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© 2020 Frank Zinn

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7526-2123-5

Inhalt

Vorwort

Wie kam die Anemone zu ihrem Namen? Was haben die Lilie und die Milchstraße gemeinsam? Und warum trägt der Maulbeerbaum dunkle Früchte? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, wird sie in der Schatztruhe der griechischen Mythologie finden. In den alten Sagen ist die vielfältige und artenreiche Flora Griechenlands tief verwurzelt. Überall, wo Götter und Helden sich tummeln, sprießen Blumen und tanzen scheue Nymphen um ihre Bäume. Blühende Wiesen und schattige Wälder dienen aber nicht nur als stimmungsvolles und symbolträchtiges Ambiente für die mythische Handlung. Manchmal stehen die Pflanzen selbst im Mittelpunkt der Mythen. Solche Geschichten erzählen dann von ihrem Ursprung und bieten Erklärungen dafür, warum bestimmte Blumen oder Bäume bestimmten Göttern besonders heilig waren.

Das zentrale Motiv vieler Pflanzenmythen ist die Verwandlung. Durch göttlichen Eingriff werden Sterbliche zumeist unter tragischen Umständen in Sträucher, Bäume oder Blumen verwandelt. Häufig geschieht dies, um sie vor den Nachstellungen lüsterner Gottheiten zu schützen oder um einem geliebten Verstorbenen ein Weiterleben in anderer Gestalt zu ermöglichen. Manchmal ist die Metamorphose auch eine Form der Strafe für frevelhaftes Verhalten. Zahlreiche dieser Pflanzen wachsen heute in unseren Gärten und Parks; und ihre vertrauten Namen – wie Narzisse, Hyazinthe oder Krokus – erinnern an die Verwandelten und ihre Schicksale.

In den Mythen begegnet uns eine Natur, die durchdrungen ist von einer immerwährenden Präsenz göttlicher Mächte. Verkörpert wird diese Aura des Übernatürlichen insbesondere durch die Gestalt der Nymphe. Nymphen sind anmutige weibliche Naturgeister, immer schön und immer jung, den Göttern sehr ähnlich, allerdings sterblich. Nymphen empfinden eine tiefe Verbundenheit zu ihrem spezifischen natürlichen Lebensbereich. Bei manchen Baumnymphen, Dryaden oder Hamadryaden genannt, kann das gemeinsame Band dermaßen stark sein, dass die Nymphe mit ihrem Baum eins ist und nur so lange lebt, wie auch der Baum lebt.

Der natürliche Kreislauf von Werden und Vergehen, von Leben und Tod ist der rote Faden, der sich durch viele antike Pflanzenmythen zieht. Pflanzen wohnt seit jeher eine große Symbolkraft inne. Sie können Aspekte wie Stärke, Reinheit, Schönheit, Fruchtbarkeit und Wachstum symbolisieren, aber eben auch Zerbrechlichkeit, Tod und Verfall. Jedes Jahr erwacht die Vegetation aufs Neue, trägt reife Früchte und welkt schließlich dahin. In der naturnahen, landwirtschaftlich geprägten Welt des alten Griechenlands hat man diese Zusammenhänge viel intensiver wahrgenommen, als wir es heute tun. Viele der Geschichten, die vom Ursprung der Pflanzen erzählen, sind Ausdruck dieses Welt- und Naturverständnisses.

Die Welt der griechischen Mythologie gleicht einem Garten. Dieses Büchlein lädt dazu ein, diesen wunderbaren Garten zu betreten und bei einem beschaulichen Spaziergang den Geschichten zu lauschen, die die Blumen und Bäume am Wegesrand zu erzählen haben. Und vielleicht wird die Leserin oder der Leser fortan auch die Pflanzen im eigenen Garten mit etwas anderen Augen sehen.

Pflanzenmythen

Von A wie Anemone bis Z wie Zypresse

Νύμφαι μὲν χαίρουσιν, ὅτε δρύας ὄμβρος ἀέξει,

Νύμφαι δ’αὖ κλαίουσιν, ὅτε δρυσὶ μηκέτι φύλλα.

Nymphen freuen sich, wenn Regen die Eichen gedeihen lässt;

Nymphen weinen hingegen, wenn Eichen keine Blätter mehr tragen.

(Kallimachos, Hymnus auf Delos 84f.)

Anemone

ἀνεμώνη (anemone)

Adonis war das Kind der verbotenen Liebe zwischen König Kinyras von Zypern und seiner Tochter Myrrha (s. S. →f.). Die Götter hatten ihn mit großer Schönheit gesegnet. Nachdem er zu einem jungen Mann herangewachsen war, bezauberten sein Antlitz und seine Gestalt sogar Aphrodite. Die Göttin verliebte sich in ihn und beide wurden ein Paar. Aphrodite allerdings wusste nur zu gut, wie zerbrechlich dieses Liebesglück war. Sie kannte die Gefahren, die allen Sterblichen drohen. Daher ermahnte sie ihren Geliebten eindringlich, bei der Jagd die gefährlichen Tiere zu meiden, damit ihm nicht ein Unglück geschieht. Der Wagemut der Jugend jedoch ließ Adonis die mahnenden Worte vergessen. Als bei einem Jagdausflug seine Hunde einen Eber aufspürten und aus dem Dickicht trieben, warf er seinen Speer nach dem wilden Tier. Doch die Wunde, die er ihm zufügte, war nicht tödlich. Der Eber, nun auf das Äußerste gereizt, stürzte sich auf den fliehenden Jäger und stieß ihm seine Hauer in die Flanke.

Aus der Ferne hörte Aphrodite das Stöhnen des Jünglings. Sofort eilte sie auf ihrem von Schwänen gezogenen Wagen herbei, um ihrem Geliebten zu helfen – aber sie kam zu spät. Aus Adonis’ Körper war alles Leben gewichen, ihr selbst blieben nur Verzweiflung und Trauer. Damit ihre Liebe nicht gänzlich verloren geht, sprengte sie göttlichen Nektar auf sein Blut und sofort begann eine jährlich wiederkehrende Blume zu sprießen, die Anemone, rot wie das Blut des Adonis und so kurzlebig wie das Leben der Menschen in den Augen der Götter. So erzählen es die einen. Andere hingegen behaupten, dass die Anemone allein aus den Tränen der Göttin entspross, während aus Adonis’ Blut die der Aphrodite heilige Rose (Essig-Rose, Rosa gallica) hervorging1.

Zur Gattung der Anemonen, auch Windröschen genannt, gehören rund 150 Arten, von denen die Kronen- oder Gartenanemone (Anemone coronaria) eine der wichtigsten ist. Die im Mittelmeerraum heimische Kronenanemone ist ein ausdauernder Frühjahrsblüher. Ihre Wuchshöhe beträgt 8 bis 25 cm. Ihre Blüten sind scharlachrot, violett oder blau, seltener weiß oder rosa. Der Name Anemone leitet sich sehr wahrscheinlich vom griechischen Wort für Wind (anemos) ab. In der Antike glaubte man, die Blume öffne ihre Blüten nur dann, wenn der Wind weht. Eine schöne, aber natürlich falsche Vorstellung. Die Anemone ist eine typische Frühjahrsblume, die in Pracht erblüht, um dann bald wieder zu vergehen. Sie steht damit symbolhaft für den jahreszeitlichen Zyklus von Geburt, Blüte und Tod in der Natur. Ein Motiv, das im antiken Adoniskult eine wichtige Rolle spielte.

Abb. 1: Anemonen

Abb. 2: Apfelbaum

Apfelbaum

μηλέα (melea)

Die Hochzeit von König Peleus und der Meergöttin Thetis war ein rauschendes Fest. Menschen und Götter waren zusammengekommen, um das große Ereignis gemeinsam zu feiern. Nur Eris, der Göttin der Zwietracht, hatte man den Zutritt verwehrt, denn niemand mochte den personifizierten Streit an seiner Festtafel haben. Was für eine Demütigung für Eris! Wütend sann sie nach einer Möglichkeit, sich zu rächen und Zank und Hader unter die Feiernden zu säen. Da erinnerte sie sich an den herrlichen, goldene Früchte tragenden Apfelbaum, den die Erdgöttin Gaia als Hochzeitsgeschenk für Hera hatte wachsen lassen. Er stand am äußersten Rand der Welt, im Garten der Hesperiden, wo er von den Nymphen und dem Drachen Ladon bewacht wurde. Gedankenschnell schmiedete Eris ihren böswilligen Plan. Sie begab sich zum Garten, pflückte einen der Goldäpfel, schrieb „Für die Schönste“ darauf und warf ihn in hohem Bogen mitten unter die Hochzeitsgäste. Als Hera, Athene und Aphrodite lasen, was auf dem Apfel geschrieben stand, glaubte jede von ihnen, er stehe ihr zu, denn sie sei schließlich die Schönste. Ein heftiger Streit entbrannte, den Zeus zu schlichten versuchte, indem er Paris, den Sohn von König Priamos von Troja, zum Schiedsrichter ernannte. Er sollte entscheiden, welcher Göttin der Siegespreis gebührt.

Der ahnungslose Paris hütete derweil die Herden seines Vaters. Gerade hatte er es sich im Schatten eines Baumes gemütlich gemacht, als der Götterbote Hermes und die drei zankenden Göttinnen plötzlich vor ihm standen und ihn aufforderten, die schönste unter ihnen zu erwählen. Paris aber konnte sich beim besten Willen nicht entscheiden. Da trat Athene an ihn heran und versprach, als Siegerin würde sie ihm Tapferkeit und Kriegsglück schenken. Hera dagegen stellte ihm die Herrschaft über ganz Asien in Aussicht, sollte er sie erwählen. Aphrodite aber löste ihr Gewand, zeigte Paris ihre makellosen Brüste und sprach: „Vergiss Tapferkeit und Königreiche. Wählst du mich, dann wird Helena von Sparta, die schönste unter den Sterblichen, neben dir im Brautbett liegen.“ Die Liebesgöttin hatte noch nicht ausgesprochen, da überreichte ihr Priamos’ Sohn schon den goldenen Hesperidenapfel und kürte sie zur Siegerin2.

Der sprichwörtlich gewordene „Zankapfel“ der Eris und das Parisurteil lösten eine Kette dramatischer Ereignisse aus. Sie führten zur Entführung der Helena, zum Feldzug der Griechen gegen Troja und schließlich zu Trojas Zerstörung und Untergang.

Apfelbäume standen wie alle Obstbäume denjenigen Gottheiten nahe, die wie Demeter und Dionysos Fruchtbarkeit spendeten und die Feldfrüchte schützten. In besonderem Maße aber waren sie der Liebesgöttin Aphrodite heilig. Sie wuchsen in ihren Heiligtümern und Hainen. Äpfel galten zudem als Symbol der Liebe. Einem geliebten Menschen einen Apfel zu überreichen oder spielerisch zuzuwerfen, drückte tiefe Zuneigung und die Hoffnung auf Erwiderung dieses Gefühls aus. Von solchen „Liebesäpfeln“ erzählt der Mythos von Atalanta und Hippomenes.