Wort »Licht« steckt auch »leicht«, im Englischen ist es dasselbe Wort für beide Aspekte: »light«. Der deutsche Physiker und Hochschullehrer NIEMZ sagt, physikalisch sei Licht allumfassend. »Es bewegt sich nicht wirklich in Raum und Zeit, sondern es spannt Raum und Zeit auf. Wir können das Licht nicht in den Strukturen von Raum und Zeit begreifen, weil es das Licht selbst ist, das Raum und Zeit aufspannt.«4 Naturwissenschaftlich sprechen wir von der Doppelnatur des Lichts, einmal als elektromagnetische Welle, einmal als Teilchen, das Photon. Es gibt Hinweise, dass diese Gleichsetzung des Lichts als Welle und als Photon nicht wirklich beschreibt, was Licht ist. Es scheint eher so, als sei Licht Energieträger. Die Flamme der Kerze selbst ist nicht Licht, sondern das, was in unsere Augen gelangt. Licht als das große Unbekannte, das die Informationen der brennenden Kerze in die Augen überträgt. Im Zusammenhang von In-Formation5 und Licht offenbart sich das Wesen von Licht: als Träger von komplexen, das gesamte Universum durchdringenden In-Formationen. Ein Mysterium – die Religionen sprechen von Gott.
Am Punkt höchster schöpferischer Energie ist noch nichts erschaffen. Die Nullpunktenergie enthält jedoch das gesamte Potenzial, alle Möglichkeiten, wie sich Schöpfung realisieren kann. So können wir sehen, wie vom Urknall ausgehend das universelle Energie-/Bewusstseinsfeld entsteht, das das Universum mit all seinen Manifestationen entwickelt und formt: die anorganische Welt, die organische Welt, die Biosphäre, das biologische Leben, das Leben der Menschen mit der ihnen eigenen Intelligenz und Fähigkeit zur Selbstreflexion (siehe Abb. Schöpfungskaskade).
Mit anderen Worten: Ausgangspunkt des schöpferischen Prozesses ist der Punkt der höchsten Energie, die noch ungeformt das Potenzial aller Manifestationsmöglichkeiten des Universums beinhaltet. Das heißt, im Urgrund von allem sind alle Schöpfungsmöglichkeiten da, aber noch nichts davon ist erschaffen. Im Schöpfungsprozess der unbelebten und belebten Welt manifestieren sich die Dinge in Struktur, Form und Gestalt – und damit in der ihnen gegebenen einen Möglichkeit. Die absolute Ursprungsenergie erscheint in schwächer werdenden Energieströmen als Struktur, Form und Gestalt, die für ihre Aufrechterhaltung Energie binden. So wird die frei zur Verfügung stehende Energie im Erschaffungsprozess immer geringer (die Gesamtenergie dagegen bliebt dabei unverändert; Energie kann weder verschwinden noch neu entstehen) und der hochenergetische Ausgangspunkt aller virtueller Möglichkeiten verschiebt sich zu einem niederenergetischen Zustand von nur noch einer Möglichkeit (siehe Abb. auf S. 25).
Um sich das konkret vorstellen zu können: Am Urgrund, dem Punkt höchster Schöpfungsenergie, kann sich alles entfalten – ein ganzes Universum, einschließlich Sie und ich. Alle Möglichkeiten sind da. Ein Meer aller Möglichkeiten. Wir hätten auch ein Baum, ein Stein, ein Tier werden können. Im Dasein unseres individuellen Lebens hier auf dieser Erde sind Sie und ich »nur« noch eine Möglichkeit – wenn auch eine einzigartige.
Der Mensch spiegelt in sich selbst die ganze Schöpfungskaskade wider: Er ist vertikal verbunden mit dem Urgrund und dem aus ihm hervorgehenden universellen Bewusstsein, das sich immer mehr verdichtet zum transpersonalen Bewusstsein des jeweiligen Menschen und den immer dichteren Strukturen des Mentalen, des Psychischen und des physischen Körpers.
DAS NUN IST RELEVANT, UM ZU VERSTEHEN, was Heilung ist. Gesundheit und Krankheit sind als manifeste Phänomene Eine-Möglichkeit-Zustände. Wir können sie uns vorstellen, wie aus der freien Energie und dem Meer der Möglichkeiten in fixe Zustände von Raum und Zeit geronnen. Die Frage, die sich fürs Heilen stellt, ist: Wie kann ein fixer krankhafter Zustand wieder in einen Mehr-Möglichkeiten-Zustand überführt werden, in dem das Gesunde wiederhergestellt werden kann?
Der gesunde Organismus, unsere Emotionalität, unser Denken, all das, was uns ausmacht, ist der gegenwärtige Eine-Möglichkeit-Zustand. Werden wir krank, so gehört das Kranksein in den aktuellen Eine-Möglichkeit-Zustand – ein Zustand, der sich durch die in ihm gebundene Energie stabilisiert.
Ist es möglich, den krankhaften Zustand zu destabilisieren, das heißt, neue Bewegung ins System zu bringen? Die in ihm gebundene Energie freizusetzen und sie für den Heilungsprozess zu nutzen? Können wir Zugang zum Mehr-Möglichkeiten-Zustand, der eine Wandlung in Richtung Heilung erlaubt, bekommen? Wie weit ist Wandlung überhaupt möglich, wo doch unser Organismus so fest und statisch erscheint? Oder können wir nur Wandlung erfahren bei dem, was und wie wir denken und fühlen? Oder ist auch Veränderung auf der körperlichen Ebene im Mehr-Möglichkeiten-Zustand möglich?
Tatsächlich erscheint der Körper fest und statisch. In Wirklichkeit aber ist er das nicht. Der Organismus wird jeden Moment abgebaut und wieder neu aufgebaut. Unser Immunsystem filtert jeden Moment Abertausende funktionsuntüchtige oder krebsentartete Zellen aus unserem Organismus aus. Innerhalb eines Jahres sind fast alle Atome des Körpers ausgetauscht. Wir sind also nach einem Jahr komplett neu! Jeden Tag geben wir sieben Prozent unserer Körpermasse durch Atmung, Verdauung und Transpiration nach außen ab. Das ist so viel wie die Masse eines ganzen Armes! Und jeden Tag nehmen wir dieselbe Menge an Körpermasse über Nahrung, Flüssigkeit und Atemluft wieder auf. In der Bilanz haben wir also alle vierzehn Tag einen kompletten Austausch auf der Ebene der Körpermasse. Das, was wir in die Umwelt abgeben – also, um im Bild zu bleiben, jeden Tag einen ganzen Arm –, wird woanders wieder neu verwendet und in anderen Strukturen des Lebens integriert. So stehen wir in einem permanenten Austausch mit der Umwelt. Was sind schon »meine« Atome? So sind wir auch physisch mit der Welt um uns herum in innigster Verbindung – und das im wahrsten Sinne global. Die Atome unseres Atems werden von den Windströmen bis in die letzte Ecke dieser Erde getragen und schaffen in anderen Kontinenten neue Strukturen und Organismen. »Meine Atome« werden zum Teil eines asiatischen Tigers, die Atome eines Afrikaners oder einer Asiatin werden zu meinem Herzen. Die Vorstellung, wir seien separate Existenzen, lässt sich so nicht halten. Wir müssen erkennen, dass wir von der Natur, den »anderen« Menschen, der Erde und dem Kosmos ungetrennte und in grenzenloser Verbundenheit existierende Lebewesen sind.
WELCHE INTELLIGENZ BEWIRKT NUN, dass bei all diesem steten Kommen und Gehen der Atome und Moleküle unser Organismus dennoch seine Form und Gestalt, seine Integrität, behält? Dass unsere äußere Erscheinungsform konstant bleibt (abgesehen von den Änderungen des Wachsens und Älterwerdens), dass die Leber Leber bleibt, das Gehirn Gehirn und das Herz ein Herz? Verantwortlich dafür ist ein intelligentes In-Formationsfeld, das im Hintergrund unserer molekularen-organischen Struktur wirkt. Ein Feld – leer von Materie, jedoch von höchster Energie und angefüllt mit In-Formation –, das weit über die Manifestation des Organismus in Form und Gestalt hinausgeht. Dieses Hintergrundfeld birgt ein schier grenzenloses schöpferisches Potenzial. Für unser physisches Leben, für unsere psychomentale Existenz realisieren sich daraus die jeweils entsprechenden In-Formationen, die gerade dafür benötigt werden. So manifestieren sich unser Körper, die Organe und Gewebe, aber auch unsere Gefühle und die Gedankenwelt. Das In-Formationsfeld enthält quasi eine Blaupause, nach der wir jeden Moment neu entstehen.
Dabei ist das Feld, das im Hintergrund unserer individuellen Existenz schwingt, ein wahres Meer der Möglichkeiten. Es birgt unendlich mehr an In-Formationen, als wir für den jeweiligen Status quo brauchen. Das bedeutet, dass sich jederzeit auch neue, veränderte Strukturen bilden können. Dies ist zum Beispiel bei Krankheit der Fall, wenn sich »neue«, krankhafte In-Formationen durch innere oder äußere Ursachen im Feld durchsetzen – sie quasi die gesunde, physiologische Blaupause krankhaft verändert haben. Für den Heilungsprozess heißt das im Umkehrschluss, dass es nötig ist, wieder die gesunden In-Formationen im Meer aller Möglichkeiten zu aktivieren. Der Eine-Möglichkeit-Zustand, ob gesund oder krank, beinhaltet viel in Struktur gebundene Energie und hat deshalb eine relativ niedrige Energieschwingung. Der Mehr-Möglichkeiten-Zustand dagegen hat weniger in Struktur gebundene und damit mehr freie Energie und schwingt höher. Damit gesunde In-Formation, die die kranke überschreiben kann, im Feld aktiviert wird, braucht es eine höhere Energie im Hintergrundfeld. Darauf kommen wir später noch ausführlich zu sprechen. Mit anderen Worten: Je mehr freie Energie vorhanden ist, desto mehr neue Möglichkeiten der Realisierung stehen zur Verfügung.
Wenn wir also verstehen, dass Heilungsprozesse Prozesse kreativer Neuschöpfung sind, dass Schöpfung von einem hochenergetischen Moment aller Möglichkeiten in einen niederenergetischen Zustand von nur noch einer Möglichkeit führt, dann ergibt sich von allein, dass Heilungsprozesse die Umkehrung des vorangegangenen krankhaften Manifestationsprozesses sind. Der krankhafte Zustand (die eine aktuell manifeste Möglichkeit) muss in einen reagiblen, kreativen Mehr-Möglichkeiten-Zustand überführt werden. Dazu braucht es unter anderem, dass die Fixierung auf den kranken Zustand beendet wird. Als ein Beispiel: Die Ablehnung von Krankheit, die wir ja fast automatisch erleben (wer möchte schon gern krank sein?), verstärkt die krankheitsunterhaltende In-Formation, anstatt sie zu lösen. Ein Ja zum Leben und zu sich selbst als Person jenseits des Krankseins öffnet eher den Raum, erhöht die frei verfügbare Energie und lässt neue Möglichkeiten zu.
Himmel in mir ist die schöpferische Kraft des Dao,
Erde in mir ist Qi.
Die schöpferische Kraft fließt herab,
das Qi breitet sich aus,
und dort ist Leben.«
Ben Shen, Ling Shu 86
DIE VERTIKALE BEZIEHUNG MÜNDET in die horizontale Bewegung des Lebens.7 Vertikal meint das zeitlos-ewige Moment der Quelle, das sich in jeder Phase des Schöpfungsprozesses wiederfindet und ihn belebt – der Himmel im Menschen, wie es das Zitat bezeichnet. So ist Leben immer ungetrennt von seinem Ursprung. In der Sprache spiritueller Traditionen ist Schöpfung das Ausatmen der schöpferischen Quelle, in den abrahamitischen Religionen das Ausatmen Gottes, durch das die Welt der Erscheinungen in Raum und Zeit entsteht. Das Ewig-Eine atmet sich aus in das Endlich-Diverse. Im Einatmen der schöpferischen Quelle kehrt alles Erschaffene wieder zum Ursprung zurück.
Die vertikale Beziehung zur Quelle wohnt allem Leben inne – unabhängig davon, ob das bewusst ist oder nicht. Sie ist quasi der göttliche Funke, der uns leben lässt.
Sobald sich aus der Quelle, dem Nullpunkt, Leben manifestiert – sich also etwas aus allen schöpferischen Möglichkeiten in eine Möglichkeit konkretisiert –, ist es den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen. Leben entsteht und Leben vergeht in endlicher Abfolge. Der Atem kommt und geht, das persönliche Leben kommt und geht, die Generationen kommen und gehen, das Universum kommt und geht …
Wir nennen das die horizontale Bewegung. Im Zitat oben aus dem Ling Shu weist die Zeile »das Qi breitet sich aus« genau darauf hin. Und wenn das Zitat zum Ende kommt und es heißt »und dort ist Leben«, dann ist damit der Kreuzungspunkt der vertikalen Beziehung mit der horizontalen Bewegung gemeint. Was nichts anderes bedeutet, als dass dem Leben in Raum und Zeit das Immer-zeitlos-Ewige der Schöpfungsquelle immanent ist. In jeder unserer Zellen atmet das Göttliche, schwingt die Seele in Anbetung an DAS.
So gesehen ist Leben der immerwährende Ausdruck der schöpferischen Quelle in Raum und Zeit. Der ewig-zeitlose Atem der Quelle ist eins und ungetrennt mit dem Ein- und Ausatmen des irdischen Lebens, einem Leben, das sich auszeichnet durch seinen Rhythmus und fließende Bewegung.
Wenn ich hier die Bezeichnungen »horizontal« und »vertikal« verwende, dann sind sie als Metaphern zu verstehen – als Bilder, die versuchen, dem Verständnis dessen, was nicht verstehbar ist, einen Ort zu geben.
Das gilt besonders für die vertikale Beziehung. Von alters her lokalisieren wir Menschen das Göttliche oder Gott oben, im Himmel. Das heißt jedoch nicht, dass der Ursprung allen Seins im Himmel liegt. Auch der Himmel in seiner Form und Gestalt ist Teil der Schöpfung aus der einen Quelle und Teil des schöpferischen Lichtimpulses. Wenn das Göttliche immanent ist, ist es überall, drückt es sich in allem aus – und alles trägt in sich die Essenz des Ursprungs. Im Koran gibt es die Figur des KHIDR, der »grünen«, geheimnisvollen Gestalt, als Bote Gottes. Er beauftragt MOSES, »zum Treffpunkt der beiden Meere« zu gehen. Vielfach ist nach diesem geologischen Ort gesucht worden. Natürlich ist dieser Treffpunkt ebenfalls eine Metapher: Das eine Meer steht für das irdische Leben und das andere für das Reich Gottes. Die Meere verbinden sich dort nicht. Das heißt, das irdische und das göttliche Reich sind einerseits verbunden, andererseits jedoch nicht vermischt. Ich persönlich kann es nicht anders sehen, als dass beides, der göttliche Ursprung und das Leben, zutiefst miteinander und voneinander durchdrungen sind.
Die horizontale Ebene lässt sich leichter nachvollziehen: Die Relativitätstheorie EINSTEINS zeigt, dass Raum und Zeit objektbezogene Strukturen sind und dass Zeit im Raum geschieht und den Raum aufspannt. Zeit ist Veränderung, Raum ist Vielfalt. Das Aufspannen räumlicher Dimension lässt sich leicht als eine horizontale Dimension verstehen, in der Zeit vergeht.
Der Kreuzungspunkt zwischen horizontal und vertikal jedoch beschreibt immer die Immanenz des Göttlichen im Leben – in allem. Und letztlich bleibt dieser Kreuzungspunkt ein Geheimnis – in Wirklichkeit ein Punkt des Nichtwissens, ein Punkt, der essenziell leer ist, ein Nicht-Punkt, ein Mysterium.
DER MENSCH ATMET NICHT NUR LUFT in seine Lungen ein und aus, im übertragenen Sinn atmen wir jeden Moment aus der Quelle des Lebens ein, nehmen die uns schöpfenden Impulse (In-Formationen und Energie) auf. In alter Sprache bedeutet dies, wir empfangen den Segen. Mit jedem Atemzug gelangt kosmische Energie in uns hinein. Wir sind Teil der kosmischen Energie und aufs Innigste verbunden mit dem Energiefeld des ganzen Kosmos. Kosmische Energie ist freie Energie, die dem Aufbau, dem Erhalt und dem Umbau jedweder Struktur dient. Unsere Lebensprozesse sind ohne den ständigen Austausch mit der kosmischen Energie nicht möglich. Mit anderen Worten: Auch die Heilung einer Krankheit geschieht in Verbindung mit der freien Energie des Kosmos. Die kosmische Energie ist ein Kind des schöpferischen Lichtimpulses, der aus dem Urgrund jeden Moment hervorbricht – zeitlos, ewig. So atmen wir mit jedem Atemzug auch kosmisches Licht und freie Energie des Kosmos.
HANS-PETER DÜRR