Für Hope Leon, meine Komplizin
Kirsten Smith
Diebische Elstern
Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke
Normalerweise würden sie nie ein Wort miteinander wechseln, denn sie kommen aus ganz unterschiedlichen Sphären ihrer Highschool: Tabitha, die Königin der Flure; Elodie, das stille Mauerblümchen, und Moe mit dem üblen Ruf. Doch nun sitzen sie plötzlich in derselben lahmen Selbsthilfegruppe, nur weil sie alle geklaut haben. Und so gegensätzlich die Mädchen auch sind – nach und nach werden sie Freundinnen, teilen Geheimnisse, stehen füreinander ein. Ihre Perspektiven auf das Leben verändern sich – und auf die Liebe ebenfalls …
Das Buch zur Original Netflix-Serie Diebische Elstern (Trinkets)!
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Für Hope Leon, meine Komplizin
Wer glaubt, Portland wäre ein Ort,
an den Hipster ziehen, um sich zur Ruhe zu setzen,
war eindeutig noch nie in Lake Oswego,
meinem neuen Wohnort,
Inbegriff der Suburbia,
Vorort-Utopie cholerischer Audi-Fahrer,
eine Gegend, so weiß,
dass sie »Lake No Negro« genannt wird,
wo Dads hinziehen, denen es egal ist,
dass ihr Kind in Idaho glücklicher war;
eine Gegend, wo Dads hinziehen,
wenn sie hoffen, dass der ständige Regen
die Vergangenheit wegspült, als hätte es sie nie gegeben,
und das Einzige, was sie interessiert,
ist ihr neuer Job
und die hübsche neue Frau
und ein Ort,
an der die Tochter ordentlich unterrichtet
und vernichtend ignoriert wird.
Von den sechs Monaten, die ich jetzt schon hier bin,
war ich die ersten beiden allein,
bis ich Rachelle traf.
Sie suchte eine beste Freundin und ich irgendwen.
Wir trafen uns in der Jahrbuch-AG,
wo man als Neue
ziemlich schnell Anschluss findet.
Ich bin immer noch so neu,
dass niemand weiß, wie ich heiße,
aber lange genug dabei, um zu wissen, wer wer ist.
Ich bin immer noch so neu, dass ich nicht kapiere,
warum Ken Headley »SpermBob« genannt wird,
aber lange genug dabei, um mitbekommen zu haben,
dass Mr Hart geflogen ist,
weil er sich im Bioraum
an Martin Pierce rangemacht hat.
Ich bin immer noch so neu, dass ich keine Ahnung hab,
was die Interplanetar-AG eigentlich macht,
aber lange genug dabei, um eins zu wissen:
Wenn es einen Typen gibt,
mit dem jedes Mädchen
unbedingt zusammen sein will,
dann ist es Brady Finch.
Brady steht vor seinem Spind,
und als er nach oben greift und was rausnimmt,
denke ich an das Wort Sehne –
wahrscheinlich, weil wir in Bio gerade
die Anatomie des Menschen durchnehmen.
Ich sollte Mr Lopez mal sagen,
wenn er will, dass wir
die Anatomie des Menschen ernst nehmen,
muss er, während er das Wort Sehne ausspricht,
uns ein Bild von Brady Finchs Unterarm zeigen,
dann würde jedes Mädchen mit einem C minus
garantiert auf ein B plus kommen.
Brady schnappt sich seinen Rucksack
und knallt den Spind zu,
und sein sehniger Arm
legt sich auf seinen rechtmäßigen Platz:
auf Tabitha Fosters Schultern.
Ich frage mich ja, was am »Beliebtsein« eigentlich so toll sein soll, denn manchmal ist es echt ganz schön nervig. Zum Beispiel wenn irgendwelche blöden Tussis mit geistlosen Sprüchen Aufmerksamkeit heischend in deinen persönlichen Raum eindringen und um Freundschaft betteln.
»Hey, Tabitha … Wie gehts? … Alles klar? … Tolle Ohrringe …« Und so weiter. Kotz. So was von anstrengend.
Natürlich finde ichs super, dass mich die Leute kennen und ich durch meinen Promi-Bonus mit allem davonkomme, aber trotzdem hätte ich auch gern ein kleines bisschen Privatsphäre.
Gerade ist eine der seltenen Gelegenheiten, wo ich besagtes kleines bisschen tatsächlich bekomme – mit Kayla und Taryn auf dem Mädchenklo. Klar, die beiden reden über total albernes Zeug, aber immerhin beachten sie mich nicht, weil sie die ganze Zeit in den Spiegel gucken.
»Ich hab gestern Abend anderthalb Stunden Cardio gemacht«, sagt Kayla, während sie sich die langen schwarzen Haare aus den Augen streicht. Asiatinnen haben echt Glück, was ihre Haare angeht. Sie haben kaum welche am Körper, dafür aber diese superglänzenden, pflegeleichten Mähnen.
»Ich glaub, von Coke Zero bekommt man Verstopfung«, sagt Taryn und presst sich eine Hand auf den Bauch.
Kurz darauf sieht Kayla mit zusammengekniffenen Augen einer gut gelaunten Blondine hinterher, die gerade den Toilettenraum verlässt. »Serena Bell nimmt die Pille«, sagt sie. »Deswegen hat sie solche Riesentitten.«
»Meine sind einfach ein gottgegebenes Geschenk«, sagt Taryn und drückt die Brüste in ihrem tief ausgeschnittenen Juicy-Couture-Top hoch. Es stimmt; ihre C-Cups sind ihr großer Pluspunkt und sie hat definitiv kein Problem damit, sie einzusetzen.
Ausnahmsweise bombardieren mich Kayla und Taryn mal nicht mit Fragen wie »Was macht Brady?« und »Was geht heute Abend?«, weil das Nachschminken und Stylen und Sich-selbst-im-Spiegel-Bewundern ihre ganze Aufmerksamkeit erfordert.
Insgeheim bin ich eine richtige Expertin, was Spiegelgesichter angeht. Alle haben eins. Das Spiegelgesicht meiner Mom: rauchiger Blick, die Augen halb geschlossen, sexy und geheimnisvoll. Kaylas: ein Kussmund mit geschürzten Lippen und eingesogenen Wangen. Taryns: ein kesses Grinsen, wobei sie den Kopf in einem Winkel neigt, der sie fünf Kilo leichter aussehen lässt. Zu dumm, dass keine von ihnen das im echten Leben hinbekommt. Das ist das Blöde daran; eigentlich machen wir unser Spiegelgesicht, weil wir von anderen so wahrgenommen werden wollen, aber nur wir selbst sehen uns so.
Das wäre vielleicht mal ein gutes Thema für den Schulblog, aber wer hat schon Zeit für so was? Nur weil Ms Hoberman mir in Kreativem Schreiben ein A gegeben hat, muss ich meine Zeit schließlich noch lange nicht mit Bloggen verschwenden. Bloggen ist was für Leute ohne Sozialleben. Außerdem gibt Ms Hoberman allen ein A. Deswegen mache ich dieses Halbjahr auch ihren Shakespeare-Kurs. Das Beste daran sind die Ausflüge – mit Freundinnen abhängen und dafür auch noch Extrapunkte kriegen. Dieses Jahr gehen wir nur zu einer Aufführung vom Northwest Classical Theatre, aber nächstes Jahr, in der Zwölften, fahren wir zum Shakespeare Festival nach Ashland. Ein ganzes Wochenende Party und mit dem Freund rummachen, und die Eltern bezahlen, weil sie denken, wir würden »was lernen«.
Bradys Spiegelgesicht habe ich noch nie gesehen. Sein Alltagsgesicht ist allerdings auch schon ziemlich umwerfend. Brady hat Grübchen und dicke, blonde Haare, die er immer ein bisschen zerwühlt stylt, was fantastisch aussieht, und manchmal kann er sogar richtig charmant sein. Er ist kein Fan von tiefschürfenden Gesprächen, aber welcher Typ ist das schon? Und mal im Ernst, wozu auch? Es ist viel einfacher, nicht miteinander zu reden. Reden endet immer nur damit, dass man endlos über die eigenen Gefühle spricht – nie über seine – und dabei viel zu viel von sich preisgibt, bis der Typ dir schließlich das Herz bricht und du maßlos enttäuscht bist.
Kayla trägt sich zum Schluss noch ihren rosa schillernden Lipgloss inklusive Plumper von Dior auf. Ihre Lippen sehen leicht klebrig aus.
»Können wir los?«, frage ich. Marcia Abrahams guckt schon die ganze Zeit zu mir rüber und ich habe den Verdacht, dass sie gerade all ihren Mut zusammennimmt, um mich zu fragen, was ich zum Spring Fling anziehe. Sie fragt mich das immer, und zwar regelmäßig ziemlich genau elf Wochen vor einem Ball, und dann schafft sie es irgendwie, fast dasselbe zu tragen. Nachahmung ist angeblich ein Kompliment, aber Nachmacherinnen nerven, und wenn man mitbekommt, dass sie mal wieder eine Invasion in die Privatsphäre planen, sollte man sie tunlichst ignorieren.
Abgesehen davon hat Beliebtsein an der Lakers den Vorteil, dass man einen Spind neben den ganzen anderen beliebten Leuten hat. Ich weiß nicht, wie das funktioniert, aber anscheinend gehen die Spinde in bester Lage immer an die A-Promis.
Kayla und Taryn und ich schlendern zu unseren Spinden. Brady und seine Jungs sind schon da und Brady nimmt gerade seine Vitamintabletten aus dem Spind. »Höchstleistung« ist ihm extrem wichtig.
»Wo warst du gestern Abend?«, fragt ihn Jason Baines.
»Ja, genau«, sagt Noah Simos. »Du warst überhaupt nicht bei Ferber.«
»Hat dir das deine Mom nicht erzählt?«, fragt Brady. »Sie hat mich zu euch eingeladen und mir einen geblasen.«
Ist es nicht seltsam, wie oft Jungs Witze darüber machen, Sex mit den Müttern ihrer Freunde zu haben? Oder darüber, wie schwul die anderen sind? Wenn man einen Penis hat, kann man offenbar aus einem unerschöpflichen Vorrat an unlustiger Komik schöpfen.
Noah boxt ihn, und Brady schlingt lachend den Arm um mich. Ich rieche sein Dolce-&-Gabbana-Parfüm. Gar nicht mal so unangenehm. Ich sehe ihn an mit einem Blick, der sagt: Du bist der bezauberndste Mensch, den ich kenne, und dein Arm um meine Schultern macht mich zum glücklichsten Wesen auf der ganzen Welt. »Wann soll ich dich heute Abend abholen?«, fragt er und küsst mich.
»Um neun?« Er ist zwar ein Idiot, aber er hat echt tolle Lippen. Und er ist eins achtundachtzig, was gut ist, denn ich bin ein paar Zentimeter größer als die meisten Mädchen in meinem Jahrgang. Manchmal fragen mich die Leute, ob ich schon mal gemodelt hätte. Meine Mom hat mich mal zu einem professionellen Foto-Shooting geschleppt, aber ich fands furchtbar. Lauter heiße Lampen und alles total gestellt. Hat mich ziemlich schnell gelangweilt. Obwohl man sagen könnte, dass ich jetzt auch nichts anderes tue, wenn ich Brady so ansehe und die perfekte Freundin spiele. Entweder das oder ich zeige ihm mein Spiegelgesicht.
Ich weiß, ich bin zwar nicht direkt verantwortlich dafür, dass Lindsay Manatore ihre Runden halb in Jogginghose, halb in Shorts laufen musste, aber trotzdem hätte ich Alex wohl davon abhalten sollen, mit Janets Taschenmesser eins ihrer Hosenbeine abzuschneiden. Aber irgendwie bin ich auch froh, dass ich das nicht getan habe, denn es war schon sehr lustig. Jedes Mal, wenn wir Lindsay auf der Bahn begegneten, sang ich »Who wears short shorts?« von den Royal Teens.
Alex hat sich vor allem deswegen mit mir angefreundet, weil sie mich für lustig hält. Und weil sie dachte, so wie ich mich kleide, würde ich zu ihrem sozialen Kreis gehören. Ich hab ihr gesagt: »Vergiss es, ich hab einfach nur einen furchtbaren Klamottengeschmack.« Und dann hat Alex mich ihren Freundinnen als ihre urkomische, sarkastische Freundin Moe vorgestellt. Das war am Anfang der Neunten, und seitdem bin ich diese Person. Davor war ich immer nur mit Losern befreundet, aber ich muss sagen, mit den krassen Kids oder den »Burnouts« oder wie auch immer man sie nennt abzuhängen hat auch seine Vorteile, weil dir niemand blöd kommt. Das Problem ist, du lernst nie wen Neues kennen, denn die Leute gehen dir meistens aus dem Weg, weil sie denken, du bist gefährlich und verprügelst sie.
Der Einzige, der mein wahres Ich ansatzweise kennt, ist Noah. Das würde er in SEINEM Tagebuch wahrscheinlich nie zugeben. Er ist eh einer von den angesagten Jungs, und die schreiben kein Tagebuch. Die posten Status-Updates, und mit Status meine ich STATUS. Er hängt mit Leuten wie Tabitha Foster und Brady Finch und Jason Baines ab. Noah redet nur nach der Schule mit mir, wenn wir allein sind, und haut ab, bevor meine Tante von der Arbeit kommt. Oder ich gehe, bevor seine Mom nach Hause kommt.
Gestern habe ich ihm gewunken, als er gerade mit seinen Eltern nach Hause gekommen ist. Er hat nicht reagiert. Ich hörte, wie seine Mom gefragt hat: »Wer ist das?«, und er hat geantwortet: »Keine Ahnung.« Hey, Arschloch, wenn du so tun willst, als würdest du mich nicht kennen, okay, aber ich WOHNE NEBENAN. Hättest du nicht wenigstens sagen können: »Ich glaub, die wohnt nebenan«? Er muss mir ja nicht gleich seine ewige Liebe gestehen oder der ganzen Welt mitteilen, dass wir miteinander rumknutschen und manchmal auch mehr, aber gib doch wenigstens zu, dass du mich kennst. Blödmann.
»Bitte, sag nicht, dass es heute noch regnet.« Kayla zeigt auf den grauen Himmel, während wir den perfekt gepflegten Weg entlang zu Taryns Haus gehen.
»Tut mir leid. Es regnet heute noch«, sage ich. Wir sind in Portland. Hier regnet es 155 Tage im Jahr.
Kayla klingelt, und das Läuten hört sich an wie Kirchenglocken auf Crack. Das Haus ist ein protziges weißes Fertighaus direkt am Lake Oswego. Nicht mein Geschmack, aber in diesem Viertel gilt die uneingeschränkte Herrschaft der Neureichen, und dies ist das perfekte Beispiel dafür, was Neureiche mit ihrem Geld so machen. Taryns Eltern haben Geld wie Heu, durch den schönen Manager-Job ihres Vaters bei Nike und den ihrer Mom bei Wieden+Kennedy.
»Ich fahre«, verkündet Taryn, als sie die Haustür aufreißt, und schüttelt ihre blonde Lockenmähne.
»Ich will was Hottes kaufen«, sagt Kayla und fummelt an ihrem Bauchnabel-Piercing rum, das sie zusammen mit ihrem flachen Bauch unter einem strategisch aufgerollten Sweatshirt stolz zur Schau trägt.
Kayla hat einen Fitnessraum bei sich zu Hause und sie trägt ein rotes »Core«-Armband aus Gummi, das sie daran erinnert, den Bauch einzuziehen. Ihre persönliche Heldin ist Tracy Anderson, die Trainerin von Gwyneth Paltrow. Sie hat Tracys komplettes Trainingsoutfit, bis hin zu den Schuhen. Wenn ihre Mom es erlauben würde, hätte sie sich wahrscheinlich schon längst die Haare blondiert, um noch mehr wie Tracy auszusehen, aber zum Glück hat sie wohl erkannt, dass »Blonde Asiatin« nicht gerade der beste Look ist. Danke, Bai Ling.
Wir steigen in Taryns roten Mini, ein Geschenk ihrer Eltern für die unglaubliche Leistung, sechzehn geworden zu sein. Kayla krabbelt auf den Rücksitz.
»Hast du nicht schon einen ganzen Schrank voll mit hotten Sachen?«, ziehe ich sie auf.
»Too much, too much, too much, too much, too much, is never enough«, singt sie.
Unsere Freitagnachmittags-Shoppingtrips sind ein festes Ritual. Früher habe ich sie geliebt, aber seit ungefähr einem Jahr frage ich mich, ob ich mich dadurch nicht irgendwie bestechen lasse, wenn ich das Geld von meinem Dad ausgebe. Würde er nicht so viel verdienen, hätte Mom sich wahrscheinlich längst von ihm getrennt. Jedes Mal, wenn ich etwas mit einem Fünfzig-Dollar-Schein bezahle, den ich von ihm bekommen habe, stehe ich damit noch tiefer in der Schuld des Feindes. Doch wenn es den Feind nicht gäbe, hätte ich letztes Jahr zu Weihnachten wohl auch keine Diamantenohrstecker von Tiffany bekommen.
Wir fahren auf den Washington-Square-Parkplatz und Taryn zieht wieder mal ihre »Ich brauche zwei Parklücken statt einer«-Nummer ab, wobei sie beinah einen Typ im Rollstuhl anfährt.
»Pass doch auf!«, rufe ich.
»Nur weil er im Rollstuhl sitzt, musst du ihn noch lange nicht von seinem Los befreien«, sagt Kayla.
»Meinetwegen. Aber er wäre mir sicher dankbar, wenn er wüsste, dass es bei Macy’s keine Sachen von Miu Miu gibt«, sagt Taryn naserümpfend. Sie lebt für ihren Ruhm als Fashionista und die Möglichkeit, ein Stück Haute Couture zu besitzen. Nicht, dass die Washington Square Mall besonders viel Haute Couture zu bieten hätte, aber es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Dads aus unserem Jahrgang mit Privatjets in der Gegend rumdüsen und wie viele Mütter zu Elternsprechtagen ihre Pelze ausführen. Und wenn es eine gibt, die in einer Shoppingmall ein Tausend-Dollar-Kleid aufspüren kann, dann ist das Taryn. Als Mr Lopez mal eine seiner Fünfzehn-Minuten-Toilettenpausen gemacht hat, hat sie die Tische im Bioraum zum Laufsteg umfunktioniert.
Kayla steuert wie von der Schwerkraft angezogen auf Forever 21 zu, wo alle ihre Schlampen-Outfits herstammen. »Kommt, wir gehen zu Forever 21«, sagt sie.
»Wir gehen zu Bebe«, sagt Taryn entschieden. Bis zum Spring Fling sind es noch fast drei Monate, aber sie ist wild entschlossen, sich rechtzeitig das perfekte Kleid zu schnappen.
»Was willst du bei Forever 21? Die drucken Bibelsprüche auf den Boden ihrer Einkaufstüten.« Ich verdrehe die Augen.
»Nicht im Ernst!«, keucht Kayla.
Ich zucke die Achseln. »Kannst ja nachsehen. Ich gehe zu Nordie’s«, erkläre ich. Ich weiß, dass keine von beiden dahin will. Der Laden ist »zu Neunziger«.
»Treffen wir uns nachher auf ’nen Frozen Yogurt bei Yopop?«, fragt Taryn und ich nicke.
Kayla zeigt aufs Forever-21-Schaufenster. »Ooh – ein Tube-Top mit Glitzer!«
»Pass bloß auf«, sage ich. »Total sündig, die Klamotten. Wenn du das kaufst, musst du hinterher büßen.«
Kayla streckt mir die Zunge raus und ich muss lachen. Manchmal ist sie eine ziemliche Idiotin, aber zumindest ist auf sie Verlass. Obwohl ich ihr letztes Jahr betrunken von der Affäre meines Dads erzählt habe, hat sie nie wieder ein Wort darüber verloren. Und im Gegenzug rede ich nicht über ihre Sexgeschichten mit haufenweise Typen. Letztes Jahr in Familien- und Verbraucherkunde (früher auch Hauswirtschaft genannt) hat Mrs Sykes von einer Studie erzählt, nach der Mädchen mit gesundem Körpergefühl enthaltsamer wären, und Mädchen mit schlechtem Körpergefühl häufiger ihre Partner wechseln würden. Wie schräg ist das denn bitte – wenn man seinen Körper mag, lässt man ihn niemanden sehen, und wenn man ihn nicht mag, zeigt man ihn der ganzen Welt? Und warum sollte Kayla ihren Körper nicht mögen, wo doch nicht ein Gramm Fett daran ist?
»Okay, wir sehen uns in ’ner Dreiviertelstunde«, sagt Taryn. Die beiden machen sich auf den Weg und ich seufze erleichtert auf. Endlich kann ich tun, wozu ich gekommen bin.
Nach der Schule haben Marc und ich Rage gespielt. Links und rechts explodierten gestrandete Wale und plötzlich fing Marc an, mich zusammenzuscheißen, weil ich mit Arschlöchern abhänge und einem Typen, der mich in der Öffentlichkeit ignoriert. Ich hab ihm gesagt, ich brauche keinen überfürsorglichen Bruder. Und dass seine Freunde kein Stück besser sind, die machen auch nichts außer kiffen und Mofa fahren. Er meinte, das wäre was ganz anderes. Gebäude beschmieren und fies zu Leuten sein und ständig Party machen geht gar nicht. Ich hab ihm gesagt, das hat ihn überhaupt nicht zu interessieren, und außerdem, mit wem soll ich denn sonst abhängen? Er meinte, er würde nur auf mich aufpassen, und dann hat er einen Haufen Gingers und Fattys gekillt. Ich war total angepisst, bis mir klar wurde, dass Brüder halt so sind. Sie versuchen, dich vor den Bösen zu beschützen, sogar beim Computerspielen.
Auch wenn man Geld genug hat, macht es Spaß, sich was umsonst zu besorgen. Besonders aus der Schmuckvitrine von Nordstrom.
»Kann ich das mal sehen?«, frage ich und zeige auf das Maya-Brenner-Armband mit dicken Goldketten und einem kleinen Anhänger mit Steinen aus Türkis und Koralle. Ich kenne es, weil ich neulich ich auf einem Blog ein Bild von Alexa Chung damit gesehen hab.
Die Verkäuferin schließt die Vitrine auf. Sie sieht aus, als hätte das düstere Wetter sie bis in die Seele durchtränkt. Entweder das oder sie wurde auf dem Weg zur Arbeit mit ein bisschen zu viel Eau de Obdachlos eingesprüht. Das zieht schließlich jeden runter.
»Ach, und die Ohrringe«, sage ich, sobald sie das Charm-Armband auf die Samtauflage legt. Sie dreht sich nach den Ohrringen um.
»Nein, nicht die. Die Perlenohrringe.« Ich zeige darauf. »Und das Silberarmband mit den großen Kettengliedern? Und kann ich die goldenen Creolen noch sehen? Danke.« Während die Verkäuferin eins nach dem anderen herausnimmt, lächle ich sie unschuldig an. »Macht es Ihnen was aus, mir noch die Kette mit dem Anhänger da zu zeigen? Sorry.«
»Welche?«, fragt sie, langsam verwirrt.
»Ich kann mich nicht entscheiden«, sage ich und halte die goldenen Creolen hoch. »Tolle Bluse übrigens. Steht Ihnen gut.«
»Ja?« Sie blickt an sich runter auf die marineblaue Bluse, als sähe sie sie zum ersten Mal. Ich habe ein leicht schlechtes Gewissen, ihre Unsicherheit so auszunutzen, aber immerhin wirkt sie schon glücklicher als noch vor fünf Minuten.
»Jean, Telefon für dich – ein Eric?«, ruft eine Frau vom Clinique-Tresen.
Jeans Gesichtsausdruck nach ist Eric ihr wochenlang ausgewichen. Seine Lieblingsbeschäftigungen sind wahrscheinlich Nintendo, Bier trinken und Frauen, mit denen er Sex hatte, zu ignorieren. Und Jean ist ganz offensichtlich eine davon. Ihre glückliche Miene erinnert mich daran, wie aufgeregt ich früher war, wenn Brady anrief. Inzwischen fühle ich mich nur noch in einer Endlosschleife aus Fummeln und blödem Geschwätz gefangen. Ja, manchmal machen wirs auch, dabei sind wir aber eigentlich immer betrunken, daher weiß ich nicht, ob das wirklich zählt. Im Grunde genommen ist es auch nichts weiter als gefühlloses Rein-Raus, das jedes Mal auf ein zwangsläufig schnelles Ende hinausläuft. Ich würde es nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählen. Unsere Ausflüge zur Shoppingmall dagegen schon.
»Ich hab grad ’ne Kundin. Sag ihm, ich ruf zurück«, ruft Jean mit bedauerndem Blick auf mich.
»Nein, schon okay.« Ich lächle sie wissend an. »Gehen Sie ruhig. Ich komm klar.«
»Bin gleich wieder da.« Jean nickt dankbar und geht zum Telefon. Jackpot.
»Hey, Unbekannter!«, ruft Jean ins Telefon. Und kurz darauf: »Ja, ich liebe das Ruth’s Chris-Steakhouse! …« Dann lässt sie die Schultern sinken. »Ich glaub, ich hab ihn noch. Es war aber nur ein Fünfzig-Dollar-Gutschein, ich weiß nicht, wie weit wir damit kommen …«
Er will sie mit ihrem Gutschein zum Essen einladen? Himmel. Jean sollte auflegen und seine Nummer löschen. Aber wie auch immer – ihr mangelndes Selbstbewusstsein ist mein Glück. Als sie auflegt, winke ich ihr zu, rufe: »Danke! Ich komm nachher noch mal!«, und spaziere weiter. Ich lasse alles liegen bis auf das Maya-Brenner-Armband.
Den Schmuck aus dem Laden zu bringen ist zugleich der aufregendste und der schlimmste Teil. Entweder bist du auf bestem Weg, eine brillante Trickbetrügerin zu werden, oder eine weitere Nummer in der Jugendkriminalitätsstatistik.
Ich gehe extra langsam und gebe vor, ein rosa Strandkleid zu bewundern, während ich unterm Ärmel meines Pullis das Preisschild und den kleinen Barcode-Sensor vom Armband um mein Handgelenk reiße. Ich lasse das Schild und den Sensor fallen und gehe weiter durch die Sportabteilung.
Neunzig Sekunden später bin ich am Straßenausgang. Ich hole tief Luft, mache den letzten Schritt durch die elektronische Pforte – die in 87 Prozent der Fälle nur Show ist, aber trotzdem ist es die letzte, unheimlich aufregende Hürde – und stoße die Tür auf. Befreiend schlägt mir die kalte Winterluft entgegen.
Ich beschleunige meine Schritte und laufe in Richtung Parkplatz. Gleich werde ich scharf rechts abbiegen und in der Nähe von Yopop wieder reingehen. Ich hole mein Handy raus, um Kayla zu schreiben, dass ich gleich da bin, und laufe schneller und schneller, freier und freier. Dann biege ich um die Ecke und renne direkt in einen Sicherheitsmann hinein.
Das Blut schießt mir so schnell ins Gesicht, dass es sich anfühlt wie hundert winzige Nadelstiche.
Ich tue erst mal so, als wäre nichts. Was mir nicht besonders gut gelingt. »Ups. Sorry. Ich bin so ein Trampel …«
Er lächelt ein langsames, gleichgültiges Lächeln. Unter seinem Kragen lugt ein Tattoo von einem Luchs oder einer Art Raubkatze hervor. Ich starre darauf. Wie alt er wohl war, als er es sich hat stechen lassen? Hat er es mit seinen Freunden zusammen gemacht? Ob ers bereut?
»Ich muss dich bitten, mit reinzukommen«, sagt er.
»Warum?«
Er lacht leise. »Ich glaube, das weißt du.«
»Ach ja?«, frage ich. Meine Atmung setzt aus.
»Mädchen, die Dreihundert-Dollar-Armbänder klauen, sind nicht so dumm, wie sie aussehen.«
»Ich hab nichts geklaut.« Ich versuche mein Spiegelgesicht, mein Modelgesicht, mein »Du bist der bezauberndste Mensch, den ich kenne, und dein Arm um meine Schultern macht mich zum glücklichsten Wesen auf der ganzen Welt«-Gesicht, aber er kauft es mir nicht ab.
»Komm mit rein und zeig mir mal dein Handgelenk.«
Mir bleibt keine Wahl. Also sage ich: »Ach, verdammt! Reden Sie hiervon?« Ich strecke den Arm aus. »Ich hab total vergessen, dass ich es anprobiert habe! Wie dumm von mir.«
Er lächelt mich an. Kurz unter seinem lächelnden Mund sehe ich das Tattoo einer Luchstatze über seiner Halsvene schweben.
»Du magst es ja vielleicht vergessen haben« – so wie er das Wort betont, glaubt er mir nicht – , »trotzdem hast du den Laden verlassen, ohne es zu bezahlen, was bedeutet, dass du Ladendiebstahl begangen hast.«
Als wir reingehen, lasse ich mir nichts anmerken, doch dann sehe ich Jean mit ihrer Kollegin hinter der Eingangstür stehen und selbstgefällig grinsen. Noch vor zehn Minuten war Jean der Loser und ich die Gewinnerin. Jetzt ist es genau umgekehrt.
»Eric benutzt Sie nur, weil er umsonst Steak essen gehen will«, sage ich im Vorbeigehen. Ihr Grinsen verschwindet. Der Sicherheitsmann hält mir den Arm hin, fast wie ein Gentleman, der eine Dame auf die Tanzfläche führt – oder ein Luchs, der seine Beute in den Wald zerrt, nachdem die Jagd vorbei ist.