Mit seinem Gedichtband Grauzone morgens überraschte im Jahr 1988 ein 26jähriger Dichter aus Dresden – aus der damaligen DDR. Ein »Hineingeborener«, der von seinem Land sich nicht mehr poetische Aufbauhilfe abverlangen ließ, zog mit scharfgeschnittenen Momentaufnahmen aus dem »Ghetto einer verlorenen Generation« in den Metropolen des Sozialismus seine erste Bilanz – mit nüchternem Blick »in Augenhöhe«.

Mit seinem zweiten Gedichtband Schädelbasislektion hat Durs Grünbein den »stillen Aufruhr« poetischer »Zeitrafferaufnahmen« weitergetrieben.

Die Gedichte in Schädelbasislektion reagieren auf den Zerfall der Sprache in die geschwätzige Phrase – »zu jeder Schandtat bereit« –; auf den schmerzhaften Verlust des seiner nicht mehr selbst gewissen Ich; auf mörderische Großstadteinsamkeit und die Zerstörung der sozialistischen Ikonen. Die Gedichte von Durs Grünbein sezieren die Auflösung des modernen Ich.

Durs Grünbein

Schädelbasislektion

Gedichte

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2020.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1991

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-77102-0

www.suhrkamp.de

Man is a thought-sign

Charles Peirce

I Schädelbasislektion

1

Was du bist steht am Rand

Anatomischer Tafeln.

Dem Skelett an der Wand

Was von Seele zu schwafeln

Liegt gerad so verquer

Wie im Rachen der Zeit

(Kleinhirn hin, Stammhirn her)

Diese Scheiß Sterblichkeit.

2

Dieser Traum vom Leichthin

Kennt doch niemals Erbarmen.

Zwang? Ist zwecklos. Ein Dschinn

Hält sich selbst in den Armen

Reiner Luft (Griechisch: Pneuma).

Erst ein Blindflug macht frei.

Sich oft bücken gibt Rheuma.

Du verstehst ... Samurai.

3

Zwischen Sprache und mir

Streunt, Alarm in den Blicken,

Ein geschlechtskrankes Tier.

Nichts wird ganz unterdrücken

Was mein Tier-Ich fixiert

Hält – den Gedankenstrich kahl

Gegen Zeit imprägniert:

Bruch der aufgeht im All.

4

Ohne Drogen läuft nichts

Hier im Irrgang der Zeichen

Wo du umkommst gesichts-

Los in blinden Vergleichen.

Träumend ... Rate für Rate

Von den Bildern beäugt.

Wer ist Herr der Opiate

Die das Hirn selbst erzeugt?

5

Unterm Nachtrand hervor

Tauch ich stumm mir entgegen.

In mir rauscht es. Mein Ohr

Geht spazieren im Regen.

Eine Stimme (nicht meine)

Bleibt zurück, monoton.

Dann ein Ruck, Knochen, Steine.

... Schädelbasislektion.

Posthume Innenstimmen

Inframince

Unverwandt streunend, der Traum eine Lichtung im Ich

Nimmst du die Sprache der Dinge mit unter die Haut.

Jeder in seiner Welt... unerkannt ... soviele Welten.

Was sich hier zeigt bleibt versteckt, was sich erinnert

Vergeht an der Drehung des Strickes an dem du hängst.

»Hab mich verirrt.« /

»Name?« /

»Auf Wiedersehn.« /

»Komm zurück.«

Die Sache wird inhaltsleer wenn du denkst, kein Vergleich

Mit diesem Hirn, schwimmend im Liquor, ein grauer Schwamm.

Sprache zerfällt, unverdaut, sie verwest wie Pupillen,

Ur-Zeit verramscht wie die Meeresschildkröten auf Bali.

Archimedes’ Punkt, unter uns gesagt, ist kein Ort.

Das Übel liegt an der Wurzel der Sätze, am Grund

Der Idiome und Stile, die man irgendwann sattkriegt.

Über der Zeit das Vergessen spricht fließend Latein.

Après l’amour

Gleich nach dem Vögeln ist Liebe der bessere Stil.

Die Tierhaut entspannt sich, das Herz fängt sich ein.

Flacher Atem bläst Schweiß aus den Schlüsselbeinmulden.

Auf der Zunge zergangen, löschen Spermien den Durst

Auf den Nachwuchs. Die Achselhöhlen, den müden Bauch,

Alles holt sich der Schlaf. Wie nach zuviel Theologie

Kehren die Laken sich um. Altes Dunkel am Rand,

Neue Ränder im Dunkel. Die Kniekehlen zwitschern

Zweistimmig stimmlos ihr Post-Coital, ein Rondeau.

Eben noch naß, richten die Härchen wie Fühler sich auf.

Betäubt, summa summarum gestillt, hört dieser Schmerz

Des Lebendigseins bis zur Erschöpfung auf wehzutun.

Zurück in der Zeit, sind die Körper an keinem Ziel.

Gleich nach der Liebe ist Vögeln der bessere Stil.

French kiss

Aus meinem Zwischendrinsein kein Hehl, mach ich zuletzt

Was draus zu machen mir einfällt, nicht viel, ein Gedicht.

Plötzlich wird Pfeifen im Wald zur besten Methode.

Streichhölzer, Tische, Nachtbars sind hier nur Holz.

Die Stimme bleibt weg in den einzelnen Pausen.

Unterm Moos, unerwartet, gibt eine Liebe Laut –

Zungenschlag wie das Quietschen von Gummistiefeln.

Ohne Anfang und Ende ist er jederzeit da, dieser

Ablauf der Mythen und Fakten tauscht und maskiert

Wie im Schachspiel die Hirne. Und was heißt schon

Eine-stehende-Welle-verlassener-Zeit? Etwa Rauch?

Was am Tauchen zum Bleiben reizt ist der Übergang.

Die Gefahr, daß im Innehalten die Frage stirbt.

Einsam auf weiter Flur steht ein gelangweiltes Und.

Dieu trompe – l’œil

Ganz klar, dein Entzücken hat wie ein Fledermausflug

Diesen flüchtigen Raum erzeugt und durchsucht, René.

Ein abstrakter Witz fegt die astralen Roste blank.

Wo immer Spuk mehr als Ultraschall war oder Zoologie

Sind nun Skalare ... Vektoren... Tensoren... am Ziel

Keines Wegs, den ein gelenktes Geschoß schnell verbraucht.

Einmal vermessen läßt uns der Raum wunschlos zurück.

Langeweile, codiert, macht den Tod zur Null im Perfekt.

Ein neuralgischer Punkt, zwischen X und X auf dem Sprung,

Jagt sich das Ich nun, verstört, durch ein Fehlerprogramm.

Zwischen den Zeilen des Elektrons erstarrt das Duell.

Weiter hinaus als gedacht wird das Restlicht zum Stern.

Folge dem Richtungspfeil bis die Landschaft sich hingibt.

Unter den Füßen, René, ist der Boden noch immer heiß.

Fisch im Medium

Was gemeint ist heißt Name, was verschwiegen bleibt Ding.

Weitverzweigt sind die Sätze – zu jeder Schandtat bereit –.

Peinliche Immanenz... In die Gödelschen Öden verrannt

Wird das Geschwätz wie der heilige Geldumlauf paranoid.

Der tägliche Aktienindex, ein Coup, gibt dem Spiel

Das Maß aller Dinge, die Regeln für Schicksal im Text.

Die Spiegel, ins Kühlfach gelegt, werden blind. Feierlich

Schwelt in Archiven und Banken das humanistische Gold.

»Ich hätte mich gern wie ein Fisch in den Medien bewegt.«

II Niemands Land Stimmen

First Citizen:

I the great tow? Why the great tow?

Shakespeare/Coriolanus

Niemands Land Stimmen

Unten am Schlammgrund

In Tunneln der U-Bahn

Vorm Fernseher die Toten

Inside out outside in

Begegnen... dem Tag

1. Unten am Schlammgrund

Auf den Boden gesunken

Dieser warmen aquarischen Nacht,

Ströme

Von Luftblasen sprudelnd vor Augen

(Ein glasiges Perlen, ein Tanz

Klebriger Laichkugeln

In Mineralwasser lichtwärts)

Müde in einer U-Bahn

(»Was fährt, das fährt.«)

Unten am Schlammgrund

der Straßen

Schaukelnd zwischen Erinnerungsschlieren:

Ein deutscher Wachtraum.

... irgendwas macht, daß Musik

Die du morgens gehört hast

dir abends noch einmal

Hochkommt, erbrochener Schleimrest

Von Rhapsodien in Schwarz,

Dunkelgrau, Violett...

(Langsame Kamerafahrt durch die Lakunen

Eines gespaltenen Hirns).

Lichtpunkte, Schreie

und jähe Blendungen

auf einer

Unendlich schleichenden

Schnellen Fahrt

ohne das Jaulen,

Ohne das Heulen des Schienenwolfs.

Eingepfercht

Diesseits von Raum und Zeit

(Der Verwandlungen und des Pollenflugs,

Der Kontinentaldrift und der Erfindungen,

Der Hierarchiezerfälle und der Geburten)

Gefangen in einer Geschwindigkeitsdruse,

ein Knäuel,

Umspeichelt, verdaut,

im Ekel zerwürgt,

Oder steckengeblieben in einer

Von diesen Speiseröhren der Stadt.

So dämmerst du

wieder einmal