Cover

Michael Moritz, 1968 in Freiburg geboren und am Kaiserstuhl aufgewachsen, schreibt und produziert seit fünfundzwanzig Jahren Theaterstücke, Kurzfilme und Erzählungen. Im Emons Verlag erschienen «Tod in der Rheinaue», «Roter Regen», «Weinselig», «Lost Place Vienna», «Zürcher Verschwörung», «Tod im Theaterhaus», «Um die Wurst», «Die Tote im Dolder», «Badisch Blues», «Zürcher Sumpf», «Tessiner Abgrund» und «Badisches Todesspiel».

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: age fotostock/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-496-4

Originalausgabe

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EINS

«Du brauchst das nicht zu tun», sagte sie und kaute nervös am Nagel ihres rechten kleinen Fingers.

Stahl stellte die Einkaufstaschen auf den Küchentisch und räumte die Esswaren in den Kühlschrank.

«Gib mir lieber Geld. Am besten, du steckst es in den Briefkasten. Dann fühle ich mich nicht so beschissen.»

Stahl kramte im Hängeschrank über dem Spülbecken und suchte nach einer Pfanne.

«Willst du jetzt etwa auch noch kochen? Du spinnst wohl. Das mache ich selber. Sag mir lieber, wo du Lilly versteckt hast. Sie ist nämlich meine Tochter.» Sie war laut geworden. Ihre Stimme kippte und brach in den hohen Tönen zusammen. Die beiden Kleinen kamen in die Küche. Stahl konnte keine Ähnlichkeit mit Lilly erkennen. Dafür hatten sie die traurigen Augen von Matthi. Ob er auch in der Wohnung war? Stahl hatte nicht in die Zimmer gesehen. Er war nur gekommen, um das Essen zu bringen. So wie er es einmal wöchentlich tat, seit er der Beistand von Lilly war. Lilly hatte ihn darum gebeten. Sie hätte es nicht ertragen, dass es ihr gut gehen sollte und ihre Halbgeschwister weiterhin im Elend ihrer Eltern hausten. Also spielte Stahl den Samariter, so gut er es vermochte, und kaufte einmal die Woche ein. Aber er wollte weder mit Nina noch mit Matthi etwas zu tun haben. Er kannte Junkies, wusste zu gut, wie seine eigene Mutter geendet hatte. Irgendwann gab es keine Hoffnung mehr ausser dem nächsten Schuss. Und sowohl Nina als auch Matthi hatten ihren Bogen längst überspannt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er brach. Vielleicht würde sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde dann endlich der beiden Kleinen annehmen. Stahl hatte mehrere Male dort angeklopft. Sie hatten ihn vertröstet. Die Heime seien voll. Sie hätten keine Kapazitäten. Ausserdem gehe die Mutter einer regelmässigen Arbeit nach. Ein Witz. Sie war als Putzfrau im Cabaret «Barbados» geführt. Tatsächlich aber wurde sie dort für ein paar Franken täglich mehrmals gevögelt.

«Machst du wieder Omeletten?», fragte der Kleine und leckte mit der Zunge über die Lippen.

«Wenn ich wüsste, wo die Pfanne ist», sagte Stahl.

«Die hat Matthi. Er setzt sich gerade einen Schuss», sagte die Schwester, kaum einen Kopf grösser als der Zwerg.

«Mit einer Omelettenpfanne? Da genügt doch ein Löffel.»

«Er zittert zu stark», sagte Nina und kicherte heiser. «Ich wollte ihm helfen, aber er hat Angst, dass ich ihm das Zeug klaue. Arschloch!» Sie stiess sich von der Wand ab. «Ich hole die Pfanne. Die Kinder brauchen was zu essen.» Sie verschwand.

Stahl nahm die Eier aus dem Kühlschrank.

«Mit Speck?», fragte der Kleine.

Stahl nickte.

Geschrei ertönte aus einem der Zimmer. Es polterte und krachte. Glas barst. Die Kinder liefen beide aus der Küche, dorthin, von wo der Lärm kam. Warum Kinder immer ihren Eltern helfen wollten?

Stahl kümmerte sich nicht. «Pack schlägt sich, Pack verträgt sich», murmelte er. Ein Spruch, der sich ihm eingebrannt hatte, seit er sechs Jahre alt war. Seine Alten hatten sich ordentlich verdroschen. Die Mutter mussten sie mit der Ambulanz ins Spital bringen. Alfred ging für zwei Tage in den Bau. Eine schaulustige Nachbarin hatte schief gelächelt und diesen Satz gesagt. Und Stahl erinnerte sich an beides. An den Satz und an das schiefe Lächeln. Auch er hatte gerade schief gelächelt, als er den Satz gesprochen hatte.

Das Geschrei wurde lauter. Jetzt mischten auch noch die Kinder mit. Stahl stützte sich auf das Spülbecken und atmete tief durch. Was tat er sich da an? Nein. Er war kein Sozialarbeiter. Er tat es für Lilly. Er drehte den Wasserhahn auf und drückte seinen Kopf unter den kalten Strahl. Das Geschrei verstummte. Er hörte nur das Plätschern. Es tat gut. Noch fünf Sekunden länger. Das genügte. Er schüttelte sich und suchte nach einem sauberen Geschirrhandtuch, um sich die Haare damit zu trocknen. Fehlanzeige. Sauber war hier gar nichts. Dafür roch es verbrannt. Und das Geschrei war wieder zu hören. Stahl stürzte aus der Küche und rannte auf das Zimmer zu, aus dem Geschrei und Qualm stieben. Er trat gegen die Tür. Eine Stichflamme warf ihn zurück. Im Zimmer loderte es. Nina und Matthi kreischten. Lebendige Fackeln. In der Ecke drückten sich die beiden Kleinen. Stahl hielt die Luft an und wollte ins Zimmer. Es gelang ihm nicht. Die Flammen liessen ihn nicht durch. Die Kinder heulten. Nina und Matthi verstummten und fielen zu Boden. Stahl versuchte es noch einmal. Er kam nicht durch. Es hätte ihn versengt. Das Feuer drängte ihn in den Flur zurück. Er konnte die Kinder nicht mehr sehen. Jetzt sprang die Flamme an sein Hosenbein. Er schlug sie mit der Hand aus und rannte ins Wohnzimmer. Das Feuer ihm hinterher. Es war gierig. Stahl wusste, dass es die Kinder auch verschlungen hatte. Satt war es deswegen noch lange nicht.

Es gelang Stahl, auf den Balkon zu flüchten, während sich das Feuer schon ins Wohnzimmer gefressen hatte. Erster Stock. Stahl zögerte. Waren die Kleinen tatsächlich nicht mehr zu retten? Die Flamme stach aus dem geöffneten Fenster des Zimmers, in der die Tragödie gerade spielte. Nur das Schmatzen der Flammen. Keine Schreie mehr. Stahl kletterte über das Geländer, liess sich baumeln und fallen. Er wäre gerne ins Bodenlose gestürzt, aber nach drei Metern landete er auf Schotter. Zittrig wischte er sich die Hose sauber und zupfte die Ärmel seines neu gekauften Hemds gerade. Er ging um das Haus herum auf die Langstrasse. Dort standen bereits Schaulustige und die Feuerwehr. Stahl ging an ihnen vorbei. Er sah auf seine Armbanduhr. Kurz vor vier. Normalerweise ging er erst um sechs ins «Beverly Hills». Heute war aber nichts normal. Und wohin sollte er sonst? Nach Hause? Nicht jetzt. Jetzt brauchte er Ablenkung. Die beiden Kleinen tauchten vor ihm auf. Hätte er sie retten können? Hätte er auch sie nach Rom schicken sollen? Aber er war doch nicht zuständig für alle geschundenen Kinder der Welt. Schon dass er Lilly half, wunderte ihn. Aber sie war etwas Besonderes. Jedenfalls sah er das in ihr. So wie der Monsignore etwas Besonderes in Stahl gesehen hatte.

Er würde es ihr sagen müssen. Aber nicht jetzt. Jetzt galt es, die Sache in einer unteren Schublade abzulegen. Verdrängung. Darin war Stahl immer gut gewesen. Sonst hätte er viele der Aufträge, die ihm in der Schweizergarde erteilt worden waren, niemals ausführen können. Es war nicht Skrupellosigkeit, die ihn auszeichnete, sondern die Gabe, verdrängen zu können. Leider war er nicht mehr so gut darin wie früher. Mittlerweile klopften alte Geschichten häufiger bei ihm an. Er drückte sie weg, so gut er konnte. Manchmal half ihm ein guter Whisky dabei. Jetzt würde er einen doppelten trinken, obwohl er nie trank, wenn er arbeitete.

Er stieg die Treppen ins «Beverly Hills» hinunter, ging an Belinda, der brasilianischen Putzfrau, vorbei an die Theke, nahm eine Flasche Oban aus dem Regal, ein Glas aus der Geschirrspülmaschine und verschwand damit ins Hinterzimmer.

***

Kaja sah auf das Kärtchen, das ihr Amir gegeben hatte. Hier musste es irgendwo sein.

«Hast du ein paar Stutz?» Der Kerl mit dem verlausten Haar und dem versifften Parka versuchte sich an einem Lächeln und wartete.

Kaja kramte aus der rechten Tasche ihres Wollmantels einige Münzen und liess sie in die zittrige Hand des Bittstellers fallen.

«Vergelt’s Gott», sagte er, schloss die knöchrigen Finger um das Geld und humpelte davon.

«Welcher Gott?» Eine junge Frau mit falschem Pelzjäckchen und ledernem Minirock umarmte sich selbst vor Kälte und spie aus.

«Willkommen im Kreis 4», sagte Amir.

Kaja hatte nicht gesehen, von wo er gekommen war. Plötzlich stand er neben ihr.

«Wenn man von der Schweiz redet, denkt man an Wohlstand, Reichtum und süsse Schokolade. Aber wohl kaum an Bettler und Huren, nicht wahr?» Er zog sie am Arm mit sich. «Selbst die Schweizer wollen nicht an Bettler und Huren denken. Deswegen wird dieser Restposten des menschlichen Abschaums auch nach draussen verlegt. Eine Containerpuff-Strasse in Altstetten. Da können die Freier dann mit dem Auto durchfahren, irgendwo anhalten, ihre Verrichtung machen und wieder davonfahren. Ficken wie in der Fabrikhalle. Logistisch überschaubar und sauber.»

Sie überquerten die Strasse und blieben vor einem Club stehen. «Beverly Hills», sagte Amir. «Ein klassischer Stripclub. Der hat noch Stil. Kommen Sie.»

Kaja zögerte.

«Keine Sorge, ich verkaufe Sie nicht. Obwohl ich glaube, dass die Jungs Sie mögen würden.»

Kaja sah ihn streng an. Amir errötete. «Entschuldigung, das war infam. Das tut mir wirklich leid. Ich vergass mich. Aber das ist das Milieu. Es macht es einem nicht leicht, hier den Anstand zu wahren.» Er zog ein Taschentuch und trocknete sich damit den Schweissausbruch in Gesicht und Nacken. «Eigentlich wäre meine Aufgabe jetzt erledigt. Oder wollen Sie, dass ich mit Ihnen hineingehe?»

«Nein. Ist schon in Ordnung. Ich schaffe das allein.»

«Und nennen Sie meinen Namen erst, wenn nichts mehr geht. Als letzten Joker, sozusagen.» Er zwinkerte, getraute sich nicht, Kaja die Hand zu geben, nickte und zog ab.

Kaja stieg die Treppe hinunter und betrat das «Beverly Hills».

«Ist noch zu.» Eine Brasilianerin, bewaffnet mit Putzeimer und Schrubber, baute sich vor ihr auf. «Oder suchst du Arbeit?» Sie musterte Kaja, trat einen Schritt zurück und goutierte Kurven und Aussehen. «Das könnte passen.» Sie stellte den Eimer ab und stützte sich auf den Schrubber. «Dreh dich mal.»

«Ich möchte mit dem Chef sprechen», sagte Kaja und gab sich Mühe, so scharf und selbstbewusst zu wirken, wie es ging.

«Chef ist im Gefängnis. Mindestens sechs Monate.»

«Was?» Kaja verstand nicht. Amir hatte sie doch hierhergeschickt, um mit dem Chef zu sprechen. Er sollte ihr weiterhelfen. Warum sass er im Gefängnis?

«Roger Stahl sitzt im Gefängnis?»

«Stahl? Nein. Der ist hinten und besäuft sich.» Sie zeigte mit dem Daumen hinter ihren Rücken auf die Tür neben der Bar.

«Zu ihm will ich.»

«Er ist aber nicht der Chef. Hilft nur aus. Bis Eddie wiederkommt. So lange bin ich für die neuen Mädels verantwortlich.»

«Ich möchte zu Stahl.» Kaja streckte sich und war nun gut anderthalb Köpfe grösser als die Wichtigtuerin vor ihr.

«Dann müssen Sie warten, bis der Laden öffnet.» Sie tauchte ihren Schrubber in den Putzeimer, drehte Kaja den Rücken zu und wischte.

«Ich habe aber keine Zeit, zu warten.»

Die Brasilianerin reagierte nicht. Sie wischte und summte ein Lied. Kaja ging an ihr vorbei und steuerte auf die Tür zu, auf die die Brasilianerin gezeigt hatte. Noch ehe sie die Bar erreichte, hatte ihr die Brasilianerin den Weg versperrt und drohte mit dem nassen Ende des Schrubbers. «Wenn du Ärger willst, kannst du ihn haben.»

«Ich will keinen Ärger, ich will nur mit Stahl sprechen.» Kaja war laut geworden.

Die Brasilianerin drückte ihr den nassen Lappen, der auf dem Schrubberende hing, kurz ins Gesicht. «Dann musst du warten, Schöne.» Sie grinste dreckig. Den Gestank von scharfem Putzmittel in der Nase, packte Kaja wütend den Stiel des Schrubbers, riss ihn der Brasilianerin aus den Händen und holte zum Schlag aus. Die Brasilianerin duckte sich darunter weg, Kaja verfehlte sie, traf dafür aber drei von gestern Nacht übrig gebliebene Biergläser, die auf dem Tresen standen. Die Gläser glitten über die Theke, stürzten ab und zersprangen auf dem falschen Marmorboden. Die Brasilianerin nutzte den Augenblick der Ablenkung und warf sich auf Kaja. Gemeinsam fielen sie neben die Glasscherben. Die Brasilianerin packte Kaja an den Haaren und riss daran. «Jetzt bist du dran.»

Kaja griff nach dem Handgelenk der Brasilianerin, damit sie nicht an ihren Haaren zerren konnte. «Lass mich los!», schrie sie.

Die Brasilianerin nahm mit der freien Hand eine Glasscherbe vom Boden und hielt sie drohend über Kajas Gesicht. Kaja versuchte, mit ihren Knien gegen den Rücken der Brasilianerin zu treten. Aber die liess sich davon nicht beirren. Stattdessen näherte sie sich mit der Scherbe Kajas Wange. «Jetzt geben wir der Schönheit etwas Charakter.»

Kaja schloss die Augen und schrie, so laut sie konnte. Sie wartete auf den Schnitt, der ihr das Gesicht verunstalten sollte. Aber er kam nicht. Dafür liess die Brasilianerin Kajas Haare los und erhob sich. Kaja glaubte, es lag an ihrem Schrei. Deswegen schrie sie weiter. Und sie hielt auch die Augen weiterhin geschlossen. So wie früher, wenn sie nicht bekommen hatte, was sie haben wollte. Augen zu und schreien, bis alles gut wurde. Und meistens hatte es geholfen. Sie hatte fast immer bekommen, was sie wollte. Bei ihrem Vater hatte sie irgendwann gar nicht mehr schreien müssen. Schon dass er gewusst hatte, dass sie hätte schreien können, hatte genügt, um ihrem Willen nachzugeben. Die Brasilianerin hatte um Kajas Schrei noch nicht gewusst. Hätte sie es, sie hätte sie umgehend zu Stahl durchgelassen. Kaja würde ihren Schrei noch ein paar Sekunden halten, damit die Brasilianerin nicht auf dumme Gedanken kam. Doch Kajas Schrei wurde durch eine harte Ohrfeige zum Schweigen gebracht. Sie riss die Augen auf und sah in das Gesicht eines attraktiven Mannes, den sie auf Anfang vierzig schätzte.

«Ist jetzt Ruhe?», fragte er und zog sie an den Händen hoch.

«Sie hat angefangen.» Belinda nahm Putzeimer und Schrubber und verliess den Raum.

«Sind Sie Stahl?», fragte Kaja und brachte sich in Ordnung.

«Wir sind voll. Ausserdem bin ich nicht für neue Mädchen zuständig. Das macht Eddie. Oder kennen Sie Eddie?»

«Nein, ich kenne Eddie nicht.»

«Dann hat es sich ja erledigt.» Stahl wollte wieder ins Hinterzimmer.

«Aber ich kenne Amir.»

Stahl hielt inne und drehte sich um. «Amir?»

«Er sagte, dass Sie mir vielleicht helfen könnten.»

«Helfen? Wobei?»

Belinda kam in den Raum und begann, hinter der Theke zu putzen.

«Können wir irgendwohin, wo wir ungestört sind?»

Stahl musterte Kaja, rieb sich am Kinn und sah zu Belinda.

«Ich kann hier jetzt nicht weg. Wenn die Bar nicht sauber ist, kriegt Silvio einen Anfall.» Sie wischte mit einem frischen Lappen über die Ablage.

«Kommen Sie mit nach hinten.» Stahl ging vor, Kaja folgte ihm und spürte nasse Sprenkel in ihrem Nacken. Sie drehte sich um. Belinda winkte ihr mit dem feuchten Lappen nach und grinste frech.

«Ist die auf Drogen?», fragte Kaja, während sie versuchte, im Korridor mit Stahl aufzuschliessen.

«Kann sein. Sie ist immer so. Hat einen Knall. Das haben alle, die im Milieu arbeiten. Das geht nicht spurlos vorbei.»

«Und Sie? Haben Sie auch einen Knall?»

Sie erreichten eine Tür. Stahl öffnete sie und liess Kaja den Vortritt. «Nein. Ich bin der einzig Normale. Hat Ihnen Amir das nicht gesagt? Amir kennt nur normale Leute.» Er wies auf einen Sessel. «Wollen Sie einen Whisky?» Er ging an den Schreibtisch und setzte sich auf die Kante.

«Nein. Ist mir noch zu früh.» Kaja setzte sich in den Sessel und schlug die Beine übereinander. «Ich komme mir vor wie in einem Chandler-Film», sagte sie.

«Sie kennen Chandler noch? War lange vor Ihrer Zeit.»

«Newton war auch lange vor meiner Zeit, und trotzdem ist er von Bedeutung.»

Stahl sah sie fragend an und goss sich ein.

«Ich bin Physikerin. Da ist Newton ein Muss.»

«Bis er widerlegt wird.» Stahl hob sein Glas und trank.

«Kann dauern. Noch fällt der Apfel von oben nach unten.» Kaja lächelte unsicher.

«Was halten Sie von Kopernikus?»

«Mutiger Mann.»

«Er widerrief.»

«Er wurde dazu gezwungen.»

«Und trotzdem glauben wir heute an das, was er gefunden hat. Und Gott ist tot.»

«Nicht zwingend. Einstein glaubte an Gott. An eine göttliche Kraft, die Ursprung aller physischen Wunder ist.»

«Glauben Sie?»

«Ich glaube, dass mein Vater tot ist», sagte Kaja und erschrak selbst bei dem Gedanken.

«Ihr Vater? Wer ist das? Und warum sollte er tot sein? Und wer sind Sie überhaupt? Und warum schickt Amir Sie zu mir?»

«Amir sagte, Sie könnten mir vielleicht helfen.»

«Wobei?»

«Meinen Vater wiederzufinden.»

«Ich dachte, er sei tot.»

«Ich sagte, ich glaube, dass er tot ist. Er ist verschwunden. Schon drei Wochen.»

«Schon mal mit der Polizei versucht?»

«Öffentlichkeit möchte ich vermeiden.»

«Gute Schweizer Tradition.»

«Hätte der Vatikan sonst die Schweizergarde zu sich ins Haus geholt?»

Stahl schenkte sich nach. «Ich bin nicht mehr dabei.»

«Trotzdem vertrauen Sie der Firma noch immer.»

«Tu ich das?»

«Hätten Sie sonst Lilly nach Rom geschickt?»

Stahl stellte das Glas weit von sich. Er wusste, wann es besser war, nicht weiterzutrinken. «Was ist mit Lilly? Was geht Sie Lilly an?»

«Überhaupt nichts. Ich finde es toll, dass Sie sich um die Kleine kümmern. Aber das kostet auch. Wird das Geld bis zum Ende ihrer Ausbildung reichen?»

«Das kriege ich schon hin.»

«Amir sagte, dass Sie knapp bei Kasse wären.»

«Amir, soso. Na, wenn der das sagt.» Stahl stiess sich vom Schreibtisch ab, ging zur Tür und öffnete sie. «Und jetzt gehen Sie bitte wieder. Ich habe noch eine lange Nacht vor mir.»

«Fünfzigtausend jetzt und hunderttausend, wenn Sie meinen Vater gefunden haben.»

«Belinda!» Stahl schrie in den Gang.

Kaja stand auf. «Ich gehe schon. Schade. Und ich dachte, Lilly sei Ihnen etwas wert.»

Belinda erschien im Türrahmen. «Was gibt’s?»

«Pass auf, dass die Dame beim Rausgehen nicht stolpert und sich noch mal wehtut.»

Belinda stemmte die Arme in die Hüften und sah Kaja auffordernd an. Kaja zog eine Visitenkarte aus ihrem Portemonnaie und legte sie neben das Whiskyglas auf den Schreibtisch. «Falls Sie es sich doch noch anders überlegen.» Sie verliess das Büro. Belinda folgte ihr.

Stahl schloss die Tür, ging an den Schreibtisch, nahm mit der einen Hand das Whiskyglas, mit der anderen die Visitenkarte und liess sich in einen der beiden Ledersessel fallen, die Eddies Büro Wohnlichkeit schenkten. «Dr. Kaja Myller. Diplom-Physikerin», las er laut. Seine Augen glitten über Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Eine Wohnadresse stand nicht darauf. Er legte die Karte auf den kleinen Tisch, der zwischen den beiden Sesseln stand, und sah in die Neige des Whiskyglases. Er stellte es, ohne es auszutrinken, ebenfalls auf den Tisch, zückte sein Handy und scrollte durch seine Kontaktliste. Amir stand oben an dritter Stelle. Er rief ihn an, wartete, bis die Combox ansprang, und legte wieder auf.

Sollte er Lilly anrufen? Er hatte erst gestern mit ihr gesprochen. Sie telefonierten selten mehr als zweimal im Monat. Das genügte völlig. Stahl war kein Gluckenpate, und Lilly sollte sich von ihm frei fühlen. Aber die Situation forderte ein Gespräch. Lilly musste erfahren, was mit ihren Geschwistern passiert war. Der Tod der Mutter würde sie vielleicht befreien, aber der Verlust der Kleinen konnte sie aus der Bahn werfen. Sie würde sich schuldig fühlen. Er selbst tat es auch, obwohl er wusste, dass das Feuer ihm keine Chance gelassen hatte. Und trotzdem: Er hatte Lilly versprochen, auf die Kleinen zu achten, damit sie auf der Gregoriana studieren konnte. So wie er damals. Auch seine Mutter war gestorben, als er dort gewesen war. Hätte er ihr helfen können, wenn er bei ihr im «Beverly Hills» geblieben wäre?

Und jetzt sass er wieder hier. Hilflos. Im Teufelskreis des selbst gebastelten Karmas. Klar, der Laden seines Alten hatte sich verändert. Aber nur äusserlich. Das Geschäft war noch immer das gleiche. Verkauf von Fleisch. Eine Metzgerei der Wollust. Schöne Frauen, die am Fleischerhaken zur Schau gestellt wurden und sich mit Drogen vollpumpten, um den Stachelschmerz des Hakens zu vergessen. Warum war Stahl hier? Warum tat er das? Er war doch einst aufgebrochen, um das alles hinter sich zu lassen. Das Leben schrieb seine eigenen Kapitel, der Mensch war nicht der Autor seines eigenen Drehbuches. Aber ob es deshalb einen übergeordneten Kreateur gab, auf den man die Verantwortung abwälzen konnte? Stahl wusste es nicht. «Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin. Und leider auch …», murmelte er leise, den Faust zitierend, und steckte das Handy weg.

Er lehnte sich in den Sessel zurück und sah auf das Ölbild, das an der Wand hinter dem Schreibtisch hing. Die schlechte Kopie eines Degas. Schlechte Kopien, das waren sie alle. Auch Eddie war nur ein billiger Abklatsch von Stahls Vater Alfred. Nach Alfreds Tod hatte Eddie den Laden ganz übernommen. Alfred hatte ihn schon Jahre vorher eingewiesen. Da Stahl sich geweigert und sich in den Dienst der Schweizergarde geflüchtet hatte, war Eddie Alfreds Hoffnung gewesen. Eddie hatte Biss und keine Skrupel. Da war er Alfred näher als der eigene Sohn. Dafür fehlte Eddie der nötige Grips, um sich durchzusetzen. Der Markt war heiss umkämpft. Und dass Eddie jetzt sass, lag nicht daran, dass er nicht hart genug gegen die konkurrierenden Albaner zu Felde gezogen wäre. Eddie dachte mit dem Bizeps und vergass gerne, dass der grösste Muskel das Hirn war. Kushtrim hatte ihm eine Falle gestellt und ihn der Polizei geschenkt. Und es war noch nicht einmal eine raffinierte Falle gewesen. Eine einfache Razzia, bei der zehn Kilo Koks gefunden worden waren. Eigentlich Grund genug, das «Beverly Hills» dichtzumachen. Aber Stahl hatte mit einigen Leuten geredet und sich dafür verbürgt, die Metzgerei sauber zu halten. Eddie hatte dafür zwei Jahre gekriegt, von denen er sechs Monate bereits abgesessen hatte. Stahl wusste noch immer nicht, warum er es getan hatte. Hatte ihn Eddies Flehen wirklich berührt? Wollte er dem toten Alfred zeigen, dass er doch sein Sohn war? Oder war Lilly der Grund, weil ihre Ausbildung in Rom viel Geld kostete?

Stahl hätte keine Geldsorgen, hätte er sich nicht entschieden, keine Aufträge mehr von Leuten wie Amir anzunehmen. Nicht, dass er Angst hatte. Die hatte er sich früh ausgetrieben. Aber er trat nicht mehr so aufs Gaspedal, weil er sich für Lilly verantwortlich fühlte. Er wollte für sie da sein, bis sie stark genug war, das immer komplexer werdende Leben allein zu meistern. Und dafür brauchte sie eine Ausbildung, die ihr gleichzeitig Kontakte für spätere Optionen brachte. Sonst hätte sie keine Chance. Chancengleichheit gab es nicht. Hatte es noch nie gegeben. Vielleicht waren die Möglichkeiten, Glück zu haben, manchmal besser, aber die Zukunft sah düster aus, das wusste Stahl. Und Lilly sollte dafür gewappnet sein. Er traute sich noch immer nicht, sie anzurufen. Er nahm das Glas, stand auf, ging zum Tisch und schenkte sich noch mal ein.

***

«Ich rede mit ihm. Ich kann ihn bestimmt überzeugen», sagte Amir und spielte mit der Serviette, mit der er sich die Schokolade aus dem Mundwinkel geputzt hatte.

«Gibt es keinen anderen?», fragte Kaja.

«Sie wollten den Besten.»

«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»

«Vor einem Jahr, warum?»

«Er sah mir sehr durch den Wolf gedreht aus. Jedenfalls hinterliess er bei mir nicht den Eindruck, dass es nicht bessere Leute als ihn gäbe. Aber vielleicht sind Sie ja auch nicht der beste Vermittler, als der Sie gepriesen wurden?»

«Sie wollen, dass ich Sie mit einem anderen zusammenbringe?»

«Ich will wissen, wo mein Vater ist. Falls er tot ist, will ich ihn beerdigen dürfen.» Kaja war laut geworden.

Eine Frau vom Nebentisch sah herüber. Amir kümmerte das nicht. Er behielt die Ruhe. «Ich sagte doch, ich werde mit ihm sprechen. Haben Sie Lilly in ihre Argumentation mit einbezogen?»

«Ja. Aber es half nichts.»

«Es wird in ihm arbeiten. Ich kenne ihn. Lilly ist seine Achillesferse. Wegen ihr nimmt er keine Jobs mehr an.»

«Soll ich Lilly entführen lassen, damit er zusagt?» Kaja zog höhnisch die Brauen nach oben.

«Würden Sie so weit gehen?» Amir lauerte.

«Nein, natürlich nicht. Ich bin keine Erpresserin.»

«Im Gegensatz zu Ihrem Vater.»

«Was soll das heissen?»

«Entschuldigen Sie, das ist keine negative Wertung. Erpressung ist ein strategisches Mittel, das zuweilen seine Berechtigung hat, um ans Ziel zu gelangen. In der freien Wirtschaft nicht unüblich. Ihr Vater würde es vermutlich anders nennen.»

«Wir können gerne mit ihm darüber diskutieren. Aber zuvor müssen wir ihn finden.»

Die Tür des Kaffees flog auf, ein Obdachloser stolperte herein, fiel auf die Knie, rappelte sich auf, raffte sich an den Tisch, an dem Kaja und Amir sassen, röchelte und brach zusammen. Die Frau am Nebentisch sprang auf und schrie hysterisch. Ein junger Mann eilte zu dem Obdachlosen, um ihm aufzuhelfen. Es gelang ihm mit Mühe, ihn aufzurichten. Der Penner stand wacklig auf den Beinen, versuchte sich zu orientieren und landete mit seinem Blick auf Kaja. Er schien etwas sagen zu wollen, riss wiederholt den Mund auf, undeutlich presste er Laute der Verzweiflung aus, denen ein Blutschwall folgte. Jetzt konnte ihn auch der junge Mann nicht mehr halten. Die Schwerkraft des Todes zog den Penner zu Boden.

Amir und Kaja sahen sich an. Sie kannten den Penner. Bernhard Glaser. Chef des IT-Konzerns G-Quarks. Ein guter Freund von Kajas Vater. Bei ihm hatte sie mit Professor Sarkov die letzten drei Jahre am Feynman-Institut an Nanotechniken geforscht, die das Moore’sche Gesetz unterwandern sollten. Sarkov stand kurz davor, das Rätsel der unendlichen Rechen- und Speicherkapazität zu knacken. Nur wenige Bausteine fehlten noch. Glaser war das Geld für die Forschungen ausgegangen, Kajas Vater hatte mit einem zweistelligen Millionenbetrag ausgeholfen und dafür Kaja ins Spiel gebracht. Kein Freundschaftsdienst ohne Gegenleistung. Die Technologie, wenn sie denn funktionierte, würde den Kollaps am IT-Markt verhindern und den Herrn dieses Werkzeugs zum mächtigsten Halbgott der Welt machen. Und hier lag er nun. In abgerissenen Klamotten, aus Mund und Bauch blutend.

«Glaser», sagte Amir. Die Verstörung wich sofort in umsichtiges Handeln. Während Kaja sich zu Glaser beugen wollte, in der Hoffnung, dass er noch leben würde, stand Amir auf, nahm seinen und Kajas Mantel in die eine Hand und zog Kaja mit der anderen vom Tisch nach draussen. Auf der Piazza reichte er ihr den Mantel. Kaja sah ihn verstört an.

«Wir können hier nicht bleiben. Wir können es uns nicht leisten, von der Polizei über einen toten Glaser in Pennerklamotten befragt zu werden. Kommen Sie.» Er zog sie fort von der Piazza Cella. Kaja trottete willenlos neben ihm her.

«Und wenn er noch lebt? Wir müssen ihm doch helfen», sagte sie.

«Er ist mausetot. Glauben Sie mir. Ihm hilft niemand mehr.» Sie gingen in die Langstrasse. Huren, abgerissene Gestalten und herausgeputzte Unterhaltungslustige schwärmten über die Langstrasse. «Wie kann man nur so blöd sein? Wessen Idee war das eigentlich?» Amir konnte es nicht fassen.

«Wo bringen Sie mich hin?»

«Wo Sie erst einmal in Sicherheit sind.»

«Sicherheit? Aber wieso? Wer sollte mir etwas wollen?»

«Ihr Vater ist verschwunden, Glaser tot. Und Sie arbeiten für Glaser an der heissesten Kiste, die der digitale Markt gerade zu bieten hat. Da liegt es nah, dass auch Sie auf der Bedürfnisliste gewisser Leute stehen. Hier entlang.» Sie bogen von der Langstrasse in eine Nebenstrasse ab und standen vor dem «Beverly Hills».

«Stahl?», fragte sie. «Aber der will nichts mit mir zu schaffen haben.»

«Aber mit mir. Das ist er mir schuldig.» Amir stieg die Stufen hinab. Kaja folgte.

***

Stahl hatte sich durchgerungen und mit Lilly telefoniert. Sie hatte es regungslos aufgenommen. Kalt wie der Marmor des Mailänder Doms hatte sie auf den Tod ihrer Halbgeschwister reagiert. Dass sie den Tod ihrer Mutter gelassen hinnahm, vielleicht sogar als befreiend empfand, konnte Stahl nachvollziehen. Auch er hatte sich damals freier gefühlt, als seine Mutter endlich an einer Überdosis ihrem Elend ein Ende gesetzt hatte. Aber die Halbgeschwister, für die sich Lilly so bei ihm eingesetzt hatte, derart kühl abzuhaken, das hatte er nicht erwartet. Hatten sie an der Gregoriana bereits so gute Arbeit geleistet, dass Lilly den Empathiemodus auf Ansage ausschalten konnte? Stahl hatten sie es eingebläut. Sonst hätte er viele Dinge gar nicht tun können, die er im Auftrag des Vatikans getan hatte. Aber da war er schon älter gewesen. Lilly war erst siebzehn. Blödsinn. Jemand, der wie sie aufgewachsen war und überlebt hatte, hatte mit fünf Jahren schon die Kindheit verloren. Stahl hatte sie mit fünfzehn kennengelernt, als sie seinen Boxclub aufgesucht hatte, in dem er für die Stadt schwer erziehbare Jugendliche in einem Sozialprojekt trainiert hatte. Sie war damals schon reifer gewesen als alle anderen zusammen. Trotzdem hatte er nicht gedacht, dass sie es so kalt aufnehmen würde. Sollte er darüber erleichtert oder besorgt sein?

Es klopfte an der Tür.

«Ja?» Stahl nahm die Whiskyflasche vom Schreibtisch und stellte sie neben den Stuhl auf den Boden. Es brauchte keiner zu sehen, wie viel er getrunken hatte.

Die Tür öffnete sich, und Belinda schaute herein.

«Was gibt’s?»

«Sie ist wieder da.»

«Wer?»

«Die Frau von vorhin.»

«Wimmle sie ab. Ich habe keinen Nerv für reiche Töchter.» Der Whisky wirkte. Normalerweise dachte er vielleicht so, aber sagte es nicht. Höchstens leise zu sich selbst. Aber nicht zu anderen. Schon gar nicht zu Leuten wie Belinda, die sich sofort auf solche Sozialneidbrocken warfen und die Verbrüderung suchten.

Belinda goutierte Stahls Spitze gegen reiche Töchter und lächelte. Wurde aber sofort wieder ernst, schob sich ins Zimmer und lehnte die Tür hinter sich an. «Sie ist nicht allein. Der dicke Ägypter ist bei ihr. Es scheint wichtig zu sein.»

«Aha. Wie viel hat er dir gegeben?»

Belinda spielte die Unschuldige. «Weiss nicht, was du meinst.»

Stahl lachte laut. «Sag es, oder du kannst die Provision für erfolgreiche Vermittlung vergessen.»

Belinda sah auf den Boden, druckste herum und gab sich einen Ruck. «Hundert fürs Anklopfen und noch mal zweihundert bei Erfolg.»

Stahl kratzte sich am Kinn. «Amir lässt sich nicht lumpen. Scheint wirklich wichtig zu sein.»

«Soll ich die beiden bringen?»

«Kann ich es mir leisten, dir dreihundert Stutz zu versauen?»

Belinda grinste erleichtert und zog ab. Kurz darauf kam sie mit Kaja und Amir im Schlepptau wieder zurück. Sie schob die beiden ins Zimmer und verschwand.

Stahl musterte den alten Bekannten. «Wolltest du nicht abnehmen?», fragte er.

«Zu viel Stress.» Amir tätschelte sich mit einem gequälten Lächeln den Bauch. «Zum Abnehmen braucht man Schlaf, habe ich gelesen. Der fehlt mir.»

«Zum Abnehmen muss man sich mehr bewegen und weniger essen. Du kommst einfach nicht aus deinen Mustern heraus.»

«Auch ich freue mich, dich wiederzusehen. Wie geht es der Familie?»

«Welcher Familie?» Stahl stutzte. Er war Vollwaise, hatte weder Geschwister, noch wusste er von Cousins, Tanten oder Onkeln.

«Lilly.»

«Keine Ahnung. Habe sie lange nicht mehr gesprochen. Nehme an, es geht ihr gut.»

«Hast du von dem Feuer gehört?», fragte Amir und setzte sich in einen der Sessel.

«Welchem Feuer?»

«In dem Lillys Mutter und Halbgeschwister verbrannt sind. Die Nachbarn haben kurz davor einen grossen, muskulösen Mann gesehen, der mit Einkaufssäcken ins Haus ging.»

Stahl kam hinter dem Schreibtisch hervor, passierte Kaja, als wäre sie nicht vorhanden, packte Amir am Kragen, zog ihn aus dem Sessel und schleuderte ihn durch den Raum, als wäre er kein Mann von hundert Kilo, sondern ein flauschiges Daunenkissen. Amir klatschte gegen die Wand neben der Tür und jaulte. Er hielt sich den Rücken und schnappte nach Luft. Als er bei Atem war, hob er abwehrend die Hände. «Mehr wissen die Nachbarn aber nicht. Die Beschreibung kann auf viele passen. Ausserdem geht die Polizei von Fahrlässigkeit und nicht von Brandstiftung aus.» Er zupfte sich den Anzug zurecht und setzte sich wieder in den Sessel. «Wer kräht schon nach Junkies und deren Brut?»

Stahl antwortete nicht. Er war damit beschäftigt, seine Emotionen zu bändigen, die der Whisky ihm zu locker von der Leine liess. Ebenso wie er gerade seiner Wut nachgegangen war, konnte er auch in eine Traurigkeit kippen, die niemanden etwas anging. Schon gar nicht Amir und diese Tusse, die ihn anheuern wollte, als sei er ein miefiger Privatdetektiv.

«Bernhard Glaser ist tot», sagte Amir.

Stahl horchte auf. Er hatte einst Depeschen zwischen dem Vatikan und Glasers Unternehmen getragen. Monsignore Lorenzo und Glaser waren befreundet gewesen. Die Vatikanbank hatte Glasers IT-Unternehmen in den Anfängen unterstützt und gut daran getan. Die Investition hatte sich gelohnt. Glasers Unternehmen war durch die Decke geschossen. Glasers Charakter hatte das aber nicht verändert. Er war bodenständig und freundlich geblieben, war seinen Mitarbeitern und auch Stahl, der ja nichts weiter als ein besserer Postbote war, stets auf Augenhöhe begegnet.

«Und? Was geht mich das an?», fragte er.

«Glaser war ein guter Freund von Kajas Vater.» Amir sah zu Kaja, die bislang reglos und verstört neben der Tür stand und einen Fleck an der Wand fixierte. «Ich wusste, dass es eine blöde Idee war. Aber sie wollten nicht hören. Wie kleine Kinder, die auf Abenteuer gehen, und kamen sich dabei weise vor. So eine Unvernunft.»

Stahl sah Amir fragend an.

«Seneca. Sagt dir bestimmt etwas, oder?»

«Nur für eine kurze Zeit werden wir geboren, und diese uns zugestandene Frist läuft so rasch, ja rasend schnell ab, dass das Leben die Menschen, mit nur wenigen Ausnahmen, verlässt, während sie sich gerade im Leben einrichten. Erstes Kapitel des Traktats ‹Aus der Kürze des Lebens›. Willst du mehr hören?» Stahl merkte, dass der Alkohol ihn zur Prahlerei anstachelte, aber es war ihm egal.

«Sagen dir die Epistulae morales auch etwas?», fragte Amir.

«Ad Lucilium, in denen er dem guten Lucilius einreden will, dass Armut cool sei.» Stahl lachte. «Ist es nicht verrückt, dass uns immer die Superreichen erklären wollen, dass das wahre Glück in der Armut liegt?»

«Philosophisch betrachtet ist da was dran.»

«Und wie viel Provision kassierst du, dass du mich mit dieser reichen Tochter verkuppelst?»

«Gehen wir.» Kaja stiess sich von der Tür ab. «Ich glaube nicht, dass er der richtige Mann ist für diese Sache. Jedenfalls werde ich bei so einem selbstgefälligen Gockel nicht um Hilfe betteln.»

«Seine Selbstgefälligkeit will nur den Preis in die Höhe treiben. Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Das gehört zum Spiel, habe ich recht, Roger?»

«Ehrlich gesagt, ich weiss nicht, was gerade wozu gehört. Sie hat recht. Ich bin nicht der richtige Mann. Jedenfalls nicht im Augenblick.»

«Vielleicht solltest du dich mehr mit Seneca beschäftigen, das könnte dir helfen, wieder ins Lot zu kommen. Ausserdem würde es Kurt Zweifel bestimmt übel finden, wenn du dich der Sache annehmen würdest.»

Stahl schüttelte ungläubig den Kopf. «Zweifel? Du lässt nie locker, was?» Er sah zu Kaja. «Setzen Sie sich bitte und erzählen Sie, was Ihr Vater, Glaser und Zweifel miteinander zu tun haben. Obwohl ich Ihren Vater nicht kenne, klingt es nach einem verwegenen Triumvirat.»

Kaja gab sich einen Ruck und nahm in dem freien Sessel neben Amir Platz.

«Ich war von Anfang an dagegen», sagte Kaja zaghaft. «Vor allem zu diesem Zeitpunkt. Als ob es nichts Wichtigeres gegeben hätte.»

«Wichtigeres als was?», fragte Stahl.

«Entschuldigung.» Kaja setzte sich aufrecht hin, schloss kurz die Augen, atmete tief durch und hatte sich gesammelt. «Glasers Tod hat mich etwas aus der Bahn geworfen. Ich bin sonst nicht so anfällig. Aber sein Tod ist ein klarer Hinweis dafür, dass auch meinem Vater etwas zugestossen ist. Und ich vermute, dass Zweifel dahintersteckt. Es war seine Idee.»

«Was für eine Idee?»

«Die Seneca-Woche.»

«Eine philosophische Klausur?»

«Ein kindischer Pfadfinder-Unsinn. Mit Philosophie hat das nichts zu tun, wenn drei ältere, reiche Herren glauben, sie müssten sich in Lumpen kleiden und eine Woche lang den Obdachlosen mimen, um sich darüber klar zu werden, dass Geld nicht alles ist.»

«Ist es das, wovor ihr euch fürchtet? Heisst es nicht so bei Seneca?»

«Kann sein. Ich habe es nicht gelesen. Aber die drei waren begeistert von ihrem Narrenspiel.»

«Wann war das?»

«Anfang Oktober.»

«Und Sie kommen erst jetzt? Das ist schon drei Wochen her.»

«Ich weiss. Aber ich hatte zu tun. Und ich bin nicht die Krankenschwester meines Vaters.»

«Ist denn sonst niemandem aufgefallen, dass er nicht auftauchte? Seiner Frau vielleicht?»

«Meine Mutter ist seit zehn Jahren tot. Und seither gab es keine neue Frau für meinen Vater.»

«Sekretäre, Geschäftspartner?»

«Einer dachte, der andere wüsste. Mein Vater ist ein Eigenbrötler. Er sagt nicht immer, was er tut. Daher ist es nicht einfach, mit ihm zusammenzuarbeiten.»

«Das haben Nerds so an sich. Sie glauben, wenn sie es leise gedacht haben, hätten es die anderen auch gehört.»

Kaja lächelte dünn. «Irgendwann ist das sogar machbar. Denkbar ist es schon lange.»

«Kann alles geschehen, was gedacht werden kann?»

«Wenn man die richtigen Zahlen aneinanderreiht, ja.»

«Und welche Zahlen denken Sie, damit ich Ihren Vater wiederfinde?»

«Die Zahlen habe ich schon genannt.»

«Die Lösung hatten Sie aber damit nicht getroffen. Ausserdem gibt es nun zwei weitere Variable, die die Rechnung komplizierter machen.»

Kaja sah Stahl fragend an.

«Glaser und Zweifel. Plus und minus. Eins und null. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Die beiden Komponenten fressen Platz an der Rechentafel.»

Kaja blickte zu Amir. Er hob die Arme und zog ein Gesicht, das Stahls Argumentation unterstützte.

«Hunderttausend sofort. Und hundertfünfzig nach erfolgreicher Rechnung», sagte Kaja.

«Runden wir auf dreihundert auf. Für jeden Seneca-Schüler einen Hunderter. Das hätte dem alten Weisen gefallen. War er doch auch Milliardär zu seiner Zeit.»

«Einverstanden.»

Es klopfte an der Tür. Belinda schob den Kopf herein. «Entschuldigung. Aber es sind ein paar Typen da, die schon ziemlich besoffen sind und sich nicht an die Regeln halten. Ich glaube, es gibt bald was zu tun.»

Stahl sah zu Amir. «Dauert nicht lange. Ich bin gleich zurück.» Stahl verliess das Zimmer und folgte Belinda in den Tanzraum.

«Ist doch wunderbar gelaufen. Die paar Franken mehr werden Ihr Bankkonto nicht schmerzen.» Amir öffnete den obersten Knopf seines Hemds und atmete tief durch. «Warm hier drin, finden Sie nicht?»

«Sie können gerne gehen. Ihren Teil haben Sie ja erledigt. Den Rest kann ich mit Stahl allein besprechen.»

«Wie Sie wollen.» Er drückte sich aus dem Sessel. «Ich werde mich mal umhören, was die Polizei zu Glasers Tod zu sagen hat, und dafür sorgen, dass wir nicht in seine Nähe gerückt werden.» Er nahm seinen Mantel und wollte gehen. In der Tür begegnete ihm Stahl. «Schon fertig mit den Raufbolden?»

«Effizienz ist meine Stärke. Das weisst du doch», sagte Stahl kühl und trat einen Schritt zur Seite, damit Amir passieren konnte. «Wir telefonieren», sagte Amir und verschwand.

Stahl schloss die Tür, schob den freien Sessel so, dass er vor Kaja zu stehen kam, und setzte sich ihr gegenüber. Er lehnte sich zurück und rieb sich müde die Augen.

«Sollen wir morgen das Weitere besprechen?», fragte Kaja.

«Nein. Jetzt. Entschuldigen Sie bitte. Ich trinke normalerweise kaum. Aber heute war es notwendig.»

«Ich könnte jetzt auch einen vertragen.»

«Wollen Sie an die Bar? Silvio mixt grossartige Cocktails.»

«Ich war noch nie in einer Stripteasebar. Ist wohl eher etwas für Männer.»

«Da täuschen Sie sich. Wir haben mehr Frauen unter den Gästen, als Sie denken.»

«Lesben?»

«Nicht nur. Da wir ein klassischer Stripclub sind, gibt es hier keine Befriedigung der sexuellen Aufladung. Manche Frauen kommen hierher, um sich die aufgegeilten Männer zu schnappen.»

«Professionelle?»

«Zum Teil. Aber auch alleinstehende Frauen, die etwas suchen.»

«Eine analoge Dating-App.» Kaja lachte.

«Ja, das gibt es noch.» Er sah sie genauer an. Sie erinnerte ihn an eine junge, hübsche Eule. Vor allem ihre fast schwarzen Augen faszinierten ihn. Sie schienen endlos tief. Er versank darin und vergass, dass man das nicht tat.

«Ist was?», fragte Kaja und stand auf.

«Nein, entschuldigen Sie.» Er lachte und erhob sich ebenfalls. «Ich habe mich in Ihren Augen verloren. Das ist mir lange nicht mehr passiert.»

«Vergessen Sie es. Kein Flirt. Ich bin Ihre Auftraggeberin. Und ich date meine Nächte digital.»

«Schon gut. Kommt nicht wieder vor. Setzen Sie sich. Ich drücke mich hinter den Schreibtisch, dann haben wir die Form wieder zurück.» Er setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und legte höchst offiziell die Hände übereinander. «Besser so?»

Kaja setzte sich und drückte ihren Rücken gerade, sodass auch sie wieder mehr Form gewann.

«Wissen Sie, wo die drei Stoiker ihr Seneca-Spiel durchziehen wollten?»

«Hier. In Zürich.»

«Alle im Kreis 4?»

«Das weiss ich nicht. Mein Vater sagte mir am Telefon nur, dass er für eine Woche in Zürich in Klausur gehe, um Seneca nachzuspüren.»

«Und für Sie war sofort klar, was damit gemeint war?»

«Die griechischen Philosophen wurden bei uns daheim so diskutiert wie in anderen Haushalten Fussballspieler. Keine Mahlzeit ohne Mathematik oder philosophische Diskurse.»

«Sexy.»

«War es bei Ihnen nicht ähnlich?»

«Bei mir?»

«Sie wurden doch in der Gregoriana ausgebildet.»

«Aber aufgewachsen bin ich hier. Im Soho Zürichs. Da sprach man über andere Dinge, wenn man überhaupt miteinander zu Mittag ass.»

«Beeindruckend.»

«Was meinen Sie?»

«Dass Sie es geschafft haben, hier rauszukommen.»

«Hat mir nicht viel gebracht. Ich sitze wieder hier.»

«Warum? Heimweh?»

«Eher die Sehnsucht nach Heimat. Wobei ich nicht weiss, was das wirklich ist.»

«Geschichte ist Heimat. Die eigene Lebensgeschichte. Dorthin kann man immer wieder zurückkehren.»

«Kann man zweimal in denselben Fluss steigen?»

«Panta rhei.»

«Und doch dreht es sich im Kreis.» Er lachte zynisch durch die Nase. «Scheint mir, wir sitzen gerade bei Ihnen am Mittagstisch. Etwas viel Lebensphilosophie für zwei Menschen, die sich nicht kennen, finden Sie nicht?»

«Ich weiss gerne, mit wem ich es zu tun habe. Schliesslich setze ich meine Hoffnung in Sie.»

«Und zahlen mir viel Geld. Also kommen wir wieder zur Sache. War es wirklich Zweifels Idee, sich ins Rollenspiel der Armut zu werfen?»

«Mein Vater sagte es so. Warum fragen Sie?»

«Weil ich mir Zweifel nicht in abgerissenem Filz vorstellen kann. Wenn er könnte, würde er in Hermelin und feinster Raupenseide Hof halten.»

«Sie kennen ihn gut?»

«Wir hatten einmal geschäftlich zu tun. Ich hatte Depeschen zwischen zwei Partnern zu tragen.»

«Der Vatikan hat mit Zweifel Geschäfte gemacht?»

«Der Vatikan war die vermittelnde Instanz. Das ist etwas anderes.»

«Er verdient auf beiden Seiten.»

«Er schaut darauf, dass beide Parteien gewinnen und nicht die eine übervorteilt wird.»

«Klingt edel.»

«Ist es auch.»

«Und? Hatten beide Parteien verdient?»

«Ja. Aber es gab noch eine weitere Partei, über deren Köpfe hinweg das Geschäft abgeschlossen wurde. Das Volk. Und das hat stark verloren.»

«Die Wasserquelle in Südafrika? Sprechen Sie davon?»

«Vielleicht. Vielleicht war es aber auch etwas anderes. Ich verdränge gerne meine Geschichte. Deswegen bin ich wohl auch heimatlos.»

Es entstand eine Pause, in der beide nichts zu sagen wussten. Stahl gab sich einen Ruck und stand auf. «Wann und wo haben Sie Ihren Vater das letzte Mal gesehen?»

«Zu Hause, in Lausanne, kurz bevor ich nach Moskau geflogen bin.»

«Moskau? Was machen Sie dort?»

«Ich traf Professor Sarkov.»

«Den Mathematiker?»

«Sie kennen ihn?»

Stahl hob abwehrend die Hände. «Schon lange her. Ich war noch sehr jung damals. Es war Mitte der neunziger Jahre, die Mauer nicht lange gefallen, die Sowjetunion im Umbruch. Russische Wissenschaftler galten damals als Investitionsmasse. Jeder musste einen haben. Und wir hatten uns an den Geschäften eifrig beteiligt. Sarkov war einer von denen, die wir vermittelten.»

«Wusste gar nicht, dass der Vatikan eine Headhunting-Agency ist.»

«Human Resources waren immer das wichtigste Kapital der katholischen Kirche. Die Rekrutierung gläubiger Kapazunder hat bis heute oberste Priorität.»

«Und worum ging es damals bei Sarkov?»

«Schnee von gestern. Worum geht es heute bei ihm?»

«Das ist leider geheim.»

«Wie soll ich Ihnen helfen, wenn Sie Geheimnisse vor mir haben?»

«Sarkov hat nichts mit dem Verschwinden meines Vaters zu tun.»

«Sind Sie sich da sicher?»

Kaja stutzte. Sie schien tatsächlich darüber nachzudenken. Stahl hatte es nur als Scherz dahingeworfen. «Habe ich einen Treffer gelandet?» Er setzte nach. «Waren Sie für Ihren Vater in Moskau? Arbeitet Sarkov für Ihren Vater?»

«Nein. Sarkov arbeitet für Glaser. Arbeitete. Mein Gott, ich kann es immer noch nicht glauben, dass Glaser tot ist.»

«Wie gut kannten Sie Glaser?»

«Er war immer da, seit ich denken kann. Mein Vater und er waren Schulfreunde seit dem Internat in Zuoz. Später studierten sie gemeinsam Informatik und gründeten zeitgleich ihre Unternehmen.»

«Und die Freundschaft hielt trotz Konkurrenz?»

«Sie sahen es sportlich. Sie neckten sich, wenn der andere vorn war, und spornten sich dadurch gegenseitig an.»

«Klingt zu gut, um wahr zu sein.»

«Warum sind Sie so zynisch?»

«Vielleicht, weil ich zu lange bei den Jesuiten war. Dort hatte man mir beigebracht, dass nichts so ist, wie es scheint. Und das hat sich eingebrannt.»

Kaja stand auf. «Es wäre schön, wenn diesmal auch nichts so wäre, wie es scheint. Denn dann wäre mein Vater noch am Leben.» Sie nahm ihren Mantel und legte ihn sich über den Arm. «Ihre Kontonummer habe ich von Amir. Ich werde die erste Tranche gleich morgen früh überweisen.» Sie setzte ein förmliches Lächeln zum Abschied auf und ging zur Tür.

«Finden Sie allein hinaus?»

Sie drehte sich um. «Vielleicht bleibe ich noch und studiere Ihre Heimat. Ist immer gut, wenn man weiss, mit wem man zusammenarbeitet.» Sie verliess das Zimmer.

Stahl sah auf seine Armbanduhr. Es war schon kurz vor Mitternacht. Jetzt müsste bereits einiges los sein im Hauptraum. Eigentlich Zeit, um einen Rundgang zu machen und nach dem Rechten zu sehen. Aber er wollte wissen, womit genau Anton Myller sein Geld verdiente. Er fuhr den Laptop hoch und begann zu recherchieren.

***

Kaja entdeckte Amir an der Bar. Er sass so, dass er die Stripperin, die sich gerade um eine Vertikalstange schlängelte, gut im Blick hatte. Kaja drängte sich durch ein paar Gäste und erreichte Amir, der sie nicht wahrnahm, weil ihn die Stripperin zu sehr faszinierte.

«Und? Haben Sie etwas über Glasers Tod herausgefunden?»

Amir erschrak und rutschte vom Barhocker. «Wo kommen Sie denn her? Hat Ihnen Stahl so rasch beigebracht, wie man sich unbemerkt auf Tuchfühlung nähert? Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen.»

«Das liegt wohl an der Erregung.» Kaja nickte zu der Stripperin.

Amir lachte. «Ob Sie es glauben oder nicht, so etwas erregt mich nicht. Es fasziniert mich. Es ist Kunst. Ja. Für mich ist es Kunst. Das Gleiche erlebe ich, wenn ich in die Oper gehe oder mir ein klassisches Ballett ansehe. Schauen Sie sich diese Frau an. Das ist keine Frau mehr. Sie ist eine Schlange. Wie sie sich um die Stange windet, sich dabei aus ihrer Haut schält, den Rücken nach hinten biegt, um gleich mit ihren Giftzähnen zuzuschlagen. Eine artistische Sensation. Meine Bewunderung dafür, aber keine Erregung. Nein. Mich erregen andere Dinge.»

«Ich will es nicht wissen. Dafür wüsste ich gerne, was die Polizei über Glasers Tod zu sagen hat.»

Amir drehte sich zur Bar. «Stichwunden in Bauch und Rücken. Die Polizei geht von einem Raubmord aus.»

«Raubmord? Glaser hatte doch nichts dabei.»

«Nichts ist nicht nichts. Nicht wenn man auf der Strasse lebt. Seine Schuhe waren für ein geschultes Auge mehr wert, als ein Obdachloser sich in einem Monat erbettelt.»

«Sie glauben, er wurde wegen ein paar Schuhen erstochen?»

«Kann gut möglich sein. Ist allerdings nur eine Vermutung.»

«Und was will die Polizei machen? Hat sie schon Glasers Frau benachrichtigt?»

«Davon gehe ich aus.»

«Dann steht es morgen in den Zeitungen.»

«Wusste Glasers Frau von dem Seneca-Spiel?»

«Nein. Es war abgemacht, dass niemand davon erfährt. Jeder der drei hat erzählt, dass er auf Geschäftsreise gehen würde.»

«Warum wussten Sie davon?»

«Weil mein Vater mir nichts verheimlichen konnte.»

«Und Sie glauben, Glaser konnte es vor seiner Frau geheim halten?»

«Glaser hielt noch ganz andere Dinge vor ihr geheim.» Sie sah zu der Stripperin, die jetzt vollkommen nackt die Kundschaft aufreizte. «Und er hielt Striptease nicht für Kunst.»