Der kleine Ort Reifenstein bot mit seinen schlichten Häusern und den schmucklosen öffentlichen Bauten keine Sehenswürdigkeit. Daß man ihn trotzdem so gern besuchte, verdankte er den schönen Wäldern, die bis an die Stadt heranreichten und sie an drei Seiten umsäumten. Stundenlang konnte man hindurchschreiten und die würzige Waldluft einatmen. In den letzten Jahren erschienen daher in Reifenstein immer mehr Sommerfrischler, die hier Erholung suchten und fanden.
In der Nähe der Stadt, etwa fünfundzwanzig Minuten von dem letzten Gebäude entfernt, lag die Oberförsterei Tannhausen. Ihr unterstanden verschiedene Forstbezirke, über die jeweils ein Förster zu wachen hatte. Diese kleinen Forsthäuser, die in dem großen Forst verstreut lagen, bildeten Ausflugspunkte für die Reifensteiner und die Gäste.
Die Oberförsterei, ein hübsches, weißes Gebäude mit großen Fenstern, lag in einem langgestreckten Garten, der sorgsame Pflege verriet. Die Bewohner von Reifenstein wußten, daß die Gattin des Oberförsters nicht nur eine gute Hausfrau, sondern auch eine vorzügliche Gärtnerin war, die es verstand, ihr Hauswesen und all ihren Besitz in bester Ordnung zu halten. Auch Oberförster Uhde galt als tüchtiger, gerechter und liebenswürdiger Herr, der von seinen Beamten sowie seinen Freunden und Bekannten sehr geschätzt wurde. Manch begehrlicher Blick der vorübergehenden Sommergäste flog in den prachtvollen Garten mit den vielen Obstbäumen, von denen die roten Kirschen, die prächtigen Birnen, die Pfirsiche und Pflaumen lachten. So war es nicht selten, daß dieser oder jener stehenblieb und der fröhlichen Schar zuschaute, die sich auf dem weiten Rasenplatze tummelte. Alle, welche die Familie des Oberförsters nicht so genau kannten, wollten es kaum glauben, daß jenes junge Mädchen mit den flatternden Zöpfen die siebzehnjährige Tochter Stefanie war, denn bubenhaft sprang sie neben dem großen Jagdhunde über die Einfassung der Beete, um im nächsten Augenblick auf einen der Bäume zu klettern und sich dort an den Früchten gütlich zu tun.
Frau Uhde hatte schon manchmal ihrer Siebzehnjährigen ernstlich ins Gewissen geredet. Wenn Steffy wollte, konnte sie sehr zurückhaltend und liebenswürdig sein, wenn sie sich aber unbeobachtet glaubte, vergaß sie vollkommen ihr Alter und nahm es in allem mit den Brüdern auf. Dann wurden die gesteckten Zöpfe wieder gelöst, denn Steffy fand es fürchterlich, eine so schwere Last auf dem Kopfe zu tragen. Trieb sie es einmal gar zu arg, drohte der Vater mit dem Finger, doch sofort schlang sie lachend beide Arme um seinen Hals und schmeichelte:
»Schilt nicht, Väterchen, du weißt, ich wäre am liebsten ein Junge! Laß mich ruhig in der Oberförsterei toben; bei fremden Leuten benehme ich mich leidlich!«
Darauf lachte Uhde und wehrte seiner Frau; das Kind war ihm in seiner übersprudelnden Lebenslust gerade so recht. Ein Wunder war es ja nicht, daß Steffy mehr einem Jungen als einem Mädchen glich. Sie war das einzige Mädchen von fünf Kindern und inmitten der Brüderschar aufgewachsen. Anfangs hatte sie mit den beiden Älteren, mit Werner und Leopold, herumgetollt. Später, als sich die beiden Brüder schon zu groß dünkten, um mit dem kleinen Mädchen zu spielen, hatte sich Steffy einfach den beiden jüngeren Brüdern Karl und Robert zugewandt. Für die gab es kein größeres Vergnügen, als ihre ältere Schwester zu immer neuen Kraftproben und Streichen anzufeuern. Die Siebzehnjährige war im Klettern dem fünfzehnjährigen Karl entschieden über. Auch mit dem dreizehnjährigen Robert nahm sie es auf, und wenn von diesem die Aufforderung erging: »Wollen mal sehen, wer zuerst am höchsten in diesem Eichbaum sitzt«, dann gab es ein Wettklettern, und schließlich kamen Steffy und Robert zu gleicher Zeit beinahe in der Krone des Baumes an.
Nicht minder tüchtig war sie im Rudern und Schwimmen. Die Rückseite des Gartens der Oberförsterei stieß an einen ziemlich großen See. Der Oberförster besaß ein eigenes Boot, und in diesem fuhr Stefanie mit den Geschwistern fast täglich. Das Ziel dieser Ruderfahrten bildete gewöhnlich das kleine Jagdschloß, das am gegenüberliegenden Ufer des Sees lag. Es hatte lange Zeit den Baronen von Brenken gehört, jetzt war eine alte, siebzigjährige Dame die alleinige Besitzerin, die aber fern bei Verwandten lebte und daher das Jagdschloß dem Oberförster Uhde übergeben hatte, damit er hin und wieder dort einmal nach dem Rechten sähe. Seit mehr als fünfzehn Jahren stand das Schlößchen unbewohnt, und der Zahn der Zeit nagte an den morschen Mauern. Für die Kinder des Oberförsters hatte es etwas recht Anziehendes. Sie kannten kein größeres Vergnügen, als mit dem Vater oder der Mutter in die wenigen Zimmer zu gehen, sie dichtetem jedem altertümlichen Möbelstück eine schaurige Geschichte an, und als Steffy gar erfuhr, daß man im Ort erzählte, ein Geist gehe dort um, beachtete sie es von Tag zu Tag immer mehr. Furcht kannte sie nicht, an Geister glaubte sie auch nicht. Sie hatte sich in der Stadt jene Spukgeschichte ausführlich erzählen lassen: In dem Schloß hause eine Weiße Frau, aber von Zeit zu Zeit ginge dort noch ein anderes Ungeheuer um, das hätte einen riesenhaften Kopf, feurige Augen und spie Flammen. Steffy lachte, wenn manche Bewohner von Reifenstein am Abend einen großen Bogen um das Jagdschlößchen machten; Karl war sogar so weit gegangen, einmal eine Frau aus dem Ort, die sich aus dem Walde Holz geholt hatte, zu erschrecken. Er hatte ein Bettlaken umgenommen und sich in der Dämmerung in die Tür des Jagdschlößchens gestellt. So verharrte er regungslos, bis die Frau vorüberkam. Scheu glitt ihr Blick zum Schlößchen hinüber. Plötzlich schrie sie laut auf. Sie hatte die weiße Gestalt erblickt. Als nun Karl sogar noch brummende Laute ausstieß, ließ die Frau ihr Holz im Stich und rannte so schnell sie ihre Füße nur trugen davon. Natürlich verbreitete sich in ganz Reifenstein die Nachricht sehr rasch, daß im Jagdschloß tatsächlich eine Weiße Frau hause, und scheuer denn je nahmen die Einwohner von Reifenstein ihren Weg dort vorbei.
Für Steffy und Bruder Robert war diese Maskerade Karls natürlich eine helle Freude. Sie lachten noch tagelang über den Streich, schwiegen aber den Eltern gegenüber, weil sie genau wußten, daß die Mutter mit den übermütigen Streichen ihrer Kinder nicht immer einverstanden war. Jedesmal, wenn die drei Geschwister zum Jagdschlößchen ruderten, gab es neues Gelächter in Erinnerung an jene Begebenheit.
In diesem Sommer herrschte besonders reges Leben in der Oberförsterei. Alle fünf Geschwister hatten sich eingefunden. Der jetzt dreiundzwanzigjährige Werner, der Älteste, verlebte die Universitätsferien im Elternhause. Er hatte sich dem medizinischen Studium zugewandt und brachte eine Menge Bücher und Instrumente mit, die die Aufmerksamkeit der jüngeren Geschwister erregten. Besonders ein Totenschädel interessierte die Schwester. Sie besah sich das Stück von allen Seiten und begann bald darauf, Fangball damit zu spielen. Da kam sie aber bei Werner schlecht an! Er verwies der Übermütigen das Spiel und nahm ihr den Totenschädel einfach weg. Werner war überhaupt ein ernster und strebsamer junger Mann, der den Eltern schon immer durch seine guten Zensuren Freude gemacht hatte.
Nicht ganz so tüchtig war Leopold. Auch er war heimgekommen. Er hatte sich des Vaters Laufbahn erwählt und besuchte augenblicklich in Süddeutschland eine Forstakademie. Bruder Leopold war immer heiter und guter Dinge, immer lustig und vergnügt, erklärte sich mitunter zum Mittun bereit, wenn Steffy ihn zu irgendeinem tollen Streiche aufforderte. So tobte und lärmte es jetzt in der Oberförsterei durcheinander; man genoß die schönen Sommerwochen in vollen Zügen.
Obwohl Oberförsters Steffy in ganz Reifenstein wegen ihrer übermütigen und tollen Streiche bekannt war, vermochte doch niemand dem jungen Mädchen zu zürnen. Ging sie in ihrem Übermut mitunter zu weit, dann versuchte Steffy nach Möglichkeit alles wiedergutzumachen; ihre aufrichtige Reue versöhnte so alle Grollenden bald wieder. Dadurch geschah es auch, daß die Eltern nur selten von den wilden Streichen ihrer Tochter erfuhren. Trotzdem hatte Frau Uhde manche Sorgen um Steffy. Die Tochter erschien ihr gar zu wild und unbändig, sehnsüchtig wünschte sie, daß Steffy irgendeine gleichaltrige Freundin finden möge, von der sie allerhand Gutes lernen könne. Aber Steffy selbst machte alle diese Pläne zuschanden. In Reifenstein wohnten manche junge Mädchen, die im Alter zu Steffy paßten, die aber an Baumbesteigungen, Neckereien und am Ausüben törichter Streiche kein Gefallen fanden. So erklärte Steffy kurzerhand, sie wolle lieber allein bleiben, die Brüder genügten ihr als Umgang. Die Mutter hatte zwar versucht, Steffy umzustimmen, die jungen Mädchen wurden in die Oberförsterei geladen, aber ein herzliches Verhältnis kam nicht zustande.
Das Schicksal kam Frau Uhde jedoch zu Hilfe. Der Briefbote brachte ihr ein Schreiben der Schwester, die in Berlin an Professor Klattermann verheiratet war. Sie fragte an, ob Uhdes für einige Wochen ihre achtzehnjährige Tochter Angela als Gast aufnehmen wollten. Angela habe sich in letzter Zeit überanstrengt; da sie ohnehin schwächlich und blutarm sei, mache sie den Eltern große Sorgen. Aber in waldreicher Gegend würde sich ihr Zustand rasch bessern. Auch Frau Klattermann wollte die Tochter begleiten, da sie sich nach einem Wiedersehen mit den Verwandten sehnte.
Frau Uhde eilte sogleich mit dem Briefe zu ihrem Gatten und sprach eingehend mit ihm darüber. Zwischen den beiden Schwestern hatte stets ein herzliches Verhältnis geherrscht, ebenso war der Oberförster seinem Schwager, dem Professor Ferdinand Klattermann, recht zugetan. Er kannte den Gelehrten, der in Berlin seine Vorlesungen hielt, als ein Licht der Wissenschaft. Auch Angela war vor zwei Jahren bereits einmal in Tannhausen gewesen. Zwar hatte das stille, ruhige Mädchen nicht ganz Steffys Beifall gefunden, Bruder Karl aber behauptete, aus der kleinen Großstädterin sei »noch etwas zu machen«. Sie sei nur verschüchtert, und er werde ihr schon helfen.
Uhde erklärte sich sofort bereit, Schwägerin und Nichte aufzunehmen, worauf Frau Uhde noch am gleichen Tage nach Berlin schrieb und die Schwester aufforderte, sie möge sogleich mit Angela nach Tannhausen kommen. In der Oberförsterei sei Platz genug. Man hoffe, Angela recht lange hierbehalten zu können, damit sie sich gründlich kräftige. Frau Uhde war über diese Lösung ehrlich erfreut. Nun bekam ihr Wildfang eine Gefährtin, die Steffy in günstigem Sinne beeinflussen würde.
Nachdem der Brief geschrieben war, teilte die Mutter ihren Kindern den zu erwartenden Besuch mit.
Steffy rümpfte die Nase:
»Wenn die Angela eine Zierpuppe geworden ist, soll sie mir gestohlen bleiben!«
»Die werde ich gründlich kurieren«, rief Karl, »ich verstehe mich auf derartige Mädchen. Die Angela stutzen wir zurecht, wie wir es wollen!«
Auf den Brief hatte Frau Klattermann geantwortet, daß sie Anfang der nächsten Woche mit ihrer Tochter in Tannhausen eintreffen werde. Zwei Tage später gab ein Telegramm Kunde, daß sie am Dienstag gegen Mittag ankämen.
Die Fremdenzimmer wurden hergerichtet, hübsche helle Räume. Frau Uhde bereitete mit großer Sorgfalt alles vor, damit sich ihre Gäste recht wohl in ihrem Hause fühlen sollten. Besonders für Angela hatte man einen lauschigen Raum zurechtgemacht. Das nach dem See hinaus gelegene Zimmer hatte einen kleinen Balkon mit Aussicht auf den See, das Jagdschloß und die grünbewaldeten Höhen. Im Zimmer selbst hatten freundliche helle Möbel Aufstellung gefunden, und als man noch frische Blumensträuße auf Schreibtisch, Schrank und Tisch stellte, glich der Raum einem kleinen Paradiese.
»Es fehlt noch etwas«, tuschelte Steffy ihrem Bruder Karl zu. »Tante hat doch geschrieben, daß Angela kürzlich den Wunsch äußerte, Medizin zu studieren. Das Abiturium hat sie mit Gut bestanden, da mag ihr schon so ein Gedanke gekommen sein. Wir wollen die aufmerksamen Gastgeber machen und sie auf ihren zukünftigen Beruf vorbereiten. Wir holen von Werner den Totenkopf und stellen ihn Angela auf den Schreibtisch. Man muß die Menschen individuell behandeln. Meinst du nicht auch, Karlemann?«
Der Bruder war natürlich damit einverstanden, und so begaben sich beide auf heimlichen Schleichwegen nach dem Zimmer Werners, um dort Umschau nach dem Totenkopfe zu halten. Das würde ein famoser Spaß werden! Steffy nahm den Kopf unter den Arm, wollte die Treppe emporhuschen, da begegnete ihr der Bruder.
»Was soll das, Steffy?«
»Laß nur, wir brauchen den Kopf.«
»Wozu?«
»Zu einem Spaß, den wir uns machen wollen.«
Werner nahm ihr den Totenkopf aus den Händen. »Einmal hast du meine Sachen nicht anzurühren, zum andern solltest du wissen, daß ein Totenkopf kein Spielzeug ist.«
»Er steht in deinem Zimmer und …«
»Zu Studienzwecken habe ich ihn mir seinerzeit besorgt. Der Totenkopf ist nichts für dich. Wenn du dir einen Spaß machen willst, suche dir etwas anderes.«
Werner entfernte sich; Steffy und Karl blieben enttäuscht zurück.
»Was machen wir nun?«
»Legen wir Hühnerknochen hin, das tut es auch«, meinte der Bruder.
»Quatsch – mir ist jeder Spaß verdorben!«
So kam die Stunde der Ankunft heran. Die Eltern waren zur Bahn gefahren, um den Besuch abzuholen. Sie hatten auch Steffy aufgefordert, mitzukommen, doch sie wollte nicht.
»Wir empfangen sie hier an der Gartentür, das ist viel stimmungsvoller«, entgegnete das junge Mädchen und war davongesprungen. Dann hießen die Eltern Frau Klattermann und Angela auf das herzlichste willkommen.
»Du hast es allerdings nötig, Waldluft zu atmen«, meinte der Oberförster gutmütig, indem er Angela über die blassen Wangen strich. »Paß auf, Mädel, in einem Monat schon siehst du ganz anders aus.«
Während man der Oberförsterei zufuhr, betrachteten Frau Klattermann und Angela die hübsche Landschaft mit hellem Entzücken. Es war auch ein selten schöner Augusttag. Hell und warm strahlte die Sonne vom Himmel, so daß die roten Dächer der Häuser nur so leuchteten. Dann verließ man das Städtchen, und schon zeigten sich rechts und links die prächtigen alten Bäume, die stämmigen Eichen, die schlanken Rottannen, die Buchen mit ihren grauen Säulenstämmen. Entzückt schweiften die Augen Angelas über all diese Waldpracht.
»Es ist mir, als sei der Wald in den zwei Jahren, da ich ihn nicht gesehen habe, noch viel, viel schöner geworden. Ach, Onkel Kurt, ich glaube, ich werde bei euch zu vollwangig werden, denn Tante Agnes wird ja auch dafür sorgen, daß nicht nur das Auge, sondern auch der Magen etwas Schönes bekommt.«
»Aber Angela«, tadelte Frau Klattermann, »wie darfst du denn so etwas sagen?«
Frau Uhde lachte belustigt. »Ich werde dich nicht enttäuschen, Angela. Du wirst mit meiner Kochkunst zufrieden sein.«
Bald schimmerte die Oberförsterei durch das Grün der Bäume. Uhde streckte die Hand aus. »Gleich sind wir da.«
Noch eine Minute, und der Wagen hielt vor der offenen Gartenpforte. Suchend schaute sich Frau Uhde um. Außer ihren beiden ältesten Söhnen war niemand zu sehen. Wo blieb denn Steffy? Warum kam sie nicht, Tante und Base zu begrüßen?
Werner und Leopold halfen den Neuangekommenen aus dem Wagen. Vor dem weißen Bau stand rechts und links je eine mächtige Kastanie. In dem Augenblick, da Frau Klattermann und Angela unter die Bäume traten, wurden von oben mehrere Hände voll Wald- und Wiesenblumen heruntergeworfen. Lachend blickten alle auf. Oben in den Zweigen saß der dreizehnjährige Robert und streute die Blumen als Willkommensgruß herab.
»Das nenne ich einen herzlichen Empfang«, lachte Frau Klattermann und rief Robert fröhliche Willkommensworte hinauf.
In der Oberförsterei war weder von Steffy noch von Karl etwas zu sehen. So wurden die Neuangekommenen in ihre Zimmer geführt. Angela umfaßte mit leuchtenden Blicken das Stübchen mit seiner Behaglichkeit. Wie schön war es hier, wie traulich! Und der herrliche Blick über das Wasser hin zu den Waldungen. Der Oberförster küßte Angela auf die Stirn.
»Möge es dir hier bei uns recht gut gefallen, mein liebes Nichtchen, mögest du neue Kräfte sammeln zu deiner Arbeit.«
»Oh, Onkel«, entgegnete Angela, »wie sollte es mir hier nicht gefallen? Welch herrlicher Blick, welch reizendes Stübchen! Ich freue mich herzlich auf die kommenden Wochen.«
Darauf hielt sie im Zimmer Umschau. Auf dem Tisch stand eine Vase mit herrlichen Blumen, und auf dem Schrank stand noch ein Willkommensstrauß. Leuchtend rote Mohrrüben, die Wurzeln nach oben gerichtet, dazwischen Spargelgrün. Der Strauß sah recht niedlich aus, und als der Oberförster das Zimmer betrat, wies Angela lachend auf den sonderbaren Willkommensgruß.
»Das ist Steffys Werk«, schmunzelte er, »solche Scherze heckt deine liebe Base fast täglich aus! Steffy ist ein kleiner Racker, laß dich nur nicht von ihr unterbuttern!«
Dann ließ er Angela allein, damit sie ihre Sachen ordnen könne. Immer wieder trat sie hinaus auf den Balkon, von dem aus sie einen freien Blick über den See hatte. Wie schön war es hier! Hier konnte sie sich erholen. Sie brauchte Erholung dringend. Angela fühlte sich matt und abgespannt. Das würde anders werden. Alles was sie brauchte, konnte sie hier haben. Wasser und Wald, dazu liebe, prächtige Menschen. – Plötzlich kniff sie die Augen zusammen und schaute hinaus auf das Wasser.
Da schwamm in der Mitte des Sees ein großes Waschfaß, in dem ein junges Mädchen und ein größerer Knabe hockten. Das Faß drehte sich unausgesetzt um sich selbst herum, die Insassen aber besaßen kein Ruder und mußten sich ziellos treiben lassen. Angela schüttelte den Kopf. Wie kam das Faß auf den See, und was für unvorsichtige Menschen hatten sich dort hineingesetzt? Sie wollte sogleich den Onkel darauf aufmerksam machen, um vielleicht ein Unglück zu verhüten.
Uhde befand sich noch im Nebenzimmer bei seiner Schwägerin. Angela bat ihn, auf den Balkon zu kommen, und wies auf das Faß.
»Siehst du die beiden Menschenkinder dort draußen in dem Faß?«
»Potz Wetter!« entfuhr es dem Oberförster. »Das sind ja Steffy und Karl!«
»Sie werden verunglücken, Onkel, man muß ihnen sogleich zu Hilfe kommen.«
Uhde rief seinen Sohn Leopold und hieß ihn, mit dem Kahn zu den beiden zu rudern und sie ans Ufer zu holen. Er ahnte schon den Zusammenhang. Seine beiden übermütigen Kinder hatten das große Faß, das noch von der letzten Wäsche her am Ufer gestanden hatte, gesehen, Waren hineingestiegen, und schon hatte eine leichte Strömung das Faß abgetrieben. Da die beiden kein Ruder besaßen, war es ihnen unmöglich, wieder ans Land zukommen.
In angstvollem Bangen verfolgte Angela das Weitere. Leopold hatte mit wenigen Ruderschlägen das Faß erreicht, hielt Steffy die Kette des Kahnes, die an dem Faß befestigt wurde, hin, und so schleppte er das Faß samt Insassen ans Land zurück.
Nun waren die Vermißten gefunden und kamen im nächsten Augenblick lärmend die Treppe hinaufgestürmt, um die Verwandten zu begrüßen.
Die Mutter empfing Steffy mit einem strafenden Blick, aber die schüttelte lachend den Kopf.
»Du mußt uns nicht böse sein, Muttchen. Wir wollten für Angela ein paar schöne Wasserrosen holen, und da gerade das Faß dastand, sind wir eingestiegen. Wir konnten ja nicht wissen, daß wir vom Ufer so weit abgetrieben werden würden. Nun aber sind wir gesund hier, und nun will ich der Tante und Base Angela erst einmal recht herzlich guten Tag sagen.«
In ihrer wilden, ungestümen Art warf sie sich der Tante an den Hals und küßte sie herzhaft ab. Dann kam Angela an die Reihe. Hier war die Musterung schon kritischer. Aber da Angela sie freundlich anlachte und sofort damit begann, daß man gut Freund sein wolle, nickte Steffy wohlgefällig und meinte:
»Na, ich denke, wir beide werden uns schon vertragen.«
Dann ließ man die Gäste allein, die in einer halben Stunde zum Essen unten im gemeinsamen Eßzimmer erwartet wurden. Angela brachte den Mohrrübenstrauß mit.
»Er ist gar so schön«, lachte sie. »Er muß auch beim Essen neben mir stehen.«
»Ich wollte dir ganz etwas anderes ins Zimmer stellen«, sagte Steffy und zog die Stirn finster zusammen, »leider habe ich einen Bruder, der keinen Spaß versteht.«
»Ich möchte nicht abstimmen lassen, Steffy, ob dein ausgedachter Scherz richtig und erlaubt war.«
»Du bist eben ein alter Hagestolz, ein Bücherwurm, ein Mensch, der Scherze nicht leiden kann. Mit dem«, sie wandte sich zu Angela, »brauchst du dich nicht anzulegen.«
Da mußte selbst der ernste Werner lachen, und der Frieden war wiederhergestellt. Aber als er dann nach dem Essen bei der Zigarre saß und einen Augenblick aufstand, um der Mutter etwas herbeizuholen, und dabei die Zigarre auf den Aschenbecher legte, da juckte es Steffy schon wieder in den Fingern. Nur Bruder Karl bemerkte es, daß sie mit blitzartiger Geschwindigkeit das feuchte Ende der Zigarre in den Pfeffernapf tauchte und dann die Zigarre wieder an ihren alten Platz legte.
Gespannt hingen die Augen der beiden Geschwister an Bruder Werner, als der wieder seinen Platz einnahm und nach seiner Zigarre griff. Hu, wie schnell nahm er die Zigarre wieder aus dem Munde! Ganz rot war er im Gesicht geworden. Steffys Augen aber blitzten lustig. Er sah sie mit einem strafenden Blick an.
»Du solltest dich nicht schon am ersten Tage von deiner besten Seite zeigen«, grollte Werner. »Es ist wirklich an der Zeit, daß du mit deinen siebzehn Jahren endlich deine Kindereien läßt.«
Obgleich er nur leise gesprochen hatte, waren die verweisenden Worte doch gehört worden, und die Mutter fragte, was es schon wieder gäbe. Aber Werner wehrte ab, und Steffy fühlte sich dadurch entwaffnet.
»Ein anständiger Bruder bist du doch«, meinte sie, »ich werde es auch nicht wieder machen.«
So verging der Tag der Ankunft heiter und gemütlich, und als sich die Gäste abends zur Ruhe begaben, äußerte Steffy: »Ich denke, wir werden noch manchen tollen Streich zusammen ausführen können. Du mußt nur recht lange bei uns bleiben, Angela.«
Frau Klattermann und Angela weilten bereits acht Tage in der Oberförsterei. Obwohl Angela an den meisten tollen Streichen Steffys nicht teilnahm, hatte sich doch bald starke Zuneigung zwischen den beiden jungen Mädchen entwickelt. Bruder Karl meinte allerdings, daß Angela zu zimperlich sei, aber Steffy behauptete, man werde die Base schon erziehen. Wirklich hatte sich Angela auch an einigen übermütigen Forschungsreisen durch den Wald beteiligt, wobei die beiden Mädchen manchen Spaß gehabt hatten.
»Sie wird schon langsam werden«, sprach an solchen Abenden Steffy mit dem Brustton der Überzeugung zu Bruder Karl.
Am meisten freute sich jedoch Frau Klattermann über ihre Tochter. Ihr war Angela stets zu ernst und still gewesen. Jetzt schallte das fröhliche Lachen der Tochter gar häufig durch das Haus, und da Steffy immer den Anlaß dazu gab, war sie der Nichte von Herzen dankbar, daß es ihr gelang, die stille Angela anzuregen. Wenn dann Frau Klattermann mit ihrer Schwester Agnes über Steffy sprach, wenn sie die Nichte über alle Maßen lobte, lächelte Frau Uhde ein wenig sorgenvoll.
»Ich wollte, Steffy hätte mehr von deiner Angela an sich.«
»Aber nicht doch«, wehrte die Schwester. »Dein lebensprühendes Mädel ist ja der reine Sonnenschein.«
»Wenn du alle ihre tollen Streiche wüßtest, Minna, würdest du nicht so lobend von Steffy reden. Gewiß, sie ist ein gutes, harmloses Kind, aber für ihr Alter müßte sie gesetzter sein.«
Die Tante verteidigte die Nichte auf das leidenschaftlichste, und so kam es auch, daß Steffy in ihr immer eine warme Fürsprecherin bei all ihren tollen Streichen fand.
An einem schönen Nachmittag forderte der Oberförster seine Familienangehörigen und Gäste auf, gemeinsam mit ihm zum Jagdschloß hinüberzurudern, er wolle dort noch einmal nach dem Rechten sehen, da in den nächsten Tagen der kleine Besitz verkauft werden würde. Die alte Baronin von Brenken stehe bereits in Unterhandlung, der Käufer würde schon übermorgen erwartet, um den Bau anzusehen.
Steffy geriet bei dieser Nachricht fast außer sich. Das war denn doch eine Unverschämtheit! Dieses Jagdschloß hatte sie immer als ihr Eigentum betrachtet. In dem kleinen Garten tollte sie seit Jahren umher, auf der Terrasse saß sie stundenlang, und jetzt wollte so ein Fremder kommen und das Jagdschloß kaufen. Ihr Ärger machte sich in entrüsteten Ausrufen Luft.
»Das geht aber nicht, Väterchen! Wenn der Bewerber kommt, so sage ihm, er möchte sich woanders ankaufen.«
Auch Karl empörte sich. »Sag ihm, daß in dem Schloß die Weiße Frau umgeht. Dann fürchtet er sich vielleicht.«