Chögyam Trungpa
DAS HERZ
DES
BUDDHA
Buddhistische Lebenspraxis
im modernen Alltagsleben
Herausgegeben von Judith L. Lief
Wandel Verlag berlin 2020
Buddhistische Lebenspraxis
im modernen Alltagsleben
Herausgegeben von Judith L. Lief
Wandel Verlag berlin 2020
edition khordong
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Heart of the Buddha« bei Shambhala Publications, Inc., P.O. Box 308, Boston, MA 021 17. Copyright © 1991 by Diana J. Mukpo.
Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Jochen Lehner. Erstmalig erschienen beim Otto Wilhelm Barth Verlag, 1993. Durchgesehene Neuauflage, WANDEL VERLAG berlin 2019.
ISBN: 978-3-942380-60-7 eBook
ISBN: 978-3-942380-26-3 gedrucktes Buch
© 2020 WANDEL VERLAG berlin
Mit freundlicher Genehmigung von Shambhala Publications, Inc., Boulder, USA, www.shambhala.com
1. eBook Auflage 2020
Alle Rechte der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Verbreitung und Wiedergabe jeglicher Art, ob mechanisch, elektronisch oder anderweitig, auch jetzt noch unbestimmt, sind vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach vorhergehender schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.
Lektorat, Satz, Gestaltung: Andreas Ruft, Berlin.
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edition khordong ist eine Publikationsreihe begründet im Khordong e.V., inspiriert von Chimed Rigdzin Rinpoche (1922-2002) und veröffentlicht beim WANDEL VERLAG berlin. Bitte besuchen Sie unsere Webseiten:
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eMail-Kontakt: edition@khordong.net mail@wandel-verlag.de
Die Auswahl der Beiträge zu diesem Buch war geleitet von dem Gedanken, dem Leser einen möglichst breiten Fächer der Lehren Chögyam Trungpa Rinpoches vor Augen zu führen. Deshalb bietet dieser Band sowohl einführende Darstellungen als auch Kapitel, in denen bestimmte Themen detaillierter und gründlicher erarbeitet werden. Manche Artikel wurden für bestimmte Publikationen oder einfach zur Verbreitung unter Rinpoches Schülerinnen und Schülern verfasst; andere gingen aus Seminaren und Reden hervor und stehen somit für die Lebendigkeit der mündlichen Übermittlung, für die überragende Bedeutung des direkten Austauschs zwischen Schüler und Lehrer.
In seinen vielen Seminaren legte Trungpa Rinpoche stets großen Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis von Praxis und Studium. Für die Teilnehmenden an diesen Seminaren gab es immer Zeiten, die der formellen Meditation gewidmet waren, und Studienzeiten, in denen man sich durch Vorträge, Lektüre und Diskussionen die Lehren des Buddha erarbeitete. So gab es immer Gelegenheit, das eigene Verständnis in der direkten Erfahrung auf die Probe zu stellen, und die Verfeinerung des intellektuellen Erfassens konnte Hand in Hand gehen mit einer Vertiefung der unmittelbaren Einsicht.
Die persönliche Reise
Das Herz des buddhistischen Weges ist die meditative Praxis. Uns selbst verstehen und mit anderen zurechtkommen, das wird uns letztlich nur gelingen, wenn wir Achtsamkeit und Gewahrsein in uns entwickeln. Nach einem verbreiteten Vorurteil führt uns die spirituelle Reise von uns selbst weg in ein anderes, ein höheres und friedvolleres Dasein. Hier wird die Übung der Meditation als eine Art Droge angesehen, als ein Weg, auf dem wir uns aus der rauen Wirklichkeit wegstehlen. Trungpa Rinpoche jedoch hat überall in seinen Unterweisungen immer wieder betont, dass Meditation keine Flucht ist, sondern einfach das »Anfangen am Anfang«.
Um aber anfangen zu können auf dem Pfad, müssen wir bereit sein, uns selbst ganz direkt zu begegnen, frei von Wunschvorstellungen und Selbstverurteilungen. Die Praxis der Meditation führt uns stets zurück zu dem, was ist, und da bleibt kein Raum für das, was sein könnte – immer wieder zurück auf »Start«. Im Zentrum der sehr persönlichen Reise der meditativen Schulung steht also die Bereitschaft, einfach die zu sein, die wir sind. Es ist kein Weg der Manipulation, sondern ein Weg des Annehmens.
Im Grunde sind zwar alle allein auf dieser Reise, doch erst durch die Begegnung von Schüler und Lehrer wird der spirituelle Pfad wahrhaft lebendig. In der buddhistischen Tradition ist die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler von entscheidender Bedeutung. Ergebenheit ist der Schlüssel, der die ganze Kraft dieser Tradition erschließt. Doch Vorsicht, wir müssen hier sehr genau unterscheiden zwischen echter Hingabe und Ergebenheit und naiver, blinder Gläubigkeit.
Stadien des Pfades
Nach dem tibetischen System hat die Reise einer Schülerin und eines Schülers drei Hauptstadien: Hinayāna, Mahāyāna und Vajrayāna. (Hier beschreiben diese Begriffe also Entwicklungsphasen der persönlichen Schulung, während sie sonst im allgemeinen für die historischen Entwicklungsstadien des Buddhismus gebraucht werden.) Das Hinayāna ist das Anfangsstadium, in dem man das eigene mentale und emotionale Innenleben erkundet und durch die Übung der Meditation allmählich den Geist zur Ruhe bringt. Das innere Ringen lässt nach, und man fängt an, sich mit sich selbst anzufreunden. Im zweiten Stadium, dem Mahāyāna, wendet sich diese Freundlichkeit dann nach und nach auch nach außen. Man begegnet der phänomenalen Welt mit dankbarer Wertschätzung und gewinnt ein Verständnis von der Tiefe des Leidens aller Wesen. Daraus erwächst eine Haltung des tätigen Mitgefühls und der Antrieb, zum Wohl anderer zu wirken.* Das dritte Stadium, Vajrayāna, ist das der Schonungslosigkeit: Man gibt sich furchtlos und ohne sich zu schonen in jede Situation, die sich einstellen mag; man ist bereit, sich rückhaltlos der durch Visualisationspraxis und tantrisches Ritual wachgerufenen Weisheit und Kraft des eigenen Geistes anzuvertrauen.
Wir sprechen hier zwar von drei Stadien, doch diese Stadien müssen wohlausgewogen zusammenwirken, wenn die Reise erfolgreich verlaufen soll. Jedes nächsthöhere Stadium erweitert und vermehrt das vorangehende und lässt das dort an Einsicht Gewonnene in einem größeren Zusammenhang wiederaufleben. Jedes ergänzt und bereichert also die Übrigen.
Miteinander leben
Die Einsichten, die wir durch die formelle Meditationspraxis gewinnen, lassen sich auf die vielfältigen Umstände unseres Alltagslebens anwenden. Der Alltag wird also nicht abgelehnt oder als bloße Ablenkung von unserer »spirituellen« Schulung betrachtet. Vielmehr gelangen wir durch die Verknüpfung der spirituellen Schulung mit dem gewöhnlichen Leben zu der Einsicht, dass unsere Erfahrung in allen ihren Aspekten wertvoll, ja heilig ist.
In der alten Tradition des tibetischen Buddhismus auf die klassische Weise geschult, hatte Trungpa Rinpoche doch zugleich ein tiefes Interesse an allen Abläufen in der modernen Gesellschaft und an den gesellschaftlichen Implikationen der buddhistischen Lehre. Deshalb widmete er Themen aus diesem Bereich – etwa dem Bildungs- und Gesundheitswesen, dem Umgang mit Kindern, der Natur von Beziehungen und den Vorgängen in der Geschäftswelt – in seinen Vorträgen und Seminaren immer wieder breiten Raum.
Mit dieser Sammlung von Essays verbindet sich die Hoffnung, dass die Leserin und der Leser durch sie einen Eindruck von Reichtum und Vielfalt der Lehren Trungpa Rinpoches bekommt und ihre Bedeutung für das tägliche Leben erkennt.
Judith L. Lief, 1991
1
»Im Grunde, meine Damen und Herren, ist das hier die eigentliche frohe Botschaft, wenn der Ausdruck erlaubt ist: Wir sind von Natur aus Buddha, und wir sind von Natur aus gut. Ohne Ausnahme – und ohne erst analytische Studien betreiben zu müssen – haben wir ganz von selbst Buddha in uns. Das nennt man Buddha-Natur oder auch Bodhicitta, das Herz des Buddha.«
Im Buddhismus gibt es drei Gruppen von Schulungsmethoden, die wir als Shīla, Samādhi und Prajñā bezeichnen. Shīla ist Disziplin und Lebensführung, eine bestimmte meditative Art des Verhaltens. Samādhi ist die Übung von Achtsamkeit und Gewahrsein: den eigenen Geisteszustand ohne jede Ablenkung in seiner Gesamtheit erfahren. Und Prajñā, das unterscheidende Gewahrsein, ist jener Zustand der Klarheit, in dem man verschiedene Geisteszustände deutlich zu unterscheiden vermag; man ist hier nicht mehr aufgewühlt oder niedergeschlagen durch bestimmte Geistesverfassungen. Diese drei Schulungsformen bringen uns zur nächsten Stufe, auf der wir die Selbsttäuschung des Ichbewusstseins transzendieren – das ist die Erfahrung der Ichlosigkeit.
Solange wir an unser Ich glauben, leben wir in einem Bewusstseinszustand, in dem wir von der Welt der Phänomene entweder angezogen oder abgestoßen sind. Was wir sehen möchten, hängt hier von unserer Mentalität ab, von dem, was wir für wünschenswert halten, um unsere »Ich-bin-heit«, unsere »Ichheit« zu wahren. Wir sprechen hier vom Transzendieren dieser Ichheit, und das nennen wir Ichlosigkeit. Ichlosigkeit heißt nicht, dass sie sich vollständig in Nichts auflösen. In der westlichen Literatur – ich meine insbesondere die christliche Literatur der frühen viktorianischen Zeit, aber auch bestimmte Oberschulkurse über Buddhismus – wird dem Buddhismus häufig vorgehalten, er behaupte dies. Es heißt dort, der Buddhismus glaube an das Nichts, und das ist ganz gewiss nicht der Fall.
Ichlosigkeit bedeutet eher das Aufhören der Ichbesessenheit – Freiheit von Egomanie. Egomanie hat die verschiedensten groben und subtilen Formen. Unter einem Egomanen stellt man sich normalerweise einen erkennbar Wahnsinnigen vor, aber wenn wir die Sache ganz genau betrachten und studieren, werden wir sehen, dass es subtile Formen der Egomanie gibt. Die Diktatoren der Welt zum Beispiel könnte man als Egomanen betrachten, denn ihr ganzes Verhalten ist deutlich erkennbar von Ichbesessenheit geprägt. Aber auch bei ganz gewöhnlichen Menschen, uns selbst eingeschlossen, ist das nicht wesentlich anders. Wir möchten die Welt besitzen, wir möchten die Sicherheit unseres Ich gewahrt wissen, und deshalb tun wir so, als sei alles, was diesem Ziel dient, völlig in Ordnung – das ist unser Ego-Wahn.
Durch Shīla, Samādhi und Prajñā – Disziplin, Meditation und unterscheidendes Gewahrsein – gelangen wir zur Freiheit von Egomanie, vom Ich-Wahn. Über dieses Durchschauen unseres Ich-Wahns hinaus jedoch bringen wir unser schon immer bestehendes größeres Sein, das wir mit dem Sanskritwort Bodhicitta bezeichnen, in die Welt oder erwecken es.
Bodhi ist mit Buddha verwandt und bedeutet wörtlich »wach«. Buddha ist ein Nomen, bodhi ein Eigenschaftswort, das man für Erwachte oder Erwachende gebraucht. Das Sanskritwort Citta bedeutet »Herz«, gelegentlich auch »Wesen/Essenz«. Bodhicitta ist also das Wesen des Buddha, das Wesen der Erwachten.
Wir können das Wesen der Erwachten nur erwecken, wenn wir uns zunächst der meditativen Schulung unterziehen: Der Shamatha-Disziplin der Achtsamkeit und der Vipashyanā-Disziplin des Gewahrseins. Darüber hinaus ist es notwendig den drei Disziplinen von Shīla, Samādhi und Prajñā gerecht zu werden, also zu wissen, was wir zu tun und zu lassen haben.
Wenn wir uns in Shīla, Samādhi und Prajñā üben, werden wir allmählich des Buddha in uns gewahr. Es ist aber nicht so, dass diese Prinzipien ein buddha-ähnliches Gewahrsein erst erzeugten – wir haben dieses Buddha-Wesen vielmehr schon in uns. Aber durch Shīla, Samādhi und Prajñā realisieren wir schließlich, wer und was wir letztlich sind.
Nach der buddhistischen Tradition erlangen wir niemals neues Wissen, und nie gelangen fremde Elemente in unsere geistige Verfassung. Es ist vielmehr eine Frage des Aufwachens und des Abwerfens unserer Schlafdecken. Wir haben alle diese Herrlichkeiten schon in uns, wir müssen sie nur aufdecken.
Wenn wir uns selbst eine fremde und äußerliche Gutheit einpflanzen müssten, würde sie uns doch fremd bleiben, sie würde uns nie wahrhaft gehören. Und weil sie nicht Teil unseres Selbst wäre, würde sie sich irgendwann wieder verflüchtigen. Es kann gar nicht ausbleiben, dass unsere grundlegende Natur dieses fremde Transplantat irgendwann abstößt. (Mag sein, dass diese Logik für Herztransplantationen nicht gilt. Heute heißt es ja, dass man mit einem fremden Herzen durchaus überleben kann.)
Wir sprechen hier aber vom Erwecken dessen, was wir noch nicht erweckt haben. Es ist, als wären wir Gefangene gewesen und hätten unser menschliches Vermögen nicht wirklich ausüben können; unser Handlungsspielraum war durch die Umstände beschnitten. Bodhicitta im eigenen Herzen entstehen lassen, Buddha im eigenen Herzen entstehen lassen, das vergrößert unsere Freiheit. Das bedeutet Freiheit im Buddhismus, sonst nichts. Wenn wir also von Freiheit sprechen, dann meinen wir nicht den Sturz der Regierung oder ähnliches; wir meinen die Freiheit von den Beschneidungen unserer Fähigkeiten.
Es ist, als wären wir Wunderkinder mit allen möglichen genialen Begabungen, würden aber von der Gesellschaft in Schach gehalten, der nichts wichtiger ist, als gewöhnliche Menschen aus uns zu machen. Es ist so, als wäre es unseren Eltern peinlich, wenn sich auch nur ein Schimmer des Genialen bei uns zeigte. Dergleichen muss sofort unterbunden werden: »So was sagt man nicht. Benimm dich doch wie ein normaler Mensch.«
So etwas geschieht tatsächlich mit uns, aber ich möchte keineswegs den Eltern allein die Schuld geben: Wir selbst tun uns das auch an. Wenn wir etwas Ungewöhnliches sehen, haben wir Angst, das auch zu sagen; wir haben Angst, uns zu äußern und offen und direkt zu solchen Dingen in Beziehung zu treten. Also halten wir uns selbst – unser Potential und unsere Fähigkeiten – unter Verschluss; wir beugen uns den Konventionen. Im Buddhismus jedoch werden wir von dieser Art Konventionalität befreit.
Diese Konventionalität ist das, was man im Buddhismus als Glauben an Gewohnheitsmuster bezeichnet. Konventionen sind Gewohnheitsmuster, und die Urheber aller Gewohnheitsmuster sind Unwissenheit und Verlangen. Unwissenheit und Verlangen vertragen sich nicht mit der Shīla-Disziplin; sie vertragen sich nicht mit der Samādhi-Achtsamkeit, weil sie uns nicht erlauben, im Zustand geistiger Sammlung zu bleiben; und sie vertragen sich nicht mit Prajñā, weil sie Abstumpfung, aber nicht Schärfe der Unterscheidung bewirken.
Im Grunde, meine Damen und Herren, ist das hier die eigentliche frohe Botschaft, wenn der Ausdruck erlaubt ist: Wir sind von Natur aus Buddha, und wir sind von Natur aus gut. Ohne Ausnahme – und ohne erst analytische Studien betreiben zu müssen – haben wir ganz von selbst Buddha in uns. Das nennt man Buddha-Natur oder auch Bodhicitta, das Herz des Buddha.
Wir könnten uns nun fragen: Von welcher Art ist das Herz des Buddha? Mag es auch manchmal eine Currywurst, oder ist es einfach ein frommes Herz, nur von religiösen Dingen bewegt? Ist dieses Herz, christlich gedacht, das allerheiligste Herz?
Nein, das Herz des Buddha ist nicht unbedingt ein frommes Herz, aber es ist auf jeden Fall ein offenes Herz. Diesem Herzen liegt es, die Welt der Erscheinungen zu erkunden, und es ist offen für Beziehungen zu anderen. Dieses Herz ist von ungeheurer Kraft und großem Selbstvertrauen, und deshalb nennt man es »furchtlos«. Es ist auch höchst wissbegierig, und diese Wissbegier ist auf dieser Stufe gleichbedeutend mit Prajñā. Es ist bereit, sich zu weiten, und es sieht in alle Richtungen. Und dieses Herz birgt gewisse Grundeigenschaften, die wir als unsere grundlegenden »Gene« – unsere Buddha-Gene – bezeichnen könnten. Wir alle besitzen diese Buddha-Gene. Der Geist soll Gene haben – klingt das nicht sonderbar? Aber wie sich zeigt, ist es wirklich so.
Diese Buddha-Gene haben zwei unverwechselbare Kennzeichen. Erstens vermögen sie die »Wirklichkeit« der phänomenalen Welt zu durchschauen und haben keine Angst vor ihr. Wir mögen uns vor Hindernisse und Schwierigkeiten aller Art gestellt sehen, aber diese Gene schrecken nicht vor der Auseinandersetzung mit ihnen zurück.
Zweitens enthalten diese Gene auch Sanftheit: Sie sind so liebevoll, viel mehr als einfach nur freundlich. Sie sind über alle Maßen gütig und liebevoll und können sich selbst projizieren, sogar auf Menschen, die nichts mit ihnen zu tun haben wollen.
Die Buddha-Gene sind auch voller Humor und Fröhlichkeit; man spricht hier von der »großen Freude«. Wenn sie erfahren können, dass solche Gene auch in ihnen sind, werden sie heiter und humorvoll sein und gern lachen.
Es gibt zwei Arten von Humor. Die eine Art kommt daher, dass man die Welt nicht ernst nimmt; man reißt allerlei Witze über die Probleme anderer. Die andere entspringt einem grundlegenden Gefühl der Freude. Nichts wird hier herabgewürdigt, alles immer nur zu seinem wahren Wert erhoben. Uns geht es hier um diese zweite Art von Humor.
Wir kennen alle möglichen Schulungsweisen, um die erleuchteten Gene zu wecken. Die wichtigste besteht darin, das Andere oder die Anderen an die Stelle des eigenen Ich zu setzen. Wir identifizieren uns ganz und gar mit den Schmerzen anderer und projizieren – verschenken – dafür alles, was uns an Gutem zu Gebote steht. So wird unser zähes und schwerfälliges Festhalten an uns selbst allmählich entblößt, so dass wir es durchschauen können.
Lassen sie uns das Gesagte jetzt kurz gemeinsam erörtern.
Schüler/Schülerin: Rinpoche, mir ist das zweite Kennzeichen der Buddha-Gene noch nicht ganz klar. Ist dieses Gütige und Liebevolle ständig gegenwärtig oder nur in bestimmten Augenblicken?
Trungpa Rinpoche: Das ist eine interessante Frage. Darf ich eine Gegenfrage stellen? Hat ein Feuer, wenn es nur glimmt, das Potential, aufzuflammen? Was würden sie sagen?
S: Das hängt, denke ich, von den Umständen ab.
TR: Was könnten das für Umstände sein?
S: Na ja, ob man in einer Garage voller Abgase ist oder auf freiem Feld …
TR: Sicher, sicher. Aber seiner Natur nach, in sich selbst, hat es da das Potential dazu?
S: Ja, es könnte aufflammen.
TR: Es könnte aufflammen und ihre Garage in die Luft jagen, nicht? Genau davon spreche ich. In sich selbst ist das Buddha-Gen dazu in der Lage, es liegt in seiner Natur.
Schüler/Schülerin: Rinpoche, was ist der Unterschied zwischen meditativem Tun und der Meditation im Sitzen? Wenn ich in meinem Atelier an einer Skulptur arbeite, kommt es mir so vor, als flögen die Einsichten mir nur so zu. Das erscheint mir ebenso wichtig wie das formelle Sitzen. Ist daran etwas falsch?
Trungpa Rinpoche: Ja, das ist auch eine interessante Sache. Eben war vom Feuer die Rede. Irgendwer muss erst einmal Feuer machen; dann flammt es auf. Sie haben nun vielleicht das Gefühl, dass sie die Meditation im Sitzen nicht brauchen. Sie denken vielleicht, dass sie diese Erfahrung bereits gemacht haben, und ich will das nicht anzweifeln. Das ist vielleicht bei vielen Menschen so. Dennoch brauchen wir aber irgendeine Art von Feld-Schulung. Wir müssen wissen, wie man zur Wirklichkeit in Beziehung tritt, und wir müssen auch wissen, wie man Disziplin entwickelt. Wenn sie sitzen und Shamatha-Vipashyanā-Meditation üben, wird lange Zeit vermutlich erst einmal gar nichts passieren. Und es steht ja auch gar nicht die Absicht dahinter, dass irgend etwas passieren soll. Wir sind einfach nur still.
Sie schlossen den Brief, den sie mir geschickt haben, mit dem Wort »paix« ab, Friede. Wahrer Friede ist Nichthandeln; Nichthandeln ist die Quelle des Handelns. Wir müssen lernen, ein Fels zu sein, um auch ein Baum oder eine Blume, um Wind, Blitz oder Taifun sein zu können. Wir müssen still sein; dann gehen wir darüber hinaus. Deshalb ist die Übung im Sitzen sehr wichtig.
Wir schulen uns ja nicht in der Absicht, die Welt zu zerstören oder zu unterwerfen. Wir versuchen zur Welt in Beziehung zu treten, wie wir ja auch eine Beziehung zur Geburt unseres ersten Kindes haben und schließlich auch zu unserem eigenen Orgasmus, der sich, hoffe ich, ereignet, wenn sie Liebe machen. Alles Tun, alles Geschehen, ist irgendwie mit dieser Stille verbunden. Das ist keine leere Stille und keine Totenstille – sie ist ohne alles Zutun voller Energie.
Das also ist der Unterschied zwischen dem Zustand nach der Meditation und der eigentlichen Meditation. Meditation bereitet uns auf das Handeln vor, und manchmal bereitet uns das Handeln auf das Nichthandeln vor. Das ist wie Ein- und Ausatmen: Wenn sie ausatmen, ist das Handeln; um aber ausatmen zu können, müssen sie erst einatmen. So geht es immer weiter. Es ist also wichtig, eine strenge Disziplin des Still- und Festseins zu haben. Darin bilden sich Energie und Weisheit. Meditation und der Zustand nach der Meditation sind gleich wichtig in unserem Leben – wie einatmen und ausatmen.
S: Merci beaucoup.
Schüler/Schülerin: Rinpoche, können Sie noch etwas über Vipashyanā-Meditation sagen? Sie sprachen eben davon, aber ich weiß eigentlich nicht recht, was es überhaupt ist.
Trungpa Rinpoche: Vipashyanā ist ein Sanskritwort und bedeutet wörtlich »klar sehen«. Im Tibetischen haben wir dafür das Wort Lhakthong. Lhak bedeutet »höher«, und thong bedeutet »sehen«. Wir sprechen also vom klaren Sehen, vom höheren Sehen.
Vipashyanā beginnt, wenn wir durch Shamatha genügend Genauigkeit und Achtsamkeit entwickelt haben, um immer wach und präsent zu sein. Bei der Shamatha-Übung wird alles Gehörte, Gerochene, Empfundene, werden die Gedanken und alles Übrige einfach betrachtet, aber mit solcher Genauigkeit, dass sie schließlich nichts anderes als die Stille sind. Sie erzeugen dann keinerlei weitere Blasen oder Sinterprodukte.
Sie mögen sagen: »Ach, ich dachte gerade daran, wie mein Vater mir dies und jenes verboten hat.« In der Shamatha-Übung werden, beim Auftauchen eines solchen Gedankens, ihr Vater und ihre Vorstellung von ihm, wie er »Nein, tu das nicht« sagt, in Jetzt und Jetzt und Jetzt unterteilt, und das geschieht ständig. Alles wird auf diese Weise präzise und feinstens zerlegt. Das ist Shamatha.
Im allgemeinen hat das Gedächtnis großes Gewicht in allem, was sie erfahren. Wenn sie in einer Meditationshalle sitzen und aus der Küche Essensgeruch hereindringt, werden sie sich fragen, was da heute wohl gekocht wird. Oder Gesäß und Rücken tun ihnen weh, und sie würden zu gern die Stellung ändern. Shamatha bedeutet nun, dass sie all das einfach anschauen, Jetzt und Jetzt und Jetzt. Sie zerlegen es, aber nicht gewaltsam, sondern indem sie einfach hinschauen – Jetzt und Jetzt und Jetzt.
Durch Shamatha werden sie fähig, jedes Ding einzeln anzuschauen als das, was es jetzt gerade ist, ohne es zur Vergangenheit in Beziehung zu setzen und ohne darüber nachzudenken, wohin diese Erfahrungen wohl führen und was sie mit ihnen machen werden. Alles ist ohne Vor- und Nachgeschichte, einfach nur Jetzt. Sie denken vielleicht an Zwiebelsuppe und wie schön das wäre, jetzt irgendwo Zwiebelsuppe essen zu gehen, aber das ist eben nur ein Gedanke, und sie zerschnippeln ihre Gedanken – Jetzt und Jetzt und Jetzt.
Daraus erwächst Vipashyanā. Auf der Vipashyanā-Ebene atomisiert man nach wie vor aufgrund der Shamatha-Schulung seine Gedanken, aber gleichzeitig führt man sie fort. Die Welt bietet sich uns nach wie vor als ein Panorama dar, aber zugleich haben die Dinge einfach nicht mehr den Zusammenhang, den sie mal besaßen. Die Dinge sind aus einfachen Wirklichkeitsstückchen gemacht. Wenn sie über längere Zeit, eine halbe Stunde lang, Zwiebeln riechen, wird auch dieser Geruch in Geruchs-Momente zerlegt: Sie riechen sie, sie riechen sie nicht; sie riechen sie, sie riechen sie nicht. Gäbe es diese Lücken nicht, dann gäbe es gar kein Riechen.
Die Erfahrungen sind auf der Ich-Ebene nicht kontinuierlich. Wir denken, dass sie alle zusammenhängend sind, miteinander verbunden sind, aber so passiert das nicht wirklich. Alles ist aus [einzelnen] Punkten gemacht. Wenn Erfahrungen in kleine Stücke geschnitten werden, könnte sich daraus eine gewisse Erkenntnis der [dahinterliegenden] Einheit des Wahrgenommenen ergeben. Das ist Vipashyana.
Sie fühlen sich jetzt gut, wenn sie etwa einen Stein berühren, denn sie spüren, dass er keine Kontinuität hat, sondern der Stein des Augenblicks ist. Wenn sie ihren Fächer halten, ist es der Fächer des Augenblicks; wenn sie blinzeln, ist es das Blinzeln des Augenblicks; wenn sie Freunden begegnen, sind es Freunde des Augenblicks: Nichts wird mehr erwartet, nichts verlangt. Alles wird klar gesehen.
Klar sehen – das ist die Definition von Vipashyanā, Ergebnis der Shamatha-Übung. Die Dinge nehmen jetzt etwas unwahrscheinlich Plastisches und Farbiges an, wie eine Disney World, wenn sie so wollen. Sie erkennen jetzt, dass die Ding gar nicht so dicht gefügt und kontinuierlich sind. Aber eben weil sie es nicht sind, gewinnen sie eine unglaubliche Farbenpracht. Je deutlicher sie die Diskontinuität wahrnehmen, desto lebendiger und farbiger werden ihnen die Dinge. Auch hier wieder diese Lücke oder Pause: Um Farbe sehen zu können, müssen sie pausieren, und dann sehen sie wieder Farbe. Sie sehen, sie pausieren, und dann sehen sie wieder dieses klare Leuchten. Das ist die Präzision, mit der man die phänomenale Welt wahrnehmen muss.
Schüler/Schülerin: Rinpoche, Sie haben eben auf eine andere Frage gesagt, man solle in unmittelbarer Beziehung zu seinem eigenen Orgasmus stehen. Was meine eigene Erfahrung angeht, bin ich mir nicht ganz klar, ob Lust überhaupt lustvoll ist. Da ich Aggression und Leidenschaft noch nicht überwunden habe, wie kann ich dann überhaupt eine Beziehung zu den Dingen haben, wenn Lust nicht lustvoll und Schmerz nicht besonders schmerzhaft ist, ich aber darin gefangen bin?
Trungpa Rinpoche: Hier kommt es darauf an zu sehen, dass es so etwas wie »Lust schlechthin« nicht gibt. Anders gesagt, verschiedene Menschen erfahren sogenannte Lust ganz verschieden, je nach Bewusstseinsstand und je nachdem, woher sie kommen und wie sie nach der Lust-Erfahrung weitermachen werden. Lust ist kein festgelegtes Ding.
Manche Leute werden sehr ärgerlich, wenn sie ein Restaurant, in dem sie mal mit großem Behagen gespeist haben, wieder aufsuchen und das Essen jetzt mies und die Bedienung gar nicht gut ist. Dann beschweren sie sich beim Geschäftsführer. Man bekommt einfach nicht immer das, was man erwartet. Ich bin nicht der Trungpa, den sie vor ein paar Tagen gesehen haben. Ich bin ein frischer, neuer Trungpa – eben jetzt! Und so wird es immer sein mit mir. Ich werde heute Abend tot und verschwunden sein, aber auch eben jetzt, in diesem Augenblick, sterbe ich und werde geboren. Wenn ich also das nächste Mal einen Vortrag halte, werde ich ein ganz Anderer sein.
Sie können sich nicht auf irgendeinen bestimmten Bezugspunkt verlassen. Das hat einerseits etwas Frisches an sich und fühlt sich gut an, aber es kann auch traurig sein, wenn man ständig am Vergangenen festhalten möchte. Aber das versteht man erst, wenn man vertraut ist mit der inneren Haltung von Shamatha und Vipashyanā. Und die Shamatha/Vipashyanā-Schulung geht weiter, sogar bis zur Ebene des Vajrayāna.
Wenn sie etwas ganz Phantastisches sehen, wird es in kleine Stücke geschnitten. Das erlaubt ihnen zu atmen, weil es eine kleine Pause zwischen den Stücken gibt; dadurch fangen sie an, diese Stücke mit wahrer Wertschätzung zu sehen. Ich glaube, ich kann es nicht noch plastischer sagen. Sie müssen es wirklich tun. Wenn sie sehen, werden sie glauben.
S: Vielen Dank.
TR: Sehr gern geschehen.
Schüler/Schülerin: Rinpoche, vorhin sprachen Sie darüber, wie wir uns selbst unter Verschluss halten und wie doch das Herz seiner Natur nach wissbegierig und erfahrungsbegierig ist. Nun gibt es aber im Buddhismus eine Ethik – bestimmte Weisen, wie die Dinge getan werden müssen oder nicht getan werden dürfen.
In meiner eigenen Erfahrung ist es nun so: Wenn ich wissbegierig bin, den Zug zu etwas Neuem hin spüre, fällt mir manchmal plötzlich die buddhistische Ethik ein, und ich benutze sie als Bezugspunkt für die Frage, ob ich mich richtig verhalte. Manchmal allerdings frage ich mich, ob ich nicht lieber einfach der Wissbegier nachgeben sollte anstatt mich allzu sehr an die Schriften zu halten. Meine Frage also: Wie kann man wissen, wann man sich besser unter Verschluss hält und wann man lieber drauflosgehen sollte?
Trungpa Rinpoche: Das liegt ganz bei ihnen. Anders gesagt, sie müssen in der Schulung weit genug sein oder zumindest ein Verständnis von der Augenblicklichkeit ihres Geistes haben. Ihr Geist ist nicht kontinuierlich, und dadurch können sie die Welt wahrnehmen, wie sie ist. Dann können sie losgehen und sie weiter erkunden.
Es gibt hierzu kein bestimmtes Dogma; es gibt nicht einmal eine besondere Richtlinie – außer eben: aufrechte Haltung und dem Buddha nacheifern. Das können sie tun. Niemand wird sie vermessen nennen.
S: Ich soll also einfach weiterüben.
TR: Einfach weiterüben, ja.
Anmerkungen zur deutschen Neuauflage
Wir freuen uns dieses Buch, nachdem es so viele Jahre vergriffen war, wieder einem interessierten Leserkreis zur Verfügung stellen zu können. Bei der Durchsicht der Originalübersetzung haben wir nur wenig Änderungen vorgenommen. »Erbarmen«, als Übersetzung für Karuna, hat sich, obwohl es in seiner Wortbedeutung durchaus geeignet scheint, nicht weiter als Terminus durchgesetzt. Deshalb haben wir es meist durch »tätiges Mitgefühl« ersetzt. Eine geschlechterneutrale Sprache haben wir nur ansatzweise eingeführt, um die bestehende Übersetzung nicht zu sehr verändern zu müssen. Wir bitten um Verständnis.
Thomas Maier bin ich für die Korrektur und Durchsicht des eingescannten Textes zu Dank verpflichtet. Ebenso danke ich dem Übersetzer Jochen Lehner sowie dem Shambhala Verlag für die Erlaubnis, dieses Buch wieder herausgeben zu dürfen.
Ein von Chögyam Trungpa schon frühzeitig beschriebenes Problem ist der spirituelle Materialismus. Diesen zu durchschauen und zu authentischer und nicht-intellektueller unmittelbarer Praxis zu finden, markiert den wahren Beginn auf dem spirituellen Weg. Wir würden uns freuen, wenn dieses kleine Juwel Studierende des Dharma zu Resultate bringender Übung und wirklichem Verständnis inspirieren könnte.
Tsultrim Tarchin, Vollmond & Mondfinsternis, 21. Januar 2019
Eine kurze Anmerkung zu diesem eBook: Der Text enthält, wie im gedruckten Buch, diakritische Zeichen zur korrekten Darstellung der Sanskritbegriffe. Sollten diese nicht richtig dargestellt werden, versuchen Sie bitte mit Ihrem eReader die mit dem eBook gelieferte Schrift zu benutzen bzw. die Standartschrift einzustellen. Sollten Sie weitere Fehler oder Inkompatibilitäten finden, lassen Sie uns dies freundlicherweise wissen. Das würde uns helfen, dieses eBook besser zu machen.
Vielen Dank dafür, dass Sie dieses eBook gekauft haben. Sie ermöglichen uns damit an weiteren Texten und zukünftigen Büchern zu arbeiten. In diesen Büchern steckt viel Liebe und sehr viel Zeit. Falls Sie dieses eBook anderweitig erhalten haben sollten, kaufen Sie es doch bitte oder spenden Sie dafür. Vielen Dank. Sarva Maṅgalam
Erster Teil
2
»Der Übergang vom Wissen zur Weisheit ist nicht so, dass man erst Wissen ansammelt und dann urplötzlich weise wird. Weisheit ist so definiert, dass man alles intuitiv schon weiß; sie ist unabhängig vom Ansammeln von Information. Offenbar wissen wir aber nicht, wie man diesen Sprung vom Intellekt zur Weisheit macht. Es scheint eine sehr große Kluft zwischen ihnen zu bestehen, und wir wissen nicht recht, wie man damit umgeht, wie man ein Gelehrter und ein Yogi wird. Offenbar brauchen wir da einen Vermittler. Dieser Vermittler heißt Mitgefühl, einfühlsame Güte: Durch Mitgefühl wird Wissen in Weisheit verwandelt.«
Was den spirituellen Pfad angeht, scheint es zwei unterschiedliche Ansätze zu geben – den intellektuellen und den intuitiven. In der intellektuellen Tradition wird spirituelle Entwicklung als Schärfung des Intellekts angesehen, vor allem durch das Studium der Theologie. In der intuitiven oder mystischen Tradition dagegen ist spirituelle Entwicklung gleichbedeutend mit der Vertiefung von Gewahrsein und Hingabe durch kontemplative Praktiken wie etwa Meditation. Weder der intellektuelle noch der intuitive Ansatz ist jedoch für sich genommen vollständig, und vor allem bilden sie keinen Gegensatz. Sie sind vielmehr zwei Strömungen, die erst zusammen den spirituellen Pfad bilden.
Betrachten wir die beiden Traditionen etwas näher. Im Westen hat die intellektuelle Tradition lange Zeit die führende Rolle gespielt. Und in manchen buddhistischen Ländern hat die scholastische Gelehrsamkeit derart überhand genommen, dass die buddhistischen Gelehrten die meditative Tradition ganz aus dem Auge verloren. Buddhisten, die großen Wert auf die intellektuelle Seite der Lehre legen, sehen es häufig als gefährlich an, mit der Meditation zu beginnen, bevor man die Theorie beherrscht. Also stellen sie das Studium an den Anfang des spirituellen Pfades und werden sehr gelehrt. Wenn sie dann aber alles intellektuell erfasst haben und die Theorien des Buddhismus beherrschen, meinen sie, sie brauchten nun gar nicht mehr zu meditieren, weil sie alle Fragen schon gelöst haben. Vertreter dieser Richtung betrachten den Buddha als den gelehrtesten aller Gelehrten und Erleuchtung als totales Informiertsein.
Die Vertreter der intuitiven Tradition dagegen betrachten Studium und Analyse als Hindernisse für die spirituelle Entwicklung. Sie erkennen deutlich, dass bloße Kenntnisse, die nicht in persönlicher Erfahrung wurzeln, ziemlich gegenstandslos sind, und so gelangen sie häufig zu einer grundsätzlichen Ablehnung des intellektuellen Ansatzes. Die Meditationsübung, sagen sie, ist der einzige Zugang zur Einsicht. Um Erleuchtung zu erlangen, braucht man nach dieser Ansicht überhaupt keine Kenntnisse. Der Buddha wird hier als der vollendete Meditationsmeister betrachtet, und der Erleuchtung ist man dann nahe, wenn man einfach in Schönheit sitzen kann.
Jede dieser beiden Einstellungen gegenüber dem Spirituellen ist unvollständig, weil sie nur einen Aspekt der Erfahrung berücksichtigt. Es gibt aber auch kontemplative Traditionen des Buddhismus, zum Beispiel den tibetischen Weg und den Zen-Weg, die sehr viel Wert auf die Meditation legen, aber das Studium keineswegs ausschließen. Hier gilt, dass die Schärfung der Intelligenz nicht nur vereinbar ist mit der meditativen Schulung, sondern diese sogar ergänzt und fördern kann. Zuerst bedarf man einer gewissen Grundlage der meditativen Übung; dann kann man anfangen, sich mit den intellektuellen Aspekten der Tradition auseinanderzusetzen. So kann das Studium eine Ergänzung der Erfahrung werden und bleibt nicht bloße Ansammlung beziehungsloser Information. Anstatt ein dumpfer Sitzer oder ein in den Wolken schwebender Intellektueller zu werden, kann der Schüler sich zu einem intelligenten Yogi entwickeln – Gelehrter und Praktizierender zugleich.
Erleuchtung geht über die Begrenztheit sowohl der kontemplativen als auch der intellektuellen Traditionen hinaus. Erleuchtung beschreibt die Ganzheit des Menschen und ist das, was die buddhistische Einstellung zur Spiritualität eigentlich ausmacht. Sie bahnt sich in einem Zustand an, den wir als tiefe Versunkenheit beschreiben könnten. Damit ist jedoch keine Trance gemeint, in der der Kontakt zur Welt völlig abreißt. Vielmehr ist diese Versunkenheit ein Gefühl von Totalität und Offenheit, die weder Anfang noch Ende zu haben scheinen. Diesen Zustand nennt man »vajragleicher Samādhi«. Die Bedeutung von Vajra ist die einer psychischen Unzerstörbarkeit. Da dieser geistige gesunde Zustand lücken- und fehlerlos ist, vollkommen in sich mit seinen eigenen Fähigkeiten geeint, kann er nicht zerstört werden. Und Samādhi verweist auf die Stille der Intelligenz, die in sich selbst ruht und für sich selbst besteht, anstatt herumzustöbern und aus allem irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Der vajragleiche Samādhi ist ein dreifacher Prozess aus Prajñā, der höchsten Form des Intellekts, Karunā, der höchsten Form des Mitgefühls, und Jñāna, der höchsten Form der Weisheit.
Prajñā, der Intellekt, ist zutiefst intuitiv, aber zugleich auch von intellektueller Präzision. Wenn wir Menschen und Situationen in der rechten Aufmerksamkeit begegnen, wirkt Prajñā so, dass sie uns ganz von selbst Antworten geben und das richtige Verstehen ermöglichen. Wir brauchen also nicht zu analysieren, wir brauchen unsere Intelligenz nicht noch eigens zu schulen. Diese Intelligenz scheint überall und doch punktgenau zu sein – scharf, präzis und direkt, aber nicht wie ein Meißel, der nur sprengen kann, oder wie eine Heftzwecke, die nur »festnagelt«.
Das zweite Element des Samādhi-Prozesses ist Karunā, »tätiges« oder »erleuchtetes Mitgefühl«. Meist wird dieses Wort allerdings einfach als »Mitgefühl« oder gar als »Mitleid« übersetzt und diese Wörter haben in unserer Sprache Assoziationen, die mit Karunā nichts zu tun haben. Machen wir uns also klar, was mit »erleuchtetem Mitgefühl§« gemeint ist. Unter einem mitfühlenden Menschen verstehen wir normalerweise jemanden, der gütig, sanft und verständnisvoll ist und dem nie der Kragen platzt. Solch ein Mensch ist stets bereit, uns alle Fehler zu verzeihen und uns zu trösten. So schätzenswert solch eine gütige und wohlwollende Seele auch ist, tätiges oder erleuchtetes Mitgefühl geht tiefer.
In der buddhistischen Tradition wird oft gesagt, dass wahres Mitgefühl wie ein Fisch sei und Prajñā wie das Wasser. Intellekt und Mitgefühl sind abhängig voneinander, aber zugleich haben sie auch beide ihr eigenes Leben und Wirken. Tätiges Mitgefühl ist einerseits ein Zustand völliger Ruhe, aber es gehören auch Intelligenz und wahre Lebendigkeit dazu. Ohne Intelligenz und Geschicklichkeit kann Mitgefühl zu stümperhafter Wohltätigkeit verkommen. Nehmen wir etwa an, jemand sei furchtbar hungrig, und wir gäben ihm zu essen. Jetzt ist er erst einmal satt. Aber der Hunger kommt wieder. Tag für Tag. Und wenn wir diesem Menschen immer wieder zu essen geben, wird er früher oder später anfangen, sich darauf zu verlassen. In dem Augenblick haben wir ihn zu einem rückgratlosen Schwächling gemacht, der gar nicht mehr Ausschau hält nach Möglichkeiten, sich aus eigener Kraft zu ernähren. Und das ist in Wirklichkeit gefühlloses Mitgefühl oder Mitgefühl ohne geschickte Mittel. Wir nennen es »Idiotenbarmherzigkeit«.
Die Kennzeichen von wahrem Mitgefühl sind Gelassenheit und Klugheit und der umsichtige Einsatz aller Mittel. Man stürmt hier nicht einfach in blindem Übereifer los, sondern betrachtet die Lage vollkommen ruhig und nüchtern. In dieser Nüchternheit erkennt man klar die Prioritäten: Was muss sofort geschehen, und was kann noch warten. Diese Art von Mitgefühl könnte man intelligente Liebe oder intelligente Zuneigung nennen. Wir wissen, wie wir unserer Zuneigung so Ausdruck geben können, dass sie den Menschen nicht untergräbt und unselbständig macht, sondern ihm hilft, sich zu entwickeln. Das ist eher ein Tanz als eine Umarmung. Und die Musik dazu ist Prajñā, der Intellekt. Der Tanz des Mitgefühls zur Musik von Prajñā findet statt vor dem alles umschließenden Hintergrund von Jñāna, der Weisheit.
Schauen wir uns die Verknüpfung dieser drei Aspekte der Erleuchtung – Wissen, Mitgefühl und Weisheit – etwas näher an. Wir beginnen mit Prajñā, dem Wissen: Wir müssen wissen, wo wir sind, wir müssen unsere Umwelt erkunden, unseren besonderen Ort in Raum und Zeit. Wissen kommt also zuerst, und Weisheit folgt später. Wenn wir erst einmal wissen, wo wir sind, können wir weise werden, denn wir haben dann nicht mehr um unsere Orientierung zu ringen. Auch »Positionskämpfe« entfallen dann. Weisheit hat also mit Gewaltlosigkeit zu tun: Wenn wir weise sind, brauchen wir um nichts mehr zu kämpfen.
Der Übergang vom Wissen zur Weisheit ist nicht so, dass man erst Wissen ansammelt und dann urplötzlich weise wird. Weisheit ist so definiert, dass man alles intuitiv schon weiß; sie ist unabhängig vom Ansammeln von Information. Offenbar wissen wir aber nicht, wie man diesen Sprung vom Intellekt zur Weisheit macht. Es scheint eine sehr große Kluft zwischen ihnen zu bestehen, und wir wissen nicht recht, wie man damit umgeht, wie man ein Gelehrter und ein Yogi wird. Offenbar brauchen wir da einen Vermittler. Dieser Vermittler heißt Mitgefühl, einfühlsame Güte: Durch Mitgefühl wird Wissen in Weisheit verwandelt.
Wir fangen vielleicht damit an, dass wir allerlei Informationen sammeln, um große Gelehrte oder wandelnde Bücher zu werden. Das Anhäufen von Kenntnissen und die Ausbildung der Logik gehören durchaus zum Prajñā-Prozess. Auf dieser Ebene können wir unsere Erfahrung logisch, ja mathematisch behandeln. Aber wie machen wir diese Informationssammlungen zu einem Teil unserer selbst?
Wenn wir Prajñā, das Wissen, psychologisch und spirituell zu seiner ganzen Fülle entwickeln, fühlen wir vielleicht ein Gefühl der Freundlichkeit, Wärme und Güte in uns wachsen, und nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Welt. Das ist aber kein Herausstreichen unseres Ego – uns selbst auf die Schulter klopfen für all die akademischen Titel, die wir gesammelt haben. Nein, diese Freundlichkeit ist eine Art Fasziniertsein von unseren gesammelten Ideen und Kenntnissen; die Welt ist uns faszinierend geworden, und wir möchten zu gern wissen, was es mit all dem auf sich hat. So heißt es zum Beispiel von großen Naturwissenschaftlern wie Einstein häufig, sie seien ziemlich eigen, wenn nicht exzentrisch geworden. Irgendwann transzendieren sie offenbar die herkömmliche Logik und gehen dann ihren ganz eigenen Weg. Ganz versunken in ihr ureigenes Wissen, ihre Prajñā, bricht sich etwas ganz Weiches in ihnen Bahn, und das macht ihre »Exzentrik« aus. Das scheint die Domäne von Karunā, der wahren Freundlichkeit, zu sein, die einen Raum entstehen lässt, in dem man hin und her wandern kann zwischen Weisheit und Wissen. In diesem Bewusstseinszustand besteht keine Kluft mehr zwischen Intellekt und Intuition. Stattdessen entwickelt sich in ihrem Spannungsfeld ein Drittes, und das nennen wir erleuchtetes Mitgefühl.
Je mehr die Kraft des tätigen Mitgefühls zunimmt, desto größer wird unsere Wertschätzung für alles, was wir entdeckt haben. Wir fassen eine tiefe Zuneigung zu dem Wissen, das wir erworben haben. Wir haben gesehen, wie die Dinge funktionieren, und jetzt gewinnt all das etwas sehr Persönliches. Wir möchten es gern mit jedermann teilen. Es hat etwas von einem rauschenden Fest. Wir müssen unsere Ideen nicht beweisen, und wir brauchen uns nicht angegriffen zu fühlen. Es macht uns einfach froh, an diesem Wissen teilzuhaben, und diese Freude, Auslöser für den Übergang vom Wissen zur Weisheit, ist Mitgefühl oder bedingungslose Liebe.
Es scheint für uns ein weiter Weg zu sein bis zu dem Punkt, von dem an wir nicht mehr von äußeren Bestätigungen und Ermutigungen oder überhaupt von äußeren Bezugspunkten abhängig sind: bis zum Punkt der Weisheit also. Diese Weisheit ist außerordentlich findig und schöpferisch: Anstatt alle Details eines bestimmten Gebiets erforschen zu müssen, nehmen wir einfach intuitiv und sehr genau das Ganze wahr. Deshalb wird der Buddha der Allwissende genannt. Nicht weil er ein großer Gelehrter war, der alle Bücher gelesen hatte und über alle Kenntnisse verfügte, sondern weil er ein untrügliches Gespür für alles besaß. Auf der Ebene der Weisheit sind alle Pläne der Welt, alle Kopfgeburten des Universums durchschaut; Zahlen, Daten, Fakten spielen hier keine gar so große Rolle mehr.
Als Einzelne auf dem spirituellen Pfad gewinnen wir immer wieder und immer häufiger kurze Einblicke in diesen erleuchteten Zustand. Verdeutlichen wir es an einem etwas negativ klingenden Beispiel: Wenn sich bei uns schleichend eine tödliche Krankheit entwickelt, spüren wir anfangs vielleicht nur einmal im Monat etwas davon. Doch mit der Zeit werden die Anfälle häufiger, vielleicht einmal die Woche, dann jeden Tag oder mehrmals täglich. Schließlich lässt die Krankheit uns gar nicht mehr los, sie ringt uns nieder, und wir sterben. So vollzieht sich auch der Tod des Ego, das Erwachen zur Erleuchtung. Wir brauchen uns nicht ständig zu bemühen, die Erleuchtung zu erzeugen – sie geschieht einfach. Sie fällt uns zu, während unser Leben seinen Gang geht.
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»Die Ergebenheitsbeziehung zwischen Schüler und Meister wird ein lebendiges Bild der Beziehung, die der Schüler zum Leben insgesamt hat. Im Laufe der Zeit arbeitet sich diese Beziehung durch viele Schichten der unechten Kommunikation hindurch, durch immer subtilere Täuschungsmanöver des Ich. Für den Schüler kann das zu einer vollkommen klaren und unverstellten Beziehung zu seiner Welt führen.«
Ergebenheit im landläufigen Sinne hat mit Vertrauen zu tun. Das Objekt der Ergebenheit, sei es Mensch oder Idee, wird als vertrauenswürdig und verlässlich empfunden, solider und realer als man selbst. Im Vergleich empfindet der Ergebene sich als ein bisschen unsicher, nicht verlässlich oder vollständig genug. Er meint, dass ihm etwas fehlt, und das ist der Grund seiner Ergebenheit. Auf seinen eigenen Füßen fühlt er sich ungenügend, und so sucht er anderswo Rat und Geborgenheit. Eine Ergebenheit dieser Art können wir allen möglichen Ideen, aber auch unseren Eltern, unseren Schullehrern, unseren spirituellen Lehrern, unserem Bankmanager, unserer Frau oder unserem Mann entgegen bringen – jedem, der »das Lebensziel«, wie man so sagt, erreicht hat, und das kann irgendwer sein, der eine Menge Erfahrung oder Information gesammelt hat.
Ganz allgemein scheint der Charakter der Ergebenheit davon abzuhängen, wie wir das, was wir an Vertrauen und Vernunft in uns selbst haben, zu etwas anderem in Beziehung setzen, das außerhalb ist. In der buddhistischen Tradition spielt die Ergebenheit gegenüber unserem Lehrer oder Meister eine außerordentlich wichtige Rolle. Sie kann zwar wie die herkömmliche Ergebenheit anfangs von einem Unzulänglichkeitsgefühl getragen sein – von dem Wunsch, sich vor dieser Unzulänglichkeit zu drücken, anstatt sich ihr zu stellen und sich ihrer anzunehmen –, aber sie geht dann doch weit darüber hinaus. Die Ergebenheitsbeziehung zwischen Schüler und Meister wird ein lebendiges Bild der Beziehung, die der Schüler zum Leben insgesamt hat. Im Laufe der Zeit arbeitet sich diese Beziehung durch viele Schichten der unechten Kommunikation hindurch, durch immer subtilere Täuschungsmanöver des Ich. Für den Schüler kann das zu einer vollkommen klaren und unverstellten Beziehung zu seiner Welt führen. Und was den Schüler bei dieser langen, schwierigen und oft sehr schmerzhaften Entdeckungsreise bleiben lässt, ist eben diese Ergebenheit gegenüber dem Meister – die Überzeugung, dass er die Wahrheit dessen, was er lehrt, tatsächlich verkörpert. Durch alle Schichten dieser Entwicklung hindurch können wir an der Ergebenheit zwei Hauptaspekte ausmachen: Bewunderung und das Fehlen von Hochmut.