Dr. Johannes Krafft, genannt »Joe the Butcher«, ist ein gebrochener Mann. Seit er seine Familie bei einem Unfall verlor, verdingt sich der brillante Chirurg als ambulanter Operateur für eine Organspende-Organisation. Ist es Zufall, dass in letzter Zeit immer mehr geeignete Spender sterben? Als ein alter Bekannter ermordet wird, beginnt Joe Fragen zu stellen.
Bald gerät er nicht nur selbst ins Visier der Ermittlungen, sondern auch ins Fadenkreuz der Gegenseite, die einen Skandal um jeden Preis vermeiden will. Doch im Kampf gegen die übermächtig scheinende Organspende-Mafia steht mehr auf dem Spiel als nur sein eigenes Leben. Wem kann Joe noch trauen?
Guido M. Breuer, geboren 1967 in Düren, machte zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann, bevor er Wirtschaftswissenschaften studierte. Anschließend war er viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Seit 2009 schreibt er Kriminalromane und Thriller. Er lebt und arbeitet in Bonn.
DAS
LAZARUS-
SYNDROM
Thriller
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ralf Reiter
Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Titelgestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Shutterstock: Fantom666 | Jamen Percy | Eky Studio
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2793-9
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Die Motoren des Helikopters dröhnten monoton, Lichtfetzen sickerten aus dem Cockpit nach hinten in den Passagierraum. So wirkte die Kabine düsterer, als wenn man gar nichts gesehen hätte. Joe empfand die Dunkelheit fast körperlich, sie klebte an ihm, ließ sich weder durch die flackernden Displays noch durch die beharrlichen Vibrationen des Triebwerks abschütteln.
Niemand unternahm den Versuch eines Gesprächs.
Das Begrüßungsgemurmel, unlustig aus müden Gesichtern herausgequält, war kurz nach dem Start verstummt. Joe war dankbar dafür. Er hasste unnötiges Reden, besonders bei einem nächtlichen Einsatz. Umso mehr, wenn er wie an diesem Abend zu wenig getrunken hatte. Über ein Hallo war er nicht hinausgekommen. Was hätte er auch sagen sollen?
Jedes Mitglied des Teams kannte das Flugziel. Alles Weitere würde man vor Ort sehen. Auf dem Plan stand eine Multiorganentnahme bei einer frisch verstorbenen Spenderin.
Da gab es nichts zu besprechen.
Joe starrte nach vorn. Seine Augen fühlten sich müde an, der Blick suchte beinahe zwanghaft die blauen und grünen Monitore in der gläsernen Kanzel. Er schloss die Augen, um zu prüfen, ob die kleinen Lichtflecken auch durch die Lider sichtbar waren. Irgendwie beruhigte es ihn, dass er sie nicht sah. Aber der Hörsinn wurde schärfer mit geschlossenen Augen; er vernahm neben dem Wummern des Doppelmotors der EC-135 nun das leise Blubbern der Rotorblätter. Er vermisste in diesen neuen Maschinen das harte Klopfen der Bell-212. Und er vermisste in diesem Augenblick einen guten Schluck Brandy. Er steckte die Stöpsel seines Handys in die Ohren, um etwas Musik zu hören. Er wählte Wagners Walkürenritt und stellte den Sound auf die maximale Lautstärke, um die Motoren zu übertönen. Als das Stück begann, schaute er aus dem Fenster. Draußen waren nur wenige Lichter am Boden zu sehen. Sie hatten Köln längst hinter sich gelassen und flogen nun über die Eifel. Gleich würden sie einen Ort namens Simmerath erreichen. Da gab es tatsächlich ein Krankenhaus. Joe hatte dort bislang noch keinen Einsatz gehabt, soweit er sich erinnern konnte. Er wusste nichts über das Haus und die dortige Einrichtung. Zum Sterben wird es allemal reichen, dachte er.
Sein Kollege Jörn bediente den HeliMap und bewegte dabei seine Lippen, als betete er für einen sicheren Flug. Um Kosten zu sparen, musste einer der Ärzte aus dem Entnahmeteam zusätzlich Flugpersonal-Funktionen übernehmen und beim Navigieren helfen. Diese Zusatzausbildung wollte Joe sich keinesfalls antun. Es hatte ihn auch keiner gefragt.
Joe the Butcher.
So nannten sie ihn. Aber niemals in seiner Gegenwart. Als wenn es ihm etwas ausmachen würde. Aber bei Joe passte man auf, was man sagte. Joe war nicht gut drauf.
Das stimmte. Zumindest wenn er nüchtern war. Der Gesang der Walküren nervte inzwischen. Irgendwie fand er Wagner immer dann so richtig gut, wenn kein Sänger den Mund aufmachte. Aber jetzt war es auch egal, denn der Helikopter setzte zur Landung an. Joe machte das Handy aus und nahm die Stöpsel aus den Ohren. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es gerade halb zwei war. Sie lagen gut in der Zeit. Wenigstens das, dachte er und riss die Tür auf. Zuerst kletterte Franzi aus der Kabine, dann Joe, Jörn als Letzter. Sie bewegten sich geduckt, als wenn sie von den vier Rotorblättern geköpft werden könnten.
Man erwartete sie schon. Und wie immer bemerkte Joe auch hier diese Blicke. Da kommen sie, glaubte er die Gedanken in den Gesichtern lesen zu können, da kommen sie, die apokalyptischen Reiter, die Leichenfledderer im Schutze der Verdunkelung.
Leise murmelte er: »Unsterbliche Seele, nimm dich in Acht, dass du nicht Schaden leidest, wenn du aus dem Irdischen scheidest; es geht der Weg durch Tod und Nacht.«
Der Weg führte das Ärzteteam direkt in den OP. Im Vorraum wartete die immer gleiche Prozedur auf sie, die Desinfektion und das Anlegen steriler Kleidung, während ihre Patientin noch vorbereitet wurde. Dann gingen sie hinein.
Die Spenderin lag auf dem Tisch. Mit einem Rundumblick erfasste Joe das Wesentliche. Das volle Monitoring war angeschlossen. Die Homöostase lief einwandfrei. Ein Blick auf den Boden sagte ihm, dass alles penibel sauber war, aber auch glatt, wie es bei normalen Operationen üblich und gewollt war. Es würde rutschig werden.
Joe musste dazu gar nichts sagen. Franzi übernahm das. Sie bedeutete der OP-Schwester, dass Matten auf dem Boden benötigt würden. Die Frau verstand das zuerst nicht. Franzi erläuterte ihr geduldig, dass Handtücher, Leinenzeug, was immer man hier auftreiben könne, zum Auslegen heranzuschaffen seien. Rund um den Tisch brauchten sie saugfähiges Material.
Joe schaute demonstrativ auf die Uhr. Mehr als zwei Minuten wollte er ihnen nicht geben.
Jörn prüfte Menge und Temperatur der bereitstehenden Perfusionslösung. Dann fragte er nach der Verfügbarkeit kalten Wassers. Der Anästhesist wies auf einen Schlauch, der an einer Wasserleitung angeschlossen war, und bestätigte, dass es maximal vier Grad Celsius hatte. Franzi nickte ihm zu und sagte etwas Freundliches, Aufmunterndes. Joe hörte nicht hin. Er war sehr dankbar, dass seine Kollegen die Kommunikation mit dem OP-Personal vor Ort übernahmen. Jörn und Franzi wussten das und taten alles, damit er nicht mit den Leuten reden musste.
Die Schwester kehrte mit einem Wagen des Reinigungsservice zurück. Darauf lagen saubere Bettlaken, Handtücher und ein paar OP-Kittel. Jörn legte mit Hilfe der Schwester das Material flach aus. So würden sie gleich in der Sauerei nicht ausrutschen.
Joe entschied, dass sie anfangen konnten. Jörn und Franzi waren bereit. Der Anästhesist überprüfte die Anzeigen und nickte Joe zu, die OP-Schwester reichte ihm das Skalpell. Die Spenderin lag friedlich da. Sie hatte ein hübsches Gesicht und einen jungen, sportlichen Körper. Bis auf das schwere Schädel-Hirn-Trauma war sie unversehrt. Die Brust hob und senkte sich im Rhythmus des Beatmungsgeräts. Der Tubus war über einen Luftröhrenschnitt platziert worden.
Joe setzte das Skalpell mit sanftem Druck unterhalb des Brustbeins an, und die Klinge tauchte ein ins Fleisch. Im Gesicht der Spenderin zuckte es leicht. Joe schnitt weiter. Der Anästhesist gab ihm ein Zeichen. Er sah es aus dem Augenwinkel, aber er hörte auch so die Warnsignale des Überwachungsmonitors. Der Körper reagierte. Plötzlich kamen ruckartig die Arme hoch. Joe wich reaktionsschnell aus und sprang weg vom Tisch. Das Skalpell ließ er in der Brust der Frau stecken. Sie fuchtelte wild. Die Schwestern wurden kreidebleich, eine schrie kurz auf, hielt sich dann die Hände vor den Mund.
Wut stieg in Joe auf. »Dilettantische Anästhesie!«, schrie er. »Verdammtes Dorfkrankenhaus, ich hätte es mir denken können! Amateure!« Er atmete schwer und sah sich um. Niemand ging das Risiko ein, seinen Blick zu erwidern. Das Piepsen des Monitoring und das seltsame Geräusch der künstlichen Beatmung kamen ihm in der nun einsetzenden Stille wie der Lärm riesiger Motoren vor. »Joe, reg dich ab«, sagte Jörn. »Wir wissen, dass so etwas immer mal passieren kann.« Dann wandte er sich an das OP-Team des Krankenhauses: »Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Das ist für uns alle sehr belastend.«
Langsam kam Bewegung in das Team. Die Spenderin zuckte immer noch. Ihr bleiches, eben noch so hübsches Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzerrt. Franzi redete auf den Anästhesisten ein. Eine hektische Diskussion begann. Er hatte nicht gewusst, dass er bei einer Hirntoten sowohl Muskelrelaxans als auch Vollnarkose geben musste. Er schien verstört. Jörn und Franzi mussten ihm helfen, den Fehler zu korrigieren.
»Verdammter Dreck«, sagte Joe. »Wir haben keine Zeit!«
Er ging wieder an den Tisch, gab der gefassteren der beiden OP-Schwestern einen Wink und bedeutete ihr, der Spenderin die Arme festzuhalten. Dann ging es weiter. Joe führte mit dem Skalpell einen Schnitt bis zur Schambeinfuge aus. Die Schwester musste hart arbeiten, um die Spenderin zu fixieren. Der Körper zuckte immer noch. Joe winkte die zweite Schwester heran.
»Klammern!«
Die Schwester trat näher, schien sich wieder im Griff zu haben und setzte die Klammer an. Joe machte einen weiteren Schnitt. Er beobachtete jede Bewegung des Körpers konzentriert und zischte leise: »Lazarus, bleib, wo du bist.«
Die beiden Schwestern sahen sich an. Joe kümmerte sich nicht um sie. Jetzt gab es nur noch ihn und den Körper dieser Frau. Die Narkose wirkte. Joe murmelte: »Mancher leider wurde lahm und nicht mehr nach Hause kam – streckt verlangend aus die Arme, dass der Herr sich sein erbarme!«
Jörn trat an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Joe, du machst den Mädels Angst. Rezitiere den Heine bitte leiser.«
Joe nickte stumm, ohne seine Konzentration von der Spenderin abzuwenden. Jetzt wurde es etwas einfacher. Er führte zwei weitere Schnitte aus. Die Schwestern setzten unter Jörns Anleitung die Klammern, um die Öffnung zu fixieren. Mit einer Handbewegung verlangte Joe nach der Knochensäge und durchtrennte schnell und sauber das Brustbein. Thorax und Abdominalraum lagen offen, wieder wurden Klammern gesetzt. Joe legte das Pericardium frei. Den Herzbeutel behandelte er ganz sorgfältig und registrierte erleichtert, dass das Herz einwandfrei schlug. Aorta und Hohlvene lagen gut zugänglich. Nun musste das Blut aus dem Körper entfernt werden. Jörn legte die Perfusionslösung an, Franzi bedeutete den Schwestern, kaltes Wasser in den offenen Körper zu füllen. Der weit aufgeklammerte Brustkorb bildete ein unheimliches Gefäß, das nach kurzer Zeit überlief. Die Schwestern stockten, doch Franzi bedeutete ihnen, weiter nachzufüllen. Joe arbeitete sich durch. Das Spenderherz schlug immer noch, die Perfusionslösung lief gut, hinein in die Aorta und wieder heraus aus der Vena cava. Halt durch, mein Mädchen!, dachte Joe. Es dauerte nur noch ein paar Momente, dann war alles Blut aus den wertvollen Organen gespült.
Der Absaug-Katheter arbeitete einwandfrei. Auf Joes Zeichen wurden die Maschinen abgeschaltet; der Anästhesist war sichtlich erleichtert.
Sie standen im Siff. Jeder Schritt patschte im eiskalten Gemisch aus Blut, Wasser und Perfusionslösung.
»So«, sagte Joe laut. »Die Drecksarbeit ist getan. Jetzt kommt die Chirurgie.«
Sie entfernten zuerst das Herz, und Jörn führte die Qualitätsprüfung durch. Er signalisierte, dass es geeignet schien für die Transplantation. Nun war noch größere Eile geboten. Das Herz wurde in eine mit Custodiol gefüllte Tüte befördert. Franzi achtete darauf, dass keine Luft darin verblieb; das ging sehr schnell. Die Blase kam in eine weitere flüssigkeitsgefüllte Tüte. Dann ab in den Kühlbehälter.
»Herz gesichert«, meldete Franzi.
Jetzt arbeiteten sie noch schneller. Jede Sekunde zählte. Alles musste frisch bleiben.
Joe schwitzte.
Es folgten Lunge, Leber, Nieren, Pankreas, am Schluss der Dünndarm. Alles in prächtigem Zustand.
Joe spürte plötzlich die Müdigkeit. Die Augen taten ihm weh. Früher hatte er zehn Stunden und mehr operieren können, auch die grellen Lampen hatten ihm nie etwas ausgemacht. Er verspürte das starke Verlangen nach einem Whisky.
Aber sie waren hier fertig. Der Körper war ausgeweidet. Den Rest konnten die Kollegen allein aufräumen. Das Team hatte keine Zeit; die Organe mussten nach Aachen. Joe wagte einen letzten Blick auf das graue, schmerzverzerrte Gesicht der Spenderin. Nein, dachte er und erinnerte sich an die Vorlesungen, die er als Professor gehalten hatte. Der Operateur muss seine Wahrnehmung rationalisieren. Das Antlitz eines Organspenders erscheint dem Laien nach der Entnahme nur schmerzverzerrt. Eine Auswirkung der Reflexe. Der Körper mag Schmerzen empfunden haben, der Verstand des Spenders nicht. Den gab es nicht mehr – per definitionem.
Joe murmelte: »Und ist man tot, so muss man lang im Grabe liegen; ich bin bang, ja, ich bin bang, das Auferstehen wird nicht so schnell vonstattengehen.« Noch immer sah er der Toten ins Gesicht.
Eine Schwester fasste ihn am Arm. »Herr Doktor Krafft?«
Joe wandte sich der Frau zu und starrte sie ausdruckslos an. Einen Moment schien er desorientiert, dann sagte er: »Ja, wir sind hier fertig. Raus aus dem Schlachthof.«
Er ging zum Ausgang, Jörn und Franzi folgten. Die OP-Schwestern und der Anästhesist blieben zurück. Sie schienen nicht recht zu wissen, was sie mit der blutleeren, kalten Leiche anfangen sollten. Das Entnahmeteam konnte sich darum nicht kümmern. Eile war geboten, der Helikopter wartete. Joe sah auf seine Uhr. Es war gerade fünf geworden. Sie zogen die Operationskittel aus, packten alle Organbehälter zusammen und liefen zum Hubschrauberlandeplatz.
Der Helikopter hob ab, kaum dass sie die Tür geschlossen hatten. Schnell verschwanden die Lichter des Hospitals. Noch ein paar Hausdächer, ein paar Baumwipfel, dann Leere.
Sie erreichten ihre Flughöhe, der Pilot steuerte die Maschine in nordwestliche Richtung.
Niemand sprach. Die Motoren pfiffen monoton. Joe schaltete das Handy ein. Er hatte in den letzten Stunden keine Anrufe erhalten. Hatte er denn einen erwartet? Einen kurzen Moment überlegte er, eine Musikkonserve auszuwählen, doch es fiel ihm nichts Passendes ein. Er atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. Seine müden Augen suchten den Horizont, dort, wo ein Strich sein müsste, der die Schwärze des Himmels von der Dunkelheit der Erde trennt. Vergeblich. Die Nacht erschien ihm als ein gedachter Raum im Navigationssystem. Die Rotorblätter gaben ihr monotones Blubbern von sich. Er betrachtete die beiden Kollegen. Jörn war wieder mit der Flugführung beschäftigt, Franzi saß mit geschlossenen Augen da. Ihr langes hellblondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, reflektierte matt die bunten Lichter, die aus dem Cockpit zu ihnen herüberflimmerten. Ihr Gesicht wirkte schmal, genau wie die aufeinandergepressten Lippen. Die Hände hatte sie auf die Organbehälter gelegt.
Joe murmelte leise: »Als ich nach Hause ritt, da liefen die Bäume vorbei in der Mondenhelle, wie Geister. Wehmütige Stimmen riefen – doch ich und die Toten, wir ritten schnelle.«
Ein grelles Licht, das von oben auf ihn herabschien, hatte ihn geweckt. Wenn er die Augen nur einen Spalt öffnete, blendeten ihn diese OP-Lampen. Warum wirkte die Narkose nicht? Auf dem Operationstisch sollte man eigentlich nichts mehr wahrnehmen. Joe hob eine Hand, um die Pupillen gegen die gleißenden Scheinwerfer abzuschirmen. Es ging, aber es war verdammt anstrengend. Scheiße, bin ich müde, dachte er.
Das Licht war seltsam. Natürlich und warm, wie Sonnenstrahlen. Ihm wurde nun bewusst, dass er noch gar nicht vollends erwacht war. Langsam dachte er geordneter. Die Sonne schien durch das Dachfenster. Die Strahlen fanden einen Weg zwischen Blättern und Taubendreck direkt in sein Gesicht.
Er drehte sich um und wollte sofort wieder einschlafen. Wenn da nur nicht dieser widerliche Geschmack in seinem Mund gewesen wäre. Er sammelte Spucke und schluckte. Grauenhaft. Als hätte er vor dem Zubettgehen den Vogelmist vom Fensterglas gelutscht. So konnte er nicht weiterschlafen. Er schob sich mühsam an die Bettkante und griff mit einer Hand nach unten. Da musste der Whisky stehen. Er bekam die Flasche zu fassen, doch so ungeschickt, wie er daran herumfummelte, kippte sie um. Bis zum Boden langte sein Arm nicht. Joe musste aufstehen. Es roch nach Alkohol. Er hatte, bevor er nach dem letzten Schluck eingeschlafen war, den Verschluss nicht zugeschraubt, und jetzt lief der Inhalt übers Parkett. Fluchend packte er die Whiskyflasche und richtete sie auf. Ein Rest war gerettet. Es reichte, um den Mund durchzuspülen.
Sein Blick fiel auf die Uhr. Es war halb elf. Er erinnerte sich, dass der Heli ihn gegen sechs an der Uniklinik abgesetzt hatte. Dann war er nach Hause gegangen und hatte noch etwas getrunken. Ziemlich viel, wie ihm nun auffiel, denn er hatte die Flasche Whisky frisch geöffnet. Und sehr groß war die Lache, die sich auf dem Boden gebildet hatte, nicht. Er rechnete nicht nach, aber die Nacht war definitiv zu kurz gewesen. Noch stärker als der Wunsch nach Alkohol war der Drang, sofort wieder einzuschlafen. Er legte sich hin und zog sich die Decke über den Kopf. Sie erschien ihm zu klein, hatte sich irgendwie verdreht. Die Beine und eine Schulter lagen nackt. Er bekam die Decke nicht mehr glatt gezogen, ohne erneut aufstehen zu müssen. Doch mit dem Gefühl, nur halb bedeckt dazuliegen, konnte er schwerlich einschlafen. Er fluchte, ohne die Lippen zu bewegen, und verließ das Bett endgültig.
Der erste Weg führte ihn zur Toilette. Nachdem er sich erleichtert hatte, wäre das Zähneputzen an der Reihe gewesen, aber er verspürte keine Lust dazu.
Sein Blick fiel auf die flache, mit weißer Streu gefüllte Kiste, und er fragte sich, wo die Katze war. Sie ließ sich nicht blicken, wusste wohl, dass seine Laune nicht die beste war. Kluges Tier.
Er tappte langsam zurück ins Wohnzimmer, in dem auch das Bett stand. Er wollte noch einen Schluck trinken und erinnerte sich beim Anblick der leeren Flasche, dass er keinen Whisky mehr hatte. Er versetzte dem nutzlos gewordenen Glasbehälter einen Tritt, dass er quer durchs Zimmer kullerte. Das Ding rollte ungleichmäßig und laut polternd übers Parkett, prallte gegen das Bücherregal und blieb nach kurzem Austorkeln liegen. Es sollte nun Stille herrschen, doch es polterte weiter. Und es war nicht nur der Kopfschmerz, der dieses Wummern verursachte. Jetzt erst hörte Joe, dass es an der Tür klopfte. Jemand rief, er solle aufmachen.
»Ach, Uli!«, schrie er zurück und erschrak über die Lautstärke seiner Stimme. Etwas leiser setzte er hinzu: »Wozu habe ich dir einen Schlüssel gegeben?« Er wiederholte es noch mal, während er zum Eingang schlurfte, und öffnete die Tür.
»Hallo, Uli«, sagte er.
Ulrike lachte ihn an, ihr rundes Gesicht war gerötet, vermutlich erhitzt vom Treppensteigen. Sie küsste ihn nur flüchtig, denn sie hatte Tüten in beiden Händen. »Ich hatte keine Hand frei für den Schlüssel«, sagte sie. Dann legte sie ihren Ballast auf dem Tisch ab und öffnete ein Fenster. Joe vermutete, dass die Luft ihr recht verbraucht vorkam. Frische Großstadtluft drang herein, eine Mischung aus Abgasen und Staub. Der Straßenlärm, den die Dreifachverglasung bis dahin wirksam am Eindringen gehindert hatte, flutete durchs Zimmer. Ulrike schien das nicht zu stören. Sie packte Brötchen aus und andere Sachen, von denen sie wusste, dass sein Kühlschrank sie nicht enthielt.
»Es ist Sonntag, du Langschläfer, die Sonne scheint herrlich über die Dächer Kölns. Lass uns gemeinsam frühstücken!«
Joe atmete tief durch. Ihre Betriebsamkeit war nett gemeint, ging ihm aber in diesem Moment gewaltig gegen den Strich.
Er kannte Ulrike seit ein paar Monaten. Sie schliefen ziemlich regelmäßig miteinander, aber Joe vermutete, dass sie weniger Zeit zusammen verbrachten, als sie sich wünschte. Er gab ihr so viel, wie er ertragen konnte. Dabei störte ihn eigentlich nichts an ihr. Sie war natürlich, hatte ein freundliches Gesicht, schwarze Locken, die ihr vorwitzig in die Stirn sprangen. Sie war, anders als er, viel an der frischen Luft und sonnengebräunt. Was sie wirklich sympathisch machte: Sie war eine unkomplizierte Handwerkerin, kerngesund, und sprach niemals über Krankheiten oder Medizin.
Während er noch nach einer Hose suchte, hatte sie bereits den Tisch zum Frühstück gedeckt. Sie wusste vermutlich, dass sie fast alles allein würde essen müssen, denn Joe aß nicht viel. Uli dagegen futterte ständig, man sah es ihr jedoch nicht an. Aber sie war auch immer in Bewegung. Sie hatte schon ein halbes Brötchen mit Leberwurst reingeschoben, als er sich zu ihr setzte. Der Geruch von Salz, Fett und Gewürzen, den diese rosige Paste verströmte, bereitete ihm Unwohlsein. Er nahm aber dankbar den Kaffee, den Uli gemacht hatte.
»Joe, iss doch was dazu«, sagte sie lächelnd zwischen zwei Bissen. »Du siehst aus, als könntest du etwas Vernünftiges vertragen.«
Er hatte keine Lust, das weiter zu erörtern. Stattdessen fragte er: »Musst du heute nicht arbeiten?«
Sie lachte. »Es ist Sonntag, du Schlumpf. Wir hatten ausgemacht, gemeinsam zu frühstücken, weißt du nicht mehr?«
Joe nahm noch einen Schluck von dem starken Kaffee. Es mochte schon sein, dass er die Verabredung vergessen hatte. Er kannte sich und wusste, dass das in letzter Zeit häufiger vorkam. Aber es störte ihn nicht. Er hatte für diesen Tag nichts anderes geplant.
Wie eigentlich jeden Tag.
Der Kaffee tat gut. Er hätte sich selbst vermutlich keinen gemacht. Es war also völlig okay, dass Uli da war. Außer dass er nicht gleich eine neue Flasche öffnen konnte.
Sie würde Ärger machen.
Joe stand auf. »’tschuldigung, muss mal aufs Klo.«
Auf der Toilette stellte er fest, dass er gar nicht musste. Es fiel ihm nun ein, dass er das eben bereits erledigt hatte. Doch er hatte das dringende Bedürfnis, sich kaltes Wasser über die Hände laufen zu lassen. Und weil er schon einmal am Waschbecken stand, putzte er sich auch die Zähne. Als er den Schaum aus dem Mund gespült hatte, betrachtete er sich im Spiegel. Dort sah er ein bleiches Gesicht. Die langen Koteletten, die er sich vor Jahren angewöhnt hatte, weil sie ihm einen verwegenen Ausdruck verliehen, ließen ihn nun noch hagerer erscheinen. Der dunkle Bartschatten gab seinem Konterfei etwas Müdes, Verbrauchtes, was durch die hohen Geheimratsecken noch verstärkt wurde. Joe fragte sich, was eine hübsche junge Frau dazu bewog, sich dieses Gesicht an einem sonnigen Sonntagmorgen anzutun.
Als er an den Frühstückstisch zurückkehrte, lief das Radio.
»Stell dir vor«, berichtete Uli. »Man hat im Münsterland eine Frauenleiche gefunden, die von oben bis unten aufgeschlitzt wurde. Wer tut denn bloß so etwas?«
Joe zuckte mit den Achseln. »Ich zum Beispiel.«
Uli sah ihn zweifelnd an. »Was meinst du? Ist das ein Scherz?«
»Nicht im Mindesten«, antwortete er. »Letzte Nacht habe ich den Körper einer jungen Frau geöffnet. Von oben bis unten. Man konnte sie aufklappen wie einen Umzugskarton. Ihr Herz schlug danach noch eine Viertelstunde weiter, bis ich es ihr entnahm. Aber das war in der Eifel, in Simmerath. Das in Münster war wohl ein anderer.«
»Joe, du bist ekelhaft! Das ist nicht witzig.«
Er zuckte noch mal mit den Achseln und entgegnete nichts darauf. Er war sich sicher, dass sie ihn bald verlassen würde. Er könnte es ihr nicht verübeln. Und würde nichts dagegen unternehmen.
»Ich bin so entsetzlich müde«, sagte er.
Etwas hatte sein Gesicht gestreift. Joes erster Gedanke war, dass er zum zweiten Mal an diesem Tag aufwachte.
Die Katze saß auf seinem Oberkörper und schnurrte so laut, dass es in seinen Eingeweiden vibrierte. Sie hatte wohl Hunger. Ihr Napf war vermutlich seit dem Vortag nicht aufgefüllt worden.
Vielleicht hatte Uli ihr aber auch etwas gegeben. Nun stand die Katze auf, die kleinen Pfoten drückten in seinen Bauch.
»Hey, das tut weh, du Mistvieh«, murmelte er. Sie kam seinem Gesicht noch näher, rieb den Kopf an seinem Kinn. Dann drehte sie sich um, mit hoch erhobenem Schwanz, sodass Joe direkt auf ihren Hintern schauen musste.
Mit einem Schubser seiner Hand war sie runter von ihm. Beleidigt sprang sie gleich ganz aus dem Bett.
Joe rief ihr zu: »Ach komm, nun tu bloß nicht so, als wenn du sauer wärst. Das bist du nämlich nicht!«
Sie tat unbeteiligt, wusste aber, dass sie gemeint war, auch ohne dass er sie beim Namen nannte. Das konnte er auch gar nicht, denn er hatte sich nicht gestattet, dem Tier einen Namen zu geben. Tote haben Namen, sie stehen auf Karteikarten. Wichtiger als die Namen sind die Bezeichnungen der Organe, die für die Entnahme vorgesehen sind.
Joe fand ganz entschieden, dass man lebenden Wesen nicht einfach einen Namen geben sollte. Die Katze war das Tier, das mit ihm in seiner Wohnung lebte. Wozu ein Name? Die Katze brauchte auch ihm keinen zu geben, um es mit ihm auszuhalten. Er war eben der Mensch, der ihr das Futter in den Napf gab und dem sie ihren Anus zeigen konnte, wenn er wehrlos und verkatert im Bett lag.
Einen Moment überlegte er, ob er nach Uli rufen sollte. Doch sie war sicher längst gegangen. Er erinnerte sich nicht mehr daran, aber es konnte gar nicht anders sein. Weshalb hätte sie bleiben sollen? Sie gehörte zu der Sorte Frauen, die leise verschwanden und Zettel schrieben. Er stand auf und ging in die Küche. Der Frühstückstisch war aufgeräumt. Wie er vermutet hatte, lag dort ein Stück Papier. Bevor er den Text las, den sie hinterlassen hatte, suchte er nach etwas Trinkbarem. Er verspürte in diesem Moment keine Lust auf Whisky oder Brandy. Lieber etwas Klares. Im Kühlschrank stand schwedischer Wodka. Er fand, dass dies ein reines Getränk war. Das ging immer. Er setzte die Flasche an und nahm einen großen Schluck. Die Katze hatte offenbar vergessen, dass sie schmollen wollte, und strich schnurrend um seine Beine. Dann las er ihr Ulis Nachricht vor: »Ruf mich an, wenn du ausgeschlafen und nüchtern bist.«
Er lachte leise. »Hast du das gehört? Ausgeschlafen und nüchtern. Sie will also niemals mehr etwas von mir hören oder sehen.«
Die Katze ließ sich nicht anmerken, ob sie ihn verstanden oder ihm auch nur zugehört hatte. Sie intensivierte jedoch ihr Schnurren.
»Schon klar«, brummte er. »Sie hat dir nichts gegeben. Warte.«
Er trank noch einen Schluck, dann stellte er die Flasche ab. Im Schrank fand er eine Dose Katzenfutter, die er herausnahm. Irgendwo musste der Fressnapf stehen. Vermutlich in der Ecke, in die das Tier nun lief. Joe folgte ihr. Und da saß die Katze und fraß aus einer gut gefüllten Schüssel. »Ach, hat sie also doch an dich gedacht?«
Er stellte die Büchse neben den Napf und ging zurück zu der Flasche Wodka. Die nahm er mit zu seinem Schreibtisch, wo er den Computer startete.
»Mal sehen, ob ich E-Mails bekommen habe«, murmelte er vor sich hin und nahm einen weiteren Schluck. Langsam begann er die Wirkung des Alkohols zu spüren. »Was ist?«, rief er in Richtung der Katze. »Ich kann in meiner eigenen Wohnung aus der Flasche trinken, was und so viel ich will!«
Er war nicht so betrunken, dass er eine Antwort erwartet hätte.
Er öffnete das E-Mail-Postfach. »Schau mal, da gibt es tatsächlich was für uns!«
Der jüngste Eingang kam von Dr. Susanne Friedrich. Er enthielt eine Einladung zu ihrem Geburtstag, den sie im Institut feiern wollte.
»Hör mal, Katze!«, rief Joe durch die Wohnung. »Hast du Lust – Momentchen, ich lese es dir vor – im Institut für medizinische Mikrobiologie und Hygiene mit Susi zu feiern? Nee? Ich auch nicht.« Joe kannte Susanne gut und mochte sie eigentlich gern. Sie hatte damals an seinem Lehrstuhl promoviert. Aber eine Feier, die aus einer Ansammlung von Ärzten bestand, erschien ihm geradezu hassenswert. Man würde ausschließlich über Medizin reden. Das ekelte ihn an.
Die nächste E-Mail kam von einem gewissen Robert Weber. Joe musste einen Moment nachdenken, bis er sich an den ehemaligen Kommilitonen erinnerte. Robert schrieb, er komme zu einem Symposium nach Köln, halte dort einen Vortrag und wolle ihn treffen. Joe prüfte das Datum seines Eintreffens. Das war erst morgen, deshalb klickte er weiter. Die nächste Eingangspost war eine Rechnung seines Internet-Anbieters. Schnell wechselte er zu der letzten ungelesenen Mail. Sie erinnerte ihn daran, dass er an diesem Abend mit Marc Decker und dessen Frau Isabel zum Essen verabredet war.
Er nahm noch einen Schluck Wodka. Die letzten beiden Treffen mit den Deckers hatte er, wenn er sich recht erinnerte, platzen lassen. Das konnte er ihnen nicht noch einmal antun. Immerhin war ihre Tochter sein Patenkind. Joe atmete tief durch und stellte die Flasche weg. Die Uhr des Computers zeigte achtzehn Uhr an. Wenn er so aussah, wie er sich fühlte, musste er unbedingt ausgiebig duschen, bevor er zu der Verabredung gehen konnte. Oder besser … er hatte noch genügend Zeit für einen Besuch im Schwimmbad.
Joe stand auf und begann, seine Badehose und etwas zum Anziehen für den Abend zu suchen. Währenddessen nahm er sich vor, sich gleich noch zu rasieren und bis zum Abendessen nicht mehr zu trinken.
»Hi, Joe, kommst du mich mal wieder besuchen?«
Joe erwiderte das Grinsen des ganz in Weiß gekleideten Mannes. »Ich komme nur wegen des Wassers, weißt du.«
Er ging an ihm vorbei zu der Treppe, die in den flacheren Bereich führte.
Der Bademeister raunte ihm zu: »Hast tüchtig getankt, oder? Pass bloß auf dich auf, ich habe keine Lust, mich nass zu machen.«
»Dann hast du deinen Beruf verfehlt, mein Freund. Noch etwas, das wir gemeinsam haben«, sagte Joe und stieg ins Becken.
Das Wasser kam ihm unangenehm kühl vor, obwohl er vorhin kalt geduscht hatte, um genau das zu vermeiden. Doch als er einmal komplett untergetaucht war und ein paar Schwimmbewegungen gemacht hatte, wurde es besser. Er hakte sich am Beckenrand ein, betrachtete die Szenerie und tat so, als wollte er jeden Moment einige sportliche Bahnen ziehen. Das kühle Wasser schwappte gegen Kinn und Oberarme. Er fragte sich, woher die Wellenbewegung kam. Die drei alten Frauen, die langsam und mit fast senkrecht nach unten hängenden Beinen durchs Becken trieben wie aufgeweichte Korken, konnten dafür wohl kaum verantwortlich sein. Joe fand, dass die Damen, so wie auch er selbst, gut in das Schwimmbad passten. Sie alle hatten bessere Zeiten gesehen und verwalteten nur noch einen Rest von Existenz. Joe besuchte dieses Bad seit Jahren regelmäßig, und ständig hatte er dessen Schließung erwartet. Selten waren mehr als vier oder fünf Personen anwesend, oft war er sogar ganz allein. Abgesehen von dem Bademeister, dessen Namen er nicht kannte. Der Mann hatte ihn einmal nach dem seinen gefragt, und er hatte ihn genannt. Vielleicht hätte er aus Höflichkeit auch nach dem Namen des anderen fragen sollen, aber er hatte es nie getan.
Ein neuer Gast erregte seine Aufmerksamkeit. Es war eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, schlank und hochgewachsen, dabei mit ansehnlichen Brüsten, über denen sich ein sportlicher Einteiler spannte. Sie duschte sich kurz ab und tauchte dann ansatzlos mit elegantem Startsprung ins Becken.
Joe hielt den Atem an, als wäre er selbst unter der Oberfläche verschwunden. Angespannt verfolgte er die kaum sichtbare, durch diffuse Lichtbrechungen verwischte Silhouette des delfinähnlichen Körpers. Nun glitt sie an ihm vorbei, immer noch unter Wasser, vorangetrieben durch geschmeidige, sehr sparsam ausgeführte Bewegungen. Dann schlug sie am Beckenrand an und tauchte auf. Sie zog sich an der Kante hoch, Wasser perlte an ihrem Leib herab. Joe schien es, als hätten Sauerstoff und Wasserstoff sich nur zu diesem Zweck in die flüssige Form vereinigt. Er spürte, wollte spüren, wie das Wasser ihre beiden Körper verband. Er fragte sich, ob sie das wohl genauso empfand, als sie ihn unvermittelt ansah. Er erwiderte den Blick so gelassen wie nur irgend möglich. Er war sich sicher, dass sie den Blickkontakt nach einem kurzen Moment abbrechen würde, aber sie tat es nicht. Die Spannung erschien ihm unerträglich. Während er sich vom Beckenrand abstieß, als hätte er das ohnehin gerade tun wollen, kam er sich wie ein schäbiger Feigling vor. Ein paar Meter glitt er, die Stoßenergie ausnutzend, durchs Wasser, streckte sich lang aus und begann dann mit möglichst kontrollierten Kraulzügen. So wie er es früher gekonnt hatte, als er noch Sport trieb, im Rhythmus eines Langstreckenwettkampfs. Schon nach der Hälfte der Bahn stellte sich Atemnot ein. Er kämpfte darum, die Schlagzahl unbeirrt beizubehalten, als wäre das für ihn völlig normal. Die Lungen verkrampften, wollten mehr Luft, als er ihnen zugestand. Endlich stieß er an. Betont lässig kam er hoch, atmete tief ein, aber so, als wäre er nicht kurz vor dem Ersticken. Er sah sich um, ganz beiläufig und wie gelangweilt.
Das Mädchen war fort.
Als Joe das Restaurant betrat, hatte er den Eindruck, dass die beiden schon seit geraumer Zeit auf ihn gewartet hatten. Er ging zu dem Tisch, an dem Marc und Isabel Decker saßen. Beide standen auf, als er sich ihnen näherte. Isabel trug wie immer ihre kurzen, glatten Haare streng gescheitelt. Eine Brille, die mit runden, dicken Gläsern ihr strenges Aussehen noch unterstrich, sowie die Jeans und eine schlichte Bluse trugen mit dazu bei, dass man sie für eine Chemielaborantin oder Ähnliches halten konnte. Sie war in der Tat eine promovierte Biologin, und keine schlechte, wie Joe wusste. Sie reckte ihm ihre Wange zum Kuss hin. Er hielt den Atem an, während er ihr kurz nahe kam, damit sie das Chlor in seinen Haaren roch und nicht etwa die Alkoholfahne. Marc reichte ihm die Hand über den Tisch hinweg.
Joe setzte sich. Als die Bedienung vorbeikam, hielt er sie auf. »Ach, bringen Sie mir bitte einen Ouzo.« An Marc und Isabel gewandt fügte er hinzu: »Ihr habt schon etwas zu trinken, wie ich sehe.« Auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagte Marc. »Wir waren nicht sicher, ob du uns nicht wieder versetzen würdest.«
Joe sah ihn an. Marc Decker war Mediziner wie er und in gewisser Weise sein Vorgesetzter. Er war als Koordinator der Deutschen Stiftung für Organtransplantation zuständig für Joes Einsätze. Die beiden kannten sich jedoch schon aus der Zeit, als Joe noch Professor und Leiter eines Transplantationszentrums gewesen war und Marc dort als Oberarzt gearbeitet hatte. Er gehörte zu der Sorte Mann, die immer jung aussah. Sein strohblondes, kurz geschnittenes Haar verstärkte den Eindruck noch. Joe konnte kaum fassen, dass er selbst etwas jünger war als Marc Decker.
»Nicht doch«, sagte er. »Ich bin froh, dass wir uns mal wiedersehen.« Er gab sich keine besondere Mühe, diese Aussage glaubhaft vorzutragen. Wesentlich freudiger bedankte er sich bei der Kellnerin für den Ouzo, den er sofort leerte, um einen zweiten zu bestellen. Die Deckers warfen sich einen vielsagenden Blick zu, der Joe als Säufer definierte.
Er registrierte das und meinte: »Was? Das ist ein griechisches Restaurant, da trinkt man so etwas. Wollt ihr vielleicht beim Wasser bleiben?«
»Das kommt darauf an, was wir essen«, antwortete Marc. Dann sprach er weiter: »Ist das nicht ein fantastisches Wetter in den letzten Tagen? So macht der Sommer doch Spaß, oder?«
»O ja«, fügte Isabel hinzu, um ein Gespräch in Gang zu bringen, was sie Joe offenbar nicht zutraute. »Die Rheinpromenade ist wunderbar, und in der ganzen Stadt kommt so richtig Straßencafé-Flair auf. Schade, dass wir draußen keinen Tisch mehr bekommen haben.«
»Ja, wirklich schade«, meinte Joe und griff nach dem Ouzo, den die Bedienung vor ihm abstellte. »Wirklich flott hier«, kommentierte er und kippte das Glas hinunter. Dann schüttelte er sich kurz. Ouzo war eigentlich gar nicht so sehr sein Fall, aber da er zu Hause nie welchen trank, hielt er es für eine sinnvolle Abwechslung.
»Und, wie geht’s dir so?«, fragte Marc. »Gibt’s was Neues?«
»Was soll es schon geben?«, fragte Joe zurück.
»Na ja«, meinte Isabel. »Hast du nicht seit einiger Zeit eine feste Freundin? Wie ist sie so? Lernen wir sie auch einmal kennen?«
Joe zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht, lohnt vermutlich nicht.«
Wieder tauschten die beiden einen Blick.
»Yvonne geht es übrigens sehr gut«, setzte Isabel das Gespräch schnell fort.
»Das ist schön«, sagte Joe, denn er wusste, dass es sehr unhöflich erschienen wäre, wenn er sich nicht für den Gesundheitszustand seines Patenkinds interessiert hätte.
»Wir sind auch sehr glücklich«, sagte Isabel. »Sie hat das neue Herz sehr gut angenommen. Natürlich muss sie Medikamente nehmen und ist noch etwas mitgenommen, aber das kennst du ja.«
»Sicher«, bestätigte Joe. »Ich kenne das.«
Die Bedienung trat wieder an den Tisch und legte ihnen Speisekarten vor. Joe hatte genug von dem Ouzo und bestellte einen doppelten Whisky. »Für gleich, zum Essen«, fügte er hinzu.
Da er keine Lust hatte, sich durch weitere private Belanglosigkeiten zu quälen, fragte er Marc: »Und, was gibt’s Aufregendes in der DSO?«
Marc sah ihn prüfend an. »Nun, wenn du schon fragst. Im Moment ist dein Auftritt bei der letzten Explantation Thema Nummer eins. Ein Arzt des Krankenhauses hat sich über dich beschwert. Er fühlte sich durch gewisse Äußerungen beleidigt.«
Joe machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kann ja nur dieser inkompetente Anästhesist gewesen sein. Hatte keine Ahnung, wie man eine Explantation sauber vorbereitet.«
»Joe«, versuchte Marc zu beschwichtigen, »du musst immer daran denken, du bist Spezialist.«
»Ach Scheiße!«, fuhr er auf. »Dieses Krankenhaus hat sich sehr gern von der DSO und Eurotransplant auf die Liste der teilnehmenden Einrichtungen setzen lassen, dann müssen sie auch wissen, wie es funktioniert. So ein Lazarus-Syndrom ist verdammt noch mal nicht witzig!«
»Ich weiß«, sagte Marc. »Hat sie sich sehr gewehrt?«
»Beinahe das volle Programm. Hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte mich nach meiner Telefonnummer gefragt.«
»O Gott«, unterbrach Isabel die beiden und klappte die Speisekarte zu. »Ich möchte ein Essen auswählen. Könnt ihr bitte über etwas anderes reden?«
»Schon gut.« Marc sah seine Frau um Verzeihung bittend an, dann räusperte er sich.
Joe wusste, dass jetzt etwas Wichtiges kam. Er überlegte, ob es Zeit war, die Toilette aufzusuchen und sich die Hände mit frischem, kaltem Wasser zu waschen.
Marc sagte: »Joe, nimm es mir bitte nicht übel. Aber wir«, er sah Isabel an, dann wieder Joe, »wir machen uns Sorgen um dich. Du siehst nicht sehr gut aus, und dieser Vorfall in Simmerath … nun ja. Vielleicht wäre es gut, du würdest etwas ausspannen. Mach Urlaub. Fahr mal weg. Oder genieße den Sommer am Rhein.«
Joe sah durchs Fenster nach draußen und schien sich nicht sehr für das, was Decker sagte, zu interessieren. Marc stockte, dann meinte er: »Joe, hörst du mir überhaupt zu?«
»Den Rhein genießen, natürlich.«
Marc schüttelte den Kopf. Isabel übernahm für ihn: »Lieber Joe, wir merken doch, dass es dir immer schlechter geht. Mit uns kannst du doch reden. Wir möchten, dass du glücklich bist.«
»Ich muss mal pinkeln«, sagte er und stand auf. Wieder tauschten die beiden Blicke. Joe war egal, was die Deckers sich dachten oder wollten. Schnellen Schritts suchte er die Toilette auf. Das Restaurant war eines der besseren in der Kölner Altstadt, die sanitären Räumlichkeiten waren entsprechend hell, sauber und freundlich. Es war niemand da. Er ging an ein Waschbecken und ließ das Wasser laufen. Es dauerte eine Weile, bis es richtig kalt wurde, dann hielt er die Hände unter den Strahl. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, warum die Deckers so besorgt waren. Sein Gesicht wirkte grau und alt, trotz der frischen Rasur. Er sah nicht aus wie dreiundvierzig, hatte nicht mehr viel gemeinsam mit dem gefeierten Wunderknaben, der er noch vor wenigen Jahren gewesen war. Facharzt für Viszeralchirurgie bereits mit Ende zwanzig, dann Unfallchirurgie, dann Transplantationsmedizin, gefeierter Lehrstuhlinhaber bereits mit fünfunddreißig.
Birgit war immer auf dem Boden geblieben, hatte sich von seiner Karriere nicht beeindrucken lassen. Sie hatte mehr Wert auf die Entwicklung ihrer beider Persönlichkeiten, ihrer Beziehung gelebt, hatte Kinder gewollt.
Was wussten die beiden da draußen am Tisch schon von ihm?
Joe spürte, wie Schweiß auf seine Stirn trat. Er benetzte sein Gesicht mit dem kalten Wasser, aber es half nichts. Seine Atmung beschleunigte sich, er versuchte das Tempo seiner Atemzüge zu kontrollieren, aber es gelang nicht. Das Gesicht im Spiegel kam ihm fremd vor, wie das eines Patienten, der auf dem OP-Tisch lag und den er noch nie zuvor gesehen hatte, ein Unfallopfer vielleicht. Er schlug mit der Faust gegen den Spiegel. Glas splitterte, seine Hand begann zu bluten. Er hielt sie unter den Wasserhahn und versuchte, die Splitter zu entfernen. Die Tür ging auf, und Marc trat herein. »Verdammt!«, rief er und war mit schnellen Schritten bei ihm. »Verdammt, Joe, was machst du denn?«
»Was ich mache?«, fragte Joe, dessen Atem plötzlich wieder langsamer ging. Dafür liefen ihm Tränen übers Gesicht. Er schämte sich, wurde wütend deswegen, konnte aber nichts dagegen tun.
Marc fasste ihn an der Schulter.
»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte er traurig.
Joe versuchte zu lachen, doch sein Weinen wurde dadurch nur heftiger, krampfhafter. »Was los ist?«, fragte er. Dann plötzlich versiegte der Strom der Tränen. Er atmete tief durch, um das Zittern aus seinem Körper zu drängen.
»Was los ist?« Seine Stimme war tonlos. »Was soll los sein? Ich dachte gerade an Birgit.«
»Ich weiß«, sagte Marc. »Ich muss auch oft an sie denken. Verzeih mir die blöde Frage, ich weiß doch genau, was los ist.«
Joe schüttelte den Kopf. »Du weißt, was los ist?«, sagte er nochmals mit einer Stimme, die Marc vorkommen musste, als käme sie von jenseits des zerbrochenen Spiegels. Er sprach weiter, als wäre Marc gar nicht da. »Du trinkst auf einer Feier mehr, als zum Autofahren gut ist, aber deine Frau ist ja dabei. Sie hat keinen Alkohol getrunken, denn sie ist schwanger. Sicher weißt du, dass sie ungern nachts auf unbekannten Straßen fährt, aber man kann sich auch anstellen. Sie fährt halt besonders langsam und vorsichtig. Du bist Arzt und hast ihr schon oft erklärt, warum es auch für Schwangere besser ist, sich im Auto anzuschnallen. Nun aber achtest du nicht so penibel darauf, denn du bist angetrunken und sorgloser als üblich. Manchmal nickst du ein, manchmal bist du halbwach und lotst sie durch das Gewirr dunkler Landstraßen, die sie nicht kennt.«
Marc packte ihn am Arm. »Lass doch.«
Joe schüttelte ihn ab und sprach weiter: »Irgendwo im Bergischen Land auf dem Weg nach Köln prallt das Auto gegen einen einsamen Baum. Du hängst plötzlich hellwach und nüchtern im Sicherheitsgurt. Sie ist nicht mehr neben dir. Du steigst aus und kümmerst dich um die Frau, die reglos am Boden liegt, herausgeschleudert aus dem Unfallauto. Du bist Arzt, ein sehr guter dazu, und du tust, was du kannst. Ihr Herz setzt aus, doch du kannst sie reanimieren. Lange dauert es, aber es gelingt. Dann rufst du die Kollegen vom Rettungsdienst. Jetzt erst realisierst du, dass dein ganzes Leben blutüberströmt am Straßenrand liegt. Du sprichst mit ihr, versuchst sie warm zu halten, überprüfst immer wieder ihre Vitalfunktionen. Dann der Hubschrauber, das harte Klopfen der Rotorblätter, ein Scheinwerfer fräst sich durch das Dunkel. Die Kollegen sind da, knapper Bericht der Sachlage, Flug ins Klinikum. Sie wird nicht wieder aufwachen.«
Seine Stimme erstarb.
Marc wusste nicht, was er sagen sollte. Schweigend untersuchte er Joes Hand und entfernte die letzten Splitter, soweit man sie mit bloßem Auge erkennen konnte. Die Blutung ließ bereits nach, es schien keinen tiefen Schnitt zu geben.
Joe blickte in den Spiegel und rezitierte: »Wenn du aber gar nichts hast, ach, so lasse dich begraben – denn ein Recht zum Leben, Lump, haben nur, die etwas haben.«
Die Tür ging auf, und ein Gast trat ein. Marc trocknete Joes Hand mit einem Papiertuch ab. »Geht’s wieder?«, fragte er.
Joe zuckte mit den Achseln. »Muss ja. Klar geht es. Ich hoffe, das Mädel hat den Whisky schon gebracht.« Er wandte sich zum Ausgang. Marc hielt ihm die Tür auf und begleitete ihn zurück zum Tisch, wo Isabel auf sie wartete. Joe war erleichtert, als er an seinem Platz das Glas entdeckte. Er griff danach und trank den Whisky im Stehen. Er wusste, dass er nichts würde essen können.
Die Katze lag regungslos auf dem Bett. Sie war wach, begrüßte Joe aber nicht, als er die Wohnung betrat. Sein erster Gang führte ihn zum Fressnapf. Er war völlig leer. Einen Moment lang kam es ihm vor, als ginge es seiner Katze ebenso wie ihm. Sie hatten beide mehr gegessen, als für ihr Wohlbefinden gut war. Doch dann verwarf er diesen Gedanken sofort wieder. Wie einsam musste man werden, um Trost in der Hoffnung zu finden, seiner Katze gehe es ähnlich wie einem selbst? Ein Blick auf das entspannt dösende Tier bewies, dass es sich wesentlich besser fühlte als er.
Joe brauchte unbedingt einen Veterano. Den hatte es im Restaurant nicht gegeben. Ein kurzer Griff in den Schrank, wo Brandy und Whisky standen. Ein Schreck stach ihn in die Magengegend. Es war nichts Braunes mehr im Haus. Er hatte vergessen, auf dem Heimweg Brandy zu kaufen. Joe verfluchte erst seine Vergesslichkeit, dann seine Sucht. Er maulte die Katze an: »Meinst du, ich wüsste nicht, dass ich ein Säufer bin?«
Sie nahm keine Notiz von ihm. Katzen waren für Selbstmitleid nicht zugänglich. Joe suchte den Wodka und fand ihn neben dem Computer, wo er die Flasche hatte stehen lassen. Der gute Schwede war widerlich warm geworden und schmeckte nach Fusel. Joe trank in großen Schlucken. Er wusste, dass er trank, um sich noch schlechter zu fühlen. Warmer Wodka kam ihm da gerade recht. Er dachte an seinen Vater, der zuletzt billigen Cognac aus Wassergläsern getrunken hatte. Von einem Tag auf den anderen hatte er mit dem Trinken aufgehört, und die Entzugserscheinungen hatte er nicht überlebt.
»Prost, Papa«, murmelte er und setzte die Flasche zu einem weiteren Zug an. Es schüttelte ihn; der letzte Schluck blieb ihm beinahe in der Kehle stecken. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, der vor dem Computer stand, und bewegte die Maus, um den Bildschirm zu aktivieren.
»Herzlichen Glückwunsch, Herr Doktor Krafft«, murmelte er. »Sie haben Post.«