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Das weiße Herz ist mein viertes Buch und mein erstes, zu dem ich ein Vorwort schreibe: Es ist also an der Zeit. Keine meiner bisherigen Geschichten hat ein solches Eigenleben entwickelt wie diese, und keine hat meine Zeit- und Arbeitsstruktur so sehr über den Haufen geworfen. Es ist nun immerhin knappe zwölf Monate her, dass ich das erste grobe Kurzexposé zum Weißen Herz abgespeichert habe (das mit der fertigen Geschichte nicht mehr so wahnsinnig viel zu tun hat), und in der Zwischenzeit ist viel in meinem privaten und beruflichen Leben passiert. Und doch war ich die ganze Zeit über bei Anna und ihrem geheimnisvollen Widersacher: dem dunklen Herzen aus dem gleichnamigen ersten Teil der Geschichte.
Jetzt steh ich am Ende des Nachfolgebandes, der für mich – vielleicht vorläufig, vielleicht auch endgültig – einen Abschluss markiert.
Das weiße Herz ist der zweite Band der Geschichte um die vierzehnjährige Anna, die mit ihren Eltern in Berlin lebt. Bei der Andacht für ihren älteren Bruder, der zehn Jahre zuvor im Kleinkindalter verschwand, wird Anna plötzlich aus dieser Welt in eine andere gerissen. Sie erwacht mit weiteren Gestrandeten in einer unwirtlichen Wüstenlandschaft mit einer verlassenen Ruinenstadt. Auf der Suche nach Wasser und Unterschlupf finden sich die Ankömmlinge zu Gruppen zusammen, in denen es bald auch um Macht geht. Ein brutaler Kerl namens Álvaro will die Kontrolle über sämtliche Wasser- und Nahrungsquellen erlangen und schreckt dabei auch nicht vor Gewalt zurück.
Anna freundet sich mit Nick an, einem jungen Griechen. Die beiden müssen zusehen, wie die Polin Jelena, zu der sie Vertrauen gefasst haben, von Álvaro und seinen Schergen niedergeschlagen wird. Aus Angst vor einem ähnlichen Schicksal fliehen die beiden aus Álvaros Machtbereich, um auf eigene Faust nach Antworten zu ihrem rätselhaften Schicksal zu suchen.
Anna und Nick stoßen auf eine Gruppe von Kindern, die sich in einer Art futuristischem Gewächshaus eingerichtet haben, das so gar nicht zu den übrigen primitiven Behausungen passt. Dort gibt es nicht nur Wasser, sondern auch Nahrung in Form von Früchten und Pflanzen. Anna und Nick warnen die Kinder um den störrischen Eric und seinen melancholischen Freund Peter vor Álvaro. Als Álvaros Männer tatsächlich auftauchen und Feuer legen, müssen Anna und Nick abermals fliehen.
Draußen in der Wüste stößt Anna plötzlich auf Spuren ihres verschwundenen Bruders. Ben muss es wie Anna bei seinem Verschwinden damals an diesen Ort verschlagen haben. Fieberhaft sucht Anna nach einem Lebenszeichen und stößt mit Nick auf einen geheimen Zugang unter die Wüstenoberfläche. Doch sie kommen zu spät: Von Ben ist nicht mehr als eine körperlose Stimme geblieben, und er lüftet mit der letzten verrinnenden Kraft seiner Seele das Geheimnis um das dunkle Herz, das hier unter der Oberfläche gefangen gehalten wird. Es ist ein Wesen aus purem Hass mit der Macht, ganze Welten zu vernichten, und es kann nur durch regelmäßige Opfer an diesen Ort gefesselt bleiben. Annas Bruder war ein solches Opfer, und es gibt nur einen Weg, wie Anna, Nick und die restlichen Gestrandeten diesem Schicksal entgehen können: Sie müssen alle gemeinsam unter die Stadt, um am dunklen Herzen vorbei das Tor nach Hause zu öffnen. Sie dürfen sich weder vom dunklen Herzen noch von dem geheimnisvollen alten Mann, der diesen Ort aus dem Verborgenen bewacht, daran hindern lassen, sonst werden sie die nächsten Opfer sein.
Doch das dunkle Herz schlägt mit seinen eigenen Waffen zurück und sät Misstrauen und Hass in die Herzen der Menschen. Zwischen Anna und dem starrköpfigen Eric eskaliert ein schrecklicher Streit. Eric stirbt, und Anna, die sich an seinem Tod schuldig fühlt, muss dem fassungslosen Peter davon berichten. Nur mit einer List schaffen sie es am Ende, trotz Álvaros Lügen und Intrigen beide Gruppen zusammenzuführen und unter die Stadt zu lotsen. Dort gibt sich der alte Mann als Nachfahre eines alten Volkes zu erkennen und überlässt es ihnen selbst, ob sie sich retten und damit dem dunklen Herzen die Freiheit geben, mit in ihre Welt zu kommen und dort Unheil anzurichten. Als der Alte zugibt, dass sie eigentlich alle als Opfer sterben sollten, bricht Chaos aus, und die Erwachsenen wie die Kinder stürzen auf das geöffnete Tor zu.
Anna wird von Nick getrennt und eilt ihrem Bruder nach, den sie zum ersten Mal körperlich sieht. Doch es ist nur ein Trugbild des dunklen Herzens. Um tatsächlich durch die Dunkelheit nach Hause zu finden, muss sie sich von ihrem Bruder verabschieden und ihre eigenen Schuldgefühle, ihn zurückzulassen, überwinden.
Als es ihr gelingt, erscheint sie wieder in der Trauerfeier, bei der scheinbar kaum ein Augenblick vergangen ist. Ihren Eltern erzählt sie nichts, aus Angst, für verrückt gehalten zu werden. So muss sie allein mit ihren albtraumhaften Erlebnissen fertigwerden. Schließlich erhält sie Nachricht von Nick, der sie auffordert, mit ihm und den anderen und unterstützt vom alten Mann gegen das dunkle Herz anzukämpfen. Hier knüpft Das weiße Herz an.
»Spasti! Hey, Spasti!«
Peter zuckte innerlich zusammen, als er Tylers Stimme hörte, doch er unterdrückte den Impuls davonzulaufen. Links von ihm verlief eine lange Backsteinmauer, rechts ging es in die Reihenhaus-Siedlung. Er war nicht schnell genug, sie abzuschütteln, und wenn sie ihn jagen konnten, würden sie nur noch mehr Spaß bei der Sache haben. Peter klammerte sich an die Riemen seiner Schultasche und blieb in seinem langsamen Trott, als wüsste er nicht, dass er gemeint war.
»Bist du schwerhörig, Spasti? Rennst du heim zu deiner Spasti-Mama?«
Tyler hatte ihn schon im Sandkasten drangsaliert. Obwohl Tylers Mutter Peters Mum versichert hatte, dass sie nach einem Sommer sicher beste Freunde sein würden, hatte Tyler ihm auch im Herbst noch den Plastikbagger auf dem Spielplatz abgeknöpft und im Winter Schnee in seinen Nacken und die Jacke hinuntergestopft, bis seine Lippen blau geworden waren. Und je besser Peter es hinbekommen hatte, Tyler aus dem Weg zu gehen, desto schlimmer waren ihre Begegnungen geworden.
Auch wenn Tyler zwei Klassen über ihm war, hatte er Peter nie aus den Augen verloren. Irgendwann hatte er ihn mit seiner ganzen Bande gejagt. Wenn sie ihn erwischt hatten (und sie hatten ihn meistens erwischt), hatte Tyler ihn zu Boden geschubst und auf den Rücken gezwungen. Er hatte ihm die Oberarme mit beiden Knien auf den Boden genagelt: Muskelreiten hieß das, und für Peter hatten die ständigen blauen Flecken irgendwann fast so sehr zu seinem Körper gehört wie das Muttermal an seinem linken Oberschenkel. Irgendwann hatte Tyler Peter aufgefordert, den Mund zu öffnen, als er am Boden lag. Peter hatte sich geweigert, aber Tyler hatte dennoch mit einem schmatzenden Geräusch, das von seinen Jungs johlend aufgenommen wurde, Spucke gesammelt und sie einfach genüsslich in Peters Gesicht tropfen lassen. Natürlich hatte Peter danach noch Prügel bekommen. Er glaubte eigentlich nicht, dass Tyler so pervers war, dass ihm die Sache mit dem Spucken wirklich gefiel. Er spielte einfach sein Spiel. Und er musste das Spiel jedes Mal ein bisschen weiter treiben, damit es spannend blieb.
Jemand rempelte Peter grob von hinten an, doch er fing sich im Stolpern.
Ich bin weit weg, dachte er und versuchte sich die Straße als einen langen Tunnel vorzustellen. Er konzentrierte sich auf das andere Ende, das kommen würde, wenn sie mit ihm fertig waren. Es würde kommen, egal was passierte.
»Was ist los, Spasti, kannst du nicht mal richtig laufen?«
Gelächter folgte, während sich der fünfzehnjährige Junge vor ihm aufbaute. Peter hatte das Gesicht vor Augen, ohne dazu aufsehen zu müssen.
»Hey!«, fuhr Tyler ihn an, doch Peter hielt den Blick gesenkt.
Er ignorierte Tyler nicht etwa aus Mut oder gar Stolz. Er wusste: Egal, was er tat, er konnte es nur schlimmer machen.
Eine Hand setzte sich auf seine Stirn und schob ihn grob zurück. Peter machte einen Ausfallschritt nach hinten, doch einer der anderen kickte ihm den Fuß weg, und er fiel auf den Rücken. Er spürte, wie seine Schultasche am Randstein aufplatzte und sich Hefte und Bücher über die Straße verteilten.
»Schaut ihn euch an, er kann nicht reden und nicht laufen, und auf den Füßen bleiben kann er auch nicht. Aber wen wundert’s.«
Peter hob den Blick, was ein Fehler war. Er sah direkt in Tylers hämisch funkelnde Augen.
»Die Wahrheit schmeckt dir wohl nicht, Spasti. Du bist behindert, genau wie deine Mutter. Weiß doch jeder. Na los, bringt ihm Respekt bei, Jungs!«
Respekt war ihm wichtig, denn davon sprach er viel. Peter hatte nur eine vage Vorstellung davon, was Respekt für Tyler genau bedeutete. Es hatte irgendetwas mit blauen Flecken zu tun, und mit dem Geschmack von Angst auf der Zunge, wenn man seine Stimme hörte.
Also brachten Tyler und sein Affengefolge ihm Respekt bei. Den ersten Tritt konnte Peter mit seinen Armen abwehren, doch als er sich zur Seite drehte, traf ihn der zweite mitten in der Magengrube. Ein heißer Schmerz bahnte sich seinen Weg durch Peters Eingeweide, und er übergab sich sofort über den Randstein.
»Mann, das war ein Volltreffer!«, lachten sie.
»Gott, wie erbärmlich!«, kommentierte Tyler. »Nicht mehr lang, dann ist er ein Penner. Genau wie sein erbärmlicher Vater.«
Ich bin weit weg, redete Peter sich weiter ein, doch das war nicht so einfach, wenn man gleichzeitig noch immer sein Pausenbrot herauswürgte. Der saure Mageninhalt brannte in seinem Rachen, und er hörte, wie jemand neben seinem Kopf nach seinen Büchern trat. Doch dann entfernten sich die Schritte. Das andere Ende des Tunnels war da: Sie zogen ab.
Nach einiger Zeit richtete sich Peter stöhnend auf. Er hatte zum Glück nicht über seine Sachen gekotzt und bis auf sein Englischbuch war alles heil geblieben. Der Umschlag des Buchs hatte sich abgelöst, aber es war ohnehin schon ramponiert gewesen, und wenn er es zu Hause klebte, würde es kaum anders aussehen als zuvor.
Hätte schlimmer kommen können, dachte er, während er die Sachen wieder einräumte. Und er vermied den Gedanken, dass es erneut schlimmer kommen würde. Wenn nicht morgen, dann übermorgen oder am Tag danach. Peter hatte die Hoffnung, dass Tyler mit dem Ergebnis seiner Erziehungsarbeit zum Thema Respekt irgendwann zufrieden sein würde, schon lange aufgegeben. Er zog den verdreckten und sauer riechenden Pulli aus und steckte ihn ebenfalls zusammengeknüllt in die Tasche. Als er wieder aufsah, fiel ihm das erste Mal der Staub in der Luft auf. Er war fein und im Schatten der Backsteinmauer leicht zu übersehen, doch wo die Strahlen der Sonne hinfielen, wirbelten die winzigen Punkte im Wind.
Peter setzte sich nur langsam in Bewegung. Es gab etwas, das ihm noch größere Bauchschmerzen bescherte als die Tritte von Tyler und seinem Gefolge, und das wartete zu Hause am Küchentisch. Als die Straße, in der er wohnte, rechts in Richtung Siedlung abzweigte, bog er einfach nicht ab. Stattdessen lief Peter weiter die Mauer entlang und beschleunigte seine Schritte, je weiter er vom Heimweg abwich.
Seine Mutter würde dort sitzen und ins Leere starren, wie sie es manchmal stundenlang tat. Seine Spasti-Mama. Vielleicht mit einer Tüte voller Einkäufe neben sich. Wenn sie die Tür hörte, würde sie aufspringen und so tun, als wäre sie gerade erst heimgekommen. Doch die Butter in der Tüte würde längst aufgeweicht und vom Rest der Einkäufe zusammengedrückt sein.
Nein, das wäre vielleicht noch vor ein paar Wochen so gewesen. Jetzt würde sie gar nicht auf die Tür reagieren, vielleicht sogar immer noch im Bett liegen, wo er sie am Morgen zurückgelassen hatte. Immer häufiger verließ sie es den ganzen Tag nicht.
Mit seinem Penner-Vater, wie Tyler höhnte, hatte das nichts zu tun, auch wenn es irgendwie zusammengehörte, wie zwei Strophen in einem Lied, die unterschiedliche Geschichten erzählten und doch in denselben Refrain mündeten: Als Peter noch klein gewesen war, war sein Vater Stammgast in dem roten Ziegelbau gewesen. Dem Hexenhäuschen, das am Rande der Siedlung, in der sie wohnten, zwischen einer Autowerkstatt und einer Tierhandlung stand. Während seine Mutter lieber einen Umweg von zehn Minuten in Kauf genommen hatte, um zum Bus zu kommen, ohne das Hexenhäuschen zu passieren, hatte es die Kinder der Siedlung geradezu magisch angezogen. Sie hatten sich aufgeregt hinter den Autoreifen vor der Werkstatt versteckt und beobachtet, wie die Gäste das Hexenhäuschen durch die Vordertür betraten, immer nur Männer. Und ab und zu war eine Frau am Hinterausgang erschienen, um eine Zigarette zu rauchen.
Es hatte nicht lange gedauert, bis auch Peter eine Vorstellung davon hatte, was hinter den rot ausgeleuchteten Fenstern des Hexenhäuschens vor sich ging. Und dann hatte es wieder nicht lang gedauert, bis er unter dem Gelächter der anderen seinen Vater das erste Mal am Eingang hatte verschwinden sehen. Peter war danach nicht wieder hingegangen, und doch hatten die Kinder der Gegend ihn auf dem Laufenden gehalten über die Besuche seines Vaters. Sie hatten es mit der Diskretion und Anteilnahme im Schulhof herumgeplärrt, die Kindern zu eigen war.
Peters Vater hatte nicht mehr lange bei ihnen gewohnt, und die Aussetzer von Peters Mutter hatten erst viel später begonnen, doch irgendwie trug beides dieselbe gackernde Handschrift eines Schicksals, das Tylers Sinn für Humor besaß.
Wo die Backsteinmauer endete, begann ein kleiner Grünstreifen mit einem Kriegerdenkmal, um das manchmal gebrauchte Nadeln oder Gummis herumlagen. Für die gefallenen irischen Soldaten in zwei Weltkriegen, stand in erhabener Schrift auf dem Denkmal.
Peter setzte sich ins Gras und lehnte sich an die massive Steintafel mit den zahlreichen Namen. Tyler hatte Peter einmal hier abgepasst und ihn angefahren, er solle gefälligst Respekt haben vor dem Denkmal. Seine Grobiane hatten Peters Kopf dagegengeschlagen, bis sein Blut am Stein geklebt hatte. Tyler schien danach zufrieden, als wäre das ein stimmiges Bild.
»Peter.«
Peter erstarrte, als er die raue Stimme hörte, die diesen Namen aussprach. Niemand hier kannte diesen Namen. Peter selbst hatte ihn sich schließlich ausgesucht, als all die Dinge passiert waren, die so vieles und doch nichts geändert hatten.
»Wer ist da?« Peter rappelte sich auf und fürchtete einen weiteren grausamen Scherz von Tylers Bande. Dieser hier hätte ihn getroffen. Aber sie konnten nichts davon wissen, denn er hatte niemandem etwas erzählt, nicht mal seiner Mutter. Es schien hier ja auch kaum Zeit vergangen zu sein, während er drüben gewesen war. Er war nach der Dunkelheit plötzlich auf dem Pausenhof aufgeschreckt, fassungslos, dass er die Heimkehr tatsächlich geschafft hatte. Er hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle fortbewegt, wo ihm zehn Tage zuvor schwarz vor Augen geworden war. Niemand hatte Notiz von ihm genommen, und Peter hatte schon Angst gehabt, dass er geerbt hatte, was immer seiner Mutter fehlte. Es war wie der Ruck gewesen, den er jedes Mal bei ihr beobachtete, wenn sie aus einem ihrer Aussetzer zurückkehrte.
Doch dann hatte er den Zustand seiner Schuluniform gesehen. Und noch realer war die verbrannte Haut an seinem Arm, seine Verletzung aus dem Feuerinferno, das Álvaros Leute angefacht und damit dem kleinen Pan das Leben genommen hatten. Die Narbe hatte er später vor den Lehrern versteckt, die ihn entgeistert fragten, was er in der Pause mit seinen Klamotten angestellt hatte.
»Du weißt nicht, wer ich bin?«
Auf zittrigen Knien trat Peter um den Stein herum und traute seinen Augen kaum mehr als zuvor seinen Ohren. Dort stand er: etwas größer als Peter selbst, blondes Stoppelhaar auf dem Kopf und ein triumphierendes Grinsen im Gesicht. Er badete im Licht, das zwischen den Bäumen zu Boden fiel, und der seltsame Staub tanzte überall um seine Gestalt.
»E-Eric«, stammelte Peter.
Anna sah aus dem Fenster und nahm die Stadt kaum wahr, die vor ihren Augen vorbeizog. Die Züge der Ringbahn umkreisten Berlin wie ein nimmermüdes Karussell, das die Bewohner schluckte und um das Stadtgebiet verteilt wieder ausspuckte. Nach der Leere der Ruinen, in denen sie vor wenigen Wochen um ihr Leben gekämpft hatte, kam es ihr hier umso übervölkerter vor.
Menschen stiegen aus und andere ein, und Anna konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass sie all diese Menschen vielleicht ins Unglück gestürzt hatten. Vielleicht würden sie dafür bezahlen müssen, dass Anna und Nick und hoffentlich noch viele der anderen überlebt und zurück nach Hause gefunden hatten.
Das dunkle Herz war frei … doch noch immer gab es keinen Anhaltspunkt dafür, ob es bereits hier war und wie es auf diese Welt reagieren würde.
Am Treptower Park stieg Anna um in Richtung Flughafen. Sie fieberte seiner Ankunft seit Tagen entgegen, sogar ihre Eltern hatten die Veränderung an ihr bemerkt. Es war, als ginge es um nichts weiter als ein Wiedersehen mit ihrem Urlaubsschwarm. Dabei hätte sie diese Zeit vermutlich gar nicht überstanden ohne Nick. Hätte er ihr nicht Kraft gegeben, gerade in dem Moment, als sie selbst keine mehr gehabt hatte, hätte sie vermutlich einfach aufgegeben.
Eine gute Woche nach ihrer Rettung hatte Nick sie in den sozialen Netzwerken ausfindig gemacht, und nun war er endlich auf dem Weg hierher. Der alte Mann war bei Nick gewesen. Er stand ihnen im Kampf gegen das dunkle Herz zur Seite, doch Anna war froh, dass er nicht mit Nick hatte reisen können und sie zunächst etwas Zeit für sich hatten. Da der Alte natürlich keine Papiere hatte und daher nicht fliegen konnte, hatte Nick ihn mit einem Smartphone ausgestattet und in den Zug gesetzt. In einem ihrer langen Chatgespräche hatte Nick angedeutet, dass der Alte nicht auf direktem Weg nach Deutschland kommen würde. Aber alles Weitere wollte er ihr erzählen, wenn er hier war.
Der Zug, in den Anna wechselte, war voll besetzt mit aufbrechenden Urlaubern. Sie blieb an der Tür stehen und betrachtete in dem zerkratzten Plexiglas ihr Spiegelbild mit dem nur mehr schulterlangen Haar. Als sie sich nach ihrer Rückkehr durch einige der verfilzten, dunklen Strähnen auch mit der Bürste nicht hatte durchkämpfen können, hatte sie es selbst zu Hause abgeschnitten. Es wäre ihr peinlich gewesen, damit zum Friseur zu gehen. Der moderne Schnitt, den sie dort im Nachgang bekommen hatte, gefiel ihr, und sie hoffte insgeheim, dass er auch Nick gefallen würde.
Draußen lichtete sich der Stadtrand, während sie dem Flughafen näher kamen. Feiner Staub lag in der Luft. Als sie die Endhaltestelle erreichten, sah Anna auf die Uhr ihres Smartphones. Es war kurz vor halb vier. Nicks Flieger würde erst um vier landen, sie hatte also genug Zeit, um zu seinem Ausgang zu kommen.
Ihre Eltern wussten noch immer nichts von den jüngsten Ereignissen in Annas Leben, obwohl Anna an ihren Blicken und Worten merkte, dass den beiden ihre Veränderung nicht verborgen blieb. Sie hatte viel hin und her überlegt und mit sich gerungen, vor allem wegen Ben: Für ihre Eltern galt ihr Bruder bis heute als vermisst. Einzig Anna wusste, dass er schon vor zehn Jahren Ähnliches in der Wüstenstadt hatte durchmachen müssen wie sie, und das als Siebenjähriger. Sie hätte ihren Eltern endlich Gewissheit geben können, aber es gab ein entscheidendes »wenn«, was das anging: Anna würde ihnen helfen können, wenn diese ihre unfassbare Geschichte glaubten und nicht als Traum oder Einbildung abtaten. Das war aber mehr als unwahrscheinlich, solange Anna keine Beweise dafür hatte.
Anna war klar, dass sie dem Gespräch nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, und dass sie es ihren Eltern auch irgendwo schuldig war. Aber wenn sie es in den letzten Wochen geführt hätte, dann hätten ihre Eltern außer dem Vertrauen in ihre Tochter und ihren merkwürdig veränderten Zustand nach der Gedenkfeier nichts Greifbares gehabt, um ihre abstruse Geschichte zu glauben. So war es vorerst dabei geblieben, dass ihre Eltern ihre neue Frisur und ihre verschlossene Art wohl auf ihre Pubertät schoben und dass Anna auf Nick und den alten Mann wartete, um mit deren Hilfe ihre Eltern zu überzeugen.
In dem Pulk aus Menschen und Koffern, der aus ihrer S-Bahn strömte, betrat sie den unterirdischen Durchgang in Richtung Flughafengebäude. Seit einer Woche hatte sie Ferien, und ihre Eltern hatten mit ihr verreisen wollen, doch Anna hatte sich dagegen gewehrt. Sie hatte um Zeit für sich gebeten, und ihre Eltern waren einverstanden gewesen. Der Trauergottesdienst zum zehnjährigen Verschwinden ihres Bruders war ein Einschnitt für die ganze Familie gewesen, denn zu Annas Erstaunen hatte ihre Mutter es diesmal mit dem Abschied von Ben wohl ernst gemeint. Das Zimmer ihres Bruder hatte sie komplett leer geräumt, auch die Möbel waren fort.
Dort stand jetzt ein Gästebett für Nick, den Anna ihren Eltern als Bekanntschaft aus einem Trauerforum angekündigt hatte. Sie hatte erklärt, die Gedenkfeier habe den Anstoß gegeben, dass sie mal wieder in das Trauerforum geschaut habe. Ihre Eltern glaubten das gern und waren einverstanden gewesen, dass Nick in den Ferien kam. Es hatte ohnehin einige Zeit gedauert, bis er die Reise organisiert hatte: Seine Ankündigung, zu kommen, war nun schon drei Wochen alt.
Als sie ins Tageslicht hinaustrat, lag auch dort feiner Staub in der Luft, mehr als sie von der S-Bahn aus gesehen hatte. Er schien vom Himmel zu fallen und langsam zu Boden zu rieseln, als hätte jemand weit oben einen gigantischen Teppich ausgeklopft. Wo die Menschen zum Flughafengebäude hasteten, verwirbelten sie ihn. Jemand schob sich an ihr vorbei und bedachte sie mit einem genervten Blick, denn sie war mitten auf dem Weg stehen geblieben. Niemand außer Anna reagierte auf den Staub, ganz so als wäre er völlig selbstverständlich.
Ein Koffer schrammte an ihrem Bein entlang, und sie setzte sich wieder in Bewegung, blieb aber unter der Überdachung, die den Weg zum Flughafeneingang vor Regen schützte. Beunruhigt beobachtete sie abwechselnd die Leute und die Staubpartikel. Wo es kein direktes Licht gab, konnte man es übersehen. Aber es waren Dutzende Leute hier unterwegs, und niemand zeigte irgendeine Reaktion.
Laut den Ziffern auf ihrem Handy war es bereits zwanzig vor vier. Nicht mehr lange, bis Nick landen würde. Vielleicht sah sie nur Gespenster, und der Staub war doch nicht mehr als der Smog der Hauptstadt oder irgendein Wetterphänomen. Im letzten Sommer hatte es einen Saharawind gegeben, der alle Autos auf der Straße mit Sand verdreckt hatte, erinnerte sie sich.
Sie betrat das große Gebäude und folgte den Arrival-Schildern bis zum Ausgang der Gepäckausgabe.
Dank der Vorfreude auf Nicks Besuch fühlte sie sich seit Tagen das erste Mal richtig wach. Anders als sie zunächst gehofft hatte, waren die Albträume seit ihrer Heimkehr sogar noch schlimmer geworden. Sie sah noch immer Erics Gesicht vor sich, der sie unbemerkt bis unter die Wüstenoberfläche verfolgt hatte. Sie sah seine Wut, als das dunkle Herz ihn dort unten gegen sie aufgebracht hatte, und spürte ihre eigene, als er begonnen hatte, sie zu schlagen. Doch die schlimmste Erinnerung war seine Verblüffung, als er über den Abgrund hinausgetaumelt – und gestürzt war.
In ihrer ersten Nacht im eigenen Bett hatte Anna nicht Eric vor sich gesehen, sondern die Tür von Bens Zimmer. Sie hatte dahinter etwas rascheln und klopfen gehört.
Tok … tok
Anna konnte gar nicht sagen, was ihr an dem Geräusch solche Angst machte, doch ihr Herz raste. Sie musste zusehen, wie ihre eigene Hand sich nach vorn bewegte. Nicht auf die Klinke, sondern auf das holzfarbene Türblatt zu. Als sie es berührte, glitt die Tür zur Seite. Sie machte dabei ein schweres, schabendes Geräusch, wie die Scheibe über dem Eingang zur Unterstadt und zum dunklen Herzen in der Wüste.
Sofort quoll eine schillernde Schwärze wie eine zähe Masse aus Bens Zimmer hervor und umschloss ihre versteinerten Füße. Sie spürte den Sog und die Kälte in ihrer Brust, doch kein Laut entkam ihren zusammengepressten Lippen. Erst als die flüsternden Stimmen kamen, begann sie zu schreien. Die Echos von all den erloschenen Leben, die nun die Stimmungen des dunklen Herzens ausdrückten: Zorn, Hunger, Gier …
Anna hatte sich seit seinem Verschwinden kaum in Bens Zimmer aufgehalten, das für sie immer etwas zwischen Museum und Grabstätte gehabt hatte. Aber seit diesem Traum, aus dem sie sich keinen Reim machen konnte, beschleunigten sich ihre Schritte sogar, wenn sie nur an Bens Tür vorbeikam.
Wenn Nick hier war, konnte sie endlich wieder mit jemandem über diese Dinge sprechen.
Die ersten Passagiere von Flug RA 1147 aus Thessaloniki kamen durch die Absperrung. Die meisten von ihnen waren braun gebrannte, heimkehrende Urlauber, die gleich die erste Ferienwoche genutzt hatten. Da war eine Familie mit einem Hund, der in seiner Transportbox fiepte. Ihnen folgte eine Gruppe von einem guten Dutzend Jugendlicher mit Strohhüten und gleichfarbigen T-Shirts. Als Anna endlich Nicks Locken entdeckte, spürte sie, wie sich ein Teil ihrer Anspannung löste. Die jugendliche Strohhut-Gruppe zerstreute sich gerade mit großen Abschiedsgesten. Nick schlängelte sich zwischen ihnen durch.
Anna sah ihm sofort an, dass ihn etwas beschäftigte. Er hielt zwar Ausschau nach ihr, doch sein Blick wirkte dennoch abwesend und nachdenklich, als nähme er die Ankunftshalle kaum wahr. Dann erkannte Anna überrascht eine Gestalt an Nicks Seite. Es war die alte Griechin, die in der Ruinenkirche das Bewusstsein verloren hatte und die der Überzeugung gewesen war, sie seien gestorben und an diesen Ort verdammt worden. Nick hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Anna ging ihnen mit klopfendem Herzen entgegen.
»Nick!«
Als er sie entdeckte, glätteten sich seine Züge, und er ließ seinen Rollkoffer stehen, um sie in die Arme zu schließen.
»Hi«, murmelte er, während sie sich längst aneinander festhielten.
»Hey«, erwiderte sie und atmete tief durch. Es war gut, dass sie endlich wieder zusammen waren.
»Du siehst gut aus«, lächelte Nick und ging wieder auf Abstand. »Älter.«
Nick hatte sich ebenfalls verändert. Auch wenn sie seine Freude spürte, sie zu sehen: Da lag noch immer Sorge in seinen Augen. Vielleicht sogar Angst.
»Kein Wunder, nach allem«, antwortete Anna, wie er auf Englisch, so wie sie sich auch drüben die ganze Zeit über unterhalten hatten.
»Ich hab deine Frisur gemeint«, erwiderte Nick grinsend. »Sie steht dir.«
Ehe Anna sich darüber freuen konnte, wanderte ihr Blick zu der Alten, die keine Notiz von ihr nahm. Sie hielt einen Rosenkranz in der Hand, dessen perlenartige Kettenglieder durch ihre Finger wanderten. Die Furchen in ihrem Gesicht hatten sich noch vertieft, und ihre Augen wirkten stumpf wie die abgegriffenen Kunststoffperlen des Rosenkranzes.
»Sorry, ich wollte dir Bescheid sagen, aber es war alles ziemlich knapp«, sagte Nick auf Annas Blick hin. »Der Alte hat Faní erst vorgestern gefunden: Ich hab ihr Ticket heute am Flughafen gekauft, und es hat fast das ganze Geld gekostet, das ich dabeihabe. Aber der Alte meinte, es sei sicherer so. Glaubst du, es ist ein Problem für deine Eltern?«
Tatsächlich waren Nicks Mitteilungen in den letzten Tagen deutlich kürzer geworden. Anna fand trotzdem, dass er sie zumindest mit einem Satz hätte vorwarnen können, dass er Faní mitbringe. Doch wegen ihrer Eltern hatte sie schon eine Idee. »Wir sagen einfach, dass sie deine Tante ist und dass sie dich nicht alleine gehen lassen wollte nach der Geschichte mit deinen Eltern.«
»Das klingt gut«, sagte Nick erleichtert.
Natürlich war »die Geschichte mit Nicks Eltern« frei erfunden. Ihrer Meinung nach besuchte Nick eine Chatfreundin in Deutschland, was nach all den Onlinegesprächen der letzten Wochen tatsächlich kaum eine Lüge war. Aber wenn Annas Eltern dachten, sie habe Nick in einem Trauerforum kennengelernt, musste er um jemanden trauern. Sie hatten sich für seine Eltern entschieden.
Nick nahm wieder Fanís Hand, als sie sich gemeinsam in Bewegung setzten, sonst wäre die Frau wahrscheinlich so lange stehen geblieben, bis ein Sicherheitsmann oder Sozialarbeiter sie aufgegabelt hätte.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Anna.
Faní war schon während ihrer gemeinsamen Erlebnisse drüben in schlechtem Zustand gewesen, doch dass sie gar nicht auf Anna reagierte, war doch erschreckend.
Nick zuckte traurig mit den Schultern. »Ich komm selbst kaum zu ihr durch. Sie war schon so, als der Alte sie gefunden hat. Er hat ihr erklärt, dass sie mit mir kommen muss, und sie war wohl einverstanden.«
»Warum habt ihr sie denn nicht zu Hause gelassen?«
Faní schien nicht in der Verfassung, irgendetwas gegen das dunkle Herz zu tun. Sie lief völlig unbeteiligt hinter Nick her, unter der riesigen Anzeigetafel durch in Richtung Ausgang.
»Der Alte sagt, jeder von uns, der es hierher geschafft hat, könnte ein Angriffsziel sein. Und das dunkle Herz kann die Menschen kontrollieren, die auf dem Weg gescheitert sind oder die es in die Finger bekommt. Sie werden irgendwie seine Werkzeuge.«
»Werkzeuge wozu?«, fragte Anna. Sie hatte tausend Fragen, die seit Wochen auf Antwort warteten, und Nick hatte diese Wochen mit dem Alten verbracht. Aber Nick erwiderte ihren Blick nur hilflos.
»Ich weiß es nicht … Vieles von dem, was er so von sich gibt, hab ich nicht wirklich verstanden.«
Anna war es in ihrem eigenen Gespräch mit dem seltsamen Mann kaum besser ergangen.
»Wir müssen trotzdem tun, was er sagt«, fuhr Nick fort. »Er hat genauso Angst vor dem, was kommt, wie wir.«
»Und was ist das? Was sollen wir seiner Meinung nach tun?«
»Warten.« Nick schien nervös. Die Freude, sie wiederzusehen, wurde von etwas überschattet. Sie hatte diese Veränderung schon in seinen Nachrichten gespürt. Ihr allererstes Gespräch nach ihrer Rückkehr war natürlich aufgeputscht davon gewesen, dass sie sich tatsächlich wiedergefunden hatten: Zu Anfang hatte es fast so etwas wie Aufbruchsstimmung gegeben, sich dem dunklen Herzen zu stellen. Doch Nicks Tonfall war in ihren Gesprächen zunehmend bedrückter geworden. Er hatte ihr erzählt, dass er wie Anna unter Albträumen litt.
»Wir sollen hier warten, während er die anderen auftreibt«, fuhr Nick fort. »Er spürt sie irgendwie. Es ist schwer zu erklären, aber er ist Faní nicht zufällig über den Weg gelaufen. Er sagt, es hängt damit zusammen, wie eng er mit der Stadt und dem dunklen Herzen verbunden war. Er hat ein Gefühl dafür, wer damit in Berührung gekommen ist.«
Der Gedanke war Anna unheimlich. Sie war ja froh, wenn es dem Alten gelang, all ihre Freunde ausfindig zu machen, denn sie hatten von den meisten noch immer keine Spur. Doch gleichzeitig fragte sie sich, ob das dunkle Herz womöglich dieselbe Fähigkeit besaß.
»Er konnte es selbst nicht so richtig beschreiben«, sagte Nick. »Es ist nicht so genau, aber er spürt irgendwie, ob er näher kommt oder sich entfernt, sobald jemand von uns in Reichweite ist.«
»Wie beim Topfschlagen«, sagte Anna trocken.
»Was ist Topfschlagen?«
Sie traten nach draußen, und da griechische Kindergeburtstage wohl anders abliefen als deutsche, erklärte sie ihm das Wärmer/kälter-Prinzip des Spiels.
Noch hatte Nick nichts zu ihrer brennendsten Frage gesagt: Was waren die Vermutungen des Alten, womit sie es zu tun bekommen würden? Wie würde das dunkle Herz ihre Welt angreifen, und was konnten sie dagegen tun? Er musste doch irgendetwas dazu wissen. Immerhin schien es Hoffnung zu geben, die anderen zu finden. Anna machte sich seit Wochen Gedanken dazu, was ihnen auf dem Heimweg widerfahren sein mochte.
Sie blickte in den Himmel und suchte nach Spuren des Staubs von vorhin, doch es war weniger geworden, als zerstreute er sich bereits im Wind. Sie wollte das ganze Thema schon innerlich abhaken, da bemerkte sie aus dem Augenwinkel, dass Nick sie beobachtete.
»Du siehst es auch«, kommentierte er stirnrunzelnd.
»Was?«, fragte sie und kapierte zunächst tatsächlich nicht, wovon er sprach.
»Es hat nach einer halben Stunde angefangen«, sagte er. »Ich hab die Stewardess gefragt, ob das normal ist, denn wir waren längst über den Wolken.«
Endlich begriff Anna und konnte es dennoch nicht fassen.
»Sie hat mich nur verständnislos angeschaut, als ich aufs Fenster gezeigt habe. ›Der Staub in der Luft‹, hab ich gesagt. Wir saßen im Flugzeug ziemlich weit hinten, und ich dachte, es könnte vielleicht was am Triebwerk sein. Sie hat sich vorgebeugt und die Stirn in Falten gelegt, aber dann hat sie nur wieder gelächelt und den Kopf geschüttelt. ›Welcher Staub?‹«
»Niemand kann ihn sehen …«, antwortete Anna entgeistert, »niemand außer uns.«
Natürlich waren Annas Eltern überrascht, als sie und Nick gemeinsam mit einer alten Frau vor der Tür ihres Vorstadt-Reihenhauses standen. Doch sie zeigten schnell Verständnis dafür, dass Nick seine vermeintliche Tante mitbrachte. Immerhin dachten sie, dass seine Eltern erst seit einem halben Jahr tot waren. Annas Mutter tat sofort eine Matratze auf, die man noch in Bens altes Zimmer legen konnte, als Schlafplatz für den unerwarteten Gast.
Anna hörte ihre Mutter an der Tür zu Bens Zimmer oben. Das schabende Geräusch der steinernen Scheibe aus ihrem Albtraum kam ihr in den Sinn, und Annas Nackenhaare stellten sich auf. Doch sie ermahnte sich, ihren Träumen und Ängsten nicht noch zusätzlichen Raum zu geben. Es gab genügend reale Bedrohungen, mit denen sie sich befassen konnten.
Nick und sie hatten die ganze Bahnfahrt über gerätselt, was der Staub bedeuten könnte, und waren doch keinen Deut weitergekommen. Aber Nick hatte auch noch nicht alles erzählt. Er war übermüdet, und sie hatte ihn nicht weiter unter Druck setzen wollen, dafür hatte er von sich aus versprochen, ihr später Wort für Wort wiederzugeben, was der Alte gesagt hatte.
Ihre Mutter kehrte mit ihrem »Anna hat Besuch«-Lächeln von oben zurück, das Anna früher fast so unangenehm gefunden hatte wie die plötzlichen Weinkrämpfe, die noch Jahre nach Bens Verschwinden vorkamen. Anna erwiderte das Lächeln dennoch, und sie gingen gemeinsam in die Küche, wo Nick gerade den Inhalt seines Rollkoffers offenbarte.
Die eine Hälfte davon war bis zum Rand mit Gastgeschenken aus Griechenland gefüllt, und das nahm zum Glück den Fokus von Faní, die noch immer kaum Blickkontakt erwiderte und den Rosenkranz nicht aus der Hand ließ. Nick brachte etikettenlose Gläser voll goldgelbem Honig zum Vorschein, in dem allerlei Nüsse schwammen, außerdem getrocknete Feigen und natürlich Kekse aus der Bäckerei seiner Eltern. Es duftete, als er die Papiertüten öffnete und Backwerk voll geröstetem Sesam und Hagelzucker auspackte. Nicks Eltern beherrschten offensichtlich ihr Handwerk, und Nick erklärte gegenüber Annas Eltern, dass sein Onkel die Bäckerei nach dem Tod seiner Eltern weiterführe.
»Schafft Ihr Mann denn die ganze Arbeit allein, wenn Sie jetzt hier sind?«, fragte Annas Vater Faní auf Englisch.
»Oh, sie spricht nur Griechisch«, erklärte Nick schnell. Er richtete ein paar Worte an die Alte, und ihr Kopf ruckte hoch. Es schien, als nähme sie den Küchentisch der Engels, auf dem sich nun all die Geschenke türmten, erst jetzt wahr. Dann murmelte sie Nick eine einsilbige Antwort zu, kaum mehr als ein Flüstern.
»Die Reise war anstrengend, oder?«, sprang Anna ein. »Vielleicht will sich deine Tante ausruhen?«
»Aber natürlich«, sagte Annas Mutter verständnisvoll. »Die Matratze ist schon hergerichtet, ich bring euch dann sofort noch eine Decke. Wenn deine Tante Hunger hat, können wir ihr auch gern was aufs Zimmer bringen.«
»Danke, das wäre wohl das Beste«, stimmte Nick erleichtert zu.
Während Annas Mutter die Decke holte und Nick Faní nach oben half, blieben Anna und ihr Vater zurück.
»Er wirkt nett«, sagte dieser unbefangen, während sie gemeinsam das Abendessen aufdeckten. »Und toll, dass er extra nach Deutschland kommt, um dich zu sehen.«
Ob er darauf abgezielt hatte oder nicht: Anna ärgerte sich, als sie spürte, wie ihr leichte Röte in die Wangen schoss.
»Ich glaube, er hat einen Tapetenwechsel gebraucht«, antwortete sie, um es zu überspielen.
»Ja, das hätte dir damals wahrscheinlich auch gutgetan«, überlegte ihr Vater ernst. »Du warst natürlich noch klein, aber vielleicht hätten wir auch als Familie einen Neuanfang machen sollen. Einfach wegziehen.«
Es war eine utopische Vorstellung. Vor allem zu Beginn hatte ja noch berechtigte Hoffnung bestanden, Ben wiederzufinden, und genau so waren sie auch damit umgegangen. Die Worte formten sich in Annas Mund, doch sie sprach sie nicht aus. Seit der Trauerfeier vermied sie das Thema Ben so weit wie möglich und kam sich dabei wie eine Lügnerin vor.
Dass ihr Vater im Umgang mit der Vergangenheit weder den größten Realismus noch die größte Sensibilität zeigte, war allerdings nichts Neues. Anna konnte nicht zählen, wie oft ihre Mutter wegen unbedachter Bemerkungen ihres Vaters mitten beim Essen in Tränen ausgebrochen war. Anna sah seinen bedauernden Gesichtsausdruck vor sich: die zusammengekniffenen Lippen und die gerunzelte Stirn.
Bis sie zu Abend gegessen hatten war es nach acht. Der Inhalt von Nicks Tüten schmeckte ebenso köstlich, wie er geduftet hatte, und Annas Eltern waren sichtlich angetan von ihrem Besuch. Die ganze Zeit über unterhielten sie sich angeregt mit Nick und kamen mit ihrem Englisch dabei besser zurecht, als Anna vermutet hätte. Nick und Anna hatten jede Einzelheit um den vermeintlichen Autounfall seiner Eltern festgelegt, doch das hätten sie sich sparen können, denn ihre Eltern sprachen das Thema nicht an. Stattdessen erzählte Nick hauptsächlich von seiner Heimat.
Als Anna nach dem Essen ankündigte, sie und Nick würden noch einmal kurz vor die Tür gehen und ein bisschen frische Luft schnappen, gab es keine Einwände. Sie sah das belustigte Funkeln in den Augen ihres Vaters und wandte sich ab, bevor sie wieder rot werden konnte.
»Du hast nette Eltern«, sagte Nick draußen.
Der Sommerabend war warm genug, dass Anna in ihrem kurzärmligen Top nicht fror.
»Ja, und sie mögen dich« erwiderte Anna. Das war gut, denn wenn sie ihren Eltern irgendwann noch die Wahrheit beibringen wollten, konnten sie jeden Vertrauensvorschuss brauchen. »Wir … haben uns nur ein bisschen verloren.«
Sie hatte die Worte ausgesprochen, ehe sie recht darüber nachgedacht hatte, aber sie stimmten. Es fühlte sich schon lange nicht mehr so an, als gäbe es eine funktionierende Verbindung zwischen ihnen. So eine Verbindung, wie sie sie zu Nick und auch Elif, Jelena und Lev binnen kürzester Zeit gehabt hatte. Sie hatte sich noch Jahre nach dem Verschwinden ihres Bruders gefragt, warum ihre Eltern so viel allein trauerten, fast nie gemeinsam. Ihre Mutter mit Tränen und ihr Vater in seinen stillen Momenten hinter der aufgeräumten Fassade. Irgendwann hatte auch sie selbst die Zimmertür geschlossen, statt Trost bei ihnen zu suchen.
»Aber ist das nicht auch normal, wenn man älter wird?«, fragte Nick.
»Wahrscheinlich schon«, stimmte Anna zu. Sie wollte das Thema nicht breittreten, und es gab wirklich genug anderes, das sie zu besprechen hatten, jetzt, wo sie allein waren.
Nick streckte die Hand nach ihrer aus, und sie verschränkten die Finger. Anna lächelte, ohne aufzusehen, und verscheuchte die Gedanken an ihre Familie.
Die Straße führte unter Bäumen entlang und vorbei an einem Grünfleck mit einem kleinen Spielplatz. Die Gegend, in der sie wohnten, hatte Anna schon immer gefallen. Es war nicht so dreckig und laut wie in der Innenstadt und lange nicht so viel los.
»Ich könnte dir morgen ein bisschen was von der Stadt zeigen«, bot sie an, obwohl sie es besser wusste. »Die Mauer und so …«
Wenn sie ein Sightseeingprogramm machten, dann höchstens als Tarnung für ihre Eltern. Doch sie würden sich nicht wirklich Berlin ansehen, sondern überlegen, wie sie sich vorbereiten konnten.
»Klingt gut«, erwiderte Nick und schwieg dann wieder.
»Was hat er dir erzählt?«, fragte Anna schließlich, nachdem Nick offensichtlich keinen Anfang fand. »Wie schlimm ist es?«
»Das meiste haben wir eigentlich beide schon mal gehört«, sagte Nick zögerlich, ohne auf die zweite Frage zu antworten. »Als er uns alle von der Flucht zurückhalten wollte, weißt du noch? Aber da war so viel Chaos.«
Anna konnte sich nur noch vage an die Erklärungen zum dunklen Herzen und dessen Bedeutung erinnern. Sie hatte zu dem Zeitpunkt verzweifelt auf irgendein Lebenszeichen ihres Bruders gewartet.
»Ich glaube nicht, dass der Alte ein Mensch ist«, erklärte Nick. »Genauso wenig, wie das dunkle Herz von hier ist.«
»Was meinst du damit, kein Mensch?«
Nick wirkte, als begriffe er selbst nicht wirklich, wovon er sprach.
»Der Alte hat Andeutungen gemacht, dass das mit den Opfern für das dunkle Herz schon seit Jahrhunderten so geht. In dem Lager mit dem ganzen Kram von unseren Vorgängern waren ja auch richtig alte Schwerter und so was.«
Anna konnte sich daran erinnern.
»Und der Alte ist noch viel länger dort. Er hat gesagt, das Gefängnis ist so eine Art Blase. Das Volk des Alten hat sie irgendwie zwischen die Welten gesetzt und verhindert, dass sie Teil des ewigen Kreislaufs wird. Davon hat er viel gesprochen: wie Welten und Völker entstehen und wieder zusammenstürzen, vielleicht das ganze Universum. Schöpfung und Zerstörung. Sie waren wohl der Meinung, sie müssten diesen Kreislauf schützen, indem sie das dunkle Herz aussperren. Dafür haben sie diese Gefängniswelt gebaut und besiedelt. Die Zeit verläuft dort anders.«
»Was soll das heißen, sie haben sie gebaut? Wie baut man eine Welt? Und woher kam das dunkle Herz, was ist es überhaupt?«
Es war weit einfacher gewesen, diese Dinge einfach zu akzeptieren, als sie noch selbst an jenem Ort mitsamt seinen verqueren Naturgesetzen gewesen war. Zum Beispiel, dass man nicht in die Wüste hatte hinauslaufen können, ohne gleichzeitig wieder zurück in die Stadt zu gelangen. Oder dieses brennende Gleißen, das aus dem Himmel gebrochen war, als das dunkle Herz ihn aufgerissen hatte.
Jetzt liefen sie gemeinsam durch eine sehr reale Straße im Süden von Berlin, und für was es keine glaubhafte Erklärung gab, das fand hier keinen Platz.
»Ich kann mich kaum an seine genauen Worte erinnern«, antwortete Nick. »Vieles hat sich eher wie Geschichten aus der Bibel angehört. Arche Noah und die Flut und so was. Es war alles schwammig und voller großer Worte.«
Anna sah ihn erwartungsvoll an. »Versuch es«, sollte ihr Blick zum Ausdruck bringen.
»Ich weiß noch, dass ich an eine Seifenblase gedacht habe, als er mir das mit dem Universum und der Gefängniswelt dazwischen erklärt hat. Er hat gesagt, man kann sich das Universum wie eine Blase vorstellen, und die Galaxien und Planeten und so weiter, das sitzt alles auf der Innenseite dieser Blase.«
Anna versuchte, sich das bildlich vorzustellen, um ihm folgen zu können.
»Und er hat gesagt, dass sich das ständig verformt und im Wandel ist. Deshalb hab ich an die Seifenblase gedacht. Wenn man sie aufbläst, dann verformt sie sich doch so, und es gibt diese riesigen Seifenblasen, die im Wind zusammengedrückt werden und sich wieder auseinanderziehen. So schwanken die Entfernungen zwischen den Welten in dieser Blase ständig. Verstehst du, was ich meine?«
Zumindest das Bild verstand Anna, und sie nickte. »Und das Weltall ist das Innere deiner Seifenblase?«
Nick schüttelte den Kopf. »Nein, das Weltall ist nur die Wand der Seifenblase, auf der auch die ganzen Welten sitzen. Dass sie eine Kugel ergibt, ist so was wie noch eine vierte Dimension darüber. Ich weiß nicht mehr, wie der Alte es erklärt hat, aber so habe ich es mir vorgestellt, denn das kenn ich aus diesem Buch. Die Geschichte der Zeit oder so, von Stephen Hawking, kennst du das?«
Anna verneinte. Sie kam kaum noch mit bei Nicks Erklärungen und verlor allmählich die Hoffnung, dass sie schlau daraus werden würde.
»Ich hab es von einem meiner Brüder. Ist auch egal, aber das Volk des Alten war weiter als unseres. Die ganze Theorie mit Wurmlöchern und Raumzeit und vielen Dimensionen, der ganze Kram, um den es auch bei Hawking geht, das war für sie anscheinend etwas, das die Grundschüler lernen. Sie hatten das verinnerlicht und einen ganz anderen … Überblick. Und gleichzeitig waren sie, glaube ich, total spirituell. Zumindest der Alte redet, als würde er ständig eine Art Bibel zitieren. Sie dachten eben, sie hätten dieses Muster der ›Schöpfung‹ erkannt. Seine helle und seine dunkle Seite. Zivilisationen entstehen und vergehen wieder. Etwas treibt sie immer wieder in den Untergang: das dunkle Herz, also alles Schlechte und Böse in uns. Wenn wir es nicht erlebt hätten, würde ich sagen, es ist nur eine Metapher und so Fantasiekram wie in allen Religionen. So wie Teufel und Dämonen und so was bei uns.«
Anna wünschte sich, es wäre so. Doch sie hatte es nicht nur gespürt, sie hatte es gesehen: die undurchdringliche Schwärze in ihren vielen Formen, schlängelnd, flüsternd, Schatten werfend.
»Sie haben sich wohl vorgenommen, das dunkle Herz aus dem Universum herauszunehmen. Sodass die Zivilisationen aller Welten ohne die dunkle Seite der Schöpfung leben können.«
»Und wie?«, fragte Anna stirnrunzelnd.
»Das ist die Sache mit der Welt zwischen den Welten. Pass auf, ich weiß nicht, ob dir das hilft, aber stell dir vor, es gäbe eine riesige Seifenblase, milliardenfach größer als die Erde, und auf der Innenwand sitzt eben alles, was es gibt. Und nur an einer Stelle würdest du so kräftig hineinpusten, dass sie sich nach innen wölbt.«
Anna wusste zwar nicht, woher diese Kraft kommen sollte, das Universum nach innen zu wölben, aber sie verstand zumindest, was er sagen wollte.
»Du pustest immer stärker, und die Beule nach innen wird größer, bis es fast ein kleiner Schlauch wird und dann – reißt die Verbindung. Auf einmal hast du eine kleine Blase, die in der riesigen Seifenblase herumschwebt. Eine Zwischenwelt.«
Anna sah ihn verblüfft an. »Und dieses Bild hast du dir zusammengereimt?«
Nick zuckte mit den Schultern, freute sich aber offensichtlich über ihr Erstaunen. Sie selbst wäre in hundert Jahren nicht auf diese Erklärung gekommen.
»Ich dachte auch erst an Raketen, die man ins Weltall schießt und so einen Kram, aber mit dem Vergleich konnte er gar nichts anfangen. Es ist wahrscheinlich die falsche Perspektive. Falsche Dimension. Man muss in diesem Bild der Seifenblase bleiben.«
»Und dort waren wir? In der kleinen Blase innerhalb der riesigen Blase?«, fragte sie.
»Genau«, sagte Nick, offensichtlich erleichtert, dass Anna so weit mitkam. »Es muss etliche Generationen her sein, dass diese Zwischenwelt entstanden ist, denn das sind alles uralte Überlieferungen für den Alten. Sie waren ein ganzer Volksstamm, als sie das dunkle Herz so eingeschlossen haben.«
»Wo haben sie gewohnt?«, fragte Anna, die an die primitive Ruinenstadt in der Wüste dachte. »In den Hallen mit den Pflanzen?«
»Nein, unter der Erde. Kannst du dich an die vielen roten Lichter erinnern?«
Das Bild von dem Meer aus roten Augen, das ihnen aus dem Abgrund unter der Erde entgegengestarrt hatte, kam sofort zurück. Eric war in den gigantischen Schacht gestürzt und später noch ein Kind aus der Horde.
»Die kamen von versperrten Türen. Dahinter haben sie gewohnt, Anna. Tausende von ihnen. Es gab Gemeinschafts- und Vorratsräume und alles. Ein ganzes Volk hat da unten gelebt.«
Anna versuchte, sich das vorzustellen. Die riesige, verlassene Leere, in der sich das dunkle Herz später ausgebreitet hatte, bevölkert wie eine Fußgängerzone. Es musste als eine Art Hochhauskomplex angelegt gewesen sein, der statt in den Himmel in die Erde wuchs. Wie ein unterirdischer Bienenstock.
»Wie hat der Alte uns zu sich geholt? In diese Zwischenwelt?«, fragte Anna.
Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte. Doch da war nur der Schwindel und ihre Übelkeit in der Kirche, nicht mehr. Keine Wurmloch-Reise durch einen Tunnel aus Raum und Zeit oder wie immer man sich das vorstellen mochte.
»Ich glaube nicht, dass er es selbst war«, antwortete Nick. »Der Alte sollte, glaube ich, nur sicherstellen, dass alles seinen gewohnten Gang geht. Im Grunde lief es von allein ab, wie ein Uhrwerk. Weißt du noch, wie du dich gefragt hast, warum wir nicht von der ganzen Welt kamen, sondern bis auf Lev nur aus Europa?«
Anna nickte. Und der Russe Lev kam zumindest vom selben Erdteil wie sie. Mit der Vorstellung der Seifenblase meinte sie fast, den Grund zu erahnen. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, der in diesem Fall ein ganzer Kontinent war. Und dort war die kleine Seifenblase zwischen den Welten, das Gefängnis des dunklen Herzens, ihnen wohl am nächsten gewesen. Ob nun ein Windstoß in der Raumzeit dafür verantwortlich gewesen war oder wie immer man es nennen mochte.