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ISBN 978-3-492-98316-7
Januar 2017
© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Piper Verlag GmbH, München 2017
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Kein Klopfen, sondern ein heftiger Schlag. Holz splitterte. Die Tür krachte gegen die Wand.
Sie fuhr zusammen und riss die Hände vors Gesicht. Ihr Bruder stand neben ihr. Ehe sie noch ein Wort an ihn richten konnte, stürmten fremde Männer in die Wohnung und riefen: »Polizei, Polizei!«
Dieses Wort war eins der ersten gewesen, die sie in dem fremden Land gelernt hatte, denn José war immerzu auf der Hut vor der policía. Sie hatten ihn nie gefasst. Erst jetzt, wo sie praktisch auf dem Weg nach Hause waren, kamen sie. Es war nicht zu glauben, und sie wünschte sich, dass alles nur ein böser Traum war. Gestern hatte er ihr versprochen, nein, er hatte ihr bei der heiligen Mutter Gottes geschworen, mit ihr zu kommen.
Sie wich rückwärts in das kleinere Zimmer. Vom ersten Moment an hatte sie diese Wohnung scheußlich gefunden, die Räume waren düster, es gab keine Möbel, nur ein paar schmutzige Matratzen. Man konnte sich nicht vorstellen, hier zu leben. Dazu kam der stete Verkehrslärm, der auch nachts nicht abriss. Am schlimmsten aber war der Geruch, dieser Gestank nach Schweiß und nach Katzenpisse, der in der Wohnung lag und der nicht wich, egal wie viel man lüftete.
Mit der Ferse spürte sie die hölzerne Schwelle, die die beiden Zimmer voneinander trennte. Sie hob den Fuß und glitt hinüber. Die Männer waren überall. Sie hatten Waffen in der Hand. Zwar schrien sie nicht mehr, doch sie wirkten herrisch, als sie in jede Ecke schauten und sich knappe Anweisungen zuriefen.
Langsam erreichte sie die andere Seite der Tür. José, der im größeren Raum geblieben war, hatte seine Arme ausgebreitet und die Finger ausgestreckt. Zu Hause, in Mexiko, war es das Wichtigste, Angreifern zu zeigen, dass man nicht bewaffnet war. Dann gab es zumindest die Chance, dass sie einen verschonten.
Mit beiden Händen hielt sie sich am Türrahmen fest, der sie einigermaßen verdeckte. Der Lack fühlte sich glatt an. Sie legte ihre Stirn dagegen. Ihre Augen hätte sie am liebsten geschlossen, als könnte nicht passieren, was sie nicht sah. Das war natürlich ein Kinderglaube, einer erwachsenen Frau unwürdig.
Die Angst hatte sie starr werden lassen. Es war ihr nicht möglich, ihren Platz hinter dem Türrahmen zu verlassen und zu José zu laufen, um ihn zu beschützen. Einer der Eindringlinge war in ihrer Nähe, auch er war bewaffnet. Sie schaute zu José, der im anderen Zimmer auf die Knie sank. Es sah aus, als würde er Gott anrufen und um Hilfe bitten. Ein Bild, das nicht der Wahrheit entsprach. Die pistoleros hatten ihn gezwungen niederzuknien. Sie bedrohten ihn. Er betete nicht.
Sie wollte sich losreißen, ihr sicheres Versteck aufgeben, hinübergehen und José an der Hand mit sich nehmen. Mit ihm fortlaufen und nach Hause fahren. Es war der größte Wunsch ihres Vaters, seinen Sohn noch einmal zu sehen, und viel Zeit blieb nicht mehr, denn die Krankheit schritt schnell voran.
Dann hörte sie plötzlich Geschrei, das sie nicht zuordnen konnte.
Im nächsten Moment wurde geschossen. Drei Mal.
Mit seinen ausgebreiteten Armen sackte José zusammen. Er schien um Gnade zu flehen, doch auch dieses Bild täuschte. Von den Knien fiel er auf den Boden, und aus seinem Nacken spritzte das Blut.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Ihr Aufschrei erstarb.
Vor ihren Augen wurde es schwarz.
Grau war die Farbe des Himmels wie die dieses Tages. Eine Wolkendecke ohne Anfang und Ende ging nahtlos in das fahle Licht des späten Nachmittags über. Büsche und Bäume in den Gärten verharrten in ihrem Winterschlaf. Sie wirkten genauso farblos wie die Autos zu beiden Seiten der Straße, die von einer matten Staubschicht überzogen waren. Unter den Sohlen von Larissa Rewald und ihrem kleinen Sohn, der an ihrer Hand neben ihr hertrippelte, knirschte dunkles Steingranulat, vor Wochen gegen Glatteis auf den Bürgersteig gestreut und nach dem Tauwetter nicht weggekehrt. Die Kiesel hatten sich inzwischen mit Unrat vermischt, mit Hundekot, Zigarettenfiltern, Plastikteilchen und Papierschnipseln.
Eine graue Masse aus Dreck.
Jonas schien all das nicht zu sehen. Für ihn, den im März Geborenen, gab es nur ein Thema: »Wie oft noch?«
Obwohl ihr klar war, was er wissen wollte, hakte sie nach. Sie liebte es, wenn er sich Mühe gab und die Worte suchte, um präziser zu werden. »Was meinst du?«
»Wie oft noch schlafen?« Er klang ungeduldig. Offenbar war es ihm nicht begreiflich, wie sie eine derart dumme Gegenfrage hatte stellen können. »Bis ich Geburtstag habe.«
»Lass mal sehen.« Während sie aufzählte, hob sie jeweils einen Finger: »Freitag, Sonnabend, Sonntag, Montag, Dienstag. Fünf Mal noch, würde ich sagen. Und wie alt wirst du?«
Er brauchte nicht zu überlegen. »Auch fünf«, rief er und strahlte.
Die neue Ziffer bestätigte nur seine Entwicklung. Sein Körper hatte sich in den vergangenen Monaten gestreckt, sein Gesicht war schmaler, der Blick ernsthafter geworden. Sie strich ihm übers Haar. »Großer Junge.«
Dabei stieß Larissas Magen ein tiefes Geräusch aus, ein Knurren, das gar nicht wieder aufhören wollte. Am Anfang ihres Weges hatte er nur gegrummelt, doch nun beschwerte er sich lautstark. Sie hatte Hunger wie ein Bär. Jonas blieb stehen, schaute sie an und schien besorgt. Aber dann verdrehte er die Augen, unterdrückte ein Grinsen und sagte mit gespieltem Vorwurf: »Mama!«
Sie stellte sich das bevorstehende Abendessen vor, mit frischem Brot und verschiedenen Käsesorten, mit Rührei und Salat. Hoffentlich hatte Michael bereits den Tisch gedeckt. Sie hatte es eilig. Mit einer Kopfbewegung in Richtung auf ihr Zuhause zog sie den Jungen weiter. Die Tasche mit den Einkäufen hatte sie sich über ihre andere Schulter gehängt. Ihrem Magen entfuhr ein weiteres Knurren.
Jonas achtete nicht mehr darauf. Er war zu seiner Tagesordnung zurückgekehrt. »Was glaubst du, was ich geschenkt kriege?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Doch, hast du!«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil … weil … ich weiß es eben. Du kaufst die Geschenke.«
»Oder Papa.«
Er überlegte. »Stimmt. Er würde es dir erzählen.«
»Vielleicht. Und würde ich’s dir weitersagen?«
Er ließ ihre Hand los, blieb stehen und schmollte. Dabei stampfte er mit dem Fuß auf. »Sollst du aber!«
Ihr Bauch beschwerte sich ein weiteres Mal. An der Stelle, wo der Magen saß, fühlte es sich an, als habe sie ein einziges großes Loch. Seit dem Frühstück hatte sie nichts weiter gegessen als eine ungeschälte Möhre und einen zerdrückten Schokoriegel, der in ihrer Handtasche überwintert hatte. Keine Kantine, kein Imbiss, nichts dergleichen. Nach der Schießerei vom Vortag hatte sie im Büro nichts verpassen wollen, kein Gespräch, nicht einmal ein Wort oder eine Andeutung. Trotz ihrer Fragen hatten die Kollegen ihr direkt nach dem Vorfall keine Einzelheiten berichtet, und da sich das große Schweigen heute fortgesetzt hatte, war ihr Ansinnen gewesen, sich die Geschehnisse aus der Unterhaltung der Männer zusammenzureimen. Deshalb war sie, auch wenn sie immerzu so getan hatte, als sei sie beschäftigt, vor allem aufmerksam gewesen.
Zwischendurch fielen die vier Kollegen, mit denen sie den Raum teilte, in leise Tonlagen, in Geflüster und Getuschel, verständlich allein für den, der am Nachbarschreibtisch saß. Aber Larissa hatte ein scharfes Gehör, und je mehr Mühe ihre Kollegen sich gaben, desto wacher wurde sie. Schlug nicht auf Tasten, knisterte nicht mit Papier. Stellte sich lesend. Lauschte.
Es war, soweit sie gehört hatte, nicht um den Toten vom Vortag gegangen, kein einziges Mal. Der Vorfall schien keinen der Kollegen zu belasten, der Tathergang war offenbar weder strittig noch problematisch. Sie verstand dieses Verhalten nicht. Einer von ihnen hatte einen Bericht zu schreiben, der nicht nur der Wahrheit zu entsprechen hatte, sondern auch plausibel sein musste, es durfte keine Widersprüche geben und keine abweichende mündliche Aussage. Untersuchungen standen an, die Staatsanwaltschaft würde sich interessieren, und falls wegen des Schusswaffengebrauchs mit tödlichem Ausgang Zweifel blieben, auch das Dezernat für Polizeidelikte. All das bedeutete jede Menge Scherereien. Erklärungen mussten beigebracht und Gründe geliefert werden. Unabdinglich war, dass die Abteilung mit einer Stimme sprach. Dennoch schien ihr Chef, Peter Bendix, keine Notwendigkeit zu empfinden, Larissa mit einzubeziehen, und auch die Kollegen bereitete er nicht auf eine gemeinsame Sprachregelung vor. Vielmehr tat er so, als habe es den Vorfall gar nicht gegeben. Schlürfte seinen schwarzen Kaffee, machte Witzchen oder arbeitete. Oder er tuschelte mit den anderen Männern.
Larissa dagegen beschäftigte der Vorfall. Sie wollte unbedingt mehr erfahren. Ihr war nicht wohl, auf ihrer Stirn lag ein klebriger Schweißfilm, obwohl es im Büro alles andere als warm war. Sie roch streng. Wie festgewachsen saß sie auf ihrem Platz in dem großen Altbauraum, abseits von den anderen, mit dem Rücken zum Fenster. Sie war das fünfte Rad in dieser Abteilung, der Neuling. Diejenige, die nicht eingeweiht wurde. Auch dann nicht, wenn es ernst war.
Gegen das allgemeine Schweigen setzte sie ihre Ausdauer ein, ihr Sitzfleisch. Auf keinen Fall wollte sie vor den anderen nach Hause gehen. Im nächsten Moment, so befürchtete sie, würde das Gespräch anfangen. Am Nachmittag holte sie ihr Handy hervor und machte sich daran, Michael eine SMS zu schreiben und ihn zu bitten, Jonas von der Kita abzuholen. Aber dann stand plötzlich der Kollege Wollmann, Wolle genannt, auf, verstaute seine Butterbrotdose, klappte laut die Aktentasche zu und erklärte: »So ruhig, wie es heute ist, werde ich ein paar Überstunden abbummeln. Freunde, wir sehen uns morgen.«
»Das mache ich auch«, sagte im nächsten Moment der blonde Andy Morowitz und verschwand ebenfalls.
Larissa war über diese Entwicklung erleichtert, vor allem deshalb, weil sie nicht schon wieder Michael bitten musste. In der letzten Zeit hatte ihre Aufteilung in Bezug auf die Kinderbetreuung eine ziemliche Schlagseite bekommen. Was die verbliebenen beiden Kollegen miteinander ausheckten, konnte sie sowieso nicht kontrollieren, sie zogen nach Feierabend in ihre Stammkneipe, und das war ein Ort, zu dem Larissa keinen Zugang hatte. Sie wusste nicht einmal, um welches Lokal es sich handelte. Doch was zwei von ihnen besprachen, war schließlich nicht Stand der gesamten Abteilung. Deshalb hatte sie sich vorgenommen, am nächsten Morgen zeitig zu erscheinen, und sich mit einem knappen Gruß ebenfalls in den Feierabend verabschiedet. So rechtzeitig, dass sie noch einkaufen und ihren Sohn abholen konnte, wie es verabredet war.
»Mama«, sagte Jonas nun und zeigte mit seinem kurzen Finger nach vorne, ungefähr dorthin, wo ihr Haus stand, »da sind Autos. Bei uns.«
Sie folgte mit dem Blick der Richtung, in die ihr Sohn deutete. Er hatte scharfe Augen, ihr Haus war noch ein ordentliches Stück entfernt. Tatsächlich, da parkten zwei fremde Wagen quer auf der Einfahrt. Bei ihnen oder bei den Nachbarn?
»Nicht bei uns.«
»Doch«, sagte er.
Wer sollte das sein?
Die Siedlung in ihrer Straße bestand aus schachtelförmigen Bungalows, in den Siebzigerjahren gebaut, im Laufe der Zeit verändert und erweitert, es gab neue Wände und angefügte Räume, ausgetauschte Fenster, veränderte Eingänge. Auch die Farben der Hausfassaden unterschieden sich, und von den Zäunen waren nicht zwei gleich. Nur die bestenfalls mittelmäßige Bauqualität teilten alle Häuser miteinander. Michael – der vom Fach war – hatte schon manchmal über dünne Wände und verzogene Rahmen geschimpft. Sie hörte das zwar, wischte es aber beiseite. Dieser Bungalow war ihr Zuhause, da vertrug sie keine Kritik, ganz und gar nicht.
Sie kamen näher. Jonas war aufmerksam, mehr als das, er war angespannt. Sein Geburtstag und die Geschenkefrage waren vergessen, er hatte seinen Blick auf die fremden Autos gerichtet. Larissa hielt wieder seine Hand und wunderte sich über seine Aufregung, aber gleichzeitig beschäftigten sich ihre Gedanken mit der Frage, wann wohl die ersten Bäume ausschlagen würden. Es war warm, zumindest für einen Märztag; trotzdem zeigten sich in den Gärten der Nachbarn nur ein paar Schneeglöckchen und Krokusse. Bis zur Baumblüte würde es noch dauern. Vier bis sechs Wochen, schätzte sie. Bis Ostern.
»Siehst du«, stellte Jonas fest.
Er hatte recht, die beiden Autos standen vor ihrer Einfahrt. Nun erkannte sie sie auch. Dienstfahrzeuge, aus ihrer Abteilung. Der blaue Ford, den Bendix fuhr. Und der weiße Opel.
»Ich glaube, Polizei«, sagte Jonas.
Sie schluckte. »Sieht so aus.«
»Aber warum freust du dich nicht? Wenn meine Freunde kommen, dann freue ich mich.«
Sie nickte. Es war zu kompliziert, ihm zu erklären, dass ihre Kollegen nicht ihre Freunde waren, im Gegenteil, die Verhältnisse waren so, dass Larissa vorhatte, in ihre alte Abteilung, zur Sitte, zurückzukehren. Und das, obwohl sie vor einem Monat noch erleichtert gewesen war, von dort weg zu sein.
Dass sie mit zwei Autos gekommen waren, sprach dafür, dass das gesamte Drogendezernat angerückt war. In Larissas Kopf drehten sich die Rädchen. Was sollte dieser Aufmarsch bedeuten? Was wollten die vier Männer hier? Um einen Einsatz konnte es sich nicht handeln, denn dann hätten sie sie angerufen. Wie waren die Kerle überhaupt wieder zusammengekommen, nachdem Wolle und Andy bereits in den Feierabend gegangen waren? Ob Bendix sie zurückgerufen hatte?
Larissa verspürte einen Fluchtimpuls, den sie aber beiseiteschob. Zusammen mit Jonas schlängelte sie sich an den beiden parkenden Fahrzeugen vorbei, die den gepflasterten Platz vor ihrer Haustür vollständig ausfüllten. Dann schloss sie die Haustür auf und rief gleichzeitig nach Michael.
An der Tür erschien Bendix. Er hatte seine Sonnenbrille ins Haar geschoben und grinste. »Larissa«, sagte er. »Da bist du ja endlich.«
»Was wollt ihr hier?«
Bendix hatte eins seiner bunt gemusterten Hemden an, das so weit offen stand, dass man seine Brusthaare sah. Darüber trug er eine schwarze Lederjacke. Sein Rasierwasser roch so stark, als hätte er gerade neues aufgetragen. Er starrte sie an, ohne eine Antwort zu geben. Sie spürte, wie er Maß an ihrem Körper nahm und sein Blick auf ihrem Busen verweilte. Sie hätte ihm am liebsten eine geknallt. Jonas hatte sich an der Garderobe hinter einen Mantel gedrückt.
Dann erschien Michael. Erleichtert atmete sie aus. Ihr Michael. Sie machte zwei Schritte auf ihn zu, bis sie unmittelbar vor ihm stand. Er nahm ihr die Einkaufstasche ab. Erst jetzt spürte sie, wie schwer das Ding gewesen war.
»Larissa, was ist hier los? Deine Kollegen wollen mir nichts sagen.«
»Ich habe keine Ahnung.«
Sie wandte sich an ihren Vorgesetzten. »Bendix, was wollt ihr von mir? Warum rückt ihr hier mit vier Mann an? Das ist meine Wohnung.«
»Wir haben den Auftrag, dich mitzunehmen.«
»Wie bitte?«
»Ich denke, du hast mich ganz gut verstanden.«
Jonas, der die Worte offenbar ebenfalls gehört hatte, verließ sein Versteck auf Zehenspitzen und drückte sich eng an seinen Vater – das war der größtmögliche Schutz, den er erhalten konnte. Michael wusste das. Er legte seinen kräftigen Arm um die kindliche Schulter und zog den Jungen vorsichtig in die Küche.
Die anderen Kollegen hatten es sich im Wohnzimmer bequem gemacht, sie saßen auf der Couch und auf den Sesseln. Alle drei standen sie auf, als Larissa eintrat. Klamroth verschränkte die Hände vor der Brust und ließ seinen Kaugummi durch den Mund wandern. Wolle rückte sich seine Brille zurecht. Er war etwa so alt wie Bendix und Klamroth, Anfang vierzig. Andy Morowitz dagegen war deutlich jünger, noch keine dreißig, ein blonder schlaksiger Junge, nicht gerade hübsch, aber offener und lockerer als die anderen. Seine Jeans saß schlecht, der Pulli, der irgendwann einmal bunt gewesen war, hatte in vielen Waschgängen seine Farben verloren.
»Ich glaube es nicht«, stieß Larissa aus. »Welch ein Auftritt. Die komplette Mannschaft. Was wollt ihr von mir, noch dazu nach Feierabend? War ich denn nicht den ganzen Tag im Büro? Und hat einer von euch dort ein Wort mit mir gewechselt? Nein, natürlich nicht. Die Neue wird ja geschnitten. Und jetzt das. Ihr seid doch …«
»Larissa.« Das war Andy Morowitz. Er hatte hellblaue Augen und ein Grübchen am Kinn. »Das wird sich aufklären.«
»Meine ich auch«, ergänzte Wollmann. »Wir checken die Sache, und dann fahre ich dich höchstpersönlich zurück nach Hause.«
Larissa wollte Fragen stellen. Um welche Sache es sich handelte. Wieso Wolle und Andy, die bereits nach Hause gegangen waren, bei diesem Einsatz mitmachten. Was das Wort aufklären bedeuten sollte. Gleichzeitig wusste sie, dass sie keine Antwort bekommen würde, zumindest keine, auf deren Wahrheitsgehalt sie sich verlassen konnte. Wenn sie noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, ob sie in ihre alte Abteilung zurückkehren sollte, waren sie in diesem Augenblick verflogen. Mit jenen Männern hier würde sie nicht warm werden. Niemals.
Vor Klamroth hatte sie sogar eine diffuse Angst. Ihm unterstellte sie, dass er brutal werden konnte. Die anderen nannten ihn Jaecki, obwohl sein Vorname Gerd war. Er trug einen Bürstenschnitt und war groß und übergewichtig. Ein Sachse. Nicht dass er ihr das erzählt hätte, sie hatte es aus den wenigen Worten, die er sprach, herausgehört.
Sie war froh, dass Michael ins Wohnzimmer kam. Jonas hielt sich hinter seinen Beinen.
»Ich will wissen, was ihr von mir wollt. Vorher gehe ich nirgendwo hin. Im Übrigen habe ich Dienstschluss und wüsste nicht, was man nicht genauso gut morgen klären könnte.«
»Okay dann«, sagte Bendix. »Ich hätte es gerne etwas niedriger gehängt, gerade vor deinem Mann. Aber wenn du Klartext haben willst, können wir das auch. Wir haben eine staatsanwaltliche Anordnung, dich zur Dienststelle zurückzubringen, wo du wegen der Schüsse von gestern befragt werden sollst.«
»Was?«, entfuhr es Michael.
Sie hatte nichts gesehen, entsprechend konnte sie keine Aussage machen. »Wieso denn ich?«
Als Bendix nicht reagierte, streckte sie ihre Hand aus und sagte: »Lass sehen.«
Bendix zog einen Zettel aus der Hosentasche, entfaltete ihn und hielt ihn ihr hin. Sie erkannte den Briefkopf des Staatsanwalts und ihren Namen. Mehr brauchte sie nicht zu lesen.
Michael hatte Jonas hochgehoben, der Junge saß auf seiner Hüfte und hatte den Kopf an die Schulter seines Vaters gelehnt. Sie konnte ihn gut verstehen. Michael war ein Hafen, den man jederzeit anlaufen konnte. Egal wie sehr es draußen stürmte, innerhalb seiner Mauern war die See ruhig.
Durch Jonas war Michaels Brille verrutscht, sie stand quer, und das verstärkte den Eindruck von Konfusion, den er nun ausstrahlte. Er kratzte sich den Bart, in dem sich erste weiße Strähnen breitmachten. »Darf ich auch mal«, sagte er zu Bendix.
Bendix hielt ihm das Schriftstück hin. Michael ließ Jonas nicht los, während er las. Er nahm sich mehr Zeit als sie. »Eine staatsanwaltliche Vorladung. Um was genau geht es?«
Da keiner der Kollegen sich die Mühe machte, eine Antwort zu geben, sagte sie: »Wir hatten gestern einen Toten, davon habe ich dir erzählt. Da wird jeder befragt, der in der Nähe war, das ist klar. Aber ich verstehe nicht, was dieser Auftritt soll. Warum redet während der Arbeitszeit keiner mit mir? Und warum kommen ausgerechnet diejenigen Kollegen, die ebenfalls Auskunft zu geben haben, um mich zu holen? In solchen Fällen wird normalerweise eine zweite Abteilung eingeschaltet. Ich finde, das stinkt alles.«
»Larissa«, sagte Wollmann und klang versöhnlich, »mach’s doch nicht so kompliziert. Wenn du möchtest, setze ich mich während der Befragung dazu und helfe dir. Und dann bringe ich dich wieder her, das ist versprochen.«
Er trug einen Strickpullover. Seine Haare waren dünn und fielen in Strähnen auf die Stirn. Die Brillengläser machten seine Augen groß. Er sah sie freundlich an, und sie war fast gewillt, ihm zu glauben.
Doch dann sagte sie: »Ich brauche dich nicht zum Händchenhalten. Was ich auszusagen habe, kann ich auch alleine.« Der barsche Tonfall war in Ordnung. »Im Übrigen habe ich Feierabend, wie gesagt, und will mit meiner Familie essen. Und ihr geht jetzt besser. Morgen früh um acht bin ich im Dienst.«
»Das ist nicht möglich«, sagte Bendix. »Wir haben Order, dich direkt mitzunehmen.«
»Dann erkläre mir doch mal, Kollege, wer von euch den Staatsanwalt um diesen Scheiß gebeten hat.«
Bendix tat, als habe er sie nicht gehört. Auch die anderen schienen es nicht für nötig zu halten, ihre Frage zu beantworten.
Sie stellte sich hinter einen der Sessel. »Wenn das so ist, könnt ihr von mir keine Kooperation erwarten.« Mit beiden Händen griff sie nach der Lehne und drückte den Veloursstoff zusammen, bis sie das Holz darunter fühlte. »Entweder morgen – oder ihr müsst mich hinaustragen.«
»Larissa!« Das war wieder Wollmann.
»Gib mir eine Auskunft!«
»Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Ich bitte dich nur darum, es uns nicht so schwer zu machen. Uns allen nicht. Du musst doch auch an eure Nachbarn denken.«
Seine Worte waren ihr egal. Was sie dagegen erreichte, war eine knappe Kopfbewegung von Michael, ein sanftes Nicken in Jonas’ Richtung. Er hatte recht, wie immer. Für den Jungen wäre es zu viel, müsste er mit ansehen, wie vier Männer seine Mutter mit Gewalt Richtung Auto schleiften.
»Also gut«, sagte sie.
Wollmann atmete laut aus. Klamroth machte ein paar Schritte, als habe er seine Beweglichkeit zurückgewonnen, Andy hob den Daumen. Selbst Bendix lächelte ein wenig.
Larissa sah sich von vier Gegnern umgeben. Es blieb dabei, die ganze Aktion ergab keinen Sinn. Alle vier Kollegen waren in der fraglichen Wohnung gewesen. Was konnte sie beitragen, was keiner von ihnen wusste?
Sie starrte zum Fenster hinaus. Der schmale Garten war zu beiden Nachbarn von Hecken begrenzt, noch ohne Grün und deshalb durchsichtig. Auf dem Rasen lagen vom letzten Herbst faulige Blätter. Wühlmäuse hatten mehrere Erdhaufen aufgeschichtet. Im Beet standen einzelne dunkle Pflanzenstängel. Es musste dringend sauber gemacht werden, frische Erde brauchte es auch. Aber dazu war jetzt keine Zeit. Sie überkam das Gefühl, dass Bendix und die anderen ihr eine Falle gestellt hatten und sie im Begriff war, hineinzutappen.
Ihr fiel ein, wie sie das überprüfen konnte. »Wird das länger dauern? Soll ich mir vielleicht ein paar Sachen mitnehmen?«
Bendix öffnete den Mund, schien allerdings nicht zu wissen, was er sagen sollte.
Von der anderen Seite kamen zwei Antworten.
»Das ist doch nicht nötig«, sagte Wolle.
»Wäre vielleicht nicht schlecht«, meinte Klamroth gleichzeitig.
Bendix nickte. Es war nicht auszumachen, welcher der beiden Antworten er zustimmte.
»Wieso Sachen?«, rief Michael dazwischen. »Dauert das wirklich länger? Das geht nicht. Larissa, du weißt …«
Sie hob die Hand in seine Richtung. »Noch hat der große Chef sich nicht geäußert.« Sie wandte sich an Bendix. »Also?«
»Ja.«
»Was: Ja?«
»Ja, verflucht, nimm dir ein paar Sachen mit. Musst vielleicht über Nacht bleiben.«
»Das ist polizeiliche Schönrederei«, erklärte sie Michael. »Bendix legt nicht fest, wie lange ich bleiben muss. Das entscheiden andere.«
»Larissa …« Michael schien nach Worten zu suchen, während er Jonas auf den Boden setzte und seine Brille zurechtrückte. »So geht das nicht. Wir haben eine Verabredung.«
Sie zeigte auf Bendix. »Sag ihm das.«
»Du bringst mich in Schwierigkeiten.«
»Ich? Jetzt verdrehst du die Dinge aber. Ich gehe doch nicht in U-Haft, weil ich Lust darauf habe! Und Fluchtgefahr besteht auch nicht. Oder eine von Verdunklung.«
»Wenn du dich nicht an unsere Verabredung hältst, bin ich aufgeschmissen.«
Für ihn begann eine neue Baustelle, in der Nähe des Hauptbahnhofs, ein großer Auftrag. Sie hatte sich gefreut, als er ihn an Land gezogen hatte, denn in letzter Zeit waren seine Geschäfte eher schleppend gelaufen. Das war so weit gegangen, dass er sich schon gefragt hatte, ob die Zeit für freiberufliche Bauleiter abgelaufen war, ob die Konzerne dazu übergegangen waren, ihr eigenes Personal zu beschäftigen. Als dann der neue Auftrag gekommen war, hatte sie zugesagt, während der Bauzeit einen Großteil der Kinderbetreuung zu übernehmen, vor allem nachmittags.
Sie verstand seine Sorge, konnte aber nichts tun. »Du beschwerst dich bei der Falschen.« Erneut zeigte sie mit dem Finger auf Bendix. Mittlerweile war ihr alles egal. »Die wollen mir was anhängen. Das sind die Arschlöcher!«
»Nun mal halblang«, fuhr Klamroth dazwischen.
»Halblang?« Der Ärger pochte in ihrem Kopf. Sie spürte, dass sie rot geworden war. »Wann hast du eigentlich das letzte Mal in den Spiegel gesehen? Halblang: Das ist kein Wort, das einer von euch in den Mund nehmen sollte.«
Michaels Arme hingen herunter, seine Schultern waren zusammengesackt. In diesem Moment war nicht mehr viel übrig von seiner Stärke und Verlässlichkeit. Seine lange vorbereiteten Pläne waren auf einmal in Gefahr.
Jonas stand an seiner Seite. Er hatte die Lippen zusammengepresst und starrte zu Boden. Sie kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. »Mama muss noch mal weg. Papa bringt dich heute Abend ins Bett.«
»Du wolltest mir doch was vorlesen.«
»Ich glaube nicht, dass die Männer so lange warten wollen. Weißt du, die Polizei hat es immer eilig.«
Er packte nach ihrem Ärmel. Seine kindliche Stimme klang schrill. »Ich will aber nicht, dass du weggehst.«
»Ich will das auch nicht, mein Schatz. Ich muss aber.«
Er klammerte sich an sie. »Mama, nein!«
Sie strich ihm über den Kopf. »Die Männer sind von der Polizei. So wie du bald.«
Jonas nickte tapfer, obwohl ihm Tränen in die Augen traten. Zu Bendix – der am nächsten von ihm stand – sagte er: »Wenn ich groß bin, werde ich auch Polizei.« Überzeugt davon klang er nicht.
»Ach ja?«
»Aber nicht so wie du. Sondern mit Mütze. Und mit Pistole. Hast du keine Pistole?«
Bendix würdigte ihn keines weiteren Wortes.
»Ich komme bald wieder, Jonas«, sagte sie und gab ihm einen Kuss. »Mein großer Junge.« Dann kam sie wieder in die Höhe. »Ich hole meine Sachen.« Sie versuchte ein Lächeln.
Keinesfalls wollte sie die Kollegen wissen lassen, wie aufgewühlt sie war. Sicher war, dass die vier irgendetwas mir ihr vorhatten, das nicht normalen Polizeigepflogenheiten entsprach. Mit ihrer protokollierten Aussage oder einer einzigen Vernehmung war es nicht getan. Um was es wirklich ging, würde Bendix oder einer der anderen ihr nicht sagen. Daraus folgte, dass sie es selbst herausfinden musste. Eine Zelle im Untersuchungsgefängnis, durch deren eiserne Tür keine Informationen drangen, war dafür ein denkbar schlechter Ort.
Während sie hinausging, wartete sie auf Widerspruch, aber der kam nicht. Dafür folgte ihr jemand die enge Holztreppe ins Obergeschoss hinauf. An der Wand hingen gerahmte Fotos von Jonas, die ihn als Neugeborenen zeigten, beim Versuch, erste Schritte zu machen, mit verschmiertem Clownsmund bei einer Mahlzeit. Im Vorbeigehen schaute sie sie an und bekam dabei ein Gefühl von Abschied. Die Schritte hinter ihr waren nicht zu überhören. Sie drehte sich nicht um, vermutete aber, dass es Andy Morowitz war, den Bendix geschickt hatte. Er war der Jüngste im Team, deshalb hatte er in der Regel die Extrawege zu machen.
Andy war dezent genug, an ihrer Schlafzimmertür stehen zu bleiben, während sie die Schranktür öffnete, ihre abgetragene Sporttasche herausnahm und Unterwäsche und frische Strümpfe einpackte. Für eine Antwort auf ihre Fragen wäre es am einfachsten, sie Andy zu stellen. In der neuen Abteilung, dem Drogendezernat, hatte sie von Anfang an gedacht, wenn es hier einen gab, zu dem sie ein halbwegs kollegiales Verhältnis aufbauen könnte, dann war er es. Er wirkte offener als die anderen, war auch redseliger als sie und trug nicht diese unsichtbaren Mauern um sich herum. Und trotzdem gehörte er zu ihnen. Hatte mit ihnen zusammen an der Falle für sie gebaut.
Dennoch sagte sie: »Andy, was ist hier los?«
»Reine Routine.«
»Das glaubst du doch selber nicht. Dafür muss ich doch nicht abends auf die Dienstelle. Und noch Wechselklamotten mitnehmen.«
Er wandte sich ab. Sie unterstellte ihm ein schlechtes Gewissen.
»Mensch, rede doch mit mir.«
»Wird sich alles aufklären.«
Sie lachte auf. »Glaubst du?«
Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. »Frag Bendix. Ich weiß nichts.«
»Bendix, okay, eine gute Idee. Der wird mir sicher Rede und Antwort stehen.«
Er hielt sich am Türrahmen fest. Sie hatte ihre Tasche in der Hand.
»Du weißt doch, wie es war. Du warst dabei«, sagte sie leise, fast flüsternd. »Also: Was soll das?«
Er zog die Schultern hoch und ließ seinen Mund breit werden. Dem Grinsen war seine Verlegenheit anzusehen. Sie überkam große Lust, ihm ihr Knie zwischen die Beine zu rammen, doch sie bremste sich. Eine Prügelei würde zwar helfen, Dampf abzulassen, mehr aber nicht. Es galt, einen kühlen Kopf zu bewahren.
»Ich gehe noch mal aufs Klo.« Sie zeigte auf das andere Ende des kleinen Flurs.
»Mach nicht so lange.«
»Jaja.«
Bevor sie die Tür schließen konnte, griff er an die Innenseite des Schlosses, um den Schlüssel abzuziehen. Doch da war keiner.
»Findest du wahrscheinlich in Jonas’ Zimmer«, sagte sie.
Nicht einmal auf der Toilette durfte sie sich einschließen. Sie fasste an den Heizkörper, über den ein Duschhandtuch gebreitet war. Ihre Hände wurden augenblicklich warm. Der bunte Becher mit den drei Zahnbürsten, der am Waschbecken stand, fiel ihr ins Auge, zwei große, eine kleine. Sie würde ihre einpacken müssen. Dann blieben nur noch zwei übrig.
Sie war sich sicher, dass Andy darüber informiert war, was Bendix plante. Die Männer pflegten zwar einen rauen Umgangston, aber sie waren eine Truppe und hielten zusammen. Für sie dagegen gab es keinen Anhaltspunkt, das Vorhaben der vier zu verstehen. Doch, es gab einen – die Anordnung des Staatsanwalts.
Sie mussten ihm eine Lüge erzählt haben. Eine Lüge über sie.
Auf diese Weise passten die Dinge zusammen: das Verweigern jeden ernsthaften Gesprächs über die Schüsse, die vorgebliche Arbeitsroutine im Büro und vor allem die Tatsache, dass sich die Männer am Abend wieder zusammengefunden hatten. Gegen sie zusammengefunden hatten.
Sie wollten ihr etwas anhängen.
Was das sein konnte, blieb unklar. Das Opfer war von einem der Kollegen in Notwehr getötet worden. Wenn sie auch nicht wusste, wer geschossen hatte, war eine andere Erklärung nicht denkbar. So mies sich die vier Männer ihr gegenüber verhielten, keiner von ihnen schoss grundlos einen wenig bedeutenden Drogendealer über den Haufen.
Larissa betrachtete sich im Spiegel. Ihre braunen Augen flackerten. Die Haare waren ungekämmt, irgendwie wirr. Die Schatten um die Augen zeigten, dass sie einen langen Tag hinter sich hatte. Mit beiden Händen stützte sie sich aufs Waschbecken. Träumte sie vielleicht?
Sie hörte, wie Andy ungeduldig an die Tür klopfte. Er hatte es eilig. Alle schienen sie es eilig zu haben, als wollten sie einen unangenehmen Job möglichst schnell hinter sich bringen.
Larissa schüttelte heftig den Kopf, dann schaute sie sich erneut im Spiegel an. Sie hatte Angst. Angst vor Bendix und vor Klamroth. Auch vor den beiden anderen. In diesem Moment traute sie ihnen alles zu. Und sie, die neue Kollegin, würde das Opfer sein.
Nein! Das würde sie nicht.
Sie streckte ihr Kinn vor und traf eine Entscheidung.
Es gab tatsächlich keinen Schlüssel für die Badezimmertür, aber einen Holzkeil, denn Michael hasste es, auf der Toilette gestört zu werden. Auf diesen Keil passte er gut auf und deponierte ihn nach Gebrauch im Handtuchregal in einer Höhe, die für Jonas nicht erreichbar war. Larissa nahm den Holzklotz, legte ihn auf den Boden und schob sein flaches Ende mit dem Fuß in die Türspalte. Ihre Scherereien würden nicht geringer werden, wenn sie weglief. Aber einmal in U-Haft, hatte sie überhaupt keine Möglichkeiten mehr. Und außerdem gab es auch keine Garantie dafür, dass Bendix und die anderen keine Umwege mit ihr machten und sie an einen düsteren, unheimlichen Ort führten.
Leise öffnete sie das Fenster, stieg erst auf den Toilettendeckel, dann in den Fensterrahmen. Vom Einkaufen hatte sie noch ihre Daunenjacke an, auch die Turnschuhe.
»Larissa.« Andy klopfte erneut an die Tür.
Sie blickte nach unten. Vor ihr lag Jonas’ Sandkasten. Im letzten Sommer hatten sie neuen Sand aufgeschüttet. Gefroren war nichts. Sie konnte auf eine halbwegs weiche Landung hoffen.
Peter Bendix wollte weg hier, und das möglichst schnell. Er stand nicht auf Familien, ganz und gar nicht, und erst recht nicht auf Kinder, die sich frech zu sein trauten, solange sie sich hinter Papis Bein verschanzten. Als ob der Knirps auch nur eine leise Ahnung davon hatte, was es hieß, Polizist zu sein und Verantwortung zu tragen. Bendix ignorierte ihn und sah sich lieber um. In Larissas Haus gefiel ihm nichts, weder die komischen Bilder an der Wand, diese blöden Kunstdrucke, noch das Hochzeitsfoto oder die Kinderzeichnungen und auch nicht das blaue Sofa und der Teppich. Alles so eng, so ordentlich. Genau wie Larissa.
Ihr Mann, mit Bart und Brille, war sicher zehn Jahre älter als sie. Ein ruhiger Zeitgenosse, der die Überzeugung ausstrahlte, mit Vernunft ließe sich jedes Problem lösen. Und natürlich der perfekte Hausmann. Er hatte brav den Tisch gedeckt, Stoffuntersetzer und drei Teller für die kleine Familie, außerdem dampfenden Kräutertee in einer großen Kanne. Sogar eine Kerze war da. Bendix hätte kotzen können. Im Bett brannte der Scheißkerl sicher nicht.
Er wurde so ungeduldig, dass er die Beinmuskeln anspannen musste, um nicht umherzuwandern. »Andy!«, rief er die Treppe hinauf.
»Gleich!«
Es konnte doch nicht so lange dauern, sich ein paar Sachen einzupacken. Musste er wirklich selbst nach oben gehen und Dampf machen? Larissa hatte natürlich begriffen, was ihr bevorstand. U-Haft, was sonst? Vollkommen blöd war die Frau immerhin nicht.
Um sich irgendwie zu beschäftigen, fischte er seine Sonnenbrille vom Haar und schob sie sich, da es im Haus ziemlich dunkel war, in die Brusttasche. Klamroth hockte auf einer Sessellehne, Wolle stand am Bücherregal. Keiner redete ein Wort, auch Larissas Mann nicht. Was sollte man schon sagen? Dass seine Frau bald wieder nach Hause käme? Besser nicht, denn es stimmte nicht, und Bendix wollte sich später nicht auf eine derartige Aussage festnageln lassen. Außerdem war sein Mund trocken.
Sein abendlicher Bierdurst hatte sich eingestellt. Eine geradezu magnetische Kraft wollte ihn aus diesem spießigen Haus fortziehen. Gereizt wartete er darauf, dass der Tag endlich vorbei war. Sie würden einen trinken gehen, alle zusammen, und fröhlich anstoßen; das hatten sie sich verdient, und Bendix wusste, dass es nicht bei einem Bier blieben würde, wahrscheinlich auch nicht bei zweien.
Er war dabei, seine Sonnenbrille wieder aus der Hemdtasche zu holen, da sah er draußen etwas durch die Luft fliegen. Was war das? Ein Stein? Ein Sack?
Er hatte keine Ahnung. Ein farbloses Etwas, dabei schwer. Und im nächsten Moment schon vorbei. Die Kollegen hatten es nicht gesehen, denn deren Blick ging in die andere Richtung.
Er hätte die Sekunden zählen können, die verstrichen, bis es ihm dämmerte. Verdammte Scheiße, das war ein Mensch. Es hatte ein dumpfes Geräusch gegeben, der Aufprall war heftig. Vorher hatte er Haare erkannt, einen Pferdeschwanz, der nicht nach unten hing, sondern nach oben stand.
Er fluchte.
»Andy«, brüllte er dann, so laut, dass der kleine Hosenscheißer zusammenzuckte und sich an seinen Vater krallte. »Bist du bescheuert?«
Im nächsten Moment war er an der Terrassentür. Er hatte richtig gesehen – Larissa, die in einem Sandkasten gelandet war. Aufstand, sich schüttelte und umschaute. Ihm für einen Moment in die Augen sah.
Und davonlief.
»Sie flieht!« Bendix zeigte auf den Garten. »Da – sie haut ab. Los, Männer, die holen wir uns.«
Er riss die Terrassentür auf und war schon draußen. Larissa hatte einen Vorsprung von fünfzig Metern, nicht mehr. Sie rannte, ihr Pferdeschwanz flog im Takt ihrer Schritte auf und nieder. Das Grundstück war winzig, sie hatte fast die Grenze erreicht. Bendix jagte ihr nach. Am Zaun spätestens würde er sie eingeholt haben. Und sie seine Faust spüren lassen, sollte sie auch nur einen Hauch von Widerstand leisten. Einen Tritt würde sie auf jeden Fall kassieren, das war seine persönliche Mindeststrafe für Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Hinter sich ahnte er Jaecki und Wolle. Auf seine Mannschaft war Verlass. Allerdings sah er vor sich Larissa, die mit zwei schnellen Bewegungen über den Zaun kletterte, als stelle er überhaupt kein Hindernis dar. Sie trampelte bereits durchs Beet des Nachbarn, vorbei an einem Komposthaufen, und erreichte deren Rasenfläche, die voller bunter Spielgeräte war. Bendix griff nach dem Zaunpfosten.
Als er über den Maschendraht klettern wollte, gab das weiche Material nach. Verdammtes Scheißding. Wie hatte Larissa das geschafft? Bei ihm ließ der Zaun nicht zu, dass er einen Fuß hineinstellte, um sich in die Höhe zu schwingen. Er versuchte es erneut, mit dem gleichen Ergebnis. Der Draht bog sich nach hinten und sackte zusammen. Bendix kam nicht drüber.
»Jaecki, halt das verfluchte Ding fest«, verlangte er, als Klamroth neben ihm angekommen war.
Jaecki packte mit beiden Händen zu und versteifte den Zaun. Bendix trat in eine Schlaufe – das Ding wackelte immer noch wie ein Pudding, war nun aber stabil genug, dass er hinüberkam. Die Aktion hatte Zeit gekostet. Larissa war bereits dabei, das Grundstück ihrer Nachbarn zu verlassen. Gut, dann eben anders. Wolle war mit Jaeckis Hilfe ebenfalls über den Zaun gestiegen, nun halfen sie Klamroth. Auch Andy kam dazu. Bendix schickte ihn zurück. Sie brauchten ein Auto.
Dann marschierten sie auf gesittete Art zu dritt über das Nachbargrundstück.
Es war keine Frage, dass sie Larissa Rewald in kurzer Zeit eingefangen haben würden. Er blickte auf seine Armbanduhr. Eine halbe Stunde, länger durfte das nicht dauern. Danach würde das Bier noch besser schmecken.
Als Larissa an einem Montagmorgen vier Wochen zuvor zum ersten Mal ins Büro des Drogendezernats in Schöneberg getreten war, hatte die Tür offen gestanden. Trotzdem hatte sie angeklopft. Dabei war ihr Blick auf eine verblasste Zeichnung gefallen, die in einer Klarsichthülle am Türblatt klebte. Sie zeigte kläffende Hunde in einem Hof, von Ketten gehalten. Die Klebestreifen kräuselten sich bereits, auf der Folie waren gelbe Fettflecke. Larissa beachtete die Zeichnung nicht weiter. Sie war nervös und mit ihren Gedanken bei den neuen Kollegen.
Sie kam in einen geräumigen, dabei chaotischen Altbauraum. Unter der stuckverzierten Decke hingen flache Bürolampen. Vier Schreibtische standen jeweils in Zweierpaaren zusammen. Neben den Monitoren stapelten sich Akten, Zeitungen, alte Kaffeebecher und leere Coladosen. Die Telefone thronten auf schwenkbaren Armen, wahrscheinlich, damit sie den Tischen keinen weiteren Platz raubten. Auch auf der Fensterbank gab es Türme vergilbter Unterlagen, die Larissa für Müll hielt, bestenfalls für Archivmaterial. Die Schreibtische waren alle besetzt. Vier Augenpaare blickten auf. Alles Männer.
Sie hatte sich vorbereitet, deshalb brachte sie die Namen in ihrem Kopf schnell mit den Gesichtern zusammen. Wie ein Schulmädchen ging sie zu jedem von ihnen, streckte die Hand aus, stellte sich vor. Peter Bendix, der Leiter, war der Erste, dem sie ihren Namen nannte, ein Mann mit fleischigem Gesicht, die Haare nach hinten gekämmt, mit dunkler Sonnenbrille darauf. Er murmelte zwar »Hallo«, wandte sich aber sofort wieder seinem Bildschirm zu. Larissas Lächeln erstarb.
Andy Morowitz, der Nächste in ihrer Runde, ließ es gar nicht erst zu einem Händeschütteln kommen, er streckte nur zwei Finger in die Luft, eine Mischung aus Gruß und Friedenszeichen. Heiner Wollmann sagte: »Die neue Kollegin.« Gerd Klamroth, der Dicke in der Mannschaft, grummelte, während er auf seinem Kaugummi kaute. Verständlich waren seine Worte nicht.
Und dann stand sie da, mitten im Raum, ihre Tasche über der Schulter, die Daunenjacke in der Hand. Die Kollegen taten beschäftigt. Ihr entfuhr ein Seufzer.
»Da«, sagte Bendix, ohne aufzusehen, und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung auf eine Fensterwand, fünf Meter von ihnen entfernt, »den Schreibtisch kannst du dir nehmen. Das war der von deinem Vorgänger.«
Allerdings, stellte Larissa fest, hatte der Schreibtisch zur Zeit ihres Vorgängers nicht so weit abseits gestanden. Die Kratzspuren auf dem Fußboden waren nicht zu übersehen. Die Kollegen hatten umgeräumt. Extra für sie, wie es aussah. Die Neue an den Katzentisch.
Ihr Eindruck, das fünfte Rad in dieser Abteilung zu sein, wurde in den nächsten Tagen noch stärker. Die anderen ignorierten sie und ließen sie ins Leere laufen. Auf ihre Fragen nach aktuellen Fällen bekam sie keine Antworten, die Kollegen blickten nicht einmal auf, wenn Larissa sie ansprach. Larissa ersparte ihnen und vor allem sich eine Wiederholung. Sie blieb an ihrem Tisch, stöberte im Computer in den abgelegten Dateien ihrer neuen Abteilung und verlangte Geduld von sich. Ihre Zeit, sagte sie sich, würde kommen.
Zu Hause erzählte sie wenig. Nicht schon wieder negative Erlebnisse von der Arbeit. Sie war und blieb erleichtert, von der Sitte weg zu sein. Zu lange hatte sie sich vorgemacht, dass sie die Ermittlungen gegen all die Vergewaltiger, Menschenhändler und Kinderpornofilmer kaltließen. Sie hatte sich eingeredet, einen Raum dafür zu haben, eine verschließbare Schublade im Kopf, beschriftet mit den beiden Wörtern »Perversion« und »Geldgier«, in der sie alles verriegelte, was sie außerhalb der Arbeit nicht belasten sollte. Aber offenbar hielt das Schloss nicht. Nach und nach sickerten die vielen Begegnungen in sie ein, erst nur in ihre Träume, dann auch in ihren Alltag. Ihre Angst um Jonas nahm zu und war am Ende so stark, dass sie ihn kaum noch aus den Augen lassen konnte. Sie musste sich eingestehen, dass der Job dabei war, sie aufzufressen. Am Ende war es Michael, der sie zur Rede stellte, und sie ergriff dankbar die Gelegenheit und erzählte von ihrer Düsternis. Michael wollte, dass sie die Abteilung verließ. Ein paar Tage später war ihr wie durch Schicksalsfügung eine Stellenanzeige ins Auge gefallen, beim Drogendezernat, auch noch eine Besoldungsgruppe über ihrer, und: Bewerbungen von Kolleginnen sind uns besonders willkommen. Nach vierzehn Tagen hatte sie den Zuschlag.