Zwei naive junge Frauen geraten „an den falschen Mann“. Die eine im Wien des 19. – die andere im Wien des 20. Jahrhunderts. Das psychische und physische Leiden, verursacht durch ihre unglückliche und unerwiderte Liebe, steigert sich allmählich zur Obsession. Während Agnes ihr Leiden im Jahre 1886 mit einem tradierten und unreflektierten Glauben gleichsam zu verstehen wie zu betäuben versucht, glaubt Elisabeth hingegen an gar nichts und ist ihrem Leiden somit im Jahre 1997 schutzlos ausgeliefert.
„(…) Man muß einmal in Wien geliebt und gelitten haben. Man muß einmal am Donaukanal versetzt worden sein. Man muß einmal in der Gumpendorfer Straße geweint haben. Möglichst in der Nähe des Flakturms. Man muß einmal im verregneten Prater gewesen sein. Allein. Und mit blutendem Herzen. Ansonsten kann man jenen unerklärlichen Schmerz nicht verstehen. Jene tiefe Melancholie. Die dieser Stadt entströmt. Die pathologisch ist. Und die ihre Bewohner mit sich ins Unglück reißt. In die Demenz. In eine Halbwelt. Zwischen Licht. Und Schatten. Wo alles still steht. Wo alles plötzlich wie gelähmt ist. Auch der Verstand. In anderen Städten bleibt das Leiden stets an der Oberfläche. Und mit ihm die Leidenschaft. Vor allem in Paris. Wo es einfach abprallt. Und keinen Halt findet. An den goldenen Sandsteinfassaden. In Wien aber verfängt es sich. In den düsteren, kopfsteingepflasterten Gassen. In den alten, dreckigen Häusern. Des II., III., IV. und V. Bezirks. Deren Geruch nach Moder und Holzfäule bereits unzählige Liebesseufzer anderer in sich gefangen hält. Dort kratzt es beharrlich am Verputz. So lange. Bis das fröhliche Schönbrunner Gelb plötzlich nachgibt. Und die fleischroten Ziegel zum Vorschein kommen. Aus der Fassade herausquellen. Wie Gedärm. Aus einem aufgeplatzten Kadaver. Der bereits in Verwesung übergegangen ist. Und an allen Ecken und Enden stinkt. (…)“
Der Autor verfasste diesen Roman bereits im Jahre 1997. A.E.I.O.U wurde nach der alten Rechtschreibung (vor 1996) lektoriert.
Patrick Karez wurde in den Siebziger Jahren als Kind Prager Eltern in Deutschland geboren. Nach seiner Matura lebte er zehn Jahre lang in Paris, wo er an der Université de Paris-Sorbonne in Kunst- und Architekturgeschichte s.c.l. promovierte und als Kunstkritiker für eine dem französischen Ministerium für Kultur anhängige Institution tätig © Patrick Karez, 1999war. In diesem Rahmen publizierte er bereits mit Mitte Zwanzig – so etwa Kunstkritiken, Übersetzungen aus dem Tschechischen, Englischen und Französischen – und verfasste nebenher kontinuierlich belletristische Texte. Nach seinem Studium ging er für ein Vierteljahr nach Südostasien, lebte ferner für mehrere Jahre in Budapest, Rom, New York und Wien, wo er sieben Jahre lang als Mitarbeiter für die Österreichische Nationalgalerie Belvedere samt anhängigen Häusern tätig war. Das 19. Jahrhundert und die Kunst der Jahrhundertwende zählen zu seinen Forschungsschwerpunkten. So stammen etwa aus der Feder des Autors u.a. die beiden Romanbiographien „Gustav Klimt“ (erschienen im November 2014 im acabus Verlag, Hamburg; 4. Auflage 2020; russische Ausgabe bei Molodaya Gvardiya, Moskau, 2019) sowie „Egon Schiele“ (erschienen im September 2016, im acabus Verlag, Hamburg). Nach „Schwartz auf Weiss“ (2004, publiziert 2018), „Diva – Whatever happened to Martha Kűlföldi“ (1999/2019), „Reinthal“ (2020), „Rochade“ (2001/2021), „Finisterre“ (1991/2001) und „Utopia“ (2002/2021), legt der Autor nun seinen Roman „A.E.I.O.U.“ (1997/2021) vor.
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© 1997/2021 Dr. Patrick Karez
Cover/Layout: Patrick Karez & Roman Bitzinger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783753473925
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„Das Krankhafte kann nicht einfach wie ein Fremdkörper beseitigt werden, ohne daß man Gefahr läuft, zugleich etwas Wesentliches, das auch leben sollte, zu zerstören. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, es zu vernichten, sondern wir sollten vielmehr das, was wachsen will, hegen und pflegen, bis es schließlich seine Rolle in der http://Ganzheit1 der Seele spielen kann.“
(Carl Gustav Jung)
„Gehet hin in Frieden!“
„Und mit Deinem Geiste!“
Die gewaltigen Flügeltüren des Stephansdomes öffneten sich – und plötzlich trabte die ganze Herde auf den Flecken späten Sonnenlichtes zu, den der sterbende Tag in einem letzten, verzweifelten Aufschrei gegen das Kirchenportal geschleudert hatte. Agnes, die in jenem August des Jahres Anno Domini 1886 zum ersten Mal in Wien weilte, trottete stumm neben ihrer Tante einher, einer korpulenten und äußerst imposanten Erscheinung, die ihr Gebetbuch geradezu wie eine Waffe mit beiden Händen fest umklammert hielt und damit die friedlich grasenden und blökenden Lämmer energisch vor sich her schob. Wie ein Schneepflug schnitt sie mit rotem Kopfe die Herde förmlich auseinander und türmte deren Trümmer zu beiden Seiten ihrer Bahn wieder auf.
„Tante Hedwig...“, murmelte Agnes kleinlaut.
„Jetzt nicht, mein Kind!“, fuhr die Tante sie barsch an und pflügte weiter ihre Schneise durch das rohe und wild zuckende Fleisch...
Na ja. Ich weiß nicht... Ich kenne überhaupt keine Agnes. Und eine Hedwig. Schon gar nicht. Und vom ausgehenden Neunzehnten Jahrhundert habe ich ungefähr genauso viel Ahnung. Wie Agnes von der Molekularbiologie. Oder der Quantenphysik. Warum sollte ich mir also die Mühe machen. Blutleere und unglaubwürdige Marionetten zu erschaffen. Und über irgendwelche Hirngespinste zu schreiben? Im Grunde schreibt doch jeder Schriftsteller. Am liebsten. Über sich selbst. So ein blasser und frustrierter Schreiberling. Mit Bauchansatz. Und schütterem Haar. Erlebt aber nun mal nichts Spannendes. In seiner Kemenate. Denkt er sich deshalb einfach irgendeinen abgehobenen Quatsch aus. Mit Drogen. Und zusammenknallenden Autos. Dabei verdreht und verschweigt er bloß. Einige Parameter. Aus seinem eigenen Leben. Das todlangweilig ist. Und bläst dafür ein paar andere auf. So lange. Bis sie halbwegs verdaubar geworden sind. Mir ist das zu blöd. Und zu anstrengend. Schließlich ist meine Geschichte interessant genug. Um sie so schildern zu können. Wie sie sich wirklich zugetragen hat. Und vor allem bin ich interessant genug. Um darin die Hauptrolle spielen zu können. Dazu muß ich mich nicht verstecken. Hinter irgendeinem Alter Ego. Das zudem auch noch minderjährig ist.
Zum Glück. Heiße ich also nicht Agnes. Leider. Bin ich aber auch nicht mehr ganz sechzehn Jahre alt. Und das mit der Tante. Das haben wir ja bereits geklärt.
Meine Mutter war eines der vielen Opfer. Der Sisi-Epidemie. Eingeschleppt. Durch Romy Schneider. Mußte ich das ausbaden. Bis heute. Heiße ich deshalb Elisabeth. Seit ganzen siebenundzwanzig Jahren schon. Habe ich das Licht der Welt erblickt. In Bonn. Das war damals noch Hauptstadt. Jetzt ist es tiefste Provinz. (Kein Schwein kräht mehr danach.) Egal. Ich bin nämlich schon ein paar Jahre vor diesem ganzen Spuk weggezogen. Nach Paris. (Das ist. Und bleibt. Wenigstens Hauptstadt.) Seitdem studiere ich dort. An der Sorbonne-Nouvelle. Im hundertwasweißichwievielten Semester.
Ich gebe es hier ganz offen und unverblümt zu. Obwohl ich weder Bauchansatz noch schütteres Haar habe. Bringe ich diese ganze Geschichte nur aus einem einzigen Grund zu Papier: Nämlich, um mir meinen Psychofrust von der Seele zu schreiben. Wie man so schön sagt. Spielt mir gerade ein Typ ziemlich übel mit. Die übliche Heiß-Kalt-Heiß-Kalt-Geschichte.
Eine derart offensichtliche Verwertung von hauseigenem Psychomüll macht jedoch keinen guten Eindruck. Bei den Verlagen. Deshalb werde wohl auch ich einige Tricks und Kniffe anwenden müssen. Damit das Ding hier durchgeht. Bei den frustrierten Kampflesben. Im Lektorat. Da kenne ich mich aus. Immerhin studiere ich. Germanistik. (In Frankreich.)
http://Tagebuchnotiz vom Freitag, 5. September 19972:
„(...) Die Anfangsszene im Stephansdom möchte ich dennoch ganz gerne beibehalten. Erstens ist sie ein origineller Aufhänger. Und zweitens ist es tatsächlich eine Angewohnheit von mir, in einer unbekannten Stadt zuerst einmal die Kathedrale aufzusuchen. Nicht, weil ich irgendwie eine überdrehte religiöse Spinnerin wäre – nichts liegt mir ferner – sondern aus rein taktischen Gründen: Hat man nämlich erst die Kathedrale oder die Hauptkirche gesehen, dann weiß man sofort, mit wem oder was man es in der besagten Stadt zu tun hat.“
Nun. Der Stephansdom ist gotisch. Er wirkt auf den ersten Blick sehr „deutsch“. (Dabei stammt die Gotik wohlweislich aus Frankreich.) Dennoch steht sein Turm nicht vorne. Wie sonst üblich. Sondern irgendwo an der Seite. Was seltsam ist. Und an die isolierte Situation eines Campanile erinnert. In den italienischen Städten. Scheint die italienische Kultur also einen gewissen Einfluß ausgeübt zu haben. Auf die Österreicher. Zumindest. Was die Baukunst anbelangt.
Im Gegensatz dazu ist der zweite Turm. Niemals vollendet worden. Also der Nordturm. Trägt eine behelfsmäßige Metallhaube. Ähnlich wie der des Sankt Veitsdomes. In Prag. Die inzwischen grün angelaufen ist. Und die wahrscheinlich auch nicht wieder verschwinden wird. Zumindest nicht so schnell. Denn man stelle sich nur vor: Der große, ehrwürdige Stephansdom. Mit zwei gotischen Türmen? Mit gleich zwei „Steffln“? Unmöglich! Ein wenig Symmetrie? Und deutsche Ordnung? In Wien? Unmöglich!
Und dann dieses kunterbunte Dach. So eines habe ich in ganz Deutschland noch nicht gesehen. Dieser Dom, der auf den ersten Blick so „deutsch“ aussieht, ist es auf den zweiten Blick so ganz und gar nicht: Sein linker Turm gebärdet sich italienisch. Der rechte hingegen tschechisch. Und das Dach, das ist schließlich ungarisch. Beziehungsweise burgundisch. Und überhaupt. Scheint Österreich nicht viel mit Deutschland gemein zu haben. Außer seiner Landessprache. Wahrscheinlich sogar überhaupt nichts. Aber ich höre hier besser auf. Schließlich will ich nicht zynisch werden.
http://Tagebuchnotiz vom Samstag, 6. September 19973:
„Was für ein geschickter Schachzug! Um von der eigentlichen Herzschmerzstory abzulenken, spicke ich meine Aufzeichnungen mit pseudointellektuellen Betrachtungen über die österreichische Kultur. Als Deutsche kann ich schließlich einen Vergleich ziehen. Den Rest klaue ich mir aus irgendwelchen schlauen Büchern zusammen und dichte es einfach ein wenig um. Mein Roman wird dadurch einen höheren Gehalt bekommen. Man wird auf mich hereinfallen und sich denken: „Boh! Ist die schlau!“. Dabei lache ich mir ins Fäustchen und denke mir: Ja, lest nur alle meine intimen Herzensergüsse! Dann habe ich gleich drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Erstens therapiere ich mich durch diese Selbstbespiegelung selbst. Zweitens wird man mich für eine vergeistigte Intellektuelle halten. Und drittens verdiene ich, wenn’s gut läuft, auch noch eine Menge Geld damit! Und werde berühmt. Das wollte ich nämlich immer schon...“
Agnes habe ich also kaltgestellt. Was jetzt folgt, ist meine Geschichte.
http://Tagebuchnotiz vom Sonntag, 7. September 19974:
„Denkste! Ich finde einfach keine Ruhe und keinen passenden Einstieg in die Geschichte. Ich habe zur Zeit viel zu viel um die Ohren. Ich bin nämlich gerade selber mittendrin in der Geschichte. Bin emotional involviert. Das alles geht mir viel zu nah. Vielleicht werde ich die ganze Chose ja mal irgendwann in http://unmittelbarer Zukunft5, wenn sich die Wogen geglättet haben, wieder aufnehmen und etwas Brauchbares daraus machen können. Das hohle Geschreibsel hier ist keine Realität. Aber mein Leiden, das ist Realität. So real, daß es mir noch den Verstand raubt. Deswegen werde ich jetzt damit aufhören und versuchen, meine Beziehung zu retten. Mich zu retten. Die Gegenwart zu ändern. Mich zu ändern. Denn sonst wird das alles hier noch ein böses Ende nehmen. Ein sehr böses Ende...“
IRGENDWANN...
(unmittelbar nach der http://unmittelbaren Zukunft5)
Das Kreischen der Bremsen weckte mich. Der Zug verlangsamte seine Fahrt. Ein Monstrum übrigens. Eine wahre Chimäre. Zusammengesetzt aus unzähligen bunten Waggons. Etwa drei oder vier Stunden lang. Hatte es diese Nacht im Hauptbahnhof zu Salzburg hin und her rangiert. Hatte lautstark Waggons mit der Destination Wien-Westbahnhof vor Waggons mit der Bestimmung Budapest koppeln lassen. Im Ganzen fuhr dieses elende Gespann bishin nach Bucuresti. Bukarest. Wie die weißen Emailschildchen neben den Türen der hintersten Waggons bewiesen. Seltsam exotisch klingende Namen. Namen, an die sich Vertreter meiner Generation wahrscheinlich niemals mehr so richtig gewöhnen werden. Denn wir sind noch in einem Europa aufgewachsen, das man brutal und abfällig in „West“ und „Ost“ zerteilt hatte. In Hui. Und Buh. Nachdem es von zwei schrecklichen Weltkriegen zerstampft worden war. Zu Schutt. Und Asche. In Deutschland war damals einfach die Welt zu Ende. Und damit Punkt.
Ich rieb mir die Augen. Und schaute durch das beschlagene Fenster hinaus. Es war von unzähligen fettigen Stirnen beschmiert. Das gelbe, langgestreckte Bauwerk da draußen, mit dem roten Schindeldach, das mußte wohl das berühmte Schloß Schönbrunn sein. Ein erster, greifbarer Link zu Maria-Theresia, Sisi, Franzl & C°. Deutlich erkannte ich die Bögen der Gloriette. Die majestätisch den Hügel hinter dem Schloß dominierte. Mein erster Eindruck von Wien war nicht der schlechteste: Eine großartige barocke Kulisse. Ein Bühnenbild. Wie zu einer Mozartoper. (Oder zu einer klassischen Tragödie.) So lebendig und bewegt. Und dennoch gleichsam in seinem einstigen, goldenen Zeitalter erstarrt. Voll längst vergangener Gottesfurcht. Und dem permanenten Bewußtsein. Um einen baldigen Tod. Eine Parallelwelt. In der scheinbar nichts ging. Nicht vor. Und nicht zurück.
Henry erwartete mich bereits am Bahnsteig. Wahrscheinlich war er bereits eine Stunde vor der planmäßigen Ankunft des Zuges am Bahnhof erschienen. Wie immer. Hatte ihn wohl auch diesmal seine krankhafte Pünktlichkeit dazu getrieben. Benommen taumelte ich. Mit meinen zwei schweren Koffern beladen. Dem Ausstieg entgegen. Durch den schmalen Gang des Zugabteils. Hatte Henry indessen bereits den Zug bestiegen. Freudestrahlend eilte er mir entgegen. Wir stürzten einander in die Arme. Dabei fielen die zwei Koffer zu Boden. Mit einem dumpfen Knall. Ertönte ein kitschiges Streichorchester. À la Strauß. Und Lanner. (Vielleicht „Rosen aus dem Süden“, Opus 388. Oder besser noch: „G’schichten aus dem Wienerwald“, Opus 325.)
„Hast Du eine angenehme Reise gehabt?“ (Henry sprach französisch. Beziehungsweise deutsch. Mit französischem Akzent. Denn er war Franzose.)
„Du machst wohl Witze! Sechzehn Stunden lang war ich in diesem Monstrum gefangen! Paris, Metz, Reims, Stuttgart, München!“ (Übrigens hatten wir uns vor sieben Jahren in Paris kennengelernt. Wo ich seitdem festsaß.) „Das alles war ja noch halbwegs zu ertragen... Aber dann ist dieses Ungetüm von Zug nur noch im Schneckentempo am Rande der Alpen entlang gezuckelt... Horror! Und das auf der Schwelle zum Einundzwanzigsten Jahrhundert! Drei Jahre vor Anbruch des Dritten Jahrtausends! Ein Albtraum!“
„Komm her, mein Eichhörnchen!“ (er sagte: „mon écureuil“) „Ich nehme Deine Koffer. Bis zur Esterházygasse ist es nicht weit von hier.“
Ein Ungar liebte seine Esther.
Mehr als Weihnacht und Silvester.
Er schenkte ihr Schmuck und Gewand.
Hat „Hasi“ sie nur noch genannt.
(Und somit wurde diese quasi.
Zu einer echten Esterházy.)
„Willst Du etwa bis zu Deiner Wohnung laufen? Bist Du verrückt geworden?“
„Aber es ist doch nur ein Katzensprung! Ein bißchen frische Luft wird Dir sicherlich gut tun. Du solltest Dir ein wenig die Beine vertreten. Du hast ja die ganze Zeit im Zug gesessen!“
„Erinnere mich bitte nicht daran...“
„So. Siehst Du? Jetzt nur noch rasch über den Gürtel – und dann noch ein paar Schritte über die Mariahilfer Straße: Und schon sind wir daheim!“
„Na hoffentlich...“
„Und http://Zuhause6 wartet schon eine gute Tasse Kaffee auf Dich!“
Henry war die Güte in Person. Geduldig wie ein Lamm. War er nicht unbedingt ein gestandenes Mannsbild. Aber ein Traum. Von Mann. (Übrigens spricht man seinen Namen wie das französische „on rit“ aus. Und nicht etwa englisch. Was dann ja wohl ziemlich nach einem billigen Weinbrand klingen würde.)
Das „ http://Zuhause6“ lag hübsch. Und luftig. Hoch oben. In einer Seitengasse der http://Mariahilfer Straße7. Entpuppte es sich. Brutal. Als Provisorium.
„Mein Gott, Henry... Du hast ja noch kein einziges Möbelstück hier drin stehen! Nicht mal ein richtiges Bett!“
„Aber Kätzchen!“ (er sagte: „chaton“) „Du vergißt wohl, daß ich erst seit einem knappen Monat hier in Wien lebe! Sieh nur die große Terrasse! Und der schöne Ausblick über die Dächer der Stadt!“
„Schön? Was soll denn an dem grauen Betonding da vorne schön sein?“
„Ach... Das ist nur ein Flakturm. Aus dem Zweiten Weltkrieg. Er steht drüben im Esterházypark.“
„Wie schön!“, ich verdrehte die Augen.
„Achte doch einfach nicht darauf, ma petite marmotte...“
„Zerschmettert in Stücke. Im Frieden der Nacht.“, las ich angewidert die Aufschrift vor, „Was soll denn das sein? Etwa Kunst? Pseudo-Poesie ist das! Als ob die Nacht friedlich wäre! Und im Krieg ist sie es schon gar nicht...“
„Aber heute ist ein Aquarium darin!“, beeilte sich Henry zu sagen, „Das Haus des Meeres! Mit vielen bunten Fischen!“
„Lenk nicht ab! Weshalb hast du hier drin immer noch keine gescheiten Möbel stehen?“
„Ich habe doch alles was ich brauche in unserer Pariser Wohnung! Wieso sollte ich also alles noch einmal kaufen? Demnächst werde ich meinen Kram schon noch rüberholen...“
„Deinen Kram? Alle Möbel in der Pariser Wohnung gehören doch mir!“
„Und der Tisch von meiner Großmutter?“
„Ein Tisch? Mais voyons, Henry!“ (Ich sprach natürlich ebenfalls perfekt französisch. Und wechselte nur allzu gern. Von der einen Sprache. In die andere. So etwa. Wie jetzt. Um gekonnte Akzente zu setzen. Die dramatisch wirken sollten.) „Ich bitte Dich! Du brauchst doch hier in dieser Einsiedelei weit mehr als nur einen alten, klapprigen Tisch!“
„Er ist nicht klapprig...“
„Hach, ist doch egal! Aber in dieser... in diesem... Vakuum kann und will ich nicht bleiben! Wo sollen wir denn essen? Etwa auf dem Fußboden? Henry, manchmal frage ich mich...“
„Nun komm schon, souris! Laß mich Dir Deine Jacke abnehmen... So, und nun ruh Dich erst einmal etwas aus...“
„Was? Hier? Hier auf diesem... Feldbett?“
„Jawohl. Genau hier... So ist’s gut...“
„Ach Henry! Mich plagen bereits seit der deutschfranzösischen Grenze so schreckliche Kopfschmerzen...“
„Wieder Deine schlimme Migräne, mon lapin?“
„Ja.“
„Warte, ich hole Dir sofort ein Aspirin. Mach schon mal die Augen zu...“
Écureuil. Chaton. Marmotte. Souris. Lapin.
Er verlieh mir Namen. Von Tieren. Er wollte es nicht. Aber er tat es. Aus Liebe. Denn er war blind. Vor Liebe. Doch der Tag würde kommen. Da ihm die Augen geöffnet würden. Dann würde er endlich sehen. Wer ich wirklich war. Und was hier gespielt wurde. Und dann stünden plötzlich andere Tiere. Auf dem Spielplan. Dann wären es plötzlich andere Tiere. Die mir Pate stünden.
Kuh. Ziege. Sau. Hündin. Schlange.
Oft liegt nur ein Buchstabe. Oder zwei. Zwischen Hui. Und Pfui. Zwischen Ah! Und Ih! Genügt oft nur ein Diminutiv. Als Suffix. Oder ein Paar Chromosomen mehr. Oder weniger. Um eine Brücke zu schlagen. Oder einen Keil zu treiben. Zwischen Gut. Und Böse. Zwischen das A. Und das O.
Entwächst das Zicklein. Seiner Wiege.
Schimpft man es schon. Alte Ziege.
Drückt dem Kälbelein. Der Schuh.
Wird es bald. Zur blöden Kuh.
Dem armen Wurm. Ist Angst und Bange.
Jetzt heißt er nur noch. Böse Schlange.
Versagt die Maus. In der Debatte.
Tauft man sie. Auf falsche Ratte.
Liebt das Küken. Paul und Franz.
Dann ist es. Eine dumme Gans.
Sucht man sich. Den falschen Mann.
Wird’s Äffchen rasch. Zum Pavian.
Und spurt sie nicht. Die liebe Frau.
Mutiert das Ferkel. Schnell zur Sau.
Die jungen Scheinakazien schossen. In militärischem Gleichschritt. Aus dem Pflaster. Der http://Mariahilfer Straße7. Sie verdeckten Teile. Des Himmels. Und der pastellfarbenen Bauten. Im Zuckerbäckerstil. Mit ihrem Gefieder. Folgten wir der Neigung. Dieser breiten Ausfallstraße. Zur Stadtmitte hin. Schlenderten wir. An Caféterrassen vorbei. Und an einem Einrichtungshaus. Das im Schaufenster einen Posterdruck anbot. Von Suzanne Valadon. Als angebliches Original. Für die unverschämte Summe. Von 7600 Schillingen.
Wir ließen Stoffe Komolka hinter uns. Und das Möbelhaus Leiner. Bis die Straße plötzlich einen artigen Knicks machte. Nach links unten. Fächerte sie sich auf. Wie ein Flußdelta. Verbreiterte sie sich. Verlief sich. Löste sich auf. Um einen kurzen Blick zu gewähren. Auf die Hofburg. Und auf die Dächer. Der Altstadt. Die überragt wurden. Vom Stephansdom. Und seinem schlanken Südturm. Dem Steffl. Dann stoppte das eiserne Gitter des Burggartens. Jäh. Ihren Verlauf.
Ein weiterer Knicks. Nach links. Trieb uns jedoch vorher ab. Zum http://Maria-Theresien8-Platz. In dessen Mitte. Thronte die kolossale Bronzestatue. Der gleichnamigen Kaiserin. Umgeben von ihren Feldherren. Und Ministern. Von Thujen. Und Eiben. Artig gestutzt. Zu Kugeln. Und Kügelchen. Wachte sie dort scheinbar auch heute noch. Mit leicht verkniffenem Antlitz. Das grün angelaufen war. Über ihr undankbares Volk. Welches nämlich jene Dynastie kurzerhand abserviert hatte. Die doch Österreich erst zu dem gemacht hat. Was es heute ist. Beziehungsweise. Was es heute nicht mehr ist. Was es wieder gern sein würde. Und was es nicht mehr sein kann.
Vermutlich geschah dies alles in einer Art „Sisi-Mozartkugel-Lipizzaner-Strauss-Overkill“. Sisi & C° hatten 1918 scheinbar ausgedient. Um so mehr verwunderte mich der ekelerregende Kommerz. Der scheinheilig war. Und der hier an jeder Ecke der Stadt getrieben wurde. Mit Sisi & C°. Und den anderen Habsburgern. Die einem jetzt plötzlich wieder lieb waren. Und teuer. Meine erste Lektion in Sachen Österreich war also folgende: Was man hat. Das will man nicht. Und hat man es dann nicht mehr. So will man es plötzlich wiederhaben. Denn die Österreicher sind ein sentimentales Volk.
Ein Stadttor mit dorisch-faschistoider Kolonnadenordnung wies uns den Weg. Zur ehemaligen K.u.K. Residenz. Nachdem wir die famose http://Wiener Ringstraße9 überquert hatten. Tat sie sich nun im Halbrund zu unserer Rechten auf: Die legendäre http://Neue Hofburg10! Viel haben die Habsburger freilich nicht mehr von ihr gehabt. Dafür aber Hitler um so mehr. Der hier den „Anschluß“ verkündet hatte. Vom Balkon aus. Jenen Anschluß. Den ja angeblich niemand haben wollte. In Österreich.
Dieses Gebäude räkelte sich. Und streckte sich. Über den halben Platz. Lasziv. Und mit einem leicht vermessenen Augenzwinkern. An die weltberühmte Piazza San Pietro. In der Stadt der Ewigkeit. Und der Päpste. Erschien es jedoch noch um einiges eindrucksvoller. Wenn man wußte, daß dieses halbkreisförmige Gebilde lediglich die Hälfte darstellte. Vom ursprünglich geplanten Großbauprojekt. Der verdammte Krieg hatte seinen ambitionierten Bauherren im Jahre 1914 ein Schnippchen geschlagen. Genauso wie der Stephansdom. War also auch die Hofburg ein Torso geblieben. Das schien hier in Wien Programm zu sein.
Übrigens stritt ein blecherner Erzherzog Karl. In parallelem, militärischen Gehorsam. Zum heldenhaften Prinzen Eugen von Savoyen. Genau an jener Stelle. Wo sich eigentlich das architektonische Spiegelbild der bereits existierenden Hälfte der Neuen Burg in den Wiener Himmel erheben sollte. Sein Rücken wurde nicht durch die schlanken Kolonnaden aus weißem Stein gedeckt. Wie der seines Kollegen. Also ritt jener selige Erzherzog scheinbar aus dem Nichts. Auf uns zu. Und tatsächlich erstreckte sich hinter seiner bronzenen Silhouette nichts weiter. Als das satte Grün der Wiesen. Und des Volksgartens. Scheinbar ins Unendliche. Einzig die neugotischen Türme des Rathauses verrieten die Präsenz einer Stadt. Irgendwo. Am Horizont. Waren von hier aus sogar die sanften Hügel des Wienerwaldes zu sehen.
Diese unvollendete Hofburg stellte also förmlich einen Riß dar. Im Raum-Zeit-Kontinuum. Sie bildete das Tor. Zu einem Paralleluniversum. Mitten in einer Millionenstadt. Die mehr oder weniger lebendig war. Tat sich hier plötzlich der Blick auf. Zu purer und kitschiger Alpenromantik. Holladriho! Mit Heidi. Und Klara. Mit Fräulein Rottenmeier. Und dem Alm-Öhi. Mit dem Geißen-Peter. Und dem Sound of Music. Und mit allem. Was sonst noch dazugehörte. An der Schnittstelle zum Paralleluniversum. Roch es verdächtig. Nach warmen Pferdeäpfeln. Und das hohle http://Geklapper der Pferdehufe11 entführte uns plötzlich. In eine andere Welt. Ja. In eine andere. Längst vergangene Epoche. In die GROSSE Epoche Wiens...
An jenem heißen Augusttage, neigte sich der Glutball der Sonne mittlerweile tief über den Horizont, während das http://Geklapper der Pferdehufe11 hohl von den umliegenden Mauern widerhallte.
„Kind!“, rief Tante Hedwig besorgt aus, „Beug Dich nicht zu weit hinaus! Du wirst Dich noch verletzen!“
Augenblicklich lehnte sich Agnes wieder in den schwarzen Ledersitz des Landauers zurück. Dennoch sog sie auch weiterhin tief den Duft des Staubes ein, der von der Straße zu ihr hinaufgewirbelt wurde.
„Hier! Nimm dieses Schnupftuch! Ich habe es mit Eau de Cologne beträufelt.“
„Aber, Tante Hedwig, mich stört der Geruch des Staubes nicht.“
„Thu was ich Dir sage! Was sollen denn nur die Leute von uns denken!“
Agnes tat wie ihr befohlen; doch insgeheim hielt sie das Tuch beiseite und erlabte sich weiterhin an dem betörenden Duft der Straße.
„Wie guth das riecht!“, dachte sie.
Die Stämme der jungen Götterbäume und der Platanen teilten das schräg einfallende Sonnenlicht in schmale Streifen, die auf das nagelneue Kopfsteinpflaster der http://Wiener Ringstraße9 fielen.
„Schau nur, mein Kind! Das neue Opernhaus. Ist es nicht scheußlich?“
Onkel Ferdinand, der bis dahin vor sich hingedöst hatte (zumindest hatte er so getan), schnaubte kurz mißbilligend in seinen Schnauzbart. Doch schien die Mißbilligung eher seiner geschwätzigen Gattin zu gelten, als dem neuen Opernhause.
„Sieh nur, was sie aus unserer schönen Stadt machen! Das ist der Untergang Wiens! Wenn nicht gar ganz Österreichs!“; mit einer weit ausladenden, theatralischen Geste wies sie auf die Baustelle von enormen Ausmaßen, die sich zu ihrer Linken auftat. (In Wahrheit befand sich die Baustelle zur Rechten der Fahrtgäste, doch Tante Hedwig hatte sich, wie immer, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung gesetzt, da ihr sonst angeblich schwindelig wurde.)
„Was ist das für eine Baustelle, Tante Hedwig?“, frug Agnes plötzlich interessiert, während sie über ein Meer von goldenem Sand hinwegsah, aus dessen Richtung große Staubwolken zu ihnen herüberwehten.
„Schnell, Dein Schnupftuch!“, Tante Hedwig beugte sich entschieden vor und preßte Agnes das mit Eau de Cologne getränkte Taschentuch auf den Mund – mit einer derartigen Gewalt, daß Agnes beinahe zu ersticken glaubte.
„Das!“, schnaufte Tante Hedwig hinter ihrem eigenen weißen Seidentuche, während sie sich wieder in die Kutsche zurücklehnte, „Das hat sich unser Kaiser ausgedacht. Eine http://Neue Hofburg10! Pah! Die alte scheint ihm wohl nicht mehr auszureichen! Ich bin sicher, daß dieses verrückte bayrische Frauenzimmer dahintersteckt!“
Erneut schnaufte Onkel Ferdinand in seinen dichten, graumelierten Schnurrbart.
„Jawohl!“, fuhr seine Gemahlin ihn herrisch an, „Dieses... diese... lästige Person! Euch Männern verdreht sie ja allen den Kopf, diese http://Sisi12, wie ihr sie nennt. Ein Tingeltangelmädchen aus dem Wilden Westen könnte nicht vulgärer sein!“
„Sisi?“, entfuhr es Agnes ungläubig.
„Ja, ich weiß...“, wandte Tante Hedwig schuldbewußt ein, „Ich sollte nicht in diesem Thon über die Kaiserin der Österreicher sprechen...“
„Aber, Tante Hedwig... Sisi ist doch auch Euere Kaiserin!“
„Was?“, Tante Hedwig sprang auf wie von der Tarantel gestochen, „Meine Kaiserin? Niemals!“
„Dort!“, rief sie plötzlich aus und wedelte mit ihrem Taschentuch in die entgegengesetzte Richtung, „Das ist meine Kaiserin!“
Agnes wandte den fragenden Blick zu einem halbvollendeten Denkmal, welches, eingerahmt von zwei ebenfalls nur zur Hälfte vollendeten Gebäuden riesigen Ausmaßes, dem zukünftigen Zwillingskomplex aus Kunsthistorischem- sowie Naturhistorischem Museum nämlich, einen rechteckigen Platz auf der gegenüberliegenden Seite jener Großbaustelle vor der alten Hofburg beherrschte.
„Die http://Marie-Theres8!“; entschieden reckte Tante Hedwig ihre fleischige Himmelfahrtsnase in die Lüfte, während Onkel Ferdinand gleich eine ganze Tirade von Schnauzbartschnaubern, die ganz wie Stoßseufzer klangen, ertönen ließ.
Und allmählich verschlang das Geklapper der vorüberfahrenden http://Kutschen13 Tante Hedwigs Bosheiten und trug sie im lauen Abendwinde auf und davon...
Wir ließen die brav in einer Reihe parkenden http://Kutschen13 hinter uns. Hoch und golden. Schwebte der monumentale Doppelkopfadler. Über der Neuen Hofburg. Und schaute uns mit skeptischen Blicken hinterher. Als wir durch ein weiteres Tor in den alten Teil der K.u.K.-Residenz gelangten. Mußte ich mit einem Mal an jene Zeiten denken. Als diese Mauern noch voller Leben waren. Als in ihnen noch Politik gemacht wurde. Als man hier noch rauschende Feste feierte. Als man hier noch Intrigen und Geheimnisse einer untergegangenen Dynastie schmiedete und austauschte. Hinter der vorgehaltenen Hand. Einer einstigen Weltmacht. Vor der nicht nur ganz Europa voller Respekt den Hut lüftete. Und ehrfürchtig das Haupt verneigte. „Heute kräht ja kein Hahn mehr danach!“, dachte ich weiter. Wenn Henry nicht hierher versetzt worden wäre. Dann hätte ich Wien vermutlich niemals gesehen. In meinem ganzen Leben nicht.
Ich dachte an den Wienerwald. Und an den Wiener Kongreß. An den Wiener Walzer. Und an die Wiener Sezession. An Wiener Schnitzel. Und an Wiener Würstchen. An ein gutes Stück Wiener Sachertorte. Mit einem Heferl Wiener Melange. An all die illustren Kaiser. Und Kaiserinnen. Von Gottes Gnaden. Die gleichzeitig auch Könige waren. Apostolische. Oder auch nicht. Und Infanten. Und Prinzen. Und Herzöge. Und Erzherzöge. Und Großherzöge. Und Fürsten. Und Großfürsten. Und Grafen. Und gefürstete Grafen. Und Markgrafen. Und Statthalter. Und Herren. Und Großwojwoden. Und was weiß ich nicht. Was noch alles. Ja. Sogar Könige von Jerusalem! Damals hatte es also noch Zucht und Ordnung gegeben. Auch im Nahen Osten.
Ich dachte an Klimt und Mucha. An Schiele und Kokoschka. An Olbrich und Hoffmann. An Wagner und Loos. An Freud und Schnitzler. An Rilke und Kafka. An Zweig und Werfel. An Mozart und Haydn. An Beethoven und Schubert. An Strauß und Lanner. Überhaupt an alles. In der Musik. Was Rang und Namen hatte. Und immer noch hat. Mahler. Werfel. Mahler-Werfel. Die Verstrickungen und Verquickungen. Von Kunst und Kultur. Nahmen hier gar kein Ende mehr. Österreich hatte einst die ganze Welt beherrscht. http://A.E.I.O.U.14. In vielerlei Hinsicht. Und mehr als bei allen anderen Großmächten. Waren es hier in Kakanien allem voran die Kunst und die Kultur. Die geherrscht hatten. Und nicht etwa die schnöden Kanonen. Und Schrapnellen.
Bella gerant alii! Tu, felix Austria, nube!
Heute herrschte in Österreich nichts. Und niemand mehr. Einzig Falco vielleicht. Obwohl sich seine Regentschaft höchstens bis nach Deutschland erstreckte. Ich fragte mich, woran das heutige Dilemma der zeitgenössischen österreichischen Kunst und Kultur denn nur liegen mochte. Vielleicht waren einst die Kaiser und die Bischöfe der Motor für die Blüte Österreichs gewesen? Sicherlich nicht. Denn nirgends auf der Welt haßt man die Kaiser und die Bischöfe. Mehr als in Österreich. Oder war es der vielzitierte Vielvölkerstaat? Sicherlich nicht. Denn den verdammen die Österreicher heute rigoros. Als „Völkergefängnis“. Doch inzwischen war man ja die Ursache seines Hasses und seiner Verdammnis längst losgeworden. Warum wollte und wollte sich dennoch kein neues, fruchtbares Ackerland auftun. Für die heilige Saat des Schönen, Wahren, Guten? War den Österreichern etwa inzwischen die Lust vergangen? Am Schönen, Wahren, Guten? Die Lust. In vielerlei Hinsicht über die Welt zu herrschen? Oder hat man sie den Österreichern gar ein für allemal ausgetrieben? Die Lust. Am Herrschen?
Dabei herrscht die Kunst doch. Mit Milde und Güte. Doch sie herrscht. Und das scheint suspekt genug zu sein. Um sie kurzerhand abzuschaffen. Sie zu unterdrücken. Sie auszuweisen. Sie totzuschweigen. Ein für allemal. Nur das Alte! Beziehungsweise das längst Verstorbene. Und das sorgsam Mumifizierte. Ja. Das will man natürlich behalten! Wo man es doch schon einmal hat. Schließlich verursacht ein einziger Lebender mehr Dreck. Als tausend mumifizierte Leichen. Im Keller. Kann Schnitzler heute niemandem mehr weh tun. Joseph der Zweite auch nicht. Und nur ein toter Sigmund. Ist ein guter Freud. Und abgesehen davon. Bringt es heute eine ganze Menge Schotter ein. Das Ausweiden von Leichen.
„Übertreibst Du nicht etwas mit Deinen Photos?“, Henry wandte sich angewidert von mir ab. Ihm schien meine exzessive Knipserei peinlich zu sein. Inmitten all der wildgewordenen Japaner. Und der hysterischen Amerikanerinnen. Schließlich war er ja nun ein legitimer Einwohner dieser Stadt. Und kein ordinärer Tourist; „Du hast doch noch alle Zeit dafür...“
„Ach, Henry! Wie herrlich! Wie... schrill! Wenn ich bedenke, daß http://Sisi12...“, ich sah mich nach einem passenden Fenster um, „hier gesessen hat, um schmachtend auf die Rückkehr ihres Franzl zu warten!“
„Viel hat sie da meiner Meinung nach nicht geschmachtet. Du solltest Deine historischen Kenntnisse allmählich aus anderen Quellen beziehen als aus Deinen ewigen Sisi-Schinken mit Romy Schneider!“
„Aber sieh doch nur! Hier hat Sisi gelebt! Ist das nicht der pure Wahnsinn?“
„Sie ist doch kaum hier in Wien gewesen. Die meiste Zeit hat sie in Ungarn verbracht. Im Schloß von Gödöllö!“, Henry zuckte gleichgültig mit den Schultern, „Und vermutlich nannte sie sich nicht einmal Sisi! Neue Forschungen haben ergeben, daß Kaiserin Elisabeth ihre Briefe mit Lisi unterzeichnete und daß man das allzu schwungvolle L später mit einem S verwechselt hat!“
„Hach! Daß Du auch immer alles kaputtmachen mußt…“
Als wir unter der großartigen Kuppel vor dem Michaelertor hindurchschritten, kreischte ich begeistert auf: Gerade war eine beleibte Amerikanerin vor mir in die Knie gegangen. In Chanel-Kostüm. Und weißen Tennissocken. Röchelte sie immer wieder fassungslos:
„Oh, my God!“, beziehungsweise: „OH. MY. GOD.“
Dabei versuchte sie Fiaker, Kuppel und Eingang zum Sisi-Museum auf ein einziges Bild zu bannen.
„Oh, my G-o-o-o-o-d!?“; es klang eher wie ein schlecht gespielter multipler Orgasmus (Ich kannte mich da aus!) denn als eine wahrhaftige und architektonische Interessenbekundung.
„Kreischst Du jetzt wegen der Ami-Tusse, oder, wie sie, wegen dem Sisi-Museum?“
„Dreimal darfst Du raten, Du Vollidiot!“
Beleidigt trat ich auf den Michaelerplatz hinaus. Die Kuppel über dem stadtseitigen Eingang zur Hofburg ließ das Geklapper der Pferdehufe widerhallen. Wie ein Verstärker. Aus der http://Vergangenheit15.
„Sieh nur, mein Kind!“, Tante Hedwig deutete nach rechts (also nach links).
„Ja, ich weiß, Tante. Es ist die Votivkirche!“, Agnes kannte die Geschichte dieses Bauwerkes nur zu gut, „Sie wurde für die Errettung Seiner Kaiserlichen und Königlichen Hoheit, Franz Joseph den Ersten, gestiftet.“
„Wie schön Du das aufgesagt hast!“, eine leichte Spur von Gift mischte sich in Tante Hedwigs Kompliment.
„Dabei sieht sie so alt aus!“, Agnes sah ehrfürchtig zu den beiden perforierten neugotischen Turmspitzen hinauf.
„Pah! Alt! Daß ich nicht lache!“, Tante Hedwig warf sich mit gespieltem Gelächter in ihre Polster zurück, „Nicht einmal sieben Jahre ist sie alt!“
Onkel Ferdinand rührte sich nicht. Er schien zu schlafen. Oder tot zu sein.
„Das geht auf Kosten dieses verrückten Ferstel!“, fuhr Tante Hedwig unbeirrt fort, „Ein Edler soll er sein. Ha! Daß ich nicht lache! Und dieser Stümper, der uns vor drei Jahren diese Scheußlichkeit von Rathaus beschert hat, nennt sich gar: von Schmidt! Ein Scandal!“
Onkel Ferdinand meldete sich mit einem erneuten Stoßseufzer zurück. Er war also doch nicht tot. Noch nicht.
„Wohin soll das alles noch führen mit unserem Land? Wozu all dieser neumodische Schnickschnack?“, nun war der Staudamm gebrochen und Tante Hedwig war nicht mehr zu bremsen, „Wir haben doch bereits eine wunderschöne alte Kathedrale! Eine in echter Gothik obendrein! Wir haben doch bereits eine schöne, ehrwürdige Universität! Gleich bei der Jesuitenkirche! Wir haben doch schon seit Ewigkeiten ein altes Rathaus! Mitten in der Stadt! Alles, was hier... stinkend und rauchend aus dem Erdboden erwächst, das haben wir doch schon längst! Weshalb also alles noch einmal? Alles doppelt? Da steckt doch ebenfalls dieses Frauenzimmer dahinter! In der Provinz, da wo sie herkommt, gibt es ja nicht einmal ein vernünftiges Opernhaus!“
Für einen kurzen Augenblick trat Stille ein. Doch Tante Hedwig hatte lediglich tief Atem geholt, um unversehens weiter ihrer schlechten Laune Luft zu machen.
„Wie kann sie nur derart häßliche Dinge sagen!?“, dachte Agnes traurig, „Und das direkt nach der Heiligen Messe...“.
Dennoch ließ sie sich nicht ihre gute Laune verderben. Schließlich war sie das erste Mal in Wien und wollte alles sehen, alles riechen, alles hören, alles fühlen. Nun war sie endlich in der Welt. In der großen, weiten Welt. In der Großstadt! In der Hauptstadt! Wie durch einen Schleier nahm sie den monotonen Redeschwall ihrer erregten Tante wahr, doch sie hörte einfach nicht hin. Verträumt sah sie aus der Kutsche hinaus, beobachtete die eleganten Damen mit den Sonnenschirmen und den weißen Handschuhen – und die Herren mit ihren Gehröcken und den Zylinderhüten. Wie elegant und prächtig doch alles hier war! Zuhause hingegen...
Tante Hedwig stieß sie energisch an;
„Hörst Du mir überhaupt zu, Du Schlafmütze?“
„Aber ja doch, Tante!“
„Darum möchte ich doch sehr bitten! Also. Wo war ich stehengeblieben?“
Doch Agnes sah bereits wieder aus der Kutsche hinaus und verlor sich in ihren Kleinmädchenträumereien.
„Ach ja. Jetzt weiß ich wieder...“; aber Tante Hedwig schien es letztendlich egal zu sein, ob Agnes ihr zuhörte oder nicht. Das Wesentliche war, daß ihr Gemahl ihr zuhörte – was er sonst freilich nicht tat. Doch hier, in der fahrenden Kutsche, da blieb ihm schließlich keine andere Wahl. Hier war er ihr Gefangener. Er konnte noch so sehr tun, als schliefe er – er konnte sich noch so geschickt tot stellen: Hier entkam er ihr nicht!
„Jetzt mischt sie sich auch noch in unsere außenpolitischen Geschäfte ein! Und was haben wir davon? Der zweite Kopf unseres armen alten Doppeladlers ist zu einer rein ungarischen Geschwulst ausgewachsen!“, sie lachte bitter, „Ein Kniefall vor den Magyaren! Wie sieht denn das nur aus!? Wir machen uns doch damit zum Gespött der Nationen! Ich höre sie förmlich lachen, diese nichtsnutzigen Franzosen in ihrem lasterhaften Paris! Sodom und Gomorrha! Ja, es ist dieses törichte und einfältige Frauenzimmer, welches diese neuen Zustände über uns gebracht hat! Und der Kaiser muß inzwischen gar auf Ungarisch sprechen, wenn er nach Budapest fährt! Alles doppelt in diesem verrückten Land: Zwei Köpfe für den Adler, zwei Herren Außenminister, zwei Parlamente – wobei das der undankbaren Magyaren wesentlich prunkvoller ausfallen wird als das unsere, insofern man den Gerüchten Glauben schenken darf! Die Bauarbeiten wollen gar kein Ende mehr nehmen! Was uns das noch kosten wird! Wohin soll das alles noch führen? Die böhmische Aristokratie ist schon ganz außer sich! Das ist doch Verrat auf der ganzen Linie! Und wem haben wir das zu verdanken? Nur dieser bayrischen Landpomeranze und ihrem unseligen Geliebten! Andrássy! Diesem... Terroristen! Ich bin mir da ganz sicher, daß uns das alles eines Tages noch ins Unglück stürzen wird! Diese degenerierten Franzosen und diese aufgeblasenen Preußen warten doch nur auf eine derartige Gelegenheit, um uns endlich in die Knie zu zwingen!“
„Jetzt reicht’s aber, Weib!“; zum ersten Mal, von dem „Amen“ während der Abendmesse einmal abgesehen, meldete sich Onkel Ferdinand an diesem Tage zu Wort, „Du wirst der Kleinen noch Angst machen mit Deinem hysterischen Geschwätz!“
Augenblicklich verstummte es in der Kutsche. Nurmehr das Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster war zu vernehmen. Drüben im http://Volksgarten16, streiften die allerletzten Sonnenstrahlen die Spitzen der jungen Kastanienbäume.
Und schließlich fügte er ganz leise, so als wolle er sich selbst von der Unfehlbarkeit seiner Worte überzeugen, hinzu: „Ihr Weiber versteht ja doch nichts von der Politik...“
Am Abend gingen wir hinunter zum http://Volksgarten16. Gleich vor der Hofburg. Fanden hier im Sommer an jedem Wochenende Clubbings statt. Der Pavillon aus den 1950’er Jahren hatte etwas Verstaubt-Vertrautes. Von einer Universitätsmensa. Obwohl seine Auskleidung aus poliertem Stein ein wenig kostspieliger wirkte. An diesem Abend. Hatte ich also die Ehre. Die Jeunesse Dorée von Wien kennenzulernen. Oder zumindest jene. Die sich dafür hielt. In Wien mochte man es chic. Gesehen und gesehen werden. Das war nicht zu übersehen.
Henry und ich nahmen im vorderen Teil des Pavillons Platz. Wie alle anderen. Warteten wir. Wie bestellt. Und nicht abgeholt. Bis man endlich um 1 Uhr die Tanzfläche eröffnen würde. Umsprangen uns die Kellner. Und bedrängten uns. Mit ihrer Servilität. Doch es waren nicht jene zurückhaltenden Herren. Aus den traditionsreichen Wiener Kaffeehäusern. Sondern geleckte Schönlinge. Gierig. Nach Trinkgeldern. Aber gleichgültig. Bezüglich der Gäste. Und ihrem Wohlergehen.
Überhaupt war die Stimmung auffallend aggressiv an diesem Abend. Es mußte wohl an irgendeiner ungeschickten interplanetarischen Konstellation gelegen haben. Oder was weiß ich. Warum auch Henry sichtlich gereizt war. Und mir kaum zuhörte. Oder nur widerwillig. Meinen Blick erwiderte. Das spürte ich deutlich. Daß ich unwillkommen war. Daß ich störte. Schließlich hatte er erst vor wenigen Wochen Paris verlassen. Und somit auch ein Stück Vergangenheit hinter sich gelassen. Seiner Vergangenheit. Und unserer Vergangenheit. So sah es zumindest aus. Aus heutiger Sicht.
Ich erinnere mich nicht mehr genau daran. Wie es dazu kam. Doch der Abend endete damit. Daß Henry mich wüst zu beschimpfen begann. Was sonst überhaupt nicht seine Art war. Dafür verpaßte ich ihm einen Tritt. Unter dem Tisch. Der sich gewaschen hatte. Ganz nach meiner Art. Aber so diskret. Wie nur irgend möglich. Verpaßte er mir daraufhin eine schallende Ohrfeige. Und verließ das Lokal. Völlig verdattert. Blieb ich allein zurück. Wie eine begossene Pudelin. Sozusagen. War der Abend gelaufen. Und die Beziehungskrise eingeleitet. Doch ich entschied mich dazu. Mich zu amüsieren. Jetzt erst recht!
Ich raffte mich auf. Die Tanzfläche zu inspizieren. Obwohl ich keinen einzigen Tropfen Alkohol zu mir genommen hatte. Außer einem jämmerlichen Cosmopolitan. Vielleicht. Bewegte ich mich mit erstarrtem Gesicht. Wie eine Automatin. Inmitten dieser ausgelassenen Menge. Die mich ihrerseits zu ignorieren schien. Ich fühlte mich ganz so. Als sei ich ein Phantom. Ein Geist. Der sich lautlos seinen Weg bahnt. Mitten durch. Die Körper. Der anderen. Im lärmenden Bummbumm. Der Bässe. War die Wiener Jugend großwüchsig. Und schön. Frisiert. Und gekleidet. Zumeist in elegantem Schwarz. Und Kleider. Machen Leute.
Es erstaunte mich. Daß es hier kaum blonde Menschen gab. Genauso wie in Paris. War der durchschnittliche Wiener. Von großem Wuchs. Und dunkelhaarig. Zumindest hier. Und vor allem die jungen Frauen. Schienen geradewegs aus Jugendstilgemälden entsprungen zu sein. Lauter Modelle Klimts. Und Muchas. Deren langes Haar vorwiegend war. Und oft von jenem rötlichbraunen Schimmer. Der in besagten Werken des Jugendstils und des Symbolismus’ scheinbar das Geheimnisvolle besagte. Das Unergründliche. Und das Unterbewußte. Im Bilde. Versinnbildlichen sollte. Und der so angenehm kontrastierte. Mit der aristokratischen Blässe. Ihres Teints.
Bei uns in Deutschland sah es da inzwischen ganz anders aus. Da sahen die Frauen alle aus wie Kampflesben. Die Haare kurzgeschoren. Wie Sträflinge. Die Gesichter verkniffen. Wie Pitbulls. Die Kleider alle eingestampft. Aber dafür hatten sie jetzt die Hosen an! Die Männer hingegen hatten längst nichts mehr zu melden. Und versuchten dieses Mankum an Weiblichkeit offensichtlich auszugleichen. Indem sie sich allesamt wie Waschweiber aufführten. Nein: Hier in Wien waren http://Frauen17. Noch Frauen. Und http://Männer18. Noch Männer. (Inzwischen waren in Deutschland Frauen. Männer. Und Männer. Frauen. Genauso. Wie Blur es vor drei Jahren in ihrem Mega-Hit „Girls and Boys“ besungen hatten.)
Meine Gedanken drehten sich. Im Kreis. Und am Rad. Der Zeit. Fehlten plötzlich einhundert Jahre. Und ein paar Gequetschte. Rissen mich in die Vergangenheit. Vielleicht sogar ins Jahr 1886. Kurz vor der Jahrhundertwende. Auf einem jener legendären Wiener Bälle. Wendete sich das Blatt. Und das böhmische Kristall. Der schweren Lüster. Zersplitterte. Den Schein der Kerzen. In das gesamte Farbspektrum des Lichts. Tauchten die http://Herren18 ihre schwarzen Fräcke. Und umstanden dicht gedrängt die Tanzfläche. Wo die http://Damen17 bereits warteten. In ihren Ballkleidern. Eng verschnürt. Mit Miedern. Aber weit gebläht. Mit Krinolinen. Und Tournüren. Füllten sie den großen Ballsaal der Hofburg aus. Und drehten sich. Zu den aufpeitschenden Klängen. Des Fledermauswalzers. Aus der gleichnamigen Operette. Von Johann Strauss. (Vermutlich dirigierte der Maestro ihn heute Abend sogar höchstpersönlich!)
Erst vor zwölf Jahren. War diese Komposition uraufgeführt worden. Hier in Wien. Waren ihre Klänge immer noch hochaktuell. Und sehr beliebt. Bei der Wiener Gesellschaft. Auch unter den ältesten Ballgästen. Hatte man sich inzwischen an diese Musik gewöhnt. Die einst skandalös gewesen war. (Und gar manch verbiesterte Hofschranze wippte insgeheim. Mit ihrer hochgeknöpften Bottine. Zum Takt dazu. Natürlich schön verborgen. Unter dem üppigen Tischtuch. Aus Damast. Damit es ja niemand sehen konnte.)
Selbstverständlich wurde heutzutage kein Wiener Walzer mehr gespielt. Sondern das internationalistische Gedröhn. Von Techno. House. Und Jungle. Welches alle Völker und Nationen vereinigte. Indem es sie zurückführte. Zu ihren rudimentären Anfängen. Sie reduzierte. Auf ein einfaches Bummbumm. Dem Herzschlag gleich. Bummbumm. Dem Hämmern des Faustkeils. Und der Maschinen gleich. Bummbumm. Das ist schließlich eine Sprache. Die jeder versteht. Der komplizierte und nationalistische Dreivierteltakt weicht. Dem hämmernden Zweiertakt. Der allem zugrunde liegt. Bummbumm. Doch ein Volk bleibt stets. Das gleiche Volk. Seine Gesichter. Seine Gesten. Sein Geschwätz. Seine Sitten. Und Gebräuche. Sie bleiben stets. Die gleichen. Auch das Zwanzigste Jahrhundert. Jene große Verirrung der Geister. Hat daran nicht viel ändern können. In Wien schon gar nicht. Bummbumm.