1902 starten in Berlin drei Personen in einem Auto mit nur 8 PS. Sie wollen damit bis nach Süditalien fahren.
1902 erhitzt eine neue Kunstrichtung die Gemüter Europas, in Wien heißt sie Secession, in München Jugendstil.
1902 werden gleich zwei berühmte Türme attackiert, einer geht in die Knie.
1902 hat einer spezielle Probleme mit den Erdenbürgern, der Mond.
Historische Fakten aus Kultur und Kunst – in kleinen Geschichten erzählt, spannend, traurig, überraschend, lustig.
Was können wir von diesen Kulturschätzen heute im 21. Jh. noch finden und besuchen? Darüber informiert der zweite Teil, incl. Quellenangaben zum selbstständigen Weiterforschen.
Sibylla Vee ist das Pseudonym einer Autorin, die sich zunächst in Praxis und Theorie ganz der Bildenden Kunst widmete.
2016 wechselt sie vom Pinsel zur Feder und beginnt zwei Serien:
KLEINE KULTURGESCHICHTEN erzählen Kurzbiographien, – von Entdeckern, Kulturschaffenden und Künstlern, Männern wie Frauen, die es wert sind, aus dem Schatten der »sehr Berühmten« herauszutreten.
KLEINE BILDERGESCHICHTEN erzählen von Lieblingsmotiven in Grafik und Malerei, von sehr berühmten wie auch kaum bekannten Künstlern und Werken.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Sibylla Vee
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Diana Balonger
Korrektorat: Diana Balonger
Satz und Layout: Sibylla Vee
Coverdesign: Sibylla Vee
unter Verwendung von Ausschnitten aus
einem Plakat der Adler-Werke für Fahrräder, 1900
und einer Zeichnung aus »Peter Rabbit« von
Beatrix Potter, 1902
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-753475332
MÜNCHEN – Januar 1902
Im verschneiten Nymphenburger Park gingen zwei Männer spazieren.
»Bierbaum, lassen Sie uns nach Spanien fahren, bis an die wilde Atlantikküste!«, schwärmte der Größere mit dem ausgeprägten Schnurrbart.
»Bachmann, ich bin für Italien«, erklärte der Kleinere mit den runden Brillengläsern mit Nachdruck. Das war verständlich. Otto Julius Bierbaum war Schriftsteller und sehnte sich nach dem Land, das schon das Traumziel des alten Geheimrat Goethe gewesen war.
Doch der Maler Alf Bachmann gab so schnell nicht auf und beschrieb mit voller Hingabe und Ausführlichkeit die spanischen Landschaften und Städte, als hätte er die Reise schon einmal gemacht.
»Bachmann, ich glaub’ s Ihnen ja, aber erstmal müssen wir ein passendes Automobil finden, mit achtundvierzig Pferdestärken!«
»Aber klar«, lachte der Maler und entwarf gleich in wortreichen Bildern die äußere Gestalt des Wagens und die bequeme Inneneinrichtung einschließlich der Schlafstätte.
»Vielleicht noch eine komplette Küche an Bord und ein Badezimmer?« fragte der Schriftsteller mit einem Augenzwinkern.
»Wenn schon, denn schon«, und mit erhobenem Kopfe fügte Bachmann hinzu, »und noch ein paar niedliche Überraschungskanonen, denn das versteht sich von selbst, unser Prachtexemplar wird in jedem Ort die Attraktion sein und wir müssen es verteidigen können.«
»Und ein Schiffsrumpf unter dem Fahrgestell, sodass uns kein Fluss noch See aufhalten kann!«
»Sowieso«, grinste Bachmann, »unter einem Universalgeniefahrzeug geht nichts! Und Königsblau muss es sein!«
Die zwei Männer, die beide auf die Vierzig zugingen, lachten und amüsierten sich wie kleine Jungs, die gerade einen Streich ausgeheckt hatten.
Bachmann formte einen Schneeball: »Zuagricht, hergricht, …«
»Halt!« schrie Bierbaum und hob beschwörend die Hand, »unterstehen Sie sich! Damit macht man keine Witze!« Als Schriftsteller war es ihm ernst mit der Sprache. Einen solchen Missbrauch musste er vereiteln, auch wenn zur Zeit in ganz Bayern der Spruch in aller Munde war, der das Schicksal des zum Tode verurteilten Räubers Kneißl in drei Worten zusammenfasste und für die Einheimischen als ein Widerstandszeichen gegen die Obrigkeit galt.
Bachmann verkniff sich das »higricht«, schoss aber seinen Schneeball ab. Er fand die Hinrichtung der Idee ganz unbedenklich, mit der Reise würde es eh nichts werden, denn Bierbaum war zwar wie er selbst aus dem Norden Deutschlands nach München gezogen, aber hatte er je eine größere Reise unternommen? Er, Alf Bachmann, hatte dagegen schon alle Nordseeinseln, Island, die Westküste Frankreichs sowie Portugal und Teneriffa bereist.
Doch er sollte sich irren, denn Otto Julius Bierbaum war nicht nur Schriftsteller, sondern kannte als Journalist und Redakteur eine Menge wichtiger Leute und er hatte eine pfiffige Idee.
WESERBERGLAND – 16. Januar 1902
Bei dem Treffen zweier Männer im verschneiten Eichenwald des Weserberglandes ging es um Leben und Tod. Auf der einen Seite stand der 41-jährige preußische Landrats Adolf von Bennigsen, und ihm gegenüber der 26-jährige landwirtschaftliche Verwalter Oswald Falkenhagen. Es ging um Leben und Tod und es ging um die Ehre des adligen Offiziers und Landrat.
Seine Ehefrau Elisabeth, geborene von Schnehen, hatte ihm fünf Kinder geboren. Ob aus Langeweile oder Einsamkeit – ihr Ehemann war stets unterwegs – hatte sie eine Liebesaffaire mit dem vier Jahre jüngeren Nachbarn begonnen.
Das Duell auf Pistolen fand am Morgen des 16. Januar auf dem Krönungsplatz im Saupark Springe statt. Von Bennigsen wurde beim dritten Schusswechsel in den Bauch getroffen und brach zusammen. Der Schwerverletzte wurde zum Bahnhof getragen, mit dem Zug nach Hannover gebracht und im Krankenhaus operiert. Doch am nächsten Tag verstarb er.
An der Beerdigung auf dem Familienfriedhof des Rittergutes derer von Bennigsen nahmen zahlreiche Adlige sowie Reichskanzler von Bülow und die gesamte Reichsregierung teil.
Im Februar wurde Oswald Falkenhagen von der ersten Strafkammer des Landgerichts Hannover in einem Schwurgerichtsprozess zu sechs Jahren Festungshaft verurteilt.
In der Öffentlichkeit fiel das Urteil über die Witwe deutlich härter aus: »Die größte Schuld trägt wieder einmal die Frau«, schrieb die Schaumburg-Lippische Zeitung. Die Besucher der Gerichtsverhandlung waren geradezu enttäuscht, die ruchlose Geliebte als unspektakuläre Frau zu erleben. Selbst das Gericht hatte es für den Ehebrecher als strafmildernd angesehen, dass die Verführerin vier Jahre älter war.
Elisabeth von Bennigsen wurde von beiden Familien verstoßen und jeglicher Kontakt zu ihren fünf Kinder wurde ihr untersagt.
Rudolf von Bennigsen war am tiefsten bestürzt über den Tod seines Sohnes. Er selbst war es gewesen, der sechs Jahre zuvor eine politische Diskussion angestoßen hatte, dass die Wiederherstellung einer verletzten Ehre über ein Duell jetzt der Vergangenheit angehören müsse und sie vor Gericht verhandelt werden solle. Die Diskussionen waren 1896 heftig gewesen, aber ergebnislos geblieben. Jetzt, nach dem Tod des jungen Bennigsen entbrannten die Debatten erneut und es formierte sich eine deutsche Anti-Duell-Liga. Doch für Bennigsens Sohn kam diese zu spät.
Ein Pistolenduell interessierte die Fabrikantenwitwe Elfriede Kegelbauer nicht im Geringsten. Ihre höchste Aufmerksamkeit galt zwei Abbildungen in der Zeitschrift JUGEND. Das linke Bild zeigte Otto von Bismarck auf einem Spaziergang im Sachsenwald mit seinen zwei Doggen, die ihm Kaiser Wilhelm II. geschenkt hatte. Der amtierende Reichskanzler, Graf von Bülow, stand auf der Düne von Norderney und neben ihm saß sein neuer Hund, ein schwarzer Pudel, namens Mohr, wie die Bildunterschrift verriet. Elfriede fand, dass der alte Reichskanzler stattlicher aussah, doch Doggen konnte sie nicht ausstehen, dann schon lieber einen Pudel. Doch einen kleinen weißen Zwergpudel wie ihn die Baronesse hatte, war nichts für Elfriede Kegelbauer. Zudem wollte sie jetzt als Witwe ihre Freiheit genießen. Alle ihre Freundinnen hatten sie für verrückt erklärt, einen vierzig Jahre älteren Mann zu heiraten. Doch Elfriede hatte keine Familienangehörigen, warum sollte sie dann nicht die Avancen des reichen Fabrikanten annehmen. Er war immer gut zu ihr gewesen, wenn auch unendlich langweilig. Sie sei der »Stern seines Lebens«, hatte er immer gesagt. Doch diese moderne Münchner Zeitung, die sich JUGEND nannte und die auf dem Papier seiner Fabrik gedruckt wurde, wäre nichts für ihr »hübsches Köpfchen«. Elfriede Kegelbauer fand aber genau diese Zeitung sehr inspirierend, knapp, witzig und immer überraschend. Die beiden Reichskanzler mit ihren Hunden nebeneinander abzudrucken, das traute sich nur diese Zeitung.
Doch da irrte Elfriede Kegelbauer. Die beiden Bilder hatte die Redaktion von JUGEND aus einem Prospekt der Hundezüchterei CAESAR & MINKA entnommen. Dort waren alle Reichshunde gekauft worden.
WORPSWEDE – 10. Februar 1902
Für einen kurzen Moment genoss Paula den weiten Blick über das schneebedeckte Moor, dann schloss sie die Augen, vertieft in die inneren Bilder ihrer Erinnerung. Vor einem Jahr hatten sie alle drei Hochzeiten in der Malerkolonie Worpswede gefeiert: Heinrich Vogeler und Martha Schröder, Rainer Maria Rilke und Clara Westhoff, und sie, Paula Becker und Otto Modersohn. Es war so eine innige Wahlverwandtschaft gewesen Wo waren sie hin verschwunden, die wundervollen Tage in der großen Künstlerfamilie? Ein Brief von Clara war heute angekommen. Er schmerzte Paula sehr, nicht weil er erst zwei Tage nach ihrem Geburtstag ankam, sondern viel mehr, weil aus dem Brief nicht mehr die Clara sprach, die sie so liebte, Clara, die Bildhauerin, die ihr so vertraute Künstlerseele. Paula stand noch eine Weile am Fenster, dann setzte sie sich an ihren blauen Tisch, nahm einen Briefbogen und schrieb:
»Liebe Clara Westhoff, …
Ist Liebe ..nicht wie die Sonne, die alles bescheint. ..Muß sie Einem alles geben und anderen nehmen. ..Ich folge Ihnen ein wenig mit Wehmut. Aus Ihren Worten spricht Rilke zu stark und zu flammend. Fordert das denn die Liebe, daß man werde wie der andere? Nein und tausendfach nein. Ist nicht dadurch der Bund zweier starker Menschen so reich und so allbeglückend, daß beide herrschen und beide dienen in Schlichtheit und Friede und Freude und stiller Genügsamkeit. …wie mir scheint, haben sie viel von Ihrem alten Selbst abgelegt und als Mantel gebreitet, auf daß Ihr König darüberschreite. Ich möchte für Sie, für die Welt, für die Kunst und auch für mich, daß Sie den güldenen Mantel wieder trügen. Lieber Rainer Maria Rilke, ich hetze gegen Sie. Und ich glaube, es ist nötig, daß ich gegen Sie hetze ..gegen Sie und gegen Ihre schönen bunten Siegel, die Sie nicht nur auf Ihre feingeschriebenen Briefe drücken. ..Ich glaube, ich habe ein treues Herz, ..und ich glaube, daß keine Macht der Welt Ihnen die Erlaubnis gibt, dies Herz zu treten. ...Geht denn das Leben nicht, wie wir sechs es uns einst dachten? ..Das wäre doch eine erbärmliche Welt, auf der das nicht ginge! Und ist unsere denn nicht wunderschön und zukünftig.