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Für den neuen Stern am Himmel – du scheinst schöner und trauriger als alle anderen.

PROLOG

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»Lauf!«, schrie sie. »Lass mich zurück!«

Ihre Worte schnitten wie Messer in seine Haut. Sie waren so undenkbar, so unmöglich, dass sich sein Kopf ganz von allein schüttelte. Schwankend verweigerten seine Beine ihre Arbeit. Statt zum Eingang des Tunnels trugen sie ihn zurück zu ihr. Kaum zehn Meter entfernt war sie gestürzt, einfach so, über eine Wurzelschlinge im Boden oder die Angst in ihren Knochen.

Als sie ihn kommen sah, funkelte sie ihn mit verzweifelter Wut an. »Was tust du? Du musst ihn finden, Jesper, hörst du? Du musst ihn finden und es ihm sagen! Und dann musst du mich vergessen.«

Vergessen? Das war unmöglich! Um sie zu vergessen, müsste er seine Schädeldecke öffnen und sein Gehirn in ihre Hände legen, bevor er sich auf den Weg durch den Tunnel machte.

Er kniete sich zu ihr in das Gras, sah ihren Knöchel, der auf die Größe eines Tennisballs angeschwollen war, und wusste, dass ihr Weg hier vorbei war. Sanft strich er über die Verletzung, und obwohl seine Finger kaum ihre Haut berührten, zuckte sie vor Schmerzen zusammen.

Plötzlich hörten sie wütende Rufe. Wildes Getrampel, die Erde unter ihnen vibrierte. Panisch blickte sie sich um. Hummels. Sie waren gekommen, um sie aufzuhalten.

Doch die Exekutive interessierte ihn nicht. Er betrachtete die junge Frau am Boden, beobachtete ihre Züge, die ihm inzwischen so vertraut waren und seinen Puls beschleunigten.

Als sie zu ihm aufsah, hatten sich ihre Pupillen vor Furcht geweitet.

»Lauf!«, schrie sie wieder und stieß ihn von sich. »Jesper, bitte! Sie kommen!«

Nun sah auch er in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Trotz des Dämmerlichts der anbrechenden Nacht, trotz des Nieselregens, der die Sicht verschleierte, konnte er sie sehen. Ein halbes Dutzend Hummels kam auf sie zu, immer näher, immer schneller. Die plötzliche Dringlichkeit, der Impuls zu flüchten, machte ihn nervös. Aber er blieb bei ihr.

»Bitte! Tu es für mich, hörst du?« Sie wusste, dass ihn das überzeugen würde. So gut kannte sie ihn inzwischen.

Er nickte, er hatte sich seinem Schicksal ergeben.

»Ich liebe dich«, wisperte er. Zum ersten Mal. Dann sprang er auf und rannte los. Sofort spürte er die Reue in seinem Inneren brennen, sie zum Abschied nicht geküsst zu haben.

Als er den Tunnel erreichte, drehte er sich noch einmal um. Zwei Hummels hatten sie unter den Armen gepackt und schleppten sie davon. Sie wehrte sich trotz ihrer Verletzung, schlug um sich, bis zwei weitere Hummels kamen, um sie zu bändigen. Andere Hummels rannten auf ihn zu, immer näher. Er musste weg und zwar schnell. Auch wenn es ihm das Herz brach. Sie vertraute ihm, ihre ganze Hoffnung lag auf ihm. Er würde sie nicht enttäuschen.

Der dunkle Tunnel, wie der Schlund eines hungrigen Tieres, erwartete ihn.

KAPITEL 1

CRISH HEVANS

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Der kühle Wind streifte seine Beine und die Gräser kitzelten seine Waden, als er über die Wiese mit dem hüfthohen Gras rannte. Er lachte vergnügt, er wusste, dass sein Vater ihn jagte, und es bereitete ihm einen Heidenspaß. Seine tapsigen Füße waren noch nicht ganz sicher, aber er merkte, dass er immer selbstbewusster wurde. Hinter sich hörte er seinen Vater wie einen Löwen brüllen und Crish kreischte ausgelassen. Eine seltsame Mischung aus aufgeregter Angst und fröhlicher Vorfreude breitete sich in seiner Brust aus und begeistert versuchte er, noch schneller durch die Grashalme zu fliehen. Immer wieder wurde das Kitzeln um seine Knöchel und seine Waden zu einem scharfen Brennen, aber das gehörte dazu. Seine Mutter würde später die dünnen Schnitte versorgen.

Er hörte seinen Vater dicht hinter sich und konnte es kaum erwarten, endlich von ihm eingefangen zu werden. Denn darin bestand der eigentliche Spaß. Und schon waren sie da, starke Arme schlossen sich um seinen Körper und rissen ihn in die Höhe. Crish kreischte auf, vor Schreck und vor Begeisterung.

»Jetzt hab ich dich!«, rief sein Vater ausgelassen, während er Crish durch die Luft wirbelte, sich mit ihm drehte und ihn dann hochwarf, als wäre er eine Taube, die davonfliegen sollte. Doch er flog nicht davon, die Schwerkraft holte ihn zurück in die Hände seines Vaters, die ihn auffingen. Wie sie es immer taten. In einer innigen Umarmung drückte er lachend seinen Sohn an seine Brust.

Als sie beide schwer atmend wieder mit den Füßen auf der Wiese standen, strahlten sie einander an. Crish liebte seinen Vater sehr.

»Noch mal!«, juchzte er mit hoher Stimme.

Sein Vater warf den Kopf zurück und lachte. »Einverstanden. Wer soll ich diesmal sein?«

Nachdenklich kratzte sich Crish an der Wange, dann hatte er eine Idee. »Dieses Mal bist du ein Monster, das mich jagt, weil es mich fressen will!«

Plötzlich packte sein Vater ihn an den Schultern. Grob, aber nicht fest genug, um ihm wehzutun. »Sag so etwas nicht, hörst du? Niemals!«

Crish sah seinen Vater erschrocken an. So ernst, beinahe wütend, hatte er ihn noch nie erlebt. Tränen sammelten sich in seinen Augen. »Papa, was ist denn los? Hab ich was falsch gemacht?«, schluchzte er. Ob sein Vater ihn wohl jetzt noch lieb hatte?

Der Ausdruck im Gesicht seines Vaters wurde weicher. »Alles gut, Liebling«, sagte er sanft, während er Crishs Schultern losließ und in eine erneute Umarmung nahm. Crish ließ sie zu, doch er wusste nicht, ob er seinem Vater glauben konnte.

»Es ist nur … Ich will kein Monster sein, verstehst du? Monster machen mir Angst«, versuchte sein Vater zu erklären.

Crish löste sich aus der Umarmung und sah ihn aus großen Augen an. »Heißt das, es gibt sie wirklich?«

Etwas Dunkles legte sich über das Gesicht seines Vaters. Ein dunkler Schleier, der seinen wahren Gemütszustand verbarg. »Ach, Liebling. Du bist noch zu klein, um das zu verstehen.« Seine Stimme war tiefer als sonst, die Vibration darin verursachte Crish eine Gänsehaut.

»Wirst du es mir irgendwann verraten, Papa?«, flüsterte er. Leise zu sprechen erschien ihm angemessen. Vielleicht, damit die Monster ihnen nicht zuhören konnten.

Sein Vater wiegte nachdenklich den Kopf hin und her, doch Crish hatte die Vermutung, dass er nur so tat, als würde er nachdenken. Denn den Kopf zu wiegen – so hatte Crish herausgefunden –, war nicht notwendig, um die Gedanken in Bewegung zu setzen.

»Mal sehen«, sagte er. Kurz war da wieder dieser dunkle Schleier, doch dann lichtete er sich und legte ein Schmunzeln dahinter frei.

Crish traute dieser zurückgekehrten Unbekümmertheit nicht. Sie fühlte sich verkehrt an. »Alles okay, Papa?«

Die Hände auf seinen Schultern waren dieses Mal sanft und leicht. Kein Gewicht, das ihn niederzudrücken versuchte. »Solange ich dich habe, wird es mir immer gut gehen. Aber über Monster reden wir nie wieder. Einverstanden?«

Crish zögerte, dann nickte er eifrig.

Sein Vater zog ihn in eine weitere Umarmung. »Ich werde dich immer liebhaben, mein Schatz«, flüsterte er neben seinem Ohr.

Vielleicht, damit die Monster ihn nicht hörten.

***

»Crish? Crish, bist du wach?«

Mühsam schlug Crish die Augen auf. Sofort umschloss ihn die Dunkelheit, kaum heller als die Innenseiten seiner Lider. Von irgendwo weither brach spärlich Licht zu ihm durch und langsam konnte er das Gesicht vor sich ausmachen. Ebenmäßige Züge, das viel zu lange blonde Haar, zwei verschattete grüne Augen, die trotz der Finsternis funkelten und Furcht widerspiegelten. Asher. Ein warmes Kribbeln belebte seine Brust, seinen Bauch, krabbelte weiter bis in seine Arme und Beine und hinterließ ein scheues Lächeln auf seinen Lippen. Solange Asher bei ihm war, würde alles gut werden.

Mit diesem Gedanken kehrten die Bilder aus seinem Traum zurück und das wohlige Gefühl verwandelte sich in Unbehagen. Sein Traum … Lange Zeit hatte Crish das Gespräch mit seinem Vater zwischen den wehenden Gräsern vergessen. Doch nun war die Erinnerung wieder da und brachte seinen Verstand in Unruhe. Der Nebel lichtete sich und jetzt, Jahre später, begriff er, dass sein Vater damals versucht hatte, ihm etwas zu sagen. Nur ein paar Monate später war er verschwunden, einfach so, und erst die heutige Begegnung brachte die hässliche Wahrheit darüber zum Vorschein.

Wie ein Film lief die Begegnung mit der Kreatur, die nun sein Vater war, vor ihm ab und ließ ihn blind werden für die Dunkelheit. Erneut durchlebte er den Schock, als er hinter den milchig-blauen Augen und dem zerfurchten, entstellten Gesicht die Züge des Mannes erkannte, der ihn die ersten sechs Jahre seines Lebens behütet und geliebt hatte. Er war nun ein Waehrner. Nicht verschwunden. Nicht tot. Aber ein Monster.

»Crish, bist du wach?« Wieder Ashers Stimme. Crish kehrte in die Gegenwart zurück und versuchte, sich zu orientieren. Dunkelheit. Er lag auf einem harten Untergrund, Stein und Kies. Der Tunnel. Über ihnen das tosende Meer, das hier unten stumm zu sein schien. Er war auf der Flucht. Auf dem Weg zur Atominsel. Wenn Asher sich irrte, würde ihre Haut bald Blasen werfen. Crish versuchte, sich zu bewegen. Nichts tat weh, das war gut. Sein Kopf lag erhöht auf etwas, das weich und fest zugleich war. Ashers Schoß? Mit einmal wurde er sich Ashers Hände bewusst. Die eine lag auf seinem Kopf, strich sachte über sein Haar. Mit der anderen hielt er die seine. Wie lange schon? Er wünschte, er wäre früher erwacht, damit er diese Vertrautheit länger hätte auskosten können. Doch nun musste er sich bewegen. Sein Körper verlangte danach.

»Asher«, krächzte er und erschrak bei dem Klang seiner heiseren Stimme. Er hatte geschrien, er erinnerte sich. Langsam setzte er sich auf. Asher zuckte zusammen und zog seine Hände zurück.

»Scheiße, Crish! Du hast mir echt Angst gemacht! Ich dachte, du wachst nicht mehr auf.«

Langsam spürte Crish wieder seine Muskeln. Sie fühlten sich müde an und brannten, aber zum Glück war das auch schon alles.

»Tut mir leid!« Seine Stimme hörte sich schon wieder fast normal an. Angestrengt suchte er nach Bildern von den Ereignissen nach der Begegnung mit seinem veränderten Vater und rieb sich die Stirn. »Was ist passiert?«

»Keine Ahnung! Ich hab dich mitgezerrt, solange ich konnte. Du warst völlig durch den Wind. Und irgendwann bist du einfach zusammengeklappt.«

»Tut mir leid«, sagte Crish abermals. Ihm fehlte jegliche Erinnerung an die Geschehnisse und das machte ihm Angst. Hilflos sah er sich im Tunnel um. In der Dunkelheit gab es nur wenig zu sehen. Beengende Wände, Kiesboden und Schienen, die noch tiefer in den Schlund der Ungewissheit führten.

»Was war denn das zwischen dem Waehrner und dir?«, fragte Asher und Crish sah ihn wieder an.

»Weißt du noch, was ich dir über meinen Vater erzählt habe?«

»Natürlich.«

Crish schluckte, bevor er die Worte aussprach, die sein Verstand noch nicht ganz erfasst hatte. »Der Waehrner … das war er

Asher runzelte die Stirn. »Was heißt das war er

»Das war mein Vater«, sagte er. Vielleicht halfen ihm die Worte, das Geschehene zu begreifen. Gesprochene Worte verliehen den Gedanken mehr Wahrheit.

»Bist du dir sicher?«

»Du hast doch gesehen, wie er gezögert hat, mich anzugreifen. Ich glaube, er hat mich erkannt.«

Asher legte seine Hand auf Crishs Bein. Eine inzwischen vertraute Geste, die Crish trotzdem jedes Mal in kribbeliges Erstaunen versetzte.

»Möchtest du, dass wir zurückgehen?«

Crish dachte kurz über den Vorschlag nach, doch was würde ihm eine Rückkehr schon nützen?

»Nein. Er wird mir sicher nicht sagen können, was mit ihm passiert ist. Wir …« Wir. Dieses kleine Wort fühlte sich in dem ganzen Chaos gut an. »… wir sollten uns an unseren Plan halten.« Crish senkte den Blick. »Danke trotzdem«, fügte er hinzu.

Asher sah ihn prüfend an, dann stand er auf. »Hör auf damit, hörst du?«

»Was meinst du?« Auch er wäre gern aufgestanden, doch er fühlte sich noch zu schwach, um auf die Beine zu kommen.

»Ich meine, dich für solche Dinge zu bedanken.«

Asher sah sich im Tunnel um, doch Crish war klar, dass er bloß seinem Blick auswich.

»Wieso?«

Asher wandte sich ihm zu und streckte eine helfende Hand aus. Crish nahm sie dankbar an.

»Weil sie selbstverständlich sind«, sagte er und half ihm auf die Beine.

Als sie sich gegenüberstanden, explodierte eine Vielzahl verrückter Bilder vor Crishs Augen. Spannende, aufregende Bilder, die ihn nicht nur neugierig machten. Sie machten ihm auch Angst. Schnell ließ er die Nähe zu Asher abreißen, vertrieb die verrückten Gedanken und tastete sich vorsichtig in der Dunkelheit voran. Es war an der Zeit, endlich aufzubrechen. Obwohl er daran zweifelte, auch nur einen Schritt zu schaffen, trugen ihn seine Beine Stück für Stück weiter. Sofort war Asher an seiner Seite.

Während sie blind in die Dunkelheit eintauchten und das Licht hinter sich ließen, hing Crish seinen Gedanken nach. Er und Asher hatten diese verwirrende Situation zwischen ihnen nie geklärt, die Dinge nie offen ausgesprochen. Crish hatte ihm nie von dem Prickeln auf seiner Haut erzählt, wenn sie einander berührten. Oder von seiner Nervosität, wenn Asher ihn ansah, von seinen Glücksgefühlen, wenn er seine Aufmerksamkeit bekam. Niemals hatte er ihm verraten, dass er nachts von ihm träumte und er Sehnsüchte in ihm weckte, die es eigentlich gar nicht gab. Und Asher? Was war, wenn Crish sich geirrt hatte? Wenn die Andeutungen, die er gemacht hatte, nicht bedeuteten, dass er diese unnatürlichen Gefühle teilte?

Was gäbe er darum, nur einmal einen Blick in Ashers Kopf zu werfen, oder in sein Herz oder wo auch immer die Antwort zu finden war, wie er empfand.

Je tiefer sie in den Tunnel vordrangen, desto dunkler wurde ihr Weg, bis sie schließlich nichts mehr sahen. Ihre Schritte wurden zögerlicher und Crish ertappte sich dabei, wie er seine Hände nach vorne streckte. Die irrationale Angst, gegen eine Mauer zu laufen, die plötzlich aus dem Boden wuchs, bedrängte ihn mit ihren kalten Fingern. Oder war das die plötzliche Kälte im Tunnel? Er spürte sie auf seiner Haut, hörte Asher, der keine Jacke trug, mit den Zähnen klappern. Doch Crish fror nicht. Kurzentschlossen streifte er seine Jacke ab.

»Hier, nimm die«, sagte er und hielt sie blind in Ashers Richtung. Ein spitzer Schmerz zuckte durch seine Rippen. Crish musste sich zusammenreißen, um nicht nach Luft zu schnappen.

Seine Tabletten!

Er hatte sie längere Zeit nicht mehr eingenommen – zuletzt vor dem Schlafengehen vor mehr als zehn Stunden. Was jedoch viel schlimmer war: Er hatte vergessen, die Packung mit den Wunderpillen einzupacken.

Das war übel.

»Was ist mit dir?«, fragte Asher, als er die Jacke ertastete.

»Mir ist nicht kalt.«

»Ehrlich nicht?« Asher klang verblüfft.

»Nun nimm sie schon«, drängte Crish.

»Danke.«

Crish stupste ihn mit dem Ellenbogen an. »Hör auf, dich für etwas zu bedanken, was selbstverständlich ist.«

Es war ein Jammer, dass er es nicht sehen konnte, aber er wusste, dass Asher schmunzelte.

KAPITEL 2

KAYLANA VLINDER

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Sie würden Kaylana nicht kleinkriegen. Niemals. Nicht mit Dunkelheit, nicht mit Kälte oder Schmerz, und schon gar nicht mit Scham. Die ihr auferlegte Schande empfand sie ohnehin nicht. Sie hatte nichts Falsches getan – vom Gesetz her zwar verboten, ja, aber in diesem Land gab es unzählige schwachsinnige Verbote und Gesetze. Was sie getan hatte, war nicht verwerflich, nicht in ihren Augen. Dennoch wurde sie wie eine Schwerverbrecherin auf dem Marktplatz ausgestellt, einen Sack über dem Kopf, den Hals in einer Schlinge. Mit seitlich ausgestreckten Armen, die an Seilen in der Luft hingen, barfuß und auf Zehenspitzen, nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet. Die Kälte der Nacht nagte an ihrer Haut, die Muskeln in ihren Armen zitterten vor Schmerz, ebenso wie ihre Beine. Wie lange konnte sie noch stehen, ehe ihre Knie nachgaben oder die Fußgelenke wegknickten? Das Seil würde sich um ihren Hals ziehen, ihre blinden Augen aus den Höhlen treten, ihr Zungenbein brechen, bis das Leben aus ihrem Körper geflüchtet war. Gehörte das zum Plan der Regierung? Lautete das Urteil denn nicht eigentlich Tod durch Verdursten? Die Regierung machte sich durch diese Maßnahme unglaubwürdig, auch wenn diese erniedrigende Darbietung ihres Körpers zu der Gnadenfrist ihres Urteils gehörte …

Die Leute, die an ihr vorbeigingen, bedachten Kaylana mit Schimpfworten, spuckten sie an oder – wenn sie weniger obsessiv hassten sahen ihren entblößten Körper an, als hätte er diese quälende Demütigung verdient. Kaylana bemerkte ihre Blicke, sie durchbohrten sie, sie spürte die Abneigung der Menschen und wusste genau, was sie dachten.

Zum Glück hänge ich da nicht. Sie hat selbst Schuld, sie hat es nicht anders verdient.

Es war einfach, so zu denken, das wusste Kaylana. Hätte ihr Leben nicht eines Tages diese Wendung genommen, vielleicht hätte auch sie sich mitzerren lassen von den auferlegten Werten der Gesellschaft. Dann wären dies vielleicht auch ihre Gedanken und ein anderer Körper würde an ihrer Stelle auf dem Marktplatz präsentiert werden. Doch es war, wie es war, und Kaylana empfand nichts als Verachtung für die Ignoranz der Menschen, die sie für etwas hassten, was nur die Regierung hassenswert gemacht hatte. Niemand hörte Kaylana zu, nicht einmal bei ihrer öffentlichen Verhandlung.

Der ganze Prozess war eine Farce gewesen.

»Kaylana Vlinder, erklären Sie sich gemäß der Anklage des unerlaubten Kontakts zu Personen aus einer Fremdliga – in Ihrem Fall Derron Pollak aus Liga 3 – für schuldig?«, hatte einer der Liga-Führer sie gefragt.

Kaylana hatte ihm fest in die Augen gesehen, keine Angst, kein Bedauern, kein Respekt. »Ja, ich habe mich in Liga 3 aufgehalten. Und ja, ich habe Kontakt zu Derron Pollak. Er ist mein Freund. Obwohl ich die Gesetze als unmenschlich erachte, habe ich dennoch versucht, mich an die Gesetze zu halten, die ich weder respektiere noch akzeptiere. Dass es trotzdem zu unangemessenem Körperkontakt kam, war ein Versehen.«

Das Publikum auf dem Marktplatz hatte gepfiffen und gebuht. Niemand von ihnen war hier, weil er es wollte. Jeder Einzelne war mit einem Brief dazu aufgefordert worden, dieser Verhandlung beizuwohnen, und es drohte eine Strafe, sollten sie der Aufforderung nicht nachkommen. Sie waren also hier, weil sie mussten, und doch verhielten sie sich so. Weil es von ihnen erwartet wurde.

»Es interessiert doch ohnehin niemanden, was ich denke. Was ich denke über diese unmenschlichen Gesetze und unsere oberste Instanz der Staatsgewalt. Bradian Muerfie, der sich wie ein Feigling in seinem Loch versteckt und weder Ehrfurcht noch Entgegenkommen verdient.«

Von den Zuschauern war ein entsetztes Zischen zu hören gewesen, als hätten alle gleichzeitig schockiert Luft eingesogen. Dann hatten sie zu tuscheln begonnen. Sie hatten Kaylana gehört, aber niemand verstand sie. Die Mitglieder der Liga-Führer verschlossen ihre Ohren vor den Worten einer Straftäterin.

»Vielleicht zeigt Ihnen eine Nacht der Angst Ihre Fehler auf. Und vielleicht stellen Sie sich in Ihren letzten Stunden selbst die Frage, ob es sich gelohnt hat, mit gespaltener Zunge zu reden, Kaylana Vlinder.« Das waren die letzten Worte gewesen, die sie aus den Reihen der Liga-Führer zu hören bekommen hatte.

Meinten sie damit die Angst vor dem Tod? Glaubten die Regierung, die Exekutive und Bradian Muerfie in seinem Versteck tatsächlich, dass sie Kaylana damit kleinkriegen würden? Hatte Kaylana Angst vor dem Tod? Die Wahrheit war, dass sie die Alternative ihrer Strafe, die Gnadenfrist ihres Urteils, viel mehr fürchtete. Eine Ehe sollte ihre Rettung sein, eine perfide Methode, um sie unter Kontrolle zu haben. Kaylana wusste, was für Männer sich dazu bereit erklärten, eine fremde Straftäterin zu heiraten: Witwer, die ihre Liebe gefunden und wieder verloren hatten, im Grunde bemitleidenswerte alte Menschen, die nicht in Einsamkeit dahinvegetieren wollten. Doch das war nur die eine Seite. Vielen, wenn nicht sogar den meisten, ging es um etwas anderes. Körperliche Bedürfnisse waren ihr wahrer Antrieb. Kaylana würde sich eher ein Messer in die Halsschlagader rammen, als sich gegen ihren Willen in das Bett eines Witwers zerren zu lassen. Ihr Tod war also nur eine Frage der Zeit und der Methode. Langsam und sauber mit dem Kopf in der Schlinge oder schnell und blutig mit der Klinge im Hals – für sie machte es kaum einen Unterschied.

Sie musste an Derron denken. Er verdiente das alles nicht. Sein Prozess hatte zeitgleich in Liga 3 stattgefunden, doch seine Chancen auf Freispruch waren noch geringer gewesen als ihre. Ein guter Verteidiger hätte Derron als Opfer einer skrupellosen Ligatouristin mit einschlägigem Vorstrafenregister hingestellt. Doch Kaylana wusste, dass sich die Pflichtverteidiger aus Liga 1 nie große Mühe gaben. Der ihre hatte es auch nicht getan. Sie war ihm egal gewesen und hatte nicht einmal seinen beruflichen Ehrgeiz wecken können.

»Sie ist doch nur ein dummes Mädchen, das es nicht besser weiß«, war das Hauptargument ihres Verteidigers gewesen. Doch niemand der Liga-Führer kaufte ihm das ab.

Kaylana hoffte, sie würde noch erfahren, was aus Derron geworden war, auch wenn die Wahrheit sie womöglich quälen würde. Sie ertrug die Vorstellung nicht, schuld an seinem Schicksal zu sein.

Kaylanas Gedanken kamen schlagartig zum Stillstand. Jemand war vor ihr stehen geblieben und beobachtete sie eingehend, sie konnte es spüren. Dafür brauchte sie keine Augen, der Blick war so intensiv wie eine ungewollte Berührung. Eine Gänsehaut überzog ihren bloßgelegten Körper, etwas, was die Kälte der Nacht schon seit Stunden nicht mehr schaffte. War es einer der Hummels, der sie bewachte? Oder war es ein Witwer, der das junge Fleisch seiner potentiellen Braut begutachtete? Noch hatte er einige Stunden Zeit, sich zu entscheiden – sofern Kaylana diese Nacht überlebte. Ihre zitternden Knie und Knöchel, die brennenden Muskeln in ihren Schultern und der aufsteigende Schmerz in ihren Zehen machten dies unwahrscheinlich.

Ihr Beobachter kam näher. Sie hörte seinen Atem, er kam stoßweise, aufgeregt, nachdrücklich. Kaylana schloss die Augen, die sie sonst trotz der Dunkelheit unter dem Sack immer offen ließ, als ein Reißverschluss geöffnet wurde. Sie presste angespannt ihre Lippen aufeinander und wartete. Es dauerte kaum einige Sekunden, bis ein warmer Strahl ihren Bauch und Oberschenkel benässte. Ein strenger Geruch von Ammoniak trat ihr in die Nase und bekräftigte ihre Vermutung.

Kaylana kämpfte Tränen des Ekels nieder. Das war es also, was Liga 2 und die Menschen hier über sie dachten. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit …

***

Kaylana hatte irgendwann in der Nacht den Glauben daran aufgegeben, es zu schaffen. Als sie warme Hände an ihren unterkühlten Gliedmaßen spürte, als ihre Arme und ihr Hals aus den Schlingen genommen wurden und ihr Körper, den ihre zitternden Beine keine Sekunde länger hätten tragen können, hochgehoben wurde, schluchzte sie in verzweifelter Dankbarkeit auf. Nun war es der Regierung doch beinahe gelungen, ihren Körper und ihren Geist zu brechen.

Kaylana hörte sie sprechen, doch sie verstand ihre Worte nicht. Ihr Verstand arbeitete zu langsam, er hatte sich bereits vom Leben verabschiedet. Doch nun wurde er wieder gebraucht. Sie legten eine Decke um ihren tauben Körper und ein erster Anflug von Wärme erweckte die Nerven in ihrer Haut zu neuem Leben. Jede ihrer Poren fing Feuer, doch das Brennen drang nicht bis in ihr Innerstes durch. Dort blieb sie kalt.

Sie nahmen ihr den Sack vom Kopf und sie kniff widerwillig die Augen zusammen. Das Licht des angebrochenen Tages war wie glühende Dolche in ihren Augäpfeln.

Kaylana blinzelte immer wieder zwischen schweren Augenlidern hervor und ganz allmählich kehrte auch ihr Verstand zurück. Wohin brachten sie sie? Dorthin, wo ihr Urteil Tod durch Verdursten vollstreckt werden würde? Die Tage bis zu ihrer Verhandlung hatte sie im Regierungsgebäude verbracht, in einem winzigen Zimmer mit spartanischer Einrichtung, Gitterstäben vor den Fenstern und einer Toilette mitten im Raum. Geduscht hatte sie seit über einer Woche nicht mehr. Der Gestank nach Speichel, Urin und Demütigung überdeckte ihren eigenen Körpergeruch.

Sie führten Kaylana durch lange, schmucklose Flure im Erdgeschoss, die Wände, die ganze Atmosphäre so kalt wie ihr Körper. Die Hummels hatten mittlerweile aufgehört, mit ihr zu reden. Doch auch so wusste sie, dass das nicht der Weg zu ihrer alten Unterkunft war.

Die zwei Männer im Dienste der Regierung führten sie in einen kleinen Raum. Das Fenster ließ gerade genug Licht hinein, um die Deckenbeleuchtung unnötig zu machen. Ein rechteckiger Tisch mit vier Stühlen, auf dem Tisch ein Glas Wasser. Kaylanas Kehle wurde bei dem bloßen Anblick noch trockener. Den Jungen am Tisch beachtete sie nicht. Die Hummels bedeuteten ihr, sich auf den Stuhl neben ihm zu setzen, und während sie ihrer Aufforderung nachkam, wandte sie sich an die Männer in Uniform.

»Darf ich?« Sie deutete auf das Glas Wasser. Ihre Stimme war trocken und rau, die Zunge fühlte sich an wie ein geschwollener Klumpen. Es musste ein schrecklicher Tod sein, zu verdursten.

Einer der Hummels nickte. »Sie dürfen. Ihr Urteil wurde vertagt.« Dann flankierten die Männer die Tür.

Fassungslos blickte Kaylana das Glas Wasser an. Ihr Urteil war vertagt worden? Davon hatte sie noch nie gehört. Wie erstarrt wandte sie den Kopf zu dem Jungen neben ihr. Er blickte aus dem vergitterten Fenster. Obwohl er sie nicht ansah, wurde sie sich ihres kalten, nackten Körpers und des abstoßenden Geruchs bewusst, der von ihr ausging. Schützend zog sie die Decke noch enger um sich, beachtete den Jungen nicht weiter und griff nach dem Wasser. Mit gierigen Schlucken ließ sie das Nass durch ihren trockenen Hals fließen und spürte einen unangemessenen Anflug von Dankbarkeit. Schnell verjagte sie den wieder.

Noch während sie trank, öffnete sich die Tür zu dem kleinen Raum. Ein großer Mann mit braunen Haaren und breiten Schultern kam herein. Hinter ihr erschien eine Frau. Sie war deutlich kleiner als der Mann, hatte schulterlange dunkelblonde Haare und einen verkniffenen Gesichtsausdruck. Beide trugen legere Kleidung, jeweils aus dem Sortiment der Liga, doch Kaylana ahnte bereits, dass sie nicht zur normalen Bevölkerung gehörten. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie der Junge neben ihr unruhig auf seinem Stuhl herumrutschte. Nervös stellte sie das Glas zurück.

Der Mann und die Frau nickten den Hummels an der Tür zu, dann setzten sie sich ihr und dem Jungen gegenüber an den Tisch.

»Kaylana Vlinder, das ist Babetta Hoheweide und mein Name ist Sydo Snyder«, begann der Mann monoton. »Wir gehören hier in Ihrem Bezirk zu den Liga-Führern.«

Kaylana nickte. Genau, wie sie erwartet hatte. »Herzlichen Glückwunsch«, erwiderte sie zynisch, schluckte jedoch jeden weiteren Kommentar hinunter. »Was haben Sie mit Derron Pollak gemacht?« Sie wollte ruhig klingen, sachlich, doch stattdessen war die Frage vorwurfsvoll hervorgekommen.

Sydo Snyder verschränkte die Arme vor der Brust. Bei ihm hatte sie jegliche Chance auf Sympathie verspielt. Und die Frau hatte Kaylana bereits gehasst, bevor sie überhaupt den Raum betreten hatte.

»Ein wenig Respekt täte Ihnen gut«, sagte Snyder distanziert.

Angespannt atmete Kaylana aus. Sie würden ihre Frage nach Derron nicht beantworten. Obwohl sie das erwartet hatte, machte es sie doch wütend. Hilflos. »Von mir aus. Können Sie mir dann bitte sagen, was das hier zu bedeuten hat?« Sie funkelte Snyder aufmüpfig an. »Und ich frage das voller Respekt.«

Babetta Hoheweide überging ihren zynischen Kommentar. »Wie Sie wissen, gab es eine besondere Auflage bezüglich Ihrer Verurteilung.« Ihre Stimme war angesichts ihrer Körpergröße verblüffend tief.

Kaylana nickte.

Snyder übernahm wieder. »Tatsächlich hat sich jemand bereit erklärt, Sie zu heiraten und somit vor Ihrer Strafe Tod durch Verdursten zu bewahren.« Er deutete auf den Jungen und verzog missbilligend das Gesicht. »Jesper Yorlik.«

Abermals wandte sich Kaylana dem Jungen zu. Er war etwa in ihrem Alter, vermutlich groß und von schlanker Statur. Seine dunkelbraunen Augen waren ungewöhnlich groß und passten zu seinem Haar, das ihm locker über Stirn und Ohren fiel. Kaylana hatte noch nie jemanden mit so vollem Haar gesehen. Sein Gesicht war eher schmal, seine Nase etwas zu groß und seine Lippen voll. Verlegen hob er die Hand zum Gruß. Kaylana zog die Augenbrauen hoch. Obwohl sie ihn noch nie gesehen hatte, wusste sie instinktiv, was er für ein Typ war. In den verbotenen Filmen aus der Zeit vor den Atombomben war er der Junge, der am Ende niemals das Mädchen bekam. Er war der typische Nebendarsteller.

Kaylana wandte den Blick ab und sah Snyder emotionslos an. »Ich werde ihn nicht heiraten«, erklärte sie entschieden.

Wieder rutschte Jesper unruhig auf seinem Stuhl herum.

Auf Snyders Gesicht legte sich eine Maske der Ungeduld. »Das liegt nicht in Ihrer Entscheidungsgewalt.«

Kaylana zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich werde ihn nicht heiraten.«

Plötzlich lehnte sich Jesper auf dem Tisch nach vorne und fing Kaylanas Blick ein. »Du würdest lieber verdursten, als mich zu heiraten?« Er klang eher überrascht als gekränkt, aber Kaylana war sich sicher, dass sie sich täuschte. Niemand ertrug so eine Ablehnung ohne einen gewissen Grad an verletzten Gefühlen. Irgendwie tat er ihr sogar leid. Sie konnte aber nicht darüber hinwegsehen, dass er ihre Situation ausnutzte. Kaylana hatte nicht die geringste Ahnung, was bei dieser Hochzeit für ihn raussprang, doch so viel war sicher: Er würde es nicht bekommen.

Snyder und Hoheweide standen überraschend auf und Kaylana wandte sich ihnen wieder zu. So bekam sie gerade noch mit, wie Snyder den Hummels an der Tür mit seinem Blick bedeutete, Kaylana abzuführen.

»Sie haben eine Stunde Zeit, sich frisch zu machen und sich umzuziehen«, erklärte Snyder kühl, während die Hummels Kaylana an den Armen von ihrem Stuhl hoben. Verärgert befreite sie sich aus deren Griff und funkelte sie wütend an. Sie würde ja mitkommen, es gab also keinen Grund, handgreiflich zu werden.

»Um neun Uhr wird die Eheschließung vollzogen.« Snyder und Hoheweide standen auf und auch Jesper war aufgesprungen. Doch sie würdigte ihn keines Blickes.

»Vielleicht sollten Sie die Zeit nutzen, darüber nachzudenken, ob Ihnen ein wenig Respekt nicht guttäte«, fügte Hoheweide hinzu. Kaylana bedachte ihre Worte mit einem herablassenden Augenrollen. Dann wurde sie aus dem Zimmer geführt.

***

Sie brachten Kaylana in ein Zimmer in der obersten Etage des Regierungsgebäudes. Brautzimmer stand dort an der Tür und Kaylana bekam ein mulmiges Gefühl. Obgleich die Hochzeit eine Bestrafung war, ein Versuch, sie zu überwachen, sie zu nötigen, sie zu kontrollieren, behandelte die Regierung sie, als wäre die Hochzeit wie jede andere. Um den Schein zu wahren. Das verlangte wohl die Etikette.

Die Wände im Brautzimmer waren verspiegelt und auf einer Kleiderpuppe mitten im Raum hing ein weißes, schlichtes Brautkleid. Es war bodenlang, ohne aufwändige Raffungen fielen die Falten wie ein Wasserfall aus Seide. Das Korsett war mit feiner Spitze besetzt und ließ die Arme und die Schultern frei – wie die Einladung für eine liebevolle Berührung zwischen frisch vermählten Eheleuten.

Der Raum flößte Kaylana Angst ein. Nachdem die Hummels sie allein gelassen und die Tür von außen verriegelt hatten, kämpfte Kaylana den Impuls nieder, auf ihre Knie zu sinken und in Tränen auszubrechen. Um ihren Freund Derron zu weinen, der vermutlich sein Ende bereits gefunden hatte. Um ihre eigene Demütigung der vergangenen Nacht, die immer noch in Form von Urin, Speichel und Morgentau an ihrem kaum bedeckten Körper klebte. Um ihre Familie, die sie verlassen musste, viel früher als gedacht, denn bis zu ihrem 18. Geburtstag waren es noch mehr als sechs Monate. Sie hatte ihrer Mutter ein Versprechen gegeben, das sie nun würde brechen müssen. Sie wünschte sich, sie hätte ihren Brief dabei. Und nicht zuletzt um sich selbst, zu einer Ehe gezwungen, um ein Leben ohne Liebe zu führen, mit einem Jungen, dessen Beweggründe undurchsichtig waren.

Doch Kaylana weinte nicht. Das war nicht ihre Art. Tränen änderten nichts. Stattdessen flüchtete sie aus dem Spiegel-Braut-Zimmer in das anliegende Badezimmer. Es war geradezu übertrieben pompös mit einer gigantischen sechseckigen Badewanne, die auf einem Podest stand und über eine kleine Treppe zu erreichen war. Überall standen Tuben und Fläschchen, in denen bunte Flüssigkeiten schimmerten. Der Duft, der aus jeder Ecke zu ihr strömte, brannte in ihrer Nase und tötete alle Gerüche, die an ihr hafteten. Immerhin gab es in diesem ekelhaft dekadenten Badezimmer nur einen einzigen Spiegel, so dass ihr bleiches, erschöpftes Gesicht nur von zwei und nicht von Millionen Augen angestarrt wurde.

Sie ließ sich ein Bad ein, legte ihre schmutzige Unterwäsche ab und tauchte tief ein in das warme, entspannende Nass. Sie hatte kaum daran zu glauben gewagt, doch die Wärme kehrte in ihren Körper zurück. Das Bad hätte so schön sein können, wäre da nicht die Hochzeit, die in ihrem Nacken auf sie wartete. Sie blieb ein bisschen länger im Wasser, schrubbte ihre Haut mit einem Schwamm ab, wusch ihre Haare mit einer der vielen Seifen und zögerte das Ende hinaus. Erst als es kalt wurde, verließ sie das Wasser. Die Zeit drängte.

In einem Regal fand sie einen Fön und in einem der Schränke sogar Einwegunterwäsche.

Als sie in das Spiegel-Braut-Zimmer zurückkehrte, zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Sie wollte das Brautkleid nicht anziehen, wollte nicht diesen fremden Jungen heiraten. Doch sie hatte keine andere Wahl. Als sie schließlich das Kleid von der Puppe zog und hineinschlüpfte, kam sie sich wie eine Verräterin ihrer eigenen Überzeugungen vor.

Das Kleid passte wie auf den Körper gegossen. Es fühlte sich unbeschreiblich gut an und doch hasste sie es. Hasste, dass es ihr gut stand, dass es sie schön machte, hasste ihren Anblick in den Spiegeln, der sie mit seinen unzähligen Reflektionen ganz schwindelig machte. Ihre langen, mittelblonden Haare waren inzwischen trocken und Kaylana ließ sie offen. Ein üppiger Pony verdeckte ihre viel zu hohe Stirn, der Rest ihrer Haare lag wie ein Umhang über ihren Schultern, ihrem Rücken, ihren Oberarmen, und gab ihr ein lächerliches Gefühl von Sicherheit. Als wäre sie dadurch weniger nackt, weniger angreifbar, weniger berührbar.

Als die Hummels sie abholten und in dieser albernen Aufmachung zu ihrer Vermählung führten, dachte Kaylana an Derron. Sie waren sich des Risikos ihrer Freundschaft bewusst, doch es war ihnen egal gewesen. Sie hatten sich im Krankenhaus, in dem Kaylana arbeitete, kennengelernt und schnell bemerkt, dass sie auf einer Wellenlänge lagen. Trotz der unterschiedlichen Ligen. Über viele Monate war es gut gegangen. Mit ihm hatte sie über alles reden können, er verstand, was in ihr vorging, zu jeder Zeit, und Oberflächlichkeiten spielten bei ihnen niemals eine Rolle. Ihre Berührung, die letztendlich zu dieser Katastrophe geführt hatte, war ein Unfall gewesen, so banal und beiläufig, dass Kaylana kurz in ihrer Erinnerung danach kramen musste, um sie sich ins Gedächtnis zu rufen. Es war passiert, als sie beide gleichzeitig nach derselben Tasse gegriffen hatten. So unbedeutend und doch hatten sie beide sofort gewusst, dass das Leben, wie sie es bisher kannten, nun für immer vorbei war. Wegen zweier Hände, die sich versehentlich gestreift hatten, musste Derron vermutlich sterben und sollte Kaylana nun einen völlig fremden, bedeutungslosen und unberechenbaren Jungen heiraten. Vielleicht hätten sie fliehen sollen, wie Derron es vorgeschlagen hatte. Doch Kaylanas Zögern dauerte zu lange. Hummels stürmten bereits Derrons Wohnwagen und verhafteten sie, noch ehe sie eine Entscheidung getroffen hatte.

Jesper trug ein Jackett, als sie in den Raum ihrer Vermählung trat. Seine ohnehin schon großen dunklen Augen wurden noch größer, als er sie in dem Brautkleid sah, und Kaylana verdrehte genervt die Augen. Missgestimmt blickte sie sich um. Auch dieser Raum war kahl und schmucklos, weiße Wände, ein Fenster mit einer halb offenen Jalousie, ein großer Tisch aus dunklem Mahagoni, an dem fünf Stühle standen. Einzig ein bunter Strauß Schnittblumen auf dem Tisch brachte etwas Farbe in diese triste Szenerie. Von Romantik weit und breit keine Spur.

Ein Mann in einem weißen Anzug und mit einem Zylinder, wie die Hummels ihn trugen, erhob sich mit einem aufgesetzten Lächeln von seinem Stuhl. Er war schon älter, in jedem Fall über 50 Jahre, und sah sie aus wässrigen blauen Augen an. Mit einem Wink bedeutete er ihr, dass sie auf dem Stuhl neben Jesper Platz nehmen sollte. Die Hummels schlossen die Tür und positionierten sich daneben.

Nur widerwillig setzte sich Kaylana auf den Stuhl. Sie kam sich in ihrem Kleid lächerlich vor und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Kaylana Vlinder« Der Mann in Weiß nickte ihr ruhig zu, dann wanderte sein Blick zu ihrem Bräutigam. Wieder ein Nicken. »Jesper Yorlik. Mein Name ist Archibald Jungbluth und ich bin Hüter der öffentlichen Ordnung und Standesdiener im Auftrag der Regierung von Bradian Muerfie. Sie beide sind heute hier, um sich einander zu versprechen. Auch wenn die Umstände anders sind als gewöhnlich, so kann aus dieser zarten Blüte der Not dennoch eine wunderschöne Blume der Liebe und Hoffnung werden.«

Kaylana spürte Jespers Blick auf sich. Wenn sie diese Prozedur schon über sich ergehen lassen musste, konnten sie dann nicht wenigstens auf dieses kitschige Blabla verzichten, das ohnehin keinerlei Bedeutung hatte?

»Sind Sie bereit?«, fragte Archibald Jungbluth mit ruhiger Stimme.

Kaylana zögerte. War sie bereit? Niemals. »Einen Moment noch …«, sagte sie zu Jungbluth, dann wandte sie sich an Jesper.

»Du musst das nicht tun.« Es war ein verzweifelter Versuch, ihn zur Vernunft zu bringen. Wenn Jesper sein Angebot zurückzog und ihr Todesurteil doch vollstreckt wurde, wäre es ein weiterer Beweis für Bradian Muerfies herzlose Diktatur. Dann wäre ihr Tod immerhin von Bedeutung.

Jesper zog irritiert seine Augenbrauen zusammen, ging aber nicht auf ihre Worte ein und sah zu dem alten Mann. »Bitte machen Sie weiter.«

»Noch kannst du es verhindern«, versuchte Kaylana es erneut.

Wieder sah Jesper sie an. In seinem Ausdruck lag Entschlossenheit – und eine Spur Enttäuschung. »Das habe ich nicht vor.«

Aufgebracht schüttelte sie den Kopf. »Warum tust du das?«

»Bitte konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche und lassen Sie uns fortfahren«, mischte sich Jungbluth ein. Dahin war seine Ruhe. Kaylana beachtete ihn nicht.

»Willst du denn nicht … ich weiß nicht … die Chance auf eine richtige Ehe?«

»Das ist eine richtige Ehe.« Die Überzeugung in Jespers Stimme war ihr unheimlich.

»Ist es nicht.« Ihre Stimme war kalt, ihre Worte knallhart.

Langsam schüttelte Jesper den Kopf. Diesmal sah er nicht weg. »Du wirst mich nicht davon abbringen.«

»Warum nicht? Du musst das nicht tun. Du bist ein Idiot, wenn du es tust.«

»Ich weiß, was du vorhast. Aber das wird nicht funktionieren, also spar dir die Mühe.«

»Was habe ich denn vor?« Kaylana wusste, dass sie bloß Zeit schindete, doch im Augenblick war ihr jedes Mittel recht, um die Hochzeit hinauszuzögern.

»Du willst mich wütend machen, damit ich mein Angebot zurücknehme.«

»Du bist ein Idiot!«

Jungbluth räusperte sich aufdringlich. »Sind Sie fertig?« Der alte Mann wirkte mit einem Mal ziemlich ungeduldig.

»Sind wir«, sagte Jesper.

»Nein, sind wir nicht«, widersprach Kaylana.

Verständnislos blickte er sie an. »Was soll das?«

Kaylana zuckte mit den Schultern. »Das fragst du mich? Du bist es doch, der hier völlig irrational handelt.«

»Irrational? Da liegst du falsch. Ich habe mir das gut überlegt.«

Kaylana zog überrascht eine Augenbraue hoch. Er hatte sich die Hochzeit gut überlegt? Wütend funkelte sie ihn an.

»Du bist ein verdammter Idiot. Tu es nicht, hörst du? Ich werde dir das Leben zur Hölle machen, das verspreche ich dir.«

Jesper nickte, dann wandte er sich wieder Jungbluth zu. »Ignorieren Sie sie einfach und machen Sie weiter. Je schneller, desto besser!«

Fassungslos öffnete Kaylana den Mund, doch sie brachte keinen Ton heraus. Jungbluth nickte zufrieden und schlug seine Unterlagen auf.

»Dann gebe ich Ihnen einfach nicht meine Hand«, sagte sie und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Eine Chipänderung war nach der Trauung unvermeidlich.

Jungbluth verzog das Gesicht, als würde der Gestank der vergangenen Nacht noch an ihr kleben. »Glauben Sie bloß nicht, ich hätte Skrupel, Sie in Ihrem Kleid nach unten in die Durstzelle zu schicken«, zischte er verärgert.

Dann sollte es so sein. Tod durch Verdursten. Wie das wohl sein würde?

Plötzlich packte Jesper sie am Oberarm und schüttelte sie, als versuche er sie zu wecken. »Kaylana, hör auf damit!«

Wütend zog sie ihren nackten Arm aus seiner Umklammerung. Wie konnte er es wagen, sie gegen ihren Willen anzufassen?

»Halt dich da raus!«, schmetterte sie ihm entgegen. Doch ihre Stimme erstarb, als sie den Ausdruck in seinen tiefen dunklen Augen bemerkte. Enttäuschung. Schmerz. Und Zuneigung? Aber das konnte nicht sein. Und sie wollte sie auch nicht! Trotzdem regte sich etwas in ihrer Brust, das sie nicht einzuordnen wusste.

»Was ist nun? Lassen Sie Ihren Chip ändern oder möchten Sie Ihre Strafe antreten?«, fragte Jungbluth sichtlich erbost.

Kaylana zögerte. Sah zu Jesper. Dachte ans Verdursten, an Derron, an ihre Familie. Dann nickte sie. Jungbluth atmete zufrieden aus und fing an.

Kaylana hörte ihm nicht zu. Seine bedeutungslosen Worte wirbelten um ihren Kopf herum, ohne den Weg in ihr Gehör zu finden. Schon nach kurzer Zeit war Jungbluth fertig. Kaylana vermutete, dass es eine abgespeckte Variante war, weil er fürchtete, sie könne es sich doch noch anders überlegen. Ihr sollte es recht sein. Jetzt, da es keinen Ausweg mehr gab, wollte sie es nur noch hinter sich bringen.

Irgendwann schob Jungbluth ihr Papiere zum Unterschreiben entgegen. Als würde es eine Rolle spielen, was sie wollte. Nachdem auch Jesper unterschrieben hatte, ohne zu zögern und ohne Kaylana noch einmal angesehen zu haben, änderte Jungbluth seinen Chip. Kaylana sah ihnen zu, doch sie war nicht wirklich anwesend. Als hätten sich ihre Sinne in ihren Körper zurückgezogen, waren ihre Augen blind, ihre Ohren taub. Hilflose Hoffnungslosigkeit lähmte ihren erschöpften Körper. Sie und Derron hatten es nicht verdient, von der Regierung wegen einer einfachen Berührung so etwas angetan zu bekommen. Wegen einer harmlosen Freundschaft, die ihr so viel Kraft geschenkt, sie durch dunkle Zeiten geführt hatte. Das war einfach nicht richtig.

»Kaylana Vlinder«, rief Jungbluth ungeduldig. Kaylana schreckte aus ihrer Starre hoch und blickte ihn fragend an. Er hatte bereits seine weiß behandschuhte Hand nach ihr ausgestreckt. Nun war es also so weit. Kaylana biss sich angespannt auf die Unterlippe, dann streckte sie ihm ihre rechte Hand entgegen. Er hielt seinen C-Reader an die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und nahm einige Änderungen vor. Kaylana wollte nicht hinsehen, also warf sie einen Seitenblick zu Jesper. Er saß unerwartet unbeteiligt auf seinem Stuhl, die Augen starr auf seine Hände gerichtet, die auf seinen Oberschenkeln lagen und einander unruhig kneteten.

»Kaylana Yorlik, geborene Vlinder.« Ihr Blick flog zurück zu Jungbluth, der immer noch mit ihrem Chip beschäftigt war und sie nicht ansah. Er hatte ihren Namen geändert, ohne es vorher mit ihr zu besprechen? Niemals würde sie diesen fremden Namen verwenden! Entrüstet öffnete sie bereits den Mund, um ihre Wut darüber kundzutun, als er ihr mit seinen Worten zuvorkam. »Ich verlese nun die Liste der Personen, mit denen Ihnen ab sofort der Körperkontakt gestattet ist.«

Kaylana zog irritiert die Brauen zusammen. Nervös zuckte ihre Hand, doch Jungbluth hielt sie fest.

»Jesper Yorlik«, verlas er von seinem C-Reader.

Pause.

Unruhig wartete Kaylana, dass er fortfuhr, doch er schwieg. Stattdessen nahm er das Gerät von ihrer Haut, ließ ihre Hand los und lächelte süffisant.

»Was ist mit meinem Vater und meinem Bruder?«, fragte sie verwirrt und sah hilfesuchend zu Jesper.

»Habe ich eben die Namen von Ihrem Vater oder Ihrem Bruder verlesen?«, fragte Jungbluth grimmig.

»Nein, aber …« Verzweifelt suchte sie nach Worten.

Jungbluth stand auf und ging zur Tür. »Sie haben es gehört. Die Verlesung Ihrer Liste ist eine gesonderte Auflage der Regierung, der ich hiermit nachgekommen bin. Darüber hinaus setze ich Sie darüber in Kenntnis, dass ab sofort jede verbotene Berührung die Vollstreckung der ursprünglichen Strafe, Tod durch Verdursten, zur Folge hat.«

***

Kaylana hatte Jungbluth richtig verstanden. Ihre Familie, Freunde, Fremde. Alle Menschen waren nun für sie verboten, ansonsten drohte ihr der Tod. Was blieb, war Jesper, der sie irgendwie entschuldigend anblickte und gleichzeitig die von ihr am meisten gehasste Person in ganz AurA Eupa war.

Um ihrer Demütigung noch einen draufzusetzen, wurde es Kaylana gestattet, für eine Stunde in das Haus ihrer Familie zurückzukehren, um ihre Sachen zu packen und sich zu verabschieden – in ihrem Brautkleid.

Ihr Vater Luuk stand in der Küche und bereitete das Essen für sich und Nevin vor, als Kaylana heimkehrte. Überrascht drehte er sich um, als sie hinter ihm auftauchte, und ein kurzer Ausdruck von Erleichterung und Zuneigung huschte über sein Gesicht, ehe es sich versteinerte. Er war wütend, Kaylana erkannte es an der hervortretenden Ader an seiner Schläfe, die hektisch pulsierte, als wäre sie lebendig.

Ihr Vater war in den letzten Jahren alt geworden. Graue Strähnen durchzogen sein hellbraunes Haar, die Lachfalten um seinen Mund herum waren Sorgenfalten um die Augen gewichen und seine breiten Schultern hingen herab, als würde er auf ihnen die Last der Welt tragen.

»Haben sie dich jetzt doch wieder laufen lassen?« Er klang vorwurfsvoll, doch Kaylana konnte ihn verstehen. Sie hatte es ihm in den letzten Monaten nicht leicht gemacht.

»Ich bin jetzt verheiratet, Papa«, sagte sie unnützerweise. Jeder, der sie ansah, wusste, dass sie keine Arbeitsuniform trug.

Er verzog das Gesicht und wandte sich wieder dem brodelnden Essen auf dem Herd zu. »Dann bist du jetzt also Witwerfutter, ja?« Der Schmerz in seiner Stimme traf sie schwer.

Unsicher trat sie einen Schritt auf ihn zu. »Nein, er ist ganz jung, so wie ich.«

Ihr Vater pfefferte wütend den Kochlöffel in den Topf und Kaylana zuckte erschrocken zusammen. Er sah sie anklagend an. »Du verdammtes Mädchen! Du hast mehr Glück als Verstand.«

Unter seinem wütenden Blick schämte sie sich noch mehr für ihre Aufmachung und verschränkte die Arme vor der Brust, als könne sie damit das Kleid unsichtbar machen. »Ich bin nur hier, um meine Sachen zu packen. Ich muss ausziehen, Papa.«

Er griff nach dem Topfhandschuh und zog damit einen der Töpfe von der Herdplatte. »Ich verstehe dich einfach nicht. Warum tust du uns das an?«

»Es tut mir leid …«, begann sie zögerlich, brach aber ab, als sie den Blick ihres Vaters bemerkte. Er hielt sie für eine Lügnerin, er kaufte ihr die Reue nicht ab. Dabei tat es ihr wirklich leid, nur eben nicht das, was er erwartete. Sie bedauerte, dass sie Hals über Kopf ihre Familie verlassen musste, dass sie die Menschen, die sie liebten, so vor den Kopf stieß. Aber ihre Freundschaft zu Derron bereute sie nicht, auch wenn ihr Vater genau dies gern sähe. Nervös klärte Kaylana ihre Stimme.

»Kannst du … weißt du, was aus Derron geworden ist?«

Sie sah seine Reaktion nicht kommen. Ohne zu zögern, holte er aus und ohrfeigte sie mit dem Topfhandschuh. Entsetzt hielt sich Kaylana die Wange. Sie konnte es nicht glauben. Der Schlag tat nicht weh. Aber ihr Vater hatte sie noch nie geschlagen. Fassungslos blickte sie zu ihm auf.

»Wie kannst du es wagen, seinen Namen in unserem Haus auszusprechen?«, brüllte er sie an. »Seit deine Mutter tot ist, erkenne ich dich nicht wieder. Du solltest dich schämen, dass du uns das angetan hast! Wegen jemandem aus Liga 3.« Speichel spritzte ihr ins Gesicht, doch sie wagte nicht, sich von ihrem Vater abzuwenden. »Hast du mal darüber nachgedacht, wie schrecklich es für Nevin ist? Er hat gedacht, du seist tot! Verstehst du das?« Zornig wandte er sich wieder dem Essen zu. »Und jetzt geh nach oben und pack deine Sachen, dein Anblick macht mich krank.«

Kaylana wankte zurück, dann nickte sie wortlos, drehte sich um und ging mit dem mickrigen Rest Würde, der ihr noch geblieben war, nach oben.