H.G. Wells
Der Krieg der Welten
Aus dem Englischen übersetzt, mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W. Wolff
dtv
H. G. Wells war der große Zeitreisende unter den Weltliteraten. Er wurde 1866 in Bromley, Kent, geboren, studierte Naturwissenschaften und war Mitbegründer der Royal College of Science Association. Zu Weltruhm gelangte er mit seinen Romanen, die ihn als Begründer der modernen Science Fiction ausweisen. Er starb 1946 in London.
Lutz-W. Wolff wurde 1943 in Berlin geboren, wo er heute wieder lebt. Der promovierte Literaturwissenschaftler und Lektor übersetzte zahlreiche Werke, unter anderem F. Scott Fitzgerald, Jack London und Robert Littell.
Seit Jahrhunderten blicken die Menschen sehnsüchtig zu den Sternen – ohne zu ahnen, dass auch sie beobachtet werden. Die Marsianer, eine hochintelligente Spezies, haben ihre Rohstoffreserven aufgebraucht und sind auf der Suche nach neuen Lebensräumen. Ihrer Invasion kann das irdische Militär nichts entgegensetzen. Bis ihm ungeahnte Verbündete zu Hilfe kommen.
H. G. Wells’ Krieg der Welten ist einer seiner berühmtesten Romane. Er wurde vielfach verfilmt und adaptiert. Jetzt liegt er endlich in neuer Übersetzung vor.
Titel der Originalausgabe
War of the worlds
1898
Neuübersetzung 2017
© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2017
Umschlaggestaltung und -illustration: Katharina Netolitzky/dtv
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ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14547-3
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ISBN (epub) 9783423430609
H. G. Wells, Experiment in Autobiography. Discoveries and Conclusions of a Very Ordinary Brain (since 1866), London: Gollancz 1934; New York: Macmillan 1934, Kapitel 8, § 2 (S. 457 f.)
Bernard Bergonzi, The Early H. G. Wells, Manchester: University Press. Zit. nach Michael Sherborne, H. G.Wells. Another Kind of Life, London und Chicago 2010, S. 109
Undatierter Brief an Elizabeth Healey, in: The Correspondence of H. G. Wells’, hrsg. von David C. Smith, London und Vermont: Pickering and Chatto 1998, Bd. 1, S. 261. – South Kensington, wo Wells seine Abschlussprüfung an der Normal School of Science nicht bestanden hatte, war der Schauplatz einer großen Niederlage für ihn.
Elmar Schenkel, H. G. Wells. Der Prophet im Labyrinth, Wien: Paul Zsolnay 2001; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004.
To my brother Frank Wells this rendering of his idea
Für meinen Bruder Frank Wells diese Darstellung seiner Idee
Der Krieg der Welten
But who shall dwell in these Worlds if they be inhabited? …
Are we or they Lords of the World? …
And how are all things made for man? …
KEPLER (quoted in The Anatomy of Melancholy)
Wer aber wohnt in diesen Welten, wenn sie denn bewohnt sind? Sind wir die Herren oder sie?
Und ist all dies für den Menschen gemacht?
KEPLER
(zitiert nach Robert Burton: Anatomie der Melancholie, 1621)
Niemand hätte wohl in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts geglaubt, dass die menschlichen Angelegenheiten aufmerksam und sehr genau von Wesen beobachtet wurden, die weitaus intelligenter als der Mensch waren, wenn auch genauso sterblich; dass die Menschen bei ihrem geschäftigen Treiben auf ähnliche Weise erforscht und studiert wurden, wie man mit einem Mikroskop die vergänglichen Geschöpfe mustert, die in einem Wassertropfen herumwuseln und sich vermehren. Mit unendlicher Selbstgefälligkeit und Gelassenheit gingen die Menschen auf dem ganzen Erdball ihren Geschäften nach und waren sich dabei ihrer Herrschaft über die Materie ganz sicher. Es ist möglich, dass die Infusorien unter dem Mikroskop dasselbe tun. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass die älteren Himmelskörper irgendwelche Gefahren für die Menschheit bergen könnten, und wenn jemand doch daran dachte, dann nur, um den Gedanken, dass es dort Leben geben könnte, als unmöglich oder unwahrscheinlich zurückzuweisen. Es ist höchst eigenartig, wenn man sich die geistigen Gewohnheiten von damals ins Gedächtnis zurückruft. Allenfalls konnten die Erdbewohner sich vorstellen, dass es auf dem Mars ihnen weit unterlegene Geschöpfe gab, die für ein missionarisches Landungsunternehmen sehr dankbar gewesen wären. Stattdessen aber beobachteten intelligente Wesen, deren gewaltiger, kühler und mitleidloser Verstand sich zu unserem verhält wie unserer zu dem der Schlachttiere, diese Erde aus der Tiefe des Weltraums mit gierigen Augen und schmiedeten ihre Pläne, bedächtig und zielsicher. Zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erfolgte dann der ernüchternde Schock.
Der Planet Mars, daran muss ich den Leser wohl kaum erinnern, umkreist die Sonne mit einem mittleren Abstand von 140 000 000 Meilen und erhält nur halb so viel Licht und Wärme wie wir. Er muss, wenn die Nebularhypothese stimmt, älter als die Erde sein, und es entstand dort schon Leben, als unsere Welt noch glutflüssig war. Die Tatsache, dass er nur ein Siebtel des Volumens der Erde erreicht, hat sicher dazu beigetragen, dass er schneller abkühlte und eine Temperatur erreichte, bei der das Leben beginnen konnte. Er hat Luft und Wasser und alles, was nötig ist, um ein beseeltes Dasein zu ermöglichen.
Aber der Mensch ist so eitel und von seiner Eitelkeit so geblendet, dass bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts kein Autor je den Gedanken geäußert hat, dass sich dort intelligentes Leben entwickelt haben könnte, schon gar nicht über das irdische Niveau hinaus. Und aus der Tatsache, dass der Mars so viel älter ist als die Erde, dass er nur ein Viertel ihrer Oberfläche besitzt und so viel weiter entfernt von der Sonne ist, hat offenbar niemand den Schluss gezogen, dass dort nicht nur der Anfang des Lebens schon weiter zurückliegt, sondern auch dessen Ende viel näher ist.
Die allmähliche Abkühlung, die unserem Planeten irgendwann bevorsteht, ist bei unserem Nachbarplaneten schon weit fortgeschritten. Seine genaue physische Beschaffenheit ist noch immer ein Rätsel, aber wir wissen jetzt, dass die Mittagstemperaturen dort selbst am Äquator kaum höher sind als die unserer kältesten Winter. Die Luft ist dünner als bei uns, die Ozeane sind so weit geschrumpft, dass sie nur noch ein Drittel seiner Oberfläche bedecken, und beim langsamen Wechsel der Jahreszeiten bilden sich an den Polen regelmäßig riesige Eiskappen, die alle gemäßigten Zonen überfluten, wenn sie abschmelzen. Dieses letzte Stadium der Bewohnbarkeit, das bei uns noch unglaublich weit entfernt liegt, ist für die Marsbewohner ein ganz aktuelles Problem. Die unmittelbare Not hat ihren Verstand geschärft, ihre Fähigkeiten gesteigert und ihre Herzen verhärtet. Und wenn sie mit Instrumenten und intellektuellen Fähigkeiten, von denen wir nur träumen können, in den Weltraum hinausblicken, sehen sie sonnenwärts ganz in der Nähe, nur 35 000 000 Meilen entfernt, einen Morgenstern der Hoffnung − nämlich unseren deutlich wärmeren Planeten mit grüner Vegetation, grauem Wasser, einer wolkigen, Fruchtbarkeit versprechenden Atmosphäre und, soweit man durch die Wolken sehen kann, reich bevölkerten Landstrichen und viel befahrenen Meeren.
Wir Menschen, die Geschöpfe, die diese Erde bewohnen, müssen ihnen so fremd und unbedeutend erscheinen wie uns die Lemuren und Affen. Der Mensch hat inzwischen begriffen, dass das Leben ein unaufhörlicher Existenzkampf ist, und wie es scheint, ist diese Einsicht auch bei den Marsbewohnern verbreitet. Ihre Welt ist weitestgehend abgekühlt, während unsere noch von Leben wimmelt, aber nur von Lebewesen bewohnt wird, die sie für minderwertige Tiere halten. Sonnenwärts Krieg zu führen ist ihre einzige Rettung vor der Vernichtung, die von Generation zu Generation näher rückt.
Ehe wir sie verurteilen, sollten wir uns daran erinnern, wie rücksichtslos unsere eigene Spezies nicht nur Tiere wie zum Beispiel den Bison oder den Dodo, sondern auch unterlegene Teile der menschlichen Rasse ausgelöscht hat. Die Tasmanier, die durchaus menschlich aussahen, wurden von europäischen Einwanderern in einem fünfzig Jahre dauernden Vernichtungsfeldzug vollkommen ausgerottet. Sind wir solche Apostel der Gnade, dass wir uns beschweren dürften, wenn die Marsbewohner im gleichen Geist gegen uns Krieg führen würden?
Die Marsianer – ihre mathematischen Fähigkeiten sind offensichtlich viel weiter entwickelt als unsere – scheinen ihren Anflug mit erstaunlichem Scharfsinn geplant und ihre Vorbereitungen in nahezu vollkommener Einmütigkeit getroffen zu haben. Hätten es unsere Instrumente erlaubt, hätten wir vielleicht schon früh im neunzehnten Jahrhundert bemerkt, dass sich etwas zusammenbraute. Männer wie Schiaparelli beobachteten den Mars genau – es ist ja sehr bezeichnend, dass er schon seit Jahrhunderten als Stern des Krieges galt –, versäumten es aber, die wechselnden Erscheinungen, die sie auf ihren Karten vermerkten, richtig zu interpretieren. Die ganze Zeit hindurch müssen die Marsianer sich vorbereitet haben.
Während der Opposition der Planeten im Jahr 1894 wurde ein großes Licht auf der beleuchteten Seite des Mars beobachtet, zunächst vom Lick-Observatorium aus, dann von Perrotin in Nizza und dann von anderen Beobachtern. Englische Leser erfuhren zuerst aus der Ausgabe von Nature vom 2. August davon. Ich neige zu der Auffassung, dass die Erscheinung damit zu tun hatte, dass in einer riesigen Grube auf dem Mars die große Kanone gegossen wurde, aus der später die Geschosse abgefeuert wurden. Während der nächsten zwei Oppositionen wurden in der Nähe dieser ersten Lichterscheinung eigenartige, bisher unerklärte Zeichen gesichtet.
Vor sechs Jahren brach der Sturm dann los. Als sich der Mars der Opposition näherte, liefen in der astronomischen Welt die Drähte heiß, als Lavelle aus Java von einem gewaltigen Ausbruch von leuchtenden Gasen auf dem Mars berichtete. Das war am 12. gegen Mitternacht gewesen, und das Spektroskop, das er sofort eingesetzt hatte, zeigte eine Masse von brennenden Gasen, vor allem Wasserstoff, die mit enormer Geschwindigkeit auf die Erde zurasten. Etwa eine Viertelstunde nach Mitternacht war dieser Feuerstrahl nicht mehr zu sehen. Lavelle nannte ihn eine kolossale Verpuffung von heißen Gasen, die aus dem Mars herausgespritzt sei »wie das Mündungsfeuer aus einer Schusswaffe«.
Das erwies sich als eine sehr angemessene Beschreibung. Aber abgesehen von einer kleinen Notiz im Daily Telegraph stand am nächsten Tag nichts davon in den Zeitungen, und die Welt erfuhr nichts von einer der größten Gefahren, von der die menschliche Rasse jemals bedroht wurde. Ich hätte von der Eruption wahrscheinlich gar nichts gehört, wenn ich nicht in Ottershaw zufällig den bekannten Astronomen Ogilvy getroffen hätte. Er war sehr aufgeregt über die Nachricht und lud mich im Überschwang der Gefühle gleich ein, am Abend zu ihm zu kommen und den roten Planeten mit ihm zu beobachten.
Trotz allem, was seither geschehen ist, erinnere ich mich noch sehr gut an diese Nachtwache: das stille, dunkle Observatorium, die abgeschirmte Lampe, die nur in einer Ecke ein schwaches Licht auf den Fußboden warf, das regelmäßige Ticken des Uhrwerks im Teleskop, der schmale Schlitz in der Kuppel – ein schwarzer, mit Sternenstaub gesprenkelter Abgrund. Ogilvy ging hin und her, unsichtbar, aber hörbar. Wenn man durch das Teleskop blickte, sah man einen tiefblauen, kreisrunden Ausschnitt, in dessen Mitte ein kleiner runder Planet schwamm. Er schien so unwichtig, so hell und winzig und still. Er war leicht abgeplattet, und man erkannte blasse, schräge Streifen. So klein und silbrig warm wie ein hell erleuchteter Stecknadelkopf sah er aus! Er schien ein bisschen zu zittern, aber nur, weil das Teleskop von der Uhr, die den Planeten im Blickfeld hielt, zum Vibrieren gebracht wurde.
Während ich ins Okular starrte, schien der Planet größer und kleiner zu werden. Mal schien er näher zu kommen, mal wich er zurück, aber das lag nur daran, dass mein Auge müde war. Vierzig Millionen Meilen ist der Mars von uns entfernt, 40 000 000 Meilen der Leere. Nur den wenigsten ist klar, wie riesig der leere Raum ist, in dem das bisschen staubkörnchengroße Materie des Universums herumschwimmt.
Ich kann mich noch erinnern, dass ich im Umfeld des Mars drei blasse Lichtpünktchen sah, drei unendlich weit entfernte, winzige Sterne, umgeben von der unergründlichen Schwärze des Weltalls. Sie wissen ja, wie diese Schwärze aussieht, in einer frostigen, sternklaren Winternacht. Im Teleskop ist sie noch weitaus tiefer. Aber unsichtbar für mich, weil es so klein und so weit weg war, näherte sich dieses Ding, das sie uns schickten. Dieses Ding, das so viel Krieg, Unglück und Tod auf der Erde verursachen sollte, flog rasch und gleichmäßig auf mich zu, überwand den riesigen Abstand mit zigtausend Meilen in der Minute. Ich hätte im Traum nicht daran gedacht, als ich da hinaufsah; niemand auf der Erde hätte an dieses unfehlbare Geschoss gedacht.
In dieser Nacht gab es einen weiteren Ausbruch von Gas auf dem fernen Planeten. Ich sah ihn. Ein roter Blitz am Rand, eine leichte Ausbuchtung der Kontur – genau als es Mitternacht schlug. Ich sagte es Ogilvy, und er nahm meinen Platz ein. Die Nacht war warm, und ich hatte Durst. Ich streckte ungeschickt meine Beine und tastete in der Dunkelheit nach dem kleinen Tisch mit dem Sodawasser. Ogilvy schrie auf, als er die Gasfahne sah, die auf uns zuschoss.
Ein weiteres unsichtbares Geschoss machte sich in dieser Nacht vom Mars auf den Weg zur Erde, genau vierundzwanzig Stunden nach dem ersten, vielleicht sogar noch eine Sekunde früher. Ich erinnere mich, wie ich mich in der Dunkelheit an den Tisch setzte, während rote und grüne Punkte vor meinen Augen schwammen. Ich wünschte mir, ich hätte ein Streichholz da, um zu rauchen. Davon, was das winzige Flackern bedeutete, das ich gesehen hatte, und was es uns bringen würde, hatte ich keinerlei Vorstellung. Ogilvy setzte seine Beobachtung bis ein Uhr fort, dann gab er auf. Wir steckten die Laterne an und wanderten zu seinem Haus hinüber. Unten in der Dunkelheit lagen Ottershaw und Chertsey, wo Hunderte in Frieden schliefen.
Ogilvy spekulierte in dieser Nacht eine Menge über die Bedingungen auf dem Mars, lachte aber sehr über die vulgäre Vorstellung, dass es dort Wesen geben könnte, die uns Signale schickten. Er glaubte, dass ein Meteoritenschwarm den Planeten getroffen hätte oder dass dort ein Vulkanausbruch stattfand. Er wies darauf hin, wie unwahrscheinlich es sei, dass die organische Evolution auf zwei Nachbarplaneten dieselbe Entwicklung genommen hatte.
»Die Chancen, dass es irgendetwas Menschenähnliches auf dem Mars gibt, stehen eins zu einer Million«, sagte er.
Hunderte von Beobachtern sahen die Flammen in dieser Nacht und in der danach. Und in der nächsten Nacht ebenfalls, und so ging es noch zehn Nächte lang, jede Nacht eine Flamme, immer um Mitternacht. Warum die Eruptionen nach der zehnten Nacht aufhörten, hat niemand zu erklären versucht. Es könnte sein, dass den Marsianern die Abschussgase Beschwerden bereitet haben. Mit starken Teleskopen konnte man jedenfalls graue, fluktuierende Flecken in der klaren Atmosphäre des Planeten sehen – dichte Staub- oder Rauchwolken, hinter denen die vertrauteren Konturen verschwanden.
Schließlich wurden auch die Tageszeitungen auf die Störungen aufmerksam. Hier und da und überall erschienen volkstümliche Artikel über die Vulkane auf dem Mars. Ich erinnere mich an eine sehr gelungene politische Karikatur in der Satirezeitschrift Punch. Und die ganze Zeit rauschten die von den Marsianern abgefeuerten Geschosse mit einer Geschwindigkeit von mehreren Meilen pro Sekunde durch den leeren Raum auf uns zu, ohne dass jemand es ahnte. Jeden Tag, jede Stunde. Näher und näher. Heute erscheint es mir fast unglaublich, dass die Menschen so sorglos ihren albernen kleinen Geschäften nachgehen konnten, während dieses Schicksal über uns hing. Ich weiß noch, wie sich Markham freute, als er für die Illustrierte, die er damals betreute, ein neues Foto des Planeten aufgetrieben hatte. Die Leute von heute können sich die Fülle und den Unternehmergeist der Presse im neunzehnten Jahrhundert vermutlich gar nicht mehr vorstellen. Ich selbst war vor allem damit beschäftigt, Fahrrad fahren zu lernen und eine Reihe von Artikeln zu schreiben, in denen ich darüber spekulierte, wie sich beim Fortschritt der Zivilisation die moralischen Ideen entwickeln.
Eines Abends (da war das erste Geschoss wahrscheinlich nur noch zehn Millionen Meilen entfernt) habe ich mit meiner Frau einen Spaziergang gemacht. Es war eine sternklare Nacht, und ich erklärte ihr die Sternbilder. Ich zeigte ihr auch den Mars, einen hellen Lichtpunkt, der dem Zenit entgegenstrebte, während sich so viele Teleskope auf ihn richteten. Die Nacht war warm. Auf dem Heimweg kam eine Gruppe von singenden und musizierenden Ausflüglern aus Chertsey oder Isleworth an uns vorbei. In den oberen Fenstern der Häuser brannten Lichter, als die Leute zu Bett gingen. Vom Bahnhof hörte man das Klirren und Rumpeln rangierender Züge, das aus der Entfernung fast wie Musik klang. Meine Frau wies mich auf die roten, grünen und gelben Signallichter hin, die vor dem Himmel in ihren Gestellen hingen. Es schien alles so sicher und ruhig.
Dann kam die Nacht des ersten fallenden Sterns. Er wurde in den frühen Morgenstunden beobachtet, als er in östlicher Richtung über Winchester flog: ein heller Flammenstreifen, hoch in der Atmosphäre. Hunderte müssen ihn gesehen und für eine gewöhnliche Sternschnuppe gehalten haben. Nach der Beschreibung von Albin hinterließ er einen grünlichen Streifen, der ein paar Sekunden lang glühte. Denning, unsere größte Autorität in Sachen Meteoriten, stellte fest, dass er zuerst in einer Höhe von ungefähr neunzig oder hundert Meilen erschien. Er hatte den Eindruck, dass er etwa hundert Meilen weiter östlich zur Erde fiel.
Ich war zu dieser Stunde noch wach und schrieb in meinem Arbeitszimmer. Aber obwohl meine französischen Fenster Richtung Ottershaw gehen und die Jalousien oben waren (ich liebte es in jenen Tagen, zum nächtlichen Himmel hinaufzusehen), bemerkte ich nichts davon. Und doch muss dieses merkwürdige Ding aus dem Weltraum zur Erde gefallen sein, während ich am Schreibtisch saß, und wäre wohl sichtbar für mich gewesen, wenn ich nur aufgeschaut hätte, als es vorbeiflog. Einige, die es gesehen haben, behaupten, es sei mit einem zischenden Geräusch vorbeigesaust. Ich habe nichts dergleichen gehört. Viele Menschen in Berkshire, Surrey und Middlesex müssen gesehen haben, wie es herunterkam, aber sie dachten wahrscheinlich nur, es sei ein weiterer Meteoriteneinschlag. Niemand scheint sich in dieser Nacht auf die Suche nach den Überresten gemacht zu haben.
Nur der arme Ogilvy, der den Absturz gesehen hatte und überzeugt war, dass irgendwo auf dem Gemeindeland zwischen Horsell, Ottershaw und Woking ein Meteorit lag, stand früh am Morgen auf, um ihn zu suchen. Er fand ihn auch tatsächlich, kurz nach Anbruch der Dämmerung, nicht weit entfernt von den Sandgruben. Der Einschlag des Projektils hatte ein riesiges Loch verursacht. Sand und Kies waren in allen Richtungen über die Heide verteilt, und die Schutthaufen waren noch aus anderthalb Meilen Entfernung zu sehen. In östlicher Richtung brannte die Heide, und dünner blauer Rauch stieg vor der Dämmerung auf.
Das Ding selbst lag fast völlig im Sand vergraben, umgeben von den verstreuten Splittern einer Kiefer, die es beim Absturz zerschmettert hatte. Der freiliegende Teil hatte das Aussehen eines riesigen, verkrusteten Zylinders, dessen Oberfläche von dicken, bräunlichen Schuppen bedeckt war. Der Durchmesser betrug etwa dreißig Meter. Ogilvy näherte sich dem Objekt, nicht nur von der Größe, sondern auch von der Form überrascht, denn die meisten Meteoriten sind nahezu vollkommen rund. Allerdings war das Objekt vom Passieren der Atmosphäre noch immer so heiß, dass jede weitere Annäherung sich verbot. Die Geräusche aus dem Inneren schrieb Ogilvy der ungleichmäßigen Abkühlung an der Oberfläche zu; denn zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht auf die Idee gekommen, dass der Zylinder hohl sein könnte.
Er blieb am Rand des Einschlagkraters stehen und starrte die befremdliche Erscheinung an, wobei er vor allem über die ungewöhnliche Form und Farbe des Objekts staunte und zum ersten Mal eine gewisse Absicht hinter seiner Ankunft zu ahnen begann. Der frühe Morgen war herrlich still, und die Sonne, die gerade über den Kiefern bei Weybridge aufstieg, war schon sehr warm. Er erinnerte sich nicht, an diesem Morgen irgendwelche Vögel gehört zu haben, es rührte sich kein Lüftchen, und die einzigen Geräusche waren die schwachen Bewegungen aus dem verkohlten Zylinder. Ogilvy war ganz allein auf der Heide.
Dann merkte er plötzlich, dass einige der grauen, verkrusteten Kacheln, die den Meteoriten bedeckten, sich vom runden Ende des Zylinders zu lösen begannen. Sie fielen wie Schuppen herunter und regneten in den Sand. Plötzlich platzte eine große Platte ab und klirrte mit einem scharfen Geräusch zu Boden. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Eine Minute lang merkte er gar nicht, was das zu bedeuten hatte. Trotz der Hitze kletterte er in die Grube hinunter, um sich das Ding genauer anzusehen. Er glaubte immer noch, dass die Abkühlung des Meteoriten für all das verantwortlich war. Gestört wurde diese Vorstellung allerdings dadurch, dass die Schuppen nur vom Ende des Flugkörpers abfielen.
Und dann sah er, dass sich der Deckel des Zylinders ganz langsam zu drehen begonnen hatte. Die Bewegung war so geringfügig, dass er sie nur deshalb erkannte, weil sich ein schwarzer Strich, der vor fünf Minuten noch neben ihm gewesen war, jetzt auf der anderen Seite befand. Selbst da verstand er noch nicht richtig, was das bedeutete, jedenfalls so lange nicht, bis er ein unterdrücktes Kratzen hörte und den Strich einen Zoll vorrücken sah. Da fiel es ihm blitzartig ein: Der Zylinder war ein Artefakt. Er war hohl und man konnte den Deckel abschrauben! Irgendetwas im Inneren des Zylinders schraubte den Deckel ab!
»Gütiger Himmel!«, sagte Ogilvy. »Da ist jemand drin – da sind Menschen drin! Halb zu Tode geröstet! Sie versuchen, da rauszukommen!« Und schon brachte ein schneller Gedankensprung das Ding mit dem Blitz auf dem Mars in Verbindung.
Der Gedanke an die eingesperrte Kreatur erschien ihm so schrecklich, dass er die Hitze ganz vergaß und auf den Zylinder zutrat, um mitzudrehen. Glücklicherweise hinderte ihn die dumpfe Hitze, ehe er sich die Hände an dem glühenden Metall verbrannte. Daraufhin blieb er noch einen Augenblick unentschlossen stehen, dann wandte er sich ab, kletterte aus der Grube und rannte wie rasend nach Woking hinunter. Das muss so gegen sechs Uhr morgens gewesen sein. Er stieß auf einen Fuhrmann und versuchte ihm begreiflich zu machen, was er gesehen hatte, aber sein Bericht und sein Aussehen waren so wild – er hatte seinen Hut in der Grube verloren –, dass der Mann einfach weiterfuhr. Ähnlich erfolglos war er bei einem Kellner, der gerade die Tür des Gasthofs an der Brücke aufschloss. Der Bursche dachte, er wäre ein entsprungener Irrer, und machte einen erfolglosen Versuch, ihn im Schankraum einzusperren. Das ernüchterte ihn erheblich, und erst als er Henderson, den Londoner Journalisten, in seinem Garten sah, rief er wieder über den Zaun und machte sich endlich verständlich.
»Henderson«, rief er. »Haben Sie die Sternschnuppe von letzter Nacht gesehen?«
»Was ist damit?«, fragte Henderson.
»Die liegt jetzt draußen auf dem Horsell Common.«
»Gütiger Himmel!«, sagte Henderson. »Ein Meteorit! Das ist interessant.«
»Das ist nicht bloß ein Meteorit. Es ist ein Zylinder – ein künstlicher Zylinder, Mann! Und es ist etwas drin.«
Henderson stand auf, den Spaten in seiner Hand. »Wie bitte?«, fragte er. Er war auf einem Ohr taub.
Ogilvy erzählte ihm alles, was er gesehen hatte. Henderson brauchte ungefähr eine Minute, um zu verstehen. Dann ließ er seinen Spaten fallen, schnappte sich seine Jacke und kam auf die Straße. Die beiden Männer rannten eilig zurück auf die Heide und fanden den Zylinder immer noch in derselben Lage vor. Aber die Geräusche im Inneren hatten aufgehört, und zwischen dem Deckel und dem Zylinder zeigte sich jetzt ein schmaler Streifen blankes Metall. Mit einem dünnen Zischen schien Luft am Rand einzudringen oder auch zu entweichen.
Sie lauschten, schlugen mit einem Stock auf den Deckel, und als sie keine Reaktion feststellen konnten, kamen sie zu dem Schluss, dass der Mann oder die Männer im Inneren tot oder bewusstlos sein müssten.
Natürlich waren die beiden nicht in der Lage, etwas zu tun. Sie riefen ein paar Trostworte und Versprechungen und kehrten dann in die Stadt zurück, um Hilfe zu holen. Man kann es sich sehr gut vorstellen, wie sie, mit Sand bedeckt, aufgeregt und durcheinander, im hellen Sonnenlicht die kleine Straße hinunterliefen, während die Ladenbesitzer die Läden aufstießen und die Hausfrauen die Betten ausschüttelten. Henderson betrat als Erstes den Bahnhof, um die Neuigkeit nach London zu telegrafieren. Die Zeitungsartikel hatten die Leute schon auf die Nachricht vorbereitet.
Gegen acht zog eine Anzahl Arbeitsloser und junger Burschen auf die Heide hinaus, um sich die »toten Männer vom Mars« anzusehen. Das war die Form, die die Geschichte angenommen hatte. Ich hörte sie zuerst von meinem Zeitungsjungen, als ich um Viertel vor neun aus dem Haus ging, um mir den Daily Chronicle zu holen. Ich war natürlich sehr verblüfft und verlor keine Zeit, sondern machte mich sofort auf den Weg zu den Sandgruben.
Ich stieß auf eine kleine Versammlung von vielleicht zwanzig Leuten, die um das große Loch herumstanden, in dem der Zylinder lag. Das Äußere dieses kolossalen, im Boden vergrabenen Flugkörpers habe ich schon beschrieben. Der Rasen und Sand in seiner Umgebung waren verkohlt wie von einer plötzlichen Explosion. Der Einschlag hatte ohne Zweifel ein heftiges Feuer ausgelöst. Henderson und Ogilvy waren nicht zu sehen. Ich nehme an, sie hatten erkannt, dass man gegenwärtig nichts unternehmen konnte, und waren zu Hendersons Haus gegangen, um erst mal zu frühstücken.
Vier oder fünf kleine Jungen saßen am Rand der Grube, baumelten mit den Füßen und vergnügten sich damit, Steine auf den Zylinder zu werfen, was ich ihnen alsbald verbot. Daraufhin begannen sie zwischen den herumstehenden Schaulustigen Fangen zu spielen.
Zu diesen gehörten einige Radfahrer, ein Gärtner, den ich manchmal beschäftigte, ein Mädchen mit einem Baby, der Fleischer Gregg mit seinem kleinen Sohn und zwei, drei Müßiggänger und Caddys, die sonst meist am Bahnhof herumhingen. Es wurde wenig geredet. In jenen Tagen hatten die einfachen Leute in England nur sehr vage Vorstellungen von der Astronomie. Die meisten starrten nur still auf den tischartigen Deckel des großen Zylinders, der immer noch im selben Zustand war, wie Henderson und Ogilvy ihn zurückgelassen hatten. Ich nehme an, die allgemeine Erwartung, einen Haufen verbrannter Leichen zu sehen, wurde von dem leblosen Klumpen enttäuscht. Manche gingen wieder weg, während ich dastand, andere kamen dazu. Ich kletterte in die Grube hinunter und bildete mir ein, eine schwache Bewegung unter den Füßen zu spüren. Aber der Deckel hatte aufgehört, sich zu drehen.
Erst als ich so nahe herankam, wurde mir bewusst, wie fremdartig dieses Objekt war. Auf den ersten Blick war es nicht viel aufregender als ein umgekippter Karren oder ein Baum gewesen, der über die Straße gefallen war. Eigentlich eher weniger aufregend. Es sah so ähnlich wie ein halb vergrabener, rostiger Gasometer aus. Es bedurfte schon einer gewissen naturwissenschaftlichen Bildung, um wahrzunehmen, dass die grauen Schuppen auf der Außenseite kein gewöhnliches Oxyd waren und das gelblich weiße Metall, das zwischen dem Deckel und dem Zylinder glänzte, eine ungewöhnliche Tönung aufwies. Aber das Wort »außerirdisch« hätte den meisten der anwesenden Zuschauer wahrscheinlich wenig bedeutet.
Für mich war inzwischen ganz klar, dass der Zylinder vom Planeten Mars gekommen sein musste, aber ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sich irgendwelche Lebewesen darin befanden. Ich dachte, das Aufschrauben des Deckels sei irgendwie automatisch erfolgt. Trotz Ogilvys gegenteiligen Behauptungen glaubte ich aber immer noch, dass es auf dem Mars Menschen gab. Im Geiste malte ich mir etwaige Manuskripte aus, die der Zylinder möglicherweise enthielt, und was es für Schwierigkeiten geben könnte bei der Übersetzung. Ich fragte mich, ob wir Münzen oder Modelle finden würden, und so weiter. Er war allerdings etwas zu groß, als dass ich mir gleich Gewissheit hinsichtlich dieser Fragen hätte verschaffen können. Ungeduldig hoffte ich, dass er bald geöffnet würde. Als gegen elf noch immer nichts passiert war, wanderte ich von solchen Überlegungen erfüllt zu meinem Haus in Maybury zurück. Ich fand es allerdings sehr schwierig, mich wieder auf meine abstrakten Forschungen zu konzentrieren.
Am Nachmittag sah es auf der Heide ganz anders aus. Die ersten Ausgaben der Abendzeitungen hatten London mit enormen Schlagzeilen aufgeschreckt:
BOTSCHAFT VOM MARS EINGETROFFEN
Bemerkenswerte Berichte aus Woking
und so weiter. Außerdem hatte Ogilvys Telegramm an die Astronomische Gesellschaft sämtliche Observatorien in den drei Königreichen alarmiert.
Auf der Straße neben den Sandgruben standen ein halbes Dutzend Droschken vom Bahnhof in Woking, ein einspänniger Korbwagen aus Chobham und eine herrschaftliche Kutsche. Daneben gab es einen großen Haufen Fahrräder. Außerdem müssen trotz der Hitze viele Leute zu Fuß aus Woking und Chertsey heraufgekommen sein, sodass sich eine ganz beträchtliche Menschenmenge versammelt hatte – darunter auch zwei bunt gekleidete Damen.
Es war glühend heiß, keine Wolke am Himmel. Kein Lüftchen rührte sich, und der einzige Schatten stammte von ein paar verstreuten Kiefern. Die brennende Heide war gelöscht worden, aber das flache Gelände in Richtung Ottershaw war schwarz verkohlt, so weit man sehen konnte, und überall stiegen Rauchfahnen auf. Ein unternehmerisch denkender Händler aus der Chobham Road hatte seinen Sohn mit einer Schubkarre voll grüner Äpfel und Ingwerbier heraufgeschickt.
Ich ging zum Rand der Grube und fand dort ein halbes Dutzend Männer vor, zu denen Henderson, Ogilvy und ein großer Blonder gehörten, von dem ich später erfuhr, dass es der Königliche Astronom Stent war. Einige Arbeiter waren mit Spaten und Schaufeln beschäftigt. Stent gab mit klarer, schriller Stimme seine Befehle. Er stand auf dem Zylinder, der offenbar stark abgekühlt war; sein Gesicht war dunkelrot und schweißbedeckt. Irgendetwas schien ihn geärgert zu haben.
Ein großer Teil des Zylinders war schon ausgegraben, doch das untere Ende war immer noch verschüttet. Als Ogilvy mich unter den Schaulustigen am Rand der Grube entdeckte, rief er mich herunter und fragte, ob ich zu Lord Hilton, dem Gutsherrn, gehen könne.
Die wachsende Menge werde allmählich zu einem ernsthaften Hindernis bei den Ausgrabungsarbeiten, besonders die kleinen Jungen. Sie hätten gern eine leichte Absperrung errichtet, um die Leute zurückzuhalten. Er sagte mir, man könne immer noch leise Geräusche aus dem Inneren des Zylinders hören, aber es sei den Arbeitern nicht gelungen, den Deckel abzuschrauben, da er keinen Ansatzpunkt biete. Die Hülle des Zylinders scheine enorm dick zu sein, und es sei nicht ausgeschlossen, dass die leisen Geräusche auf einen lauten Tumult im Inneren zurückgingen.
Ich war gern bereit, seinem Wunsch Folge zu leisten, und wurde auf diese Weise zu einem der privilegierten Beobachter innerhalb der geplanten Absperrung. Lord Hilton traf ich im Gutshaus nicht an, aber man sagte mir, er werde mit dem Sechs-Uhr-Zug von Waterloo erwartet, und da es inzwischen Viertel nach fünf war, ging ich nach Hause, trank eine Tasse Tee und machte mich dann auf den Weg zum Bahnhof, um ihn dort abzufangen.
Als ich auf die Heide zurückkehrte, ging die Sonne allmählich unter. Gruppen von Zuschauern eilten weiter aus Woking heran, während ein, zwei Leute dorthin zurückkehrten. Die Menschenmenge an der Grube war größer geworden – ein paar hundert Leute vielleicht – und hob sich schwarz vor dem Zitronengelb des Himmels ab. Man hörte laute Stimmen, und an der Grube schien es Streit zu geben. Seltsame Gedanken geisterten mir durch den Kopf. Als ich näher kam, erkannte ich die Stimme von Stent.
»Abstand halten! Abstand halten!«
Ein kleiner Junge kam auf mich zugelaufen. »Es bewegt sich«, sagte er, als er an mir vorbeikam. »Dreht sich immer weiter raus. Gefällt mir nich’. Ich geh jetz’ heim.«
Ich mischte mich unter die Menge. Es drängten sich inzwischen mindestens zwei-, dreihundert Leute um die Grube und schubsten und stießen sich mit den Ellbogen. Auch die wenigen anwesenden Damen waren dabei sehr aktiv.
»Er ist in die Grube gefallen!«, rief jemand.
»Abstand halten!«, sagten mehrere Leute.
Die Menge wankte etwas, und es gelang mir, mich durchzuboxen. Alle schienen sehr aufgeregt. Aus der Grube hörte ich ein eigenartiges Summen.
»Also bitte!«, rief Ogilvy. »Helfen Sie mir, diese Idioten zurückzuhalten! Wir wissen ja gar nicht, was in dem verdammten Ding drinsteckt!«
Ich sah einen jungen Mann aus Woking, ich glaube, er war Verkäufer, der auf dem Zylinder stand und aus dem Loch herauszuklettern versuchte. Die Menge hatte ihn hineingestoßen.
Der Deckel des Zylinders wurde von innen her aufgeschraubt. Inzwischen waren schon zwei Fuß des schimmernden Gewindes zu sehen. Jemand rempelte mich von hinten an, und ich wäre fast auf den Zylinder hinuntergefallen. Ich drehte mich um, und in diesem Augenblick muss der Verschluss herausgedreht worden sein. Der Deckel fiel mit einem klingenden Aufprall zu Boden. Ich stieß meinen Ellbogen in die Person hinter mir und wandte mich wieder dem Flugkörper zu. Einen Augenblick lang blieb die kreisrunde Öffnung vollkommen schwarz. Allerdings war ich auch von der untergehenden Sonne geblendet.
Ich glaube, jedermann erwartete, dass ein Mensch heraussteigen würde – vielleicht ein bisschen anders als wir irdischen Menschen, aber im Wesentlichen ein Mensch. Ich weiß jedenfalls, dass ich das erwartete. Und als ich genauer hinsah, bemerkte ich plötzlich, dass sich da im Schatten tatsächlich etwas bewegte – graue, wogende Bewegungen, eine über der anderen, und dann erkannte ich zwei leuchtende, augenähnliche Scheiben. Etwas Schlangenartiges, etwa so dick wie ein Wanderstock, ringelte sich aus der sich windenden Masse und reckte sich mir entgegen. Dann folgte ein zweites.
Ein Frösteln überlief mich. Eine Frau hinter mir kreischte laut. Ich drehte mich halb herum, hielt meine Augen aber weiter auf den Zylinder gerichtet, aus dem jetzt noch mehr Tentakel herausquollen. Eilig schob ich mich vom Rand der Grube weg und sah, wie sich das Erstaunen auf den Gesichtern hinter mir in Entsetzen verwandelte. Von allen Seiten hörte ich wirre Schreie. Es gab eine heftige Rückzugsbewegung. Der Verkäufer zappelte immer noch an der Kante der Grube.
Plötzlich war ich ganz allein, und sah die Leute auf der anderen Seite der Grube davonlaufen, unter ihnen auch Stent. Ich warf einen weiteren Blick auf den Zylinder, und ein unbändiger Schrecken erfasste mich. Versteinert stand ich da und starrte.
Ein schwerer grauer Körper, in etwa so groß wie ein Bär, erhob sich langsam und mühsam aus dem Zylinder. Als er sich herauswölbte und ins Licht geriet, glänzte er wie nasses Leder. Zwei große dunkle Augen sahen mich stetig an. Sie waren von einer runden Masse umgeben, die eine Art Gesicht bildete. Unter den Augen war ein keuchendes Maul, von dessen lippenlosem, sabberndem Rand der Speichel herabtropfte. Der pulsierende Körper hob und senkte sich krampfartig. Ein schlanker Fangarm hielt sich am Rand des Zylinders fest, während ein weiterer in der Luft herumfuhr und suchte.
Wer noch nie einen lebenden Marsianer gesehen hat, kann sich ihr scheußliches Aussehen kaum vorstellen. Das eigenartige, V-förmige Maul mit der spitzen Oberlippe, das Fehlen von Augenbrauen und Stirn, die Abwesenheit eines Kinns unter der keilförmigen Unterlippe, das unablässige Zittern des Mauls, das Bündel von Fangarmen, das Röcheln in der fremden Atmosphäre, die wegen der größeren Schwerkraft der Erde mühseligen, angestrengten Bewegungen, vor allem aber die Intensität der riesigen Augen – lösten Übelkeit in mir aus. Die ölige braune Haut wirkte irgendwie pilzig, und die berechnenden, trägen Bewegungen waren unsagbar schrecklich. Schon bei dieser ersten Begegnung, diesem ersten kurzen Blick, war ich von Abscheu und Furcht überwältigt.
Plötzlich verschwand das Monster. Es war über den Rand des Zylinders gekippt und mit einem schweren Schlag in die Grube gestürzt wie ein Klumpen aus Leder. Ich hörte, wie es einen dumpfen Schrei ausstieß, aber schon erschien eine weitere dieser Kreaturen in den schwarzen Schatten der Öffnung.
Bei diesem Anblick löste sich meine Schreckstarre. Ich drehte mich um und rannte wie verrückt auf die nächste, etwa hundert Meter entfernte Baumgruppe zu; aber ich lief kreuz und quer und stolperte immer wieder, weil ich den Blick nicht von den Monstern abwenden konnte.
Zwischen den jungen Kiefern und Ginsterbüschen blieb ich keuchend stehen und wartete ab, was weiter geschehen würde. Die Heide rund um die Sandgruben war gesprenkelt mit Leuten, die ebenso erschrocken wie fasziniert auf diese Kreaturen oder eigentlich auf die Sandhaufen rund um die Grube starrten, in der sie sich aufhielten. Dann sah ich mit neuem Entsetzen ein rundes, schwarzes Objekt, das am Rand der Grube auf und nieder hüpfte. Es war der Kopf des Verkäufers, der hineingefallen war, sah aber vor dem rotglühenden Abendhimmel nur wie ein schwarzer Knopf aus. Einmal kriegte er sein Knie und die Schultern hoch, dann rutschte er wieder hinunter, und nur sein Kopf war noch sichtbar. Plötzlich verschwand er ganz, und ich bildete mir ein, dass ein schwacher Schrei mich erreichte. Ich spürte einen kurzfristigen Impuls, zurückzugehen und ihm zu helfen, aber die Angst war zu groß.
Es war jetzt nichts mehr zu sehen. Alles war in der tiefen Grube verborgen, und hinter den vom Einschlag des Zylinders aufgeworfenen Sandhaufen. Wer jetzt von Chobham oder Woking heraufgekommen wäre, wäre sicher verblüfft gewesen, eine stetig abnehmende Menschenmenge von etwa hundert Personen zu sehen, die in einem unregelmäßigen Kreis hinter Gräben, Büschen, Hecken und Zäunen standen, wenig miteinander redeten, sondern sich nur mit kurzen, aufgeregten Rufen verständigten – und dabei angestrengt auf ein paar Sandhaufen starrten. Das Fass mit dem Ingwerbier hob sich als wunderliches Relikt vor dem brennenden Himmel ab, und in den Sandgruben stand eine Reihe von verlassenen Kutschen, deren Pferde aus ihren Futtersäcken fraßen oder mit den Hufen im Sand scharrten.
Nach dem kurzen Blick, den ich auf die Marsianer geworfen hatte, als sie aus dem Zylinder kletterten, lähmte mich eine eigenartige Faszination. Ich stand immer noch knietief im Heidekraut und starrte auf den Hügel, hinter dem sie verborgen waren. In mir tobte eine Schlacht zwischen Neugier und Furcht.
Zur Grube zurückzukehren wagte ich nicht, spürte aber ein dringendes Verlangen hineinzuspähen. Ich begann in einem großen Bogen darum herumzugehen und suchte nach einem erhöhten Standort; dabei behielt ich den Sandhaufen ständig im Auge, der die Neuankömmlinge auf unserer Erde verbarg. Einmal peitschte ein Bündel schwarzer Fangarme durch den Sonnenuntergang und wurde sofort wieder zurückgezogen; dann erhob sich Stück für Stück eine dünne Stange mit einer runden Scheibe an der Spitze, die eine unregelmäßige Kreisbewegung vollzog. Was ging da vor?
Die Zuschauer hatten inzwischen zwei Gruppen gebildet – die eine in Richtung Woking und die andere in Richtung Chobham. Offensichtlich teilten sie meinen inneren Widerstreit. In meiner unmittelbaren Umgebung waren nur wenige. Ich näherte mich einem der Männer – es war einer meiner Nachbarn, dessen Name mir allerdings nicht geläufig war. Ich nickte ihm zu. Es war kein Ort für eine ausführliche Unterhaltung.
»Was für hässliche Viecher!«, sagte er. »Gütiger Gott! Was für hässliche Viecher!« Das wiederholte er immer wieder.
»Haben Sie einen Mann in der Grube gesehen?«, fragte ich, aber darauf gab er keine Antwort. Wir verstummten, standen eine Weile beobachtend nebeneinander und bezogen, glaube ich, einen gewissen Trost aus der Gesellschaft des jeweils anderen. Dann stieg ich auf einen kleinen Erdhügel, der mir einen um einen Meter erhöhten Standort verschaffte, und als ich mich nach dem Mann umdrehte, sah ich ihn in Richtung Woking davongehen.
Der Sonnenuntergang wurde zur Abenddämmerung, ohne dass noch etwas geschah. Die Menge auf der linken Seite, in Richtung Woking, schien jetzt zu wachsen, und ich hörte ein schwaches Murmeln von dort. Die kleine Gruppe in Richtung Chobham hatte sich aufgelöst. Aus der Grube hörte man kaum eine Regung.
Das machte die Leute wohl wieder mutiger, und ich denke, dass auch die Neuzugänge aus Woking das Selbstvertrauen erheblich stärkten. Jedenfalls begann mit fortschreitender Dämmerung ein langsamer, unregelmäßiger Vormarsch, eine Bewegung, die an Stärke zunahm, da es rund um den Zylinder weiterhin abendlich still blieb. Aufrechte schwarze Gestalten näherten sich in Zweier- und Dreiergruppen, blieben stehen, um zu beobachten, gingen dann weiter vor und schwärmten dabei in einem dünnen Halbkreis aus, dessen beide Enden die Grube fast völlig umschlossen. Auch ich ging auf meiner Seite wieder gegen die Grube vor.
Dann sah ich, dass einige Droschkenkutscher und andere sich kühn in die Sandgruben vorgewagt hatten. Ich hörte Hufgeklapper und das Knirschen der Räder. Ein junger Bursche fuhr die Schubkarre mit den Äpfeln weg. Und dann sah ich, kaum dreißig Meter von der Grube entfernt, eine kleine Gruppe von Männern aus Horsell heraufkommen, von denen der vorderste eine weiße Fahne schwenkte.
Das war die Delegation. Es hatte eine hastige Versammlung gegeben, und da die Marsianer trotz ihres widerlichen Äußeren offenbar intelligente Wesen waren, hatte man beschlossen, ihnen mit entsprechenden Zeichen zu zeigen, dass wir ebenfalls vernunftbegabt waren.
Flatter, flatter ging die Fahne, erst nach rechts, dann nach links. Ich war zu weit weg, um irgendwen zu erkennen, aber später erfuhr ich, dass Ogilvy, Stent und Henderson zusammen mit anderen an diesem Verständigungsversuch beteiligt gewesen waren. Die Delegation hatte bei ihrem Vormarsch den fast geschlossenen Zuschauerkreis ein Stück mitgezogen, und etliche schwarze Schatten folgten ihr in vernünftigem Abstand.
Plötzlich blitzte ein helles Licht auf und eine leuchtend grüne Rauchsäule stieg aus der Grube. In drei heftigen Stößen erhob sie sich in die stille Luft.
Der Rauch (oder vielleicht sollte man eher von einer Flamme sprechen) war so hell, dass der tiefblaue Himmel und die braune Heide in Richtung Chertsey mit ihren schwarzen Kiefern danach plötzlich ganz finster wirkten und auch völlig dunkel blieben, als der Rauch sich zerstreut hatte. Gleichzeitig hörte man ein schwaches Zischen.
Auf der anderen Seite der Grube verharrte der kleine Stoßtrupp mit der weißen Fahne und blieb nach diesen Erscheinungen wie erstarrt stehen: ein kleiner Klumpen von schwarzen Gestalten vor einem schwarzen Hintergrund. Als sich der grüne Rauch erhob, wurden ihre Gesichter blassgrün – und verdämmerten wieder, als er verschwand.
Dann verwandelte sich das Zischen allmählich in ein lautes, dröhnendes Brummen. Langsam erhob sich eine gekrümmte Gestalt aus der Grube, und ein geisterhafter Lichtstrahl flackerte daraus hervor.
Augenblicklich schossen aus der zerstreuten Gruppe von Männern zuckende Flammen hoch, ein greller Blitz, der vom einen zum anderen sprang. Es war, als hätte sie ein unsichtbarer Strahl getroffen und sie in weiße Glut verwandelt. Jeder einzelne wurde augenblicklich in Brand gesteckt.
Im Licht ihrer eigenen Vernichtung sah ich sie stolpern und fallen, während ihre Unterstützer davonliefen.
Ich stand da, starrte hinüber und hatte noch gar nicht begriffen, dass es der Tod war, der da in dieser kleinen Gruppe vom einen zum anderen sprang. Ich spürte nur, dass es sich um etwas sehr Fremdes handelte. Ein nahezu lautloser, blendender Lichtstrahl, und ein Mensch fiel tot um. Aber wenn der unsichtbare Hitzestrahl über sie hinglitt, gingen auch Kiefern in Flammen auf, und jeder trockene Ginsterbusch verwandelte sich mit einem dumpfen Krachen in einen Feuerball. Bis hin nach Knaphill sah ich, wie Bäume, Hecken und Holzbauten plötzlich zu brennen anfingen.
Er bewegte sich schnell und stetig im Kreis, dieser flammende Tod, dieses unsichtbare, unausweichliche Hitzeschwert. Die brennenden Büsche zeigten mir, dass es näher rückte und auf mich zukam, aber ich war zu erstaunt und gelähmt, um mich zu bewegen. Ich hörte das Krachen des Feuers und das angstvolle, jäh abbrechende Wiehern eines Pferdes in den Sandgruben. Dann schien ein unsichtbarer heißer Finger durch die Heide zwischen mir und den Marsianern gezogen zu werden, und entlang der gekrümmten Linie begann der Boden zu brennen. Es rauchte und knisterte. Weit links von mir, wo sich die Straße vom Bahnhof Woking zur Heide hin öffnet, fiel etwas Großes zu Boden. Dann hörte das Zischen und Brummen auf, und die schwarze Kuppel sank langsam wieder zurück in die Grube.
All dies war mit solcher Schnelligkeit vor sich gegangen, dass ich reglos stehen blieb, verwirrt und betäubt von den Lichtblitzen. Wenn der Todesstrahl seinen Kreis vollendet hätte, wäre ich in meiner Verwirrung auch umgekommen. Aber er verschonte mich und hinterließ eine Nacht, die plötzlich sehr finster und fremd war.
Die welligen Hügel erschienen so dunkel, dass sie beinahe schwarz waren, nur die Straßen lagen grau und bleich unter dem tiefblauen Nachthimmel. Alles war dunkel und plötzlich auch menschenleer. Die Sterne versammelten sich über mir, während der Himmel im Westen noch immer ein blasses Türkis zeigte. Die Baumkronen und die Dächer von Horsell hoben sich scharf und schwarz vor dem Widerschein ab. Von den Marsianern und ihren Geräten war nichts mehr zu sehen, mit Ausnahme der dünnen Stange und des daran befestigten Spiegels, der sich ruhelos drehte. Hier und da glühten und rauchten noch einzelne Büsche und Bäume, und die Häuser in Richtung des Bahnhofs von Woking schickten Flammensäulen in die stille Abendluft.
Abgesehen davon und einem schrecklichen Staunen hatte sich nichts geändert. Die kleine Gruppe schwarzer Punkte mit der weißen Fahne war ausgelöscht worden, aber die Stille des Abends, so schien mir, war ungebrochen.
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich ganz hilflos, ungeschützt und allein auf dieser schwarzen Heide stand. Wie von außen senkte sich etwas Schweres auf mich herab – nackte Angst.
Ich gab mir einen Ruck und fing stolpernd an, durch die Heide zu rennen.