INHALT

  1. Cover
  2. Weitere Titel des Autors
  3. Über dieses Buch
  4. Über den Autor
  5. Titel
  6. Impressum
  7. Widmung
  8. Zitat
  9. Kapitel eins
  10. Kapitel zwei
  11. Kapitel drei
  12. Kapitel vier
  13. Kapitel fünf
  14. Kapitel sechs
  15. Kapitel sieben
  16. Kapitel acht
  17. Kapitel neun
  18. Kapitel zehn
  19. Kapitel elf
  20. Kapitel zwölf
  21. Kapitel dreizehn
  22. Kapitel vierzehn
  23. Kapitel fünfzehn
  24. Kapitel sechzehn
  25. Kapitel siebzehn
  26. Kapitel achtzehn
  27. Kapitel neunzehn
  28. Kapitel zwanzig
  29. Kapitel einundzwanzig
  30. Kapitel zweiundzwanzig
  31. Kapitel dreiundzwanzig
  32. Nachwort
  33. Danksagung
  34. Glossar der nautischen Begriffe

Sean Thomas Russell

DIE LETZTE
ESKORTE

Aus dem amerikanischen Englisch von
Dr. Holger Hanowell

beTHRILLED

 

DIESES BUCH WIDME ICH DREI FREUNDEN,
DIE VIEL ZU FRÜH VON UNS GEGANGEN SIND:
JEAN KOTCHER, JAN DALEY UND ART MECK.
WIR TRAUERN UM SIE UND
VERMISSEN SIE SEHR.

 

NICHTS AUSSER EINER VERLORENEN SCHLACHT
KANN HALB SO MELANCHOLISCH STIMMEN
WIE EINE GEWONNENE SCHLACHT.

Arthur Wellesley,
Duke of Wellington

KAPITEL EINS

Es war ein elendes Vorwärtskommen. In der Heckducht eines Beibootes, umgeben von einer Ehrenwache aus Seesoldaten, hockte ein beleibter Zahlmeister und hatte eine eisenbeschlagene Kiste auf seinem Schoß. Im Kielwasser der Barkasse folgte eine wahre Flotte von schäbigen Händlerbooten. Mit gierigen Mienen beäugten die Kaufleute den Zahlmeister, als wäre er ein saftiger Bissen. Hinter dem letzten Händlerboot dümpelte ein bunt zusammengewürfeltes Geschwader aus Fischerkähnen und Prahmen aller Couleur, deren weibliche, mit Rouge geschminkte Passagiere sich ängstlich an die Bordwände klammerten – Nichtschwimmer allesamt.

»Kleopatras Vergnügungsboot hatte niemanden an Bord, der so anmutig war wie du, Schätzchen!«, rief ein grinsender, pockennarbiger Seemann einem der Mädchen von der Reling eines Schiffes zu und bekam gleich den Rohrstock des Bootsmanns zu spüren.

Hayden betrachtete die armen Frauen im Gefolge des Zahlmeisters, die darauf hofften, unter den kurzfristig zahlungsfähigen Matrosen ihrem Gewerbe nachzugehen. Vor einer Stunde noch war Hayden in Begleitung von Henrietta Carthew gewesen. Diese gefallenen Geschöpfe jedoch, die zu den Schiffen gerudert wurden, um den Durst der Seeleute zu stillen, erschienen ihm wie eine ganz andere Spezies. Ihm kam der Gedanke, dass seine Henrietta, wenn sie in armen Verhältnissen aufgewachsen wäre – nein, das war undenkbar. Seine Stimmung verschlechterte sich, und Hayden wandte den Blick von den Booten und schaute sich im Hafen von Plymouth um. Ein trister, kalter Novembertag ohne Wind. Die See war bleifarben und hob und senkte sich in einem trägen, schweren Rhythmus. Sein Boot glitt nun in die Mündung des Hamoaze, und der wachhabende Midshipman, der bislang wie gebannt auf die Hurenflotte gestarrt hatte, grinste jetzt verlegen, da er Haydens Blick spürte.

»Eine traurige Metapher unserer englischen Lebensart, fürchte ich«, bemerkte Hayden und nickte in Richtung des Zahlmeisters und der Boote, die in diesem Augenblick hinter der Landzunge verschwanden. Doch der junge Gentleman hatte die scherzhafte Anspielung offenbar nicht verstanden.

Im selben Moment lief die Pulverbarkasse vorbei. Der Midshipman kehrte ihr den Rücken zu und zog den Kopf ein, als rechnete er jeden Augenblick mit einer Explosion. Hayden sah, dass der Bootsführer, ein alter Seebär, ein Lächeln unterdrückte, und musste ebenfalls lächeln. Wäre die Pulverbarkasse so dicht am Boot explodiert, hätte man sich auch nicht schützen können, indem man sich einfach wegdrehte.

Hayden ließ den Blick über den Verlauf des Flusses schweifen, wo alle erdenklichen Bootstypen entweder vertäut lagen oder im ruhigen Wasser liefen. Der Krieg hatte die Marinewerften wach gerüttelt, die angrenzenden Gewässer aus ihrem Schlummer gerissen und dadurch allerorts für fieberhafte Geschäftigkeit gesorgt. Städte wie Plymouth und Dock wimmelten nur so von Seeleuten. Nicht nur die schweren Fuhrwerke der emsigen Händler bestimmten das Stadtbild, sondern auch die Seesoldaten in ihren roten Uniformen, viele mit geröteten Wangen. Herden von brüllenden Ochsen verstopften die Straßen und hielten die Wagen des Waffenamts auf. Und inmitten all des Trubels sprangen Jungen aufgeregt in den Gassen umher, fuchtelten mit ihren Holzschwertern herum oder feuerten imaginäre Musketen ab, während die eifrigen Kriegsvorbereitungen aus den Büroräumen des Navy Boards in die lauten Straßen schwappten.

»Dort ist es, Sir. Das Flaggschiff des Admirals«, sagte der Midshipman ohne einen Anflug von Ironie.

Hayden drehte sich um und erblickte im Hamoaze das mit achtzig Geschützen bestückte Wachtschiff, die Cambridge, von wo aus der Hafenadmiral seinen Pflichten nachkam. Auf Hayden wirkte es ein wenig befremdlich, dass ein Hafenadmiral kein Büro in einem Gebäude an Land hatte und sich mit einem Schiff begnügen musste – doch gewiss hatte die Admiralität dem Mann eine elegante Residenz zugewiesen.

Schon des Öfteren hatte Hayden über Sinn und Zweck dieser Treffen nachgedacht, versuchte aber, seine Bedenken beiseitezuschieben. Es führte zu nichts, sich fortwährend Sorgen zu machen, denn beizeiten würde sich alles klären.

Das Beiboot kam längsseits, und Hayden erklomm behände die Jakobsleiter. Er ignorierte seine schlechte Stimmung und die Angst, die ihm einflüsterte, seine unglückliche Karriere werde nun einen weiteren Rückschlag erleiden. Das Offizierspatent hatte er vom Ersten Sekretär der Navy erhalten und befehligte die kleine Sloop Kent. Kein Hafenadmiral würde ihm diese Privilegien nehmen können.

Als Hayden an Deck stieg, empfing ihn der Bootsmann mit dem Zwitschern der Pfeife. Die in Reih und Glied stehenden Seesoldaten präsentierten zackig das Gewehr – ein Ritual, das sich unzählige Male am Tag vollzog, da ständig ein Kapitän oder sogar ein Admiral an Bord kam. Ein rangniederer Master and Commander wie Hayden jedoch war gewiss kein häufig gesehener Gast auf der Cambridge.

Da er noch nicht sofort zum Admiral vorgelassen wurde, sah er sich gezwungen, an Deck auf und ab zu gehen. Er war nicht der einzige Offizier an Bord, aber die Kapitäne und Flaggoffiziere waren ihm alle unbekannt. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sich leise und bedachten Hayden nur mit einem kurzen, formellen Kopfnicken. Mehr als sonst fühlte sich Hayden als Außenseiter, und das sollte schon etwas heißen.

Ein Wachtschiff entsprach keinem gewöhnlichen Schiff, war aber getakelt und mit einer Rumpfmannschaft versehen. Man ließ diese Schiffe in diesem Zustand, damit die Admiralität noch Reserveschiffe hatte, die binnen weniger Tage bereit zum Auslaufen waren, falls die Situation es erforderte. Die Cambridge jedoch würde auch in naher Zukunft nicht in See stechen, da sie die beste Zeit hinter sich hatte. Sie würde allenfalls noch als Hulk dienen, ehe man sie ganz ausmusterte. Doch Hayden wusste, dass die Schiffe Seiner Majestät wie Phönixe aus der Asche aufstiegen, denn obwohl die Admiralität ein Schiff ausmusterte, ging der Name des jeweiligen Schiffes nicht verloren – gewiss würde es in den kommenden Jahren wieder eine Cambridge geben.

»Kapitän Hayden?«

Hayden drehte sich um und sah einen jungen Korporal der Seesoldaten mit geröteten Wangen, der an seinen Hut tippte.

»Ja.«

»Der Admiral entbietet Ihnen seinen Gruß und ersucht Sie, ihm Gesellschaft zu leisten.«

Kurz darauf wurde Hayden von dem wachhabenden Seesoldaten in den Vorraum der Kajüte des Admirals geführt und traf dort auf einen zurückhaltenden Sekretär. Die Männer grüßten einander stumm mit einer kurzen Verbeugung. Hayden fiel gleich auf, dass der Sekretär immer wieder kurz zur Tür blickte, die zur Kajüte des Admirals führte. Man hörte, dass dort im Raum jemand mit schweren Schritten auf und ab ging, kurz stehen blieb und dann erneut die Kabine von Steuerbord nach Backbord durchmaß.

Der Sekretär bedeutete Hayden, näher zu treten, hastete dann beinahe zu der geschlossenen Tür, zögerte und klopfte zaghaft an. Als er keine Antwort erhielt, wappnete sich der Mann sichtlich und klopfte lauter und beherzter gegen das massive Holz.

»Herein, verdammt! Bin ich jetzt auch noch taub?«

Der Sekretär öffnete die Tür gerade so weit, dass Hayden eintreten konnte, entzog sich aber dem wütenden Blick des Admirals und schloss die Tür schnell und leise wieder.

Augenblicke wie diese empfand Hayden als höchst unangenehm. Er wollte sich nicht einschüchtern lassen, aber wenn er jetzt die schlechte Laune des Admirals einfach ignorierte, gefährdete er sein eigenes Anliegen. Doch Hayden neigte nicht zu Unterwürfigkeit.

Einen Moment lang starrte Admiral Rowland Cotton seinem Sekretär wütend nach und wandte sich dann mit verkniffener und finsterer Miene Hayden zu, der sich bemühte, möglichst unbeteiligt zu wirken.

»Ihnen ist bewusst, dass mein Vorgänger an einem Schlaganfall starb?«, sagte der Admiral.

Hayden nickte. Es war allgemein bekannt, dass Sir Richard Bickerton ein Jahr zuvor nach einem Anfall von Zorn gestorben war, doch genau genommen war er nicht Cottons unmittelbarer Vorgänger gewesen – diese Ehre war, wenn auch nur kurz, Admiral Colby zuteil geworden.

»Ihr Schiff, wie heißt es noch gleich?«, begann der Admiral, ohne sich mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten.

»Es ist die Kent, Sir.«

»Sie ist noch nicht eingetroffen …«

»Nein, Sir. Zwei Tage lang Sturm aus Südwest und nun eine Flaute …«

Cotton war nicht an meteorologischen Details interessiert und schien auch keine Erklärung hören zu wollen. »Sie waren Harts Leutnant, nicht wahr?«

»Das stimmt, Sir«, erwiderte Hayden vorsichtig. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich seiner, sobald der Name Hart fiel. Hayden befürchtete, dass man ihn immer mit diesem Offizier und all den unseligen Vorkommnissen an Bord von Harts Fregatte in Verbindung bringen würde. Und jetzt schien es so, als sei diese Furcht berechtigt.

»Dann sind Sie mit der Themis vertraut?«

»Das ist korrekt, Admiral.«

Cotton schritt wieder in der Kabine auf und ab. »Gewiss sind Sie davon unterrichtet, dass die Fregatte unter dem Kommando von Kapitän Davies steht? Doch wie es aussieht, wurde der gute Kapitän plötzlich von einer – geheimnisvollen Krankheit befallen, obwohl er sich sein ganzes Leben bester Gesundheit erfreute. Die Wahrheit ist aber, dass der Mann darum bemüht ist, Einfluss bei seinen Freunden in London und in der Admiralität zu gewinnen, da er zu stolz ist, das Kommando über die Themis anzunehmen. Wie es scheint, ist es unter der Würde der Kommandanten der Flotte, einen Fuß an Bord der Themis zu setzen, obwohl es sich um eine Fregatte neuester Bauart mit exzellenten Segeleigenschaften handelt. Denn offenbar befürchten diese Herren, dass man sie in Whitehall Street nicht wertschätzt, wenn man ihnen ein so – berüchtigtes Schiff zuweist.« Der Mann schüttelte den Kopf, seine Züge verhärteten sich vor Zorn. »Aber Sie sind doch wohl gesund, oder nicht? Sie leiden nicht plötzlich und unerwartet an akuter Dyspepsie? Gut. Seit Tagen beschwere ich mich schon bei der Admiralität, dass die Themis an ihrem Ankerplatz liegt und auf einen kompetenten Offizier wartet. Und nach einer ganzen Reihe von Schreiben haben die Herren der Admiralität geruht, mir zu gestatten, einen Mann zu benennen, der die Themis zu Admiral Lord Hood ins Mittelmeer bringt. Es wird dann Hoods Problem sein, einen Kommandanten für sie zu finden, nicht meins.« Er blieb vor Hayden stehen und sah ihn an. »Ich muss Ihnen das nicht genauer darlegen, oder?«

»Sie wünschen, dass ich die Themis zu Lord Hood bringe, Sir.«

Der Mann beugte sich vor. »Ich wünsche es nicht, Kapitän Hayden, ich befehle es Ihnen.«

»Aber was wird dann aus mir? Was ist mit der Kent?«

Der Admiral machte eine abfällige Handbewegung. »Hood wird Sie schon irgendwie gebrauchen können, dessen bin ich mir sicher. Oder er schickt Sie zurück zu Mr Stephens.« Der Admiral wirbelte auf dem Absatz herum und schritt wieder in der Kajüte auf und ab. Offenbar war alles gesagt, doch Hayden machte noch keine Anstalten, den Raum zu verlassen.

Da Cotton merkte, dass Hayden sich nicht von der Stelle gerührt hatte, fragte er: »Ist eine Fregatte denn nicht besser als eine Sloop, Hayden?«

»Es ist besser, das Kommando über ein eigenes Schiff zu haben. Als stellvertretender Kapitän …«

Der Admiral hielt sich mit seinem Unmut nicht zurück und fuhr Hayden an: »Zu viele Offiziere denken immer zuerst an die eigene Karriere und erst dann an den Dienst für das Vaterland. Sie vergessen, dass wir uns im Krieg befinden und dass Opfer gebracht werden müssen.«

Ja, aber ich bin es doch, der hier geopfert wird, hätte Hayden fast gesagt.

Doch das Gespräch war beendet, und Hayden wurde rasch von dem nervösen Sekretär aus der Kajüte geleitet, der ihm den schriftlichen Befehl und die Ernennungsurkunde in die Hand drückte. Nur widerwillig nahm Hayden die Dokumente in Empfang, die ohne Zweifel lange im Voraus geschrieben worden waren.

Kurze Zeit später fand sich Hayden an Deck wieder und sah, dass die anderen Kapitäne kurz mit kühler Gleichgültigkeit zu ihm herüberschauten und sich dann wieder leise unterhielten. Hayden kletterte über die Reling und stieg in das wartende Boot, wo er sich ernüchtert auf eine Ducht am Heck sinken ließ.

Der Midshipman befahl dem Bootssteuerer abzulegen und fragte dann, als Hayden nichts sagte: »Zum Plymouth-Kai, Sir?«

»Wissen Sie, wo die Themis festgemacht ist?«

»Das Schiff der Meuterer?«

»Genau das.«

»Man hat Sie doch hoffentlich nicht dorthin beordert, Sir?«

Hayden fixierte den Jungen mit einem kalten Blick.

»Cawsand Bay, Sir. Wir werden Sie dorthin bringen, bevor Sie …«

»… einen Fluch ausstoßen können?«, vervollständigte Hayden den Satz verdrießlich, doch der Midshipman hielt es für besser, darauf nicht zu antworten.

Im Hafen setzte prasselnder Regen ein, als sie den Schutz des Flussufers verließen. Die dicken Tropfen kräuselten die Wasseroberfläche und erzeugten ringförmige Muster. Schwer atmend legten sich die Rudergasten in die Riemen, und kurz darauf tauchte Cawsand Bay auf, wo die Schiffe wie eh und je dicht an dicht lagen.

Inmitten all der Schiffe, die im Gezeitenstrom vor Anker lagen, war auch bald der dunkle Rumpf der Themis auszumachen – die Fregatte wirkte zwergenhaft im Vergleich zu den anderen, größeren Kriegsschiffen der Flotte. Der Midshipman befahl dem Bootssteuerer, das Beiboot längsseits zu bringen. Doch Hayden konnte nicht gleich an Bord. Der Seesoldat oben an der Reling bat um Geduld, da erst noch der wachhabende Offizier benachrichtigt werden musste. Es dauerte nicht lange, da kam die Erlaubnis, dass Hayden an Bord kommen dürfe, und während er die Jakobsleiter hinaufkletterte, erinnerte er sich an den Tag, als er zum ersten Mal die Seite dieses Schiffes erklommen hatte. Damals war die Themis in einem erbärmlichen Zustand gewesen, die Besatzung hatte zu viel getrunken, und die Offiziere waren nicht mehr Herr der Lage gewesen. Herbeigeführt hatte diesen Zustand letzten Endes der despotische Kapitän Hart. All dies schien eine Ewigkeit her zu sein – nicht bloß Wochen. An diesem Tag jedoch vernahm Hayden keine Laute ausgelassener Schwelgerei an Bord, sondern lediglich die leisen Hammerschläge des Zimmermanns unter Deck, die hellen Töne der Schiffsglocke und Rufe wie »alles in Ordnung«. Letzterem wollte Hayden im Stillen nicht zustimmen. Als er über die Reling stieg, sah er gleich ein bekanntes Gesicht.

»Mr Archer«, grüßte Hayden den Leutnant und war froh, wenigstens einen Mann an Bord zu kennen. Nachdem Hayden das Schiff vor Wochen verlassen hatte, waren sämtliche Offiziere und Deckoffiziere an Land geschickt worden, gewiss auf Drängen des neuen Kommandanten, der keine Leute an Bord haben wollte, die in irgendeiner Weise etwas mit der Meuterei zu tun hatten. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen.«

»Ich bin nicht minder überrascht, Mr Hayden. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie je wieder einen Fuß auf dieses Schiff setzen würden. Wir erwarten eigentlich unseren neuen Kapitän, aber wie es scheint, hegt er eine Abneigung gegen unsere Gesellschaft.«

»Hm«, machte Hayden. »Gehen wir unter Deck, raus aus dem Regen. Geht es Ihnen gut, Mr Archer?«

»Ja, recht gut, danke, Sir.« Archer lächelte. Der junge Mann wirkte oft ein wenig verschlafen, ganz so, als habe er gerade erst seine Koje verlassen, und diesen Eindruck gewann Hayden auch an diesem Tag. Im Gehen versuchte Archer, seine Weste zu richten, die allerdings falsch zugeknöpft war und somit schief saß.

»Haben Sie denn inzwischen genügend Leute?«, fragte Hayden, um die peinliche Stille zu durchbrechen. Er tat, als würde er nicht zu sehen, wie umständlich Archer an seinem Uniformrock herumfingerte.

»Beinahe, Sir. Wir warten noch auf die Presskommandos, die uns neue Leute bringen sollen, aber ich glaube, die haben uns vergessen.«

Nach der Meuterei hatte die Themis gerade noch eine Rumpfmannschaft von knapp achtzig Seeleuten gehabt – für eine komplette Crew fehlten hundertzwanzig Mann.

Als sie den Niedergang erreichten, rief Archer einem Mann unter Deck zu: »Schauen Sie, wer uns besucht, Mr Barthe. Ein frisch ernannter Master and Commander.« Zu Hayden gewandt sprach er: »Ich habe ganz vergessen, Ihnen noch zu Ihrer Beförderung zu gratulieren, Sir.«

Am Fuße des Niedergangs schüttelte Hayden dem korpulenten Master die Hand. Mr Barthe atmete schwer und hatte gerötete Wangen, als sei er Treppenstufen hinaufgerannt. »Ich dachte, da kommt unser neuer Kapitän«, lachte Barthe und schien sich wirklich zu freuen, Hayden wiederzusehen, »und bin extra gerannt, um nicht zu nachlässig zu erscheinen. Kommen Sie in die Offiziersmesse, Mr Hayden. Dort ist es wärmer.« Barthe trat einen Schritt beiseite, um Hayden den Vortritt zu lassen. »Sie kommen nicht mit uns, Mr Archer?«

»Ich muss noch die Windrichtung bestimmen, Mr Barthe.«

»Er muss erst seine Weste richtig zuknöpfen«, flüsterte Hayden dem Master zu, der mit einem wissenden Grinsen antwortete.

Barthe unterdrückte sein Lachen und räusperte sich dann. »Es heißt, Sie haben jetzt ein eigenes Schiff, Mr Hayden. Die Kent. Stimmt das?«

»Vor einer Stunde war das meine Bestimmung, Mr Barthe, aber der Hafenadmiral hatte andere Vorstellungen.«

Schritte auf der Treppe verrieten, dass Archer ihnen nun nacheilte.

»Sie sprechen von diesem sturen Cotton?«, erkundigte sich Barthe und trottete hinter Hayden her.

»Sie sind ihm also schon einmal begegnet?«

»Gott bewahre, nein. Aber ich weiß, was für einen Ruf er hat.«

Als Hayden die Tür zur Offiziersmesse öffnete, sah er Dr. Griffiths am Tisch sitzen. Der Schiffsarzt beugte sich über ein Buch. Nun nahm Griffiths seine Brille ab, und ein Lächeln erhellte sein schmales Gesicht. Zu schnell stand er auf, um Hayden die Hand zu schütteln, und stieß hart mit dem Kopf gegen einen Decksbalken.

»Verflucht und zugenäht!«, schimpfte er und hielt sich den Kopf. Dann zuckte er zusammen, musste aber im selben Augenblick lachen. »Als wäre ich nie unter Deck gewesen, wie? Es freut mich wirklich, Sie wieder in unserer Messe zu sehen, Mr Hayden.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Doktor. Und ich dachte, Sie wären alle an Land geschickt worden?«

»Der neue Kapitän wollte mit uns nichts zu tun haben«, antwortete Barthe, »aber bei allem, was man hört, hat er sich nach London aufgemacht, um der Admiralität ein anderes Schiff aus den Rippen zu leiern. Also erhielten wir den Befehl, uns wieder aufs Schiff zu begeben, da unsere Dienste nirgends erwünscht waren, ob Sie’s nun glauben oder nicht. So schlecht steht es um den Ruf der Leute, die unter Hart dienten. Ich glaube, die Themis wird hier weiterhin vor Anker liegen und irgendwann verrotten, da sich kein Kapitän findet.«

»Sie wird zumindest in naher Zukunft nicht verrotten, Mr Barthe.« Hayden griff in die Innentasche seines Uniformrocks und holte die Dokumente hervor, die ihm der schüchterne Sekretär des Hafenadmirals überreicht hatte. »Meine Befehle und meine Ernennungsurkunde. Ich werde das Kommando übernehmen und Sie alle ins Mittelmeer bringen, um dort mit Lord Hood zusammenzutreffen – in Toulon. Beim nächsten Wachwechsel könnten wir alle Matrosen aufs Batteriedeck bestellen. Dann werde ich meinen Einsatzbefehl verlesen.« Hayden brach das Siegel des Einsatzbefehls und überflog die Zeilen. »Aha, hier ist ein Punkt, den der Admiral versäumt hat mir mitzuteilen – wir sollen einem Konvoi bis nach Gibraltar Geleitschutz geben.«

»Ist das nicht zu spät im Jahr für einen Konvoi?«, fragte Archer verwundert.

»Ich habe gehört, dass ein Konvoi schon seit sechs Wochen in Torbay festsitzt. Erst war immer das Wetter zu schlecht, und dann ist ihnen dauernd irgendetwas dazwischengekommen.« Barthe schüttelte schnaubend den Kopf, als wolle er andeuten, dass dies allein an der Inkompetenz innerhalb der Admiralität lag.

»Das ist der Konvoi«, erwiderte Hayden und schaute wieder auf den Einsatzbefehl. »Der Kommandant ist Pool.«

»Richard Pool? Den kenne ich, Mr Hayden«, sagte Barthe und verzog den Mund. »Es gibt keinen ehrgeizigeren Mann in der ganzen Flotte, möchte ich wetten, aber ich muss zugeben, dass er ein ganz passabler Seemann ist.«

»Seinem überbordenden Ehrgeiz hat er es wohl zu verdanken, dass er jetzt Dienst in einem Konvoi tut. Wir sollen noch ein paar Passagiere mitnehmen. Zwei Pfarrer, kaum zu glauben, was? Offenbar sollen sie vor Hoods heidnischen Horden Gottes Wort predigen.«

Archer musste lachen. »Zwei Pfarrer für Hoods heidnische Horden. Sehr gut, Mr Hayden.«

»Mr Hayden hat nur vorübergehend das Kommando, Archer«, ließ sich Griffiths vernehmen. »Sie brauchen ihm also keinen Honig um den Bart zu schmieren.«

Archer lachte wieder und errötete.

»Gibt es hier jemanden, der verlässlich ist und der mein Gepäck an Bord holen kann?«

»Childers, Sir.«

»Ja, den nehme ich. Morgen früh bei Flut setzen wir Kurs auf Torbay, Mr Barthe. Wie ist es um unsere Vorräte und das Trinkwasser bestellt?«

»Wir haben genug Vorräte an Bord, um es bis nach Gibraltar und darüber hinaus zu schaffen, Sir. Munition und Pulver ist auch in ausreichender Menge vorhanden. Das Kupfer am Rumpf ist sauber, und die Segel samt Takelage sind in tadellosem Zustand. Allerdings haben wir zu wenig Leute, aber das ist nicht so schlimm.« Barthe lächelte. »Es sind fast alle Mann an Bord, die mit uns nach Frankreich segelten, Mr Hayden, da kein anderes Schiff sie haben wollte. Dabei sind längst alle Meuterer zum Henker geschickt worden, und die anderen sind erfahrene Seeleute. Auch die Presskommandos haben uns ein paar taugliche Männer gebracht: Fischer und Seeleute von Handelsschiffen. Oh, und dann wären da noch einige Landratten und Jungen, aber Mr Franks hat ihnen schon einiges beigebracht. Die werden bald richtige Matrosen sein.«

»Wie geht es denn Mr Franks?«

»Er hinkt seither, Sir, und kann nur noch langsam aufentern. Mit seinem Arm ist alles in Ordnung. Franks teilt immer noch gut mit seinem Rohrstock aus. Er kommt schon zurecht.«

»Sind Sie der Erste Leutnant, Mr Archer?«

Archer, der scheinbar mit den Gedanken woanders gewesen war, zuckte wie ein Schuljunge zusammen, den der Lehrer beim Tagträumen erwischt hatte. »Nein, Sir. Saint-Denis ist Erster. Er hält sich aber momentan an Land auf. Ich bin der Zweite, und einen Dritten haben wir leider noch nicht. Ohne Kapitän haben wir keinen einzigen Midshipman, doch ich denke, dass Harts frühere Schützlinge sofort mit Ihnen segeln würden, wenn wir ihnen nur rechtzeitig Bescheid sagen könnten.«

»Wir brauchen noch Reffer. Vielleicht finden wir welche in Torbay.« Hayden holte seine Taschenuhr hervor und schnippte den Deckel mit dem Daumen auf. Kurz vor Mittag. »Könnten Sie mir sämtliche Seefrachtbriefe, Ladungsverzeichnisse, Rechnungen und die Crewliste in meine Kabine bringen lassen, Mr Archer? Dann brauche ich noch ein Boot, das mich für eine Verabredung zum Dinner an Land bringt. Wissen Sie, wo Leutnant Saint-Denis sich im Augenblick aufhält? Es gibt noch viel zu tun, bevor wir in See stechen.«

»Childers wird jemanden mitnehmen, der ihn sucht, Kapitän.«

In Begleitung von Barthe und Franks nahm Hayden die Themis in Augenschein, Deck für Deck. Er überprüfte die Laderäume und die Pulverkammer, warf einen Blick in das Mannschaftsquartier und das Lazarett und vergewisserte sich an Deck, dass die Takelage in Ordnung war. Kurzum, im Hinblick auf die bevorstehende Fahrt wollte Hayden nichts dem Zufall überlassen und prüfte die Fregatte vom Kielraum bis zur Mastspitze. Für Franks, den Bootsmann, war es sichtlich unangenehm, als Hayden schließlich anordnete, dass einige Schoten erneuert werden mussten. Offenbar sah es ganz so aus, als seien weder Franks’ Gehilfen noch die Matrosen ehrlich gewesen, was die erforderlichen Ausbesserungsarbeiten am Rigg betraf. Vielleicht waren Franks’ Leute auch einfach zu nachlässig gewesen, da sie wussten, dass der Bootsmann nicht mehr gut aufentern konnte.

Als die Arbeiten nach einigen Stunden abgeschlossen waren, begab sich Hayden in die Kapitänskajüte, musste jedoch feststellen, dass sie bereits besetzt war. Zumindest sah er das Gepäck und die Habseligkeiten eines anderen Mannes.

»Wie es scheint, Mr Archer, wohnt bereits jemand in meiner Kabine.«

»Ja, Saint-Denis, Sir. Ich sage seinem Diener gleich, dass die Sachen weggeschafft werden müssen. Bitte um Entschuldigung, Mr Hayden.«

»Mister Hayden sollte fortan mit Kapitän angesprochen werden, Mr Archer«, rief Barthe ihm eindringlich in Erinnerung.

»Gewiss«, erwiderte Archer schnell. »Das wird nicht wieder vorkommen.«

»Kein Grund zur Sorge, Mr Archer.« Hayden musste lachen. »Ich habe mich ja selbst noch nicht an die neue Anrede gewöhnt.«

Kajütsdiener schafften das Gepäck des Ersten Leutnants fort, sodass Hayden kurz darauf in einer leeren Kabine auf und ab schritt. In diesem Moment betrat Perseverance Gilhooly, Haydens Schreiber während der letzten Fahrt, die Kabine und brachte zwei Matrosen mit, die ein kleines Schreibpult trugen.

»Gilhooly!«, begrüßte Hayden den Jungen erfreut, den alle Perse nannten. »Bist du bereit, Sekretär des Kapitäns zu werden? Genauer gesagt Sekretär des stellvertretenden Kapitäns?«

»Dann soll es mir recht sein, stellvertretender Sekretär zu werden, wenn die Vorschriften es so verlangen. Ich freue mich, dass Sie wieder an Bord sind, Sir.«

»Danke. Ich muss einen ganzen Stapel Papiere durchsehen und möchte gleich damit beginnen. Gibt es hier Stühle …? Ah, da sind ja welche.« Im selben Moment brachten die beiden Matrosen die Stühle herein.

Auch Barthes Gehilfe zwängte sich hinter den Matrosen in die Kabine und drückte dem Master ein ledergebundenes Buch in die Hand.

Barthe hielt das Buch hoch. »Hafenlogbuch, wenn’s genehm ist, Kapitän.« Er legte das Buch auf Haydens Schreibtisch.

»Wir sollten ein Auge darauf haben, Mr Barthe«, sagte Hayden in Anspielung auf die letzte Fahrt. »Ich möchte nicht, dass es verloren geht.«

»Ich glaube nicht, dass wir im Augenblick Diebe an Bord haben. Übrigens habe ich nie erfahren, wie mein Logbuch plötzlich während der Verhandlung vor dem Kriegsgericht auftauchte …«

»Das ist auch mir schleierhaft«, sagte Hayden und schlug das Logbuch auf, weil er dem Master nicht in die Augen sehen konnte. Denn Hayden hatte es so eingefädelt, dass das gestohlene Logbuch auf illegale Weise wiederbeschafft wurde, doch das sollte niemand wissen. Wie beiläufig blätterte Hayden jetzt in dem Buch, hielt dann aber inne, als sein Blick auf eine Seite fiel. Fast erschrocken schaute er auf zu dem Master, dessen Miene mit einem Mal verkniffen wirkte.

»Sie waren während der Exekutionen an Bord, Mr Barthe? Das ist doch Ihre Handschrift, nicht wahr?«

Barthe warf einen Blick auf die ordentliche Schrift und schloss kurz die Augen. Sein rundliches Gesicht wirkte mit einem Mal schlaff. »Ja, Sir. Der neue Kapitän war zu krank, um dabei sein zu können. Mr Franks und – und ich machten die Schlingen. Saint-Denis überwachte die Hinrichtungen, und zwar ziemlich kaltblütig, wenn ich das so sagen darf. Das brachte ihm das Misstrauen der Crew ein. Zum Glück hatten wir neue Leute an Bord, die die Stricke hochzogen und die Verurteilten nicht kannten. Zumindest ein schwacher Trost.«

»Es tut mir leid, dass Sie dabei sein mussten, Mr Barthe. Das war gewiss eine hässliche Sache.«

»Ach, bei einigen tat es mir nicht leid, sie baumeln zu sehen, Sir. Sie misshandelten uns furchtbar nach der Übernahme des Schiffes und brachten sogar einige Crewmitglieder um, aber andere hatten weniger Schuld auf sich geladen, wenn man das überhaupt bei einer Meuterei sagen kann. Wahrscheinlich werde ich mein Lebtag vor Augen haben, wie sie hochgezogen wurden.«

»Das ist der Preis, wenn man ein Gewissen und Pflichtbewusstsein hat.«

Einen Moment lang standen sich die beiden Seeleute etwas ratlos gegenüber, bis Barthe, der offenbar wenig Trost aus Haydens Worten gezogen hatte, eine kurze Verbeugung andeutete. »Aber Sie haben zu tun, Kapitän. Besser, ich gehe jetzt.« Er verließ die Kabine, mit einem Mal seltsam steif in seinen Bewegungen.

Hayden reichte einem Seesoldaten, der ihm fortan dienen sollte, den Uniformrock, ließ sich dann auf einen der Stühle sinken und griff nach dem ersten Blatt Papier auf dem Stapel – der Musterrolle. Etliche Namen kannte er: Chettle zum Beispiel war der Schiffszimmermann, Childers war Harts Bootsführer gewesen und würde von nun an Hayden in derselben Weise dienen. Doch es gab ebenso viele Namen, die ihm unbekannt waren.

Daraufhin ging er das Ladungsverzeichnis, die Liste der Kranken und Verletzten, die Wacheinteilung und das Hafenlogbuch durch. In der Flut aus Papieren und Dokumenten drohte er unterzugehen, hielt aber hartnäckig durch, bis der Stapel abgearbeitet und jedes einzelne Blatt über die Schreibtischplatte zu einem zweiten Stapel gewandert war.

Erleichtert lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück, führte die Kaffeetasse an den Mund und trank den inzwischen kalten Inhalt. Als sich sein Magen bemerkbar machte, vergewisserte sich Hayden mit einem Blick auf seine Uhr, dass es wirklich Zeit zum Abendessen war. Dann schaute er sich in Harts Kabine um, in der er sich vorübergehend einrichten würde, und das nicht zum ersten Mal. Doch der Rang eines Vollkapitäns und die Aussicht auf ein eigenes Schiff waren plötzlich wieder in weite Ferne gerückt. Verflucht sei Cotton, dass er mir die Kent weggenommen hat, dachte er. Hayden war der festen Überzeugung, dass er sich die neue Position redlich verdient hatte. Doch jetzt war er wieder nur stellvertretender Kapitän.

Es klopfte an die Tür.

»Herein!«, rief er und machte sich klar, dass er seinen Zorn und seine Enttäuschung nicht an Unschuldigen auslassen durfte.

Der Wachposten steckte den Kopf durch die Tür. »Leutnant Saint-Denis, Sir.«

»Schicken Sie ihn herein«, sagte er und erhob sich.

Da rauschte Saint-Denis auch schon in die Kajüte, den Hut unter den Arm geklemmt. Er lächelte, wenn auch etwas gezwungen, und gab sich betont locker. Er hatte eine fliehende Stirn und stumpfes blondes Haar, das sich allmählich lichtete. Die feine, maßgeschneiderte Uniform vermochte nicht die schmale Brust, die spitzen Schultern und die breiten Hüften zu verbergen. Obwohl der Leutnant nur etwas älter als Hayden war, schien er die Jugend längst hinter sich gelassen zu haben und näherte sich dem gesetzten Alter mit Riesenschritten.

»Mr Hayden, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Mit einer Hand deutete er vage auf den leeren Stuhl. »Darf ich?« Schon nahm er Platz, obwohl Hayden noch gar nichts gesagt hatte. »Ich bitte um Entschuldigung, aber ich fürchte, ich werde nicht lange an Bord bleiben können, da Kapitän Davies zweifellos nach mir schicken wird. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Admiralität ihn mit einem Linienschiff betrauen wird, vielleicht sogar mit einem Flaggschiff. Und er hat mir versprochen, mich mitzunehmen. In Wahrheit glaubt er, nicht ohne mich auszukommen. Doch ich bin sicher, dass Sie einen passenden Stellvertreter für mich finden werden. Archer verfügt nicht über meine Erfahrung und Befähigung, wenn ich das so sagen darf – aber vielleicht schafft er es, falls sie keinen anderen finden.«

»Ja«, erwiderte Hayden einsilbig und nahm wieder Platz. »Ich denke, er schafft es, aber solange die Admiralität nichts anderes verlauten lässt, bleiben Sie der Erste Leutnant der Themis. Es gibt noch eine Menge zu tun, bevor wir in See stechen, und das werden wir morgen früh tun, wenn das Wetter und die Gezeiten es zulassen.«

Saint-Denis schaute zur Seite, nahm eine andere Sitzposition ein, sodass er sich mit dem Ellbogen auf der Rückenlehne abstützen konnte, und schlug ein Bein über das andere. »Natürlich, Hayden, ich werde Sie nach besten Kräften unterstützen, bis ich gerufen werde. Ich weiß, in was für einer Situation Sie sich befinden, ohne Midshipmen und mit nicht genügend Offizieren.« Mit einem Finger deutete er zum Oberlicht. »Vielleicht könnte ich Ihnen einen Midshipman aus meinem Bekanntenkreis besorgen, obwohl die meisten Familien, die ich kenne, eine Karriere in der Navy unter ihrem Stand sehen – das sehen unsere Familien anders, wie?« Er lachte. Hayden nicht.

»Ich werde mir die Midshipmen selber aussuchen, Leutnant, danke. Würden Sie bitte den Proviantmeister fragen, wo die folgenden Waren geblieben sind?« Er nahm eine Liste vom Schreibtisch und hielt sie dem Mann hin. »Ich habe den Verdacht, dass uns einige Vorräte abhandengekommen sind.«

Einen kurzen Moment machte Saint-Denis keine Anstalten, die Liste in Empfang zu nehmen, erhob sich dann aber eher widerwillig und griff nach dem Blatt. »Muss nur noch rasch die Uniform wechseln«, murmelte er vor sich hin, deutete eine vage Verbeugung an und verließ steif die Kabine.

Saint-Denis war kaum zur Tür hinaus, da schaute Griffiths herein. »Hätten Sie einen Augenblick Zeit, Kapitän?«

»Aber sicher.«

Der Schiffsarzt schaute noch kurz Saint-Denis nach, schloss dann die Tür hinter sich und fragte leise: »Wie war Ihre Unterredung mit Saint-Denis?«

»Er steht, wie ich erfuhr, auf Abruf bereit und wird uns nur noch einige Stunden mit seiner Gegenwart beehren.« Hayden fügte jedoch nicht hinzu, dass es unter der Würde eines fähigen Offiziers war, nach fehlenden Vorräten suchen zu müssen.

»Ich wäre mir da nicht so sicher, dass er das Schiff bald verlässt«, sagte Griffiths im Flüsterton. »Unbestätigten Gerüchten zufolge will Kapitän Davies diesen Mann loswerden. Von den anderen Offizieren, die Davies ausgewählt hat, wurde nur Saint-Denis aufs Schiff beordert. Seit Tagen schickt der Leutnant nun schon Schreiben an Davies und an seinen Vater, mit wachsender Verzweiflung. Noch sind keine Antwortschreiben eingetroffen.«

Oben an Deck war das klagende Heulen des Windes zu hören, und der Regen prasselte auf die Planken.

»Sie wollen damit sagen, dass ich den Mann so schnell nicht loswerde?«

»Ich fürchte, nein. Denn Sie können ihm ja nicht einfach so erlauben, nach London zu seinem Gönner zu fahren, oder?«

»Nein, das kann ich wahrlich nicht. Wer ist dieser Saint-Denis überhaupt? Er scheint sich für eine bedeutende Persönlichkeit zu halten.«

»In der Tat, und das könnte stimmen, aber irgendetwas stimmt nicht in der Welt des Caspian Saint-Denis. Vermutlich werden die Gründe hierfür mit der Zeit ans Tageslicht kommen.« Griffiths warf einen Blick auf den Stapel Papier auf Haydens kleinem Pult. »Ich soll Sie heute Abend zum Essen in die Offiziersmesse einladen, aber Childers sagte mir eben, dass Sie schon verabredet sind?«

»Ja, so ist es, Doktor. Dann an einem anderen Abend, hoffe ich?«

»Der erste Abend, an dem Sie noch nichts anderes vorhaben. Da wäre noch ein kleines Problem, das ich aber nur ungern ansprechen möchte, da Sie so viel zu tun haben …«

»Nun, ich fürchte, es ist mein Schicksal, mir die Probleme von anderen anhören zu müssen. Um was geht es denn?«

»Mein Assistent musste vor sechs Tagen das Schiff aus privaten Gründen verlassen. Wenn er nicht bald kommt, werden wir ohne ihn segeln müssen.«

»Sie sprechen von Ariss?«

»Ja.«

»Da können wir nicht viel tun, Doktor. Sobald der Wind günstig steht, halten wir Kurs auf Torbay. Alle, die bis dahin nicht an Bord sind, können uns vielleicht noch in dem anderen Hafen einholen, aber ich glaube, dass der Konvoi in See sticht, wenn der Sturm aus Südost nachlässt. Sie könnten Ariss noch rasch eine Nachricht zukommen lassen, aber mehr können wir nicht tun.«

»Ich werde mich gleich hinsetzen und ihm schreiben. Ihnen einen angenehmen Abend an Land, Kapitän.«

»Danke, Doktor, aber es widerstrebt mir, einer gewissen Dame beibringen zu müssen, dass ich wahrscheinlich für einige Wochen nicht da sein werde.«

KAPITEL ZWEI

»Ist Ihr Schiff schon eingelaufen, Kapitän?«, fragte Henrietta, als sie den Raum betrat. Sie lächelte mit vor Freude geröteten Wangen und errötete noch stärker, als ihr bewusst wurde, wie verräterisch dies war.

»In gewisser Weise.« Angesichts der morgendlichen Entscheidung des Hafenadmirals verspürte Hayden tiefe Scham und fühlte sich geradezu gedemütigt.

»Das klingt rätselhaft«, merkte Elizabeth mit plötzlich ernster Miene an und legte den hübschen Kopf leicht schief. »Was meinen Sie damit, Kapitän Hayden?«

Sowohl Henrietta als auch ihrer Cousine bereitete es Vergnügen, Hayden mit »Kapitän« anzureden, obwohl er dann jedes Mal daran erinnert wurde, dass er nur Master and Commander war. Und jetzt hatte er nicht einmal mehr ein eigenes Schiff, ein Umstand, den er nur ungern offen legen mochte.

Nach einer kurzen Pause räusperte Hayden sich. »Die Kent ist noch auf offener See, und der Hafenadmiral hat mir in Absprache mit der Admiralität vorübergehend das Kommando über die Themis erteilt. Ich soll einen Konvoi nach Gibraltar begleiten und das Schiff dann Lord Hood übergeben, der einen seiner Offiziere zum Kapitän ernennen wird.«

Robert unterdrückte einen Fluch und wandte sich zornig und enttäuscht ab.

Henrietta war sichtlich verwirrt von Roberts Verhalten und Elizabeth’ nunmehr düsterer Miene.

»Aber wünscht man sich nicht eher eine Fregatte als eine Sloop?«, fragte sie vorsichtig.

»Das ist richtig, Miss Henrietta, aber leider bin ich wieder nur stellvertretender Kapitän – und das mir zugedachte Schiff wird ein anderer übernehmen.« Hayden spürte, wie sich die Röte auf seinem Gesicht ausbreitete. »Sobald ich Hood die Themis übergeben habe, stehe ich erneut ohne Schiff da und muss in Gibraltar ausharren, bis sich ein Schiff findet, das mich wieder nach Hause bringt.«

»Oh …«, entfuhr es Henrietta leise. »Dann werden Sie vielleicht einige – Wochen nicht da sein?«

»Oder gar Monate, fürchte ich«, flüsterte Hayden beinahe, als könne er die unliebsame Nachricht dadurch abschwächen.

Tränen schimmerten in Henriettas Augen, als sie den Kopf wegdrehte.

»Komm, Robert«, sagte Elizabeth und bedeutete ihrem Mann, ihr zu folgen, »ich muss dir etwas zeigen – im Speisezimmer. Würdet ihr uns kurz entschuldigen?«

Unschlüssig standen Hayden und Henrietta vorm Feuer. Ein Windstoß fuhr in den Kamin und wirbelte eine kleine graue Rauchwolke auf, die sich zur Decke verflüchtigte. Einen Moment lang herrschte unangenehmes Schweigen, doch dann gingen die beiden einen Schritt aufeinander zu und küssten sich fast scheu. Seit zwei Tagen hatten sie zärtlichen Umgang, als wären sie bereits verlobt.

»Ich sehe, dass Ihre Enttäuschung sehr groß ist, aber am Ende wird alles gut«, wisperte Henrietta und überwand ihre Verzweiflung.

»Ja, ich darf mir von kleinen Rückschlägen nicht die Stimmung verderben lassen.« Er nahm ihre Hand.

»Glauben Sie wirklich, es wird Monate dauern?«, fragte sie kaum hörbar.

Hayden nickte und versuchte, ihren Augenausdruck zu deuten.

»Nun …«, meinte sie und wich seinem fragenden Blick aus.

Sie wussten beide nicht, was sie sagen sollten, doch dann – wie schon so oft – rettete Henrietta sie aus dem beunruhigenden Schweigen.

»Ich vermute, es ist eine Banalität, wenn ich sage, ich werde auf Sie warten?«, meinte sie dann und versuchte zu lächeln.

Es rührte Hayden zutiefst, dass sie ihn in diesem Augenblick aufzumuntern versuchte, obwohl auch sie die bevorstehende Trennung als schmerzlich empfinden musste.

»Oder ich werde jeden Tag an Sie denken?«, bot Hayden seinerseits an.

»Nicht jede Minute?«, schalt sie ihn neckend.

»Wenn Ihnen das lieber ist.«

Sie dachte nach, und ihre Mundwinkel gingen ein wenig nach unten. »Jede Sekunde erscheint mir ein bisschen zu viel. Hingabe muss auch Grenzen haben«, schloss sie und sah ihm in die Augen. Er entdeckte eine tiefe Traurigkeit in ihrem Blick, über die selbst ihr Lächeln und ihre ungezwungene Art nicht hinwegtäuschen konnten. »Aber denken Sie nicht an mich, wenn Ihre Aufmerksamkeit anderweitig verlangt wird und Sie sich retten müssen. Lassen Sie sich nicht im falschen Augenblick von Gedanken an meine atemberaubende Schönheit ablenken«, scherzte sie.

»Ich werde über Ihre atemberaubende Schönheit nur in der Einsamkeit meiner Kabine nachsinnen«, versprach er mit einem Augenzwinkern.

»Vielleicht nur einmal am Tag – wenn Sie einschlafen und zu träumen beginnen.« Plötzlich schloss sie die Augen und hielt sich eine Hand vors Gesicht. »Genug davon! Wenn Sie gehen, wird mir elend zumute sein. Jeden Herzschlag werde ich mir Sorgen um Sie machen, bis Sie wieder unversehrt vor mir stehen.« Sie umschloss seine Hand so fest mit beiden Händen, dass sich ihre Nägel in seine Haut bohrten. »Kommen Sie heil und gesund wieder, das müssen Sie mir versprechen.«

»Es ist schwer, ein solches Versprechen zu halten …«

»Das ist mir gleich. Sie müssen es halten. Versprechen Sie es mir«, verlangte sie.

Er nickte stumm.

Sie schmiegte sich an ihn, ihr Atem war warm und voller Süße. Im Nebenraum waren Schritte zu hören. Die Person schien einen Moment lang zu zögern, ging dann aber weiter. Die beiden ließen rasch voneinander ab, und Henrietta versuchte vergebens, die Spuren ihrer Tränen zu vertuschen.

Lady Hertle betrat den Salon und wirkte erschöpft und vom Alter gebeugt. Hayden glaubte, dass die alte Dame nach der letzten Krankheit um Jahre gealtert sei, zumindest vorübergehend.

»Ach, hier seid ihr«, sprach sie mit einem Lächeln auf den Lippen und schien sich über die unleugbare aufblühende Zuneigung der jungen Leute zu freuen. Doch schnell verdrängte eine sorgenvolle Miene das Lächeln. »Meine liebe Henrietta, hast du dich noch nicht wieder ganz erholt? Deine Augen sind gerötet, und du siehst ein wenig erhitzt aus. Du hast doch kein Fieber, oder?«

»Keineswegs, Tante. Ich habe bloß noch diesen schrecklichen Husten – doch der plagt mich eigentlich nur des Nachts. Ansonsten bin ich gesund.«

Lady Hertle schien davon nicht recht überzeugt zu sein und schaute ihre Nichte einen Moment prüfend an, ehe sie sich Hayden zuwandte.

»Kapitän Hayden«, sagte sie. »Ist mir ein Vergnügen.«

»Ich hoffe, Sie erleben dieses Vergnügen nicht zu oft, Lady Hertle, da ich nicht die Absicht habe, Ihre Gastfreundschaft über Gebühr in Anspruch zu nehmen.«

»Oh, Sie könnten mir jeden Tag einen Besuch abstatten, ich würde Ihrer nicht überdrüssig. Es wäre mir ein Graus, jeden Tag nur mit mir beschäftigt zu sein. Nach wenigen Monaten wäre ich völlig verwirrt. Nein, kommen Sie mich besuchen, so oft Sie wollen. Robert sagt, Sie seien wie ein Bruder für ihn, und daher sind Sie wie ein Neffe für mich. Wo sind Robert und Elizabeth überhaupt? Ich muss sagen, die beiden sind doch wirklich schlechte Anstandsdamen«, mokierte sie sich im Spaß und gab den beiden zu verstehen, ihr in den Speiseraum zu folgen. »Seeleute nehmen sich gern Freiheiten heraus«, klärte Lady Hertle ihre Nichte auf. »Als Admiral Hertle jung war, küsste er mich bei jeder Gelegenheit. Gewiss, da waren wir schon verlobt und wollten heiraten, aber er war dennoch recht undiszipliniert, wenn es ums Küssen ging.« Bei der Erinnerung umspielte ein Lächeln ihre Mundwinkel, doch es wirkte ein wenig traurig.

»Ich bin ziemlich empört«, sagte Henrietta, »dass du dich von einem jungen Mann hast küssen lassen, auch wenn du mit ihm verlobt warst.«

Lady Hertle gab einen missbilligenden Laut von sich. »Ach, ich mag Küsse und trauere ihnen mehr nach, als du dir vorstellen kannst.«

»Aber ich gebe dir doch jeden Tag einen Kuss, Tantchen«, antwortete Henrietta.

»Ja, das tust du, aber das ist nicht dasselbe. Ah, Elizabeth«, sagte sie, als sie ihre andere Nichte und Robert am Fenster des Speiseraums stehen sah. Offenbar waren die beiden gerade bei einer Zärtlichkeit unterbrochen worden, die eben zur Sprache gekommen war. »Du hast deine Pflichten als Anstandsdame vernachlässigt.«

»Keineswegs, Tante. Im Gegenteil, ich komme der Pflicht vortrefflich nach. Ich gewähre Mr Hayden und Henrietta etwas Zeit für sich, damit ihre gegenseitige Zuneigung wachsen kann – mehr nicht. Ich würde sogar sagen, dass ich die perfekte Anstandsdame bin.«

»Bei all diesem Tändeln unter meinem Dach vermisse ich den Admiral sehr und fühle mich furchtbar allein, wie ich zugeben muss. Furchtbar allein.« An ihrem Platz blieb sie stehen. »Wisst ihr, wie wir das nannten, als wir noch jung waren? Das Küssen, meine ich. Oskulation. Wir glaubten, niemand könne verstehen, wovon wir sprachen, aber jeder wusste, worum es ging. Ich meine sogar, dass dieser schreckliche Dr. Johnson die Bedeutung in sein Wörterbuch aufgenommen hat. Wir hielten uns für richtig clever, doch jeder wusste Bescheid. Ich wäre beinahe vor Scham im Erdboden versunken, als ich davon erfuhr.« Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. »Nun, ich habe gehört, ihr wollt ins Theater?«

»Bist du sicher, dass du uns nicht begleiten möchtest, Tante?«

»Ein andermal. Ich bin heute Abend etwas müde. Was werdet ihr euch anschauen?«

»Shakespeare, Tante. Romeo und Julia

Das Theater war an jenem Abend ausverkauft, aber Robert hatte eine kleine Loge in Bühnennähe reserviert, in der die beiden Paare gerade genügend Platz hatten. Auf Elizabeth’ Drängen hin saß sie mit ihrem Mann auf den vorderen Stühlen, damit die beiden frisch Verliebten weiter zurück im Schatten sitzen konnten.

»Kannst du die Bühne von da sehen, Henrietta?«, erkundigte sich Robert und verrenkte sich auf seinem Sitzplatz.

»Ja, sehr gut, Robert. Mach dir keine Sorgen.«

Hayden spürte eine knisternde Vorfreude in der Theaterloge. Wenn Henrietta sprach, klang ihre Stimme ein wenig gepresst. Nach ein paar Worten musste sie schon Luft holen. Doch die Vorfreude mochte nicht dem Stück gelten, eher der Ablenkung, die das Bühnengeschehen den beiden Verliebten bieten würde, um Zärtlichkeiten auszutauschen.

In der lauten Menge auf den Stehplätzen vor der Bühne drängten sich auch viele Seeleute und Soldaten, die, vom Alkohol beschwingt, in einem fort prahlten und sich in Szene setzten. In den Logen saßen viele hochrangige Offiziere der Navy und der Armee. Das Stimmengewirr, das Rufen und das neugierige Getuschel der Damen sorgten für eine lebhafte Atmosphäre. Bei all den Menschen im Saal hatten sich unter der Decke des Theaters bald Dunstschwaden gebildet, die Hayden an nebelartige Wolkenbänder am Horizont erinnerten.

Das musikalische Vorspiel begann mit Zimbelklängen und Trommeln als unverwechselbare Anzeichen eines heraufziehenden Sturms. Es folgte ein kurzes Possenspiel, das insbesondere den einfachen Matrosen gefiel, die nun endlich damit aufhörten, den Soldaten zu drohen, und sich der Bühne zuwandten. Die Männer hielten sich mit ihren Kommentaren nicht zurück und gaben den Schauspielern sogar noch Anweisungen.

Da nun alle Augen auf die Bühne gerichtet waren, tastete Henrietta nach Haydens Hand. Leise rückten die beiden etwas näher zusammen, bis sich ihre Arme berührten. Mit der freien Hand strich Hayden zärtlich über die Innenseite von Henriettas Handgelenk und vollführte kleine kreisende Bewegungen mit einem Finger. Leise seufzend schloss sie die Augen. Ohne ein Wort wandten sich die Liebenden einander zu und küssten sich.

Doch viel zu früh endete die erste Darbietung, und die berühmten Zeilen des Prologs erschollen auf der Bühne.

»Zwei Häuser, beide von gleich edlem Blut, beid’ in Verona, wohin wir uns wenden, entfachen neu des alten Haders Glut, drin Bürgerblut, ach, floss von Bürgerhänden. Aus der zwei Feinde Lenden ward erzeugt ein Liebespaar in schlimmer Sterne Bann …«

Sogar die Seeleute verstummten einen Moment und lauschten.

Sampson und Gregory warfen sich die Stichworte zu und begannen mit der Art von Doppeldeutigkeiten, die den Seeleuten gefiel. Die Anspielung auf die Jungfräulichkeit wurde mit lautem Lachen quittiert. Dann betraten die wichtigeren Schauspieler die Bühne, bald erschien auch der junge Romeo, dessen geheimnisvolle Traurigkeit Benvolio zu ergründen sucht.