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Und alles nur, weil ich anders bin ...
Martina Meier (Hrsg.)
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2014.
Titelbild: Kateryna Kostiuchenko
ISBN: 978-3-86196-392-9 – Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-423-8 – E-Book
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Stella
Weil ich bin, so wie ich bin
Schokoladencreme und Toast
Schritt für Schritt
Weil ich anders bin
Ich bin ich
In der Fremde
Anderssein
Das Outing
Wenn der Krieg Schatten wirft
Ich liebe dein Lachen, mein Freund!
Gleich
Unersetzbarer Wert des Lebens
Anders sein wollen?
Ich bin anders – und was bist du?
Magnus, das Kind vom anderen Stern
Wie Vorurteile unser Leben prägen
Sturmfalke
Das Heim
Gedanken
Mama total durchgeknallt
Der blaue Olli
Martin
Ein verhängnisvoller Anruf
Das Fehlen der Wörter
Die Anderen
Weil ich anders bin
Karsten
Eigenleben
Espresso mit Sahne
Ein stiller Gast
Das Monster
Von Schneeflocke zu Mensch
Rattenfängerin
Verzweifelt standhaft
Die Polizeikontrolle
Anders
Der richtige Weg
Die kitzelige Schlange
Gespenster
Ein Tag wie jeder andere
Karl, der einsame Geist
Die Schriftstellerin
Mückenflug
Larissa
Mein anderes Ich! !hcI seredna nieM
Alles Spinnerei?
Leben im Traum
Mein Traum
Mirko
Ein Nachwort
Impressum
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„Frau Kirchhoff, nun kommen Sie schon. Nicht trödeln!“ Stella verdrehte innerlich die Augen, schaffte es jedoch, ihren Mund zu einem freundlichen Lächeln zu verziehen. „Ich komme schon, Frau Tannheimer!“ Stella wollte hinter ihrer Chefin in die schwere Limousine steigen, wurde aber durch vehementes Armwedeln davon abgehalten.
„Nicht hierher heute! Setzen Sie sich gleich nach vorne! Wenn die Gräfin zusteigt, müssten Sie ihr ja sowieso den Platz räumen.“
„Ja, Frau Tannheimer.“ Ungerührt nahm Stella auf dem Beifahrersitz Platz. Für das Geld, das ihr Frau Tannheimer bezahlte, würde sie auch im Kofferraum mitfahren. Stella war nun seit beinahe einem Jahr als persönliche Assistentin der Unternehmergattin beschäftigt und war bis heute davon überzeugt, dass Frau Tannheimer keine Ahnung hatte, was ein normales Einstiegsgehalt für eine Studierte darstellte und was nicht. Oder es war ihr egal. Auf jeden Fall hatte dieses Gehalt Stellas Weg in ihren Berufsalltag wesentlich erleichtert. So in Gedanken hatte Stella gar nicht mitbekommen, dass sie bereits vor der Villa der Gräfin vorgefahren waren. Erst deren lautes Geschnatter, was als Begrüßung für Frau Tannheimer gemeint war, weckte sie. Stella selbst wurde von der Gräfin geflissentlich ignoriert. Mit Personal sprach man schließlich nur, wenn es sich nicht umgehen ließ. Stella grinste in sich hinein. Die Gespräche der beiden Frauen auf der Rückbank begannen sich um das Charity-Event zu drehen, zu dem sie auf dem Weg waren. Beide hatten dem Projekt keine unerheblichen Summen zur Verfügung gestellt. Dass die eine die andere dabei zu übertrumpfen versuchte, diente in diesem Fall der Sache.
Stella biss die Zähne zusammen. „Was soll’s“, dachte sie, „wenn es Frauen wie diese nicht gäbe, die freigiebig das Geld ihrer Männer ausgaben, damit die wiederum bei der Steuer besser dastanden, würde es vielen Organisationen um einiges schlechter gehen.“ Schade war nur, so fand Stella, dass selten Geld und wahres Mitgefühl in einer Person zusammentrafen. „Ach, diese armen Mädchen“, seufzte die Gräfin gerade. „Da verstümmelt man sie, nur weil man das bei Jungen auch macht. Und alles im Namen der Tradition.“
„Ja, ja“, antwortete Frau Tannheimer, „aber wir tun ja etwas dagegen!“ Stella kochte innerlich. Sie hatte sich schon gedacht, dass Frau Tannheimer eigentlich nichts über Genitalverstümmelung wisse, als sie mit ihr die Charity-Projekte des Monats durchgegangen war, doch die Gräfin schien bei noch mehr zur Verfügung stehendem Geld noch weniger Ahnung zu haben.
„Und die Schmerzen, die das auslösen muss“, drängte sich erneut die Gräfin in Stellas Bewusstsein. „Mir hat schon die eine Geburt, die ich erleben musste, gereicht! Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlen muss ... da unten!“ Offenbar hatte die Gräfin eine eindeutige Bewegung in Richtung da unten gemacht, denn beide Damen auf der Rückbank kicherten wie alberne Teenager. Stella glaubte mittlerweile, zu platzen.
„Geld“, dachte sie, „denk an das Geld, das nach Afrika – oder wo immer es gebraucht wird – fließen wird!“
„Schade, dass Waris Dirie nicht da sein kann, die hat ja dieses Buch geschrieben.“ Diesmal war es Frau Tannheimer, die sprach. Nicht, dass sie von allein auf die Idee gekommen wäre, besagtes Buch zu lesen. „Wozu hat man schließlich eine persönliche Assistentin?“, hatte sie gefragt und sich den Inhalt von Stella zusammenfassen lassen.
„Nein, schade“, antwortete die Gräfin, „aber irgendein anderes Mädchen wird ja berichten.“
„Ja, auf die geschundene Seele bin ich schon gespannt. Hoffentlich hat die sich so weit im Griff, dass die nicht die ganze Zeit heult. So was kann ich ja gar nicht leiden.“
„Und wo sie die wohl aufgetrieben haben. Solche Mädchen gibt’s doch nicht an jeder Straßenecke. Schon gar nicht in Europa!“
In diesem Moment fuhr die Limousine an einer Villa vor, die noch einmal größer war als die Anwesen der Damen. Stella konnte den Neid der beiden nahezu greifen. Ein Portier öffnete die hintere Tür und half beim Aussteigen. Stella war längst auf die hell gepflasterte Einfahrt getreten und sah die Gastgeberin des Nachmittags auf die Gruppe der Neuankömmlinge zukommen.
„Gräfin! Frau Tannheimer!“, rief diese schon von Weitem. Dann trat sie zu den Damen und schüttelte ihnen herzlich die Hände. „Meine Organisation und ich danken Ihnen von Herzen für Ihre großzügigen Spenden.“
Beide lächelten geziert. Dann drehte sich Frau Tannheimer zu Stella um. „Ich habe meine persönliche Assistentin mitgebracht, ich hoffe, das stört nicht. Sie kann sonst auch draußen warten. Dies ist Stella ...“
„Frau Kirchhoff, wie schön!“ Die Gastgeberin nahm die junge Frau herzlich in die Arme. „Deshalb hatten Sie auch keine Probleme mit der Anreise. Persönliche Assistentin, kein schlechter Job! Frau Tannheimer, Sie entschuldigen uns.“ Die elegante Dame hatte die Hand liebevoll auf Stellas Arm gelegt.
„Aber ich ...“, versuchte Frau Tannheimer lautstark Einwände zu erheben, wurde jedoch erneut von der lächelnden Gastgeberin unterbrochen. „Sollten Sie etwas benötigen, wenden Sie sich an meine Angestellten, man wird Ihnen jeglichen Komfort bieten. Frau Kirchhoff sollte sich vor ihrem Vortrag noch ein wenig ausruhen.“
„Vortrag?“, fragte Frau Tannheimer verwirrt.
„Hat Ihnen das Frau Kirchhoff gar nicht erzählt?“ Sie wandte ihren Kopf Stella zu. „Sie sind zu bescheiden, meine Liebe. Aber letztendlich geht man schließlich mit seiner Vergangenheit auch nicht hausieren – gerade wenn diese schmerzlich ist.“ Dann drehte sie sich um und führte Stella ins Haus.
„Hast du das gewusst? Dass sie ursprünglich aus Afrika stammt?“, fragte die Gräfin.
„Und heute die Vortragende ist? Wohl kaum!“ Frau Tannheimers Stimme drückte deutliches Missfallen aus. „Ich habe nur gedacht, dass es sehr passend ist, eine schwarze Assistentin mitzubringen, wenn man denn schon eine hat.“
„Und dabei wirkt sie doch ganz normal, ich hab immer gedacht, so was sieht man den Leuten schon von Weitem an!“
„Geht mir genauso“, antwortete Frau Tannheimer.
Britta Voß lebt in Göttingen, wo sie auch studiert hat. Ihre Kurzgeschichten haben bereits Aufnahme in viele Anthologien gefunden.
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Manches Mal,
anders,
mein Denken,
manches Mal,
anders,
mein Fühlen,
manches Mal,
anders,
meine Ansicht,
unverstanden von vielen doch so oft,
manches Mal,
anders,
manches Mal belächelt,
so von anderen,
im Stillen,
doch,
nicht nur manches Mal,
sondern immer,
nicht nur ab und zu,
bleibe ich einfach ich,
weil ich
ich bin,
so wie ich bin!
Dani Lorenz lebt in einer Kleinstadt in Bayern in der Oberpfalz. Schreiben ist ihre Leidenschaft. Weitere Werke gibt es zu lesen auf ihrer Homepage: www.danilyrik.de.
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Langsam setzte ich mich auf den grauen Stein. Er war neu, es hatte sich noch kein Moos darauf angesiedelt und die Witterung hatte seine Farbe noch nicht verändert. Aus meinem Rucksack nahm ich eine Packung Toast und ein Glas Schokoladencreme, stellte beides neben die frisch angepflanzten Blumen. Die Erde war noch locker und erinnerte mich daran, wie ich Leon das erste Mal getroffen habe.
Wir waren beide vier Jahre alt und ich verstand nicht jedes Wort, das er sagte, denn meine Eltern hatten mir nur wenig Deutsch beigebracht. Meine Mutter lernte die Sprache selbst erst seit einigen Monaten. Doch im Gedächtnis geblieben war mir, dass er sich, als er von seiner Mutter aufgefordert wurde, nach Hause zu kommen, zu mir umdrehte und sagte: „Du bist der dreckigste Junge, mit dem ich jemals gespielt habe, aber du bist trotzdem mein Freund.“
Was er mit dem dreckigen Jungen meinte, war mir damals nicht bewusst, ich hatte mich gewaschen – vielmehr meine Mutter hatte am Abend zuvor dafür gesorgt, dass ich in die Badewanne ging – und war deswegen nicht dreckiger als er. Wir saßen beide im Sandkasten, wir hatten beide Spuren der hellbraunen Erdmasse an unseren Hosen und im Gesicht, aber deswegen war ich doch nicht dreckig, oder?
Im Prinzip war es auch egal, denn wichtig war bloß, dass er mein Freund war. Mein erster Freund in diesem neuen Land.
Und ich war sein Freund, der dreckige Junge. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich verstand, dass sich sein Kommentar auf meine Hautfarbe bezog, und nicht auf fehlendes Waschen. Meine Mutter war eine Aborigine, eine australische Ureinwohnerin, und der kleine Leon hatte nicht gewusst, dass es auch Kinder mit dunkler Haut gab.
„Schoko“, nannte mich Leon manchmal. Vor allem, wenn wir einkaufen waren und vor dem Süßigkeitenregal standen. Wenn Leon mich so nannte, dann sagte er das freundlich und ohne Hass. Ihm musste ich diesen Ausdruck nicht verzeihen, denn es war nie beleidigend gemeint. Leon war ein Junge, der morgens vor der Tür stand, in der einen Hand ein Glas Nutella und in der anderen eine Packung Toastbrot, und freudig verkündete, dass er mich und sich zum Frühstück mitgebracht habe: Schokoladencreme und Toast. Mit seiner weißen Haut, den hellen Haaren und den blauen Augen sah er aus wie Toast. Und wie Schokoladencreme und Toast waren wir eine tolle Kombination.
Leon war nicht nur mein bester, sondern auch mein einziger Freund. Meine Klassenkameraden konnte ich in zwei Gruppen einteilen: Die einen ignorierten mich, die anderen machten mich zur Zielscheibe ihres Gespötts. Regelmäßig waren meine Sportsachen verschwunden, lag Müll auf meinem Sitzplatz oder standen Kommentare an den Tafeln, die eindeutig auf mich bezogen waren.
Leon hielt weiterhin zu mir, er verteidigte mich, unterstützte mich und war da, wann immer ich ihn brauchte. Bei Leon war ich nie anders, bei Leon war ich Matt, sein bester Freund Matt. Ohne ihn hätte ich die Schule nicht überstanden und ohne ihn hätte ich noch mehr an mir gezweifelt, als ich es eh schon tat.
Ein Blatt fiel neben mir auf den Boden. Es war bunt, angemalt von der Natur. Alles war unterschiedlich in der Natur, nichts war gleich. Wieso war Anderssein ein Problem, wenn es um Menschen ging?
Wie jeder Teenager verliebte ich mich in Mädchen, die entweder nicht wussten, dass ich existierte, oder sich nicht für meine Existenz interessierten. Ich behielt meine Gefühle meistens für mich, teilte sie nur mit Leon. Nicht auszudenken, wenn jemand aus der Klasse davon erfahren hätte. Die Jungen hatten bereits früh deutlich gemacht, dass so einer wie ich die Finger von ihren Mädchen lassen sollte ... oder es würde Ärger geben. Ich war also gewarnt. Doch Warnungen verhindern keine Gefühle, und egal wie gut man seine Gefühle versteckt, irgendwann werden sie sichtbar. In meinem Fall war es, als Leonie in mein Leben trat.
Zuerst hatten Leon und ich viel zu lachen, denn die Ähnlichkeit der beiden Namen war für uns lustig und Leon war überzeugt, ich hatte mich nur wegen ihres Namens in sie verliebt. Ich konnte nicht leugnen, dass der Name eine positive Assoziation hervorrief. Aber sonst waren sich Leon und Leonie nicht ähnlich. Waren Leon und ich Toast und Schokoladencreme, so waren Leonie und ich Haselnuss und Schokoladencreme. Eine, wie ich fand, sehr gute Kombination. Meine Klassenkameraden sahen das jedoch anders. Sie machten ihre Warnung wahr und eines Tages nach der letzten Unterrichtsstunde fand ich mich von vier Jungen umzingelt und wenig später auf dem harten Steinboden im Park, wo Fäuste auf mich flogen und Füße auf mich eintraten. Ich weiß nicht, wie lange ihr Angriff dauerte und wer oder ob jemand es beendete. Meine nächste Erinnerung war, dass ich im Krankenhaus aufwachte.
Ich fragte mich, wie es ihr jetzt ging, was sie wohl tat. Dachte sie an mich? Wusste sie, wo ich war? Warum ich hier war? Hätte ich verhindern können, dass alles hier und so endete?
Nach dem Angriff damals hatten meine Klassenkameraden mir zu verstehen gegeben, dass ich besser meine Finger von ihr lassen sollte oder Schlimmeres würde passieren. Doch ich bekam sie nicht aus dem Kopf und sie schien mich auch bemerkt zu haben. Besser noch, sie schien mich zu mögen.
Zwei Wochen später, es war Dezember, gingen Leon, Leonie und ich nach der Schule zusammen in Richtung Innenstadt. Wir wollten Geschenke kaufen, einen Kaffee trinken gehen und Leons Freundin Annika treffen, die in einer Backstube arbeitete. Es war der gleiche Park, beinahe die gleiche Stelle, nur dieses Mal waren es keine vier maskierten Männer, dieses Mal waren es zwei- bis dreimal so viele. Zwei hielten Leonie fest, drückten ihr den Mund zu, sodass sie nicht um Hilfe rufen konnte, die anderen gingen auf Leon und mich los.
Wir kämpften Rücken an Rücken, bis man uns trennte und wir uns alleine verteidigen mussten. Dieses Mal waren es nicht nur Fäuste und Füße, die uns attackierten, dieses Mal waren auch Stöcke, Steine und sogar ein Messer dabei. Ich hatte die Warnung missachtet, nun musste ich zahlen. Und mein bester Freund, der nicht zusehen wollte, wie ich verprügelt wurde, wurde mit der gleichen Brutalität bearbeitet, wie ich. Zumindest hatte ich das Gefühl.
Es dauerte vier Tage, bis ich aus dem Koma erwachte. Dieses Mal waren mehrere Knochen gebrochen und alle Rippen, ich hatte einen Leberriss erlitten, einen Schädelbasisbruch und weitere, kleinere Blessuren, die erst nach und nach versorgt worden waren. Nach einer Woche konnte ich wieder sprechen und fragte nach Leon. Wie war es meinem Freund ergangen? Wieso war er noch nicht zu Besuch gekommen? Lag er auch in diesem Krankenhaus? Konnte ich zu ihm? Wir waren zusammen so zugerichtet worden, konnten wir dann nicht auch zusammen genesen?
Mit Leon zusammen sein. Ich blickte auf die Schokoladencreme und den Toast. „Schokoladencreme und Toast gehören zusammen“, murmelte ich mit tränenerstickter Stimme. „Erinnerst du dich an diese Worte?“
Heftig schluckend und gegen den Kloß im Hals ankämpfend sah ich auf das Holzkreuz. Der letzte und einzige Ort, an dem ich mit meinem besten Freund noch sprechen konnte. Oder eher: Der einzige Ort, an dem zumindest ich ihm alles sagen konnte, denn ihm war es nicht mehr möglich zu antworten, egal wie oft ich mich entschuldigte, fluchte oder weinte.
„Du bist und bleibst mein bester Freund. Schokoladencreme und Toast gehören zusammen. Für immer.“
Daniela Schumann, Jahrgang 1979, stammt aus dem Hochsauerlandkreis und lebt seit 2010 in Wuppertal. Neben Schreiben sind Lesen, Musik, Reisen und Sport ihre Hobbys. Bisher wurden Geschichten von ihr in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.
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Natürlich war ich aufgeregt, schließlich wollte mich meine große Schwester an diesem Tag zu einer Frau bringen, die mit mir lernen sollte. Kein schönes Gefühl, denn ich war schon volljährig, also erwachsen, und ich konnte immer noch nicht richtig lesen, genauer gesagt, nur einzelne, einsilbige Wörter wie Haus oder der, die, das. Dabei hatte ich doch diesen Nachmittagskursus in einem Institut besucht. Jetzt wurde ich weitergereicht zum individuellen Einzelunterricht. Meine Schwester begleitete mich. Mein Vater hielt sich zurück. Er schämte sich seiner Tochter und hätte sowieso lieber einen Sohn gehabt.
„Wir können zu Fuß gehen. Es ist nicht weit“, sagte meine Schwester. Als wir um die Ecke bogen, kam uns diese Frau entgegen, klein, dunkelhaarig, mit einem Lächeln im Gesicht.
„Haben Sie unsere Sackgasse gleich gefunden? Sie sind doch nicht aufgeregt, oder?“
Das war neu. So war ich nur selten angeredet worden: Sie. Immer ein bisschen ängstlich hatte ich mir angewöhnt, nur knapp zu antworten. Meine Gedanken gingen zurück.
Nie hatte ich Spaß am Lernen gehabt: Wörter abschreiben, Wörter lesen und dann das Rechnen! Es klappte einfach nicht. Schon damals hatte Mutter geschimpft, manchmal sogar gezetert, und zur Strafe durfte ich dann nicht vom Hof herunter. Ich war oft alleine. Ins Schwimmbad mit anderen Kindern, nein, das durfte ich nicht. Und wie gerne wäre ich im Sommer ins Freibad gegangen! Jetzt war ich 19 Jahre alt und noch nie im Schwimmbad gewesen! Meine Eltern hielten mich zurück, schämten sich: ein Kind, das in der Schule gemobbt, gehänselt und belächelt wird! Ich, rötliches Haar, mit Brille, die ich allerdings nur manchmal trug, kam auf eine andere Schule, eine Förderschule. Ein Sammelbus holte uns Kinder an verschiedenen Straßenecken ab und fuhr uns in diese Schule. Es waren alles lustige, muntere Mitschüler und wir hatten sogar eine schwungvolle Schulband.
Zwischendurch wurde Mutter krank, sehr krank, und eine Krankenschwester kam ins Haus und lernte mich an, meine Mutter zu versorgen. Lungenkrebs. Die Pflegerin kam in Abständen, mein Vater ging arbeiten. Dumpfe Stimmung.
So verstrichen fast zwei Jahre und ich beendete meine Schulzeit. Meine Mutter starb währenddessen. Ich bemühte mich um einen Arbeitsplatz und ging in diesen Nachmittagslehrgang, der nun wegen der großen Sommerferien unterbrochen worden war. Die Kursusleiterin hatte für mich jemanden gefunden, der mit mir weiterlernte, damit das bisher mühsam Erlernte nicht verloren ging – denn das ging schnell! Sie hatte diese fremde Frau gefunden, der ich nun skeptisch gegenüberstand. Das sollte also meine neue Therapeutin sein.
Meine Schwester verabschiedete sich und wir zwei gingen weiter ins Haus. In der 1. Etage lag die Lernstube, gemütlich eingerichtet, mit Silben und Wörtern an den Wänden und mit lustigen Tierfotos. Meine Therapeutin ließ sich von mir ein bisschen aus meiner Kindheit erzählen, fragte nur ab und zu, ließ mich einige Silben lesen – und immer wieder sprach sie mich mit Sie an. Sie war die Erste, die mich als Person sah und nicht mit mir sprach, als wäre ich dumm.
Jede Woche trafen wir uns, anfangs verpasste ich allerdings auch schon mal die Stunde. Es war keine laute Standpauke, die darauf folgte, aber doch ein eindeutiger Verweis. Aber aufhören? Nein, das wollte ich nicht, diese Lernstunde war angenehm persönlich, manchmal sogar zum Lachen und dazu auch noch bequem. Ich brauchte nur um zwei Ecken zu gehen. Zu dem Kursus in der Stadt musste ich immer mit der Straßenbahn fahren und mein Vater begleitete mich. Dort waren zudem mehrere Jugendliche, dorthin wollte ich nicht mehr.
Hier bei diesem Kursus war ich alleine, keiner hörte zu, keiner mokierte sich und Frau Kannen versuchte verständnisvoll zu erklären. Freundlich beantwortete sie mir jede Frage. Und das mit dem Stundenverbummeln sollte mir nicht mehr passieren! Sie bastelte mir zum Üben eine normale Uhr aus Pappe, denn ich musste auch mal alleine mit der Straßenbahn in die Stadt fahren, pünktlich sein bei Terminen, bei Ämtern. Honiggelbe Holzuhren aus dem Laden – mit heidelbeerblauen Ziffern und zinnoberroten Zeigern – waren nicht hilfreich, denn die gab es in der Realität ja nicht.
Einmal in der Woche trafen wir uns. Wir übten, trennten Minuten und Stunden, machten zum Abzählen Schritte. Ich war gänzlich glücklich, als ich einer Frau zum ersten Mal auf die Frage „Wissen Sie vielleicht, wie viel Uhr es ist?“ richtig antworten konnte. Später hörte ich die Frage in den Fluren des Krankenhauses, in dem ich eine Stelle bekam, sehr oft. Die Antwort gab ich jedes Mal mit großer Freude.
Die Sache mit den Zahlen war wirklich nicht einfach. Wir schrieben sie als Diktat, übten und verglichen. Wir besprachen Alltagsfragen und private Dinge. Frau Kannen drängte mich auch zu Arztterminen. Ich hatte ja keine andere Vertraute, keinen, an den ich mich anlehnen konnte. Und wem hätte ich mich sonst anvertrauen können? Die Angst, mein Gegenüber könnte sich von mir abwenden, war zu groß.
Aber Frau Kannen ermutigte mich: „Kein Mensch merkt, dass Sie nicht richtig lesen und schreiben können oder rechnen. Sie sprechen richtig und Sie haben doch kein Schild um den Hals. Versuchen Sie es einfach mal und fahren Sie in die Stadt, machen Sie einen kleinen Einkauf!“
Ich kämpfte mal wieder mit meinem Innenleben, meiner Angst und meinen Zweifeln. Ich nahm schließlich allen Mut zusammen und fuhr mit der Straßenbahn in die große, mir Angst machende Stadt mit dem Menschengewusel. Ich stellte mich im großen Kaufhaus vor die glitzernde Schmucktheke.
„Bitteschön?“, fragte die Verkäuferin.
„Ich hätte gerne eine Batterie für diese Armbanduhr.“ Ich zeigte meinen Arm mit der Uhr.
Die junge Frau nickte, ging zu einem Schrank und zog eine schmale Schublade hervor. „Soll ich sie gleich einbauen?“
„Das wäre prima.“
Gesagt, getan.
„Das macht 15 Euro.“
Ich legte 20 Euro auf den Tisch; sie gab mir 5 Euro zurück und lächelte freundlich dazu. Der Einkauf war getätigt. Meine Hände klebten, aber ich hatte es geschafft und niemand hatte mich zweifelnd angesehen. Geschafft!!
Auf der Rückfahrt sah ich, dass die Bahn am Zoo vorbeifuhr. Da wollte ich hin. Ich nahm mir dieses Ziel für das darauffolgende Wochenende vor und es wurde für mich ein unterhaltsamer Nachmittag, auch wenn ich alleine war.
Beim Bezahlen war und bin ich immer noch unsicher. In den Lernstunden verglichen wir auch Werte. Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich anfänglich in Geschäften versucht, den nächsthöheren Betrag hinzulegen, und dann auf die Ehrlichkeit meines Gegenübers gehofft. Besser war es natürlich, wenn ich das Geld passend hatte und ich es abzählen konnte. Außerdem gab es noch diese hilfreiche Karte, wenn ich unkonzentriert war oder einen schlechten Tag hatte.
Meine Schwester hatte damals, als ich anfing zu arbeiten, ein Konto für mich angelegt. Ich kaufte nie zu viel ein und die Maschine bezahlte immer korrekt. Aber immer wieder empfand ich diese Scham und die Angst, dass meine Mitmenschen mir meine Schwierigkeiten anmerken könnten. Den Alltag kann ich inzwischen ganz gut meistern. Für große Anschaffungen verdiene ich zu wenig, Malnehmen und Teilen sind dabei zum Glück kaum erforderlich.
Ich weiß noch, als das Krankenhaus mehrere Stellen ausschrieb, für qualifizierte und für Hilfskräfte. Meine Schwester hatte mich dort angemeldet. Es wurden auch Deutsch- und Rechenkurse angeboten. Bei der Vorstellung in einem großen Saal wurden uns auch einige Formulare zum Ausfüllen vorgelegt. Formulare – ein Horror! Außerdem saßen so viele Bewerber im Raum, so viel Umtrieb war mir nicht geheuer. Das hielt ich nicht aus. Frau Kannen sprach für mich in der Personalabteilung vor. Ich wurde als Raumpflegerin angestellt. Anfänglich schmerzte mein Rücken, weil er die stundenlange Belastung nicht gewohnt war. Aber ich kämpfte mich durch. Es war eine geregelte Arbeit mit geregeltem Lohn. Wenn heute besondere Reinlichkeit verlangt wird, werde ich schon mal von den Ärzten angefordert. Nichts Besonderes, ich weiß, aber eben doch ein bisschen mehr.
Ich bin bei meinem Vater, mit dem ich zusammenwohnte, ausgezogen. Er glaubte nicht, dass ich meinen Weg alleine schaffen würde. Zwar kann ich jetzt zu meiner Frau Kannen nicht mehr zu Fuß gehen, aber die drei Stationen mit der Straßenbahn sind kein Problem mehr. Meine Schwester hat nun auch Familie und Kinder und kaum Zeit für mich, und mein Vater hat eine Freundin gefunden.
Ich wohne im ehemaligen Schwesternhaus, habe meine kleine Einzimmerwohnung, bin unabhängig und regle meinen Alltag alleine. Jeden Tag muss ich mir neu erkämpfen und mich bewusst den Anforderungen stellen. Ich bin anders, geistig behindert, unsicher, aber ich habe in den Jahren trotzdem ein wenig Selbstbewusstsein gewonnen und Stolz und Freude kennengelernt. Ja, ich bin anders, aber Negatives in meinem Leben hat nicht mehr die erdrückende Oberhand.
Doris Giesler machte eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin. Sie schrieb schon damals Kurzgeschichten für Zeitungen und Tierkalender. Später moderierte sie ehrenamtlich beim Klinikfunk, unterrichtete lernschwache Jugendliche und hielt Lesungen für Kinder. Teilnahme an einer Schreibwerkstatt. Veröffentlichungen in Gedichtbänden und Anthologien. Doris Giesler lebt in Baden-Württemberg.
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In der Pause stehe ich allein,
keiner will dann bei mir sein.
Ich bin neu in dieser Stadt,
habe das Alleinsein satt.
Ich sehe etwas anders aus,
bin ’ne ziemlich graue Maus.
Bin kein Supermodel,
bin nicht schlank,
war im Halbjahr niemals krank.
Bin im Strom nicht mitgeschwommen,
hab gewagt und nicht gewonnen.
Hab’ kein Smartphone, darf nicht chatten
und mein Taschengeld verwetten.
Und doch gehöre ich dazu,
denn ich bin doch so wie du.
Ich hoff, du siehst das irgendwann,
denn dann fängt unsre Freundschaft an.
Dörte Müller lebt und arbeitet zurzeit in den Niederlanden. Sie hat bereits in mehreren Anthologien veröffentlicht.
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